In der Linguistik lesen wir jeden Tag ziemlich spezielle Texte. Ein sehr spezieller Text, mit dem ich mich bislang weniger beschäftigt habe, ist die deutsche Baustellenverordnung. Das hat sich heute geändert. Der Anlass hat übrigens nichts damit zu tun, dass im Gebäude unserer Exzellenzuniversität gerade zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate die Decke herunterfiel und Regenwasser durch die Deckenlampe tropfte.
Zur Lektüre dieses äußerst lesenswerten Schriftstücks kam ich durch einen Umweg, über einen Artikel auf aannemervak.nl, einem niederländischen Branchenportal des Baugewerbes.*
Dort ging es knapp beschrieben, mit zackigen Hauptsätzen, um „eindeutige Kommunikation auf dem Bau“. Fasziniert las ich von Bouwspraak, einem Hilfsmittel zur Verständigung auf der Baustelle, wo häufig Menschen mit unterschiedlichsten sprachlichen Hintergründen zusammenkommen. Bouwspraak ist ein überschaubares Inventar an Gebärden, die genutzt werden sollen, wenn Gefahr droht oder jemand Hilfe braucht. Die Gebärden sind in verschiedenen Sprachen erläutert (mit Video) und sollten von allen auf dem Bau beherrscht werden. Keine schlechte Idee, nicht nur wegen möglicher Sprachbarrieren, sondern auch vor dem Hintergrund, dass es auf Baustellen oft laut ist oder man über größere Distanzen miteinander kommunizieren muss.
Ob es etwas Ähnliches auch in Deutschland gibt, konnte ich nicht ergoogeln. Die Baustellenverordnung sagt nur: „Die Arbeitgeber haben die Beschäftigten in verständlicher Form und Sprache über die sie betreffenden Schutzmaßnahmen zu informieren.“ (§5, Abs. 2) Erläutert wird die Vorschrift so: „Wesentliche Informationen sind zu übersetzen, wenn in anderer Form eine Verständigung nicht gewährleistet ist. Zu den verständlichen Formen der Information können z. B. Bilder, Piktogramme, praktische Unterrichtung am Arbeitsplatz und arbeitsplatzbezogene Demonstrationen gehören.“
Von Gebärden zur Kommunikation bei der Arbeit ist also nicht die Rede, wohl aber von der Information durch den Arbeitgeber – und auch hier greift man bei Bouwspraak auf Mehrsprachigkeit, Bilder und Piktogramme zurück.
Worauf man auf niederländischen Baustellen offenbar auch oft zurückgreift, ist das Deutsche. In dem Artikel auf aannemervak.nl liest man: „Duits is niet zelden de voertaal op de bouwplaats.“ Wie kommt das? Dazu kann es verschiedene Erklärungen geben. In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind aus Deutschland viele Fachkräfte im Handwerk ausgewandert in Länder, wo es Arbeit und gute Löhne gibt. Ziele waren oft die Schweiz und Österreich, Skandinavien, Großbritannien, aber auch der Benelux-Raum. Allerdings dürfte die Präsenz von Deutschen auf niederländischen Baustellen nicht so enorm sein, dass sie dort sprachlich dominieren.
Vermutlich kann man eher einen Sekundäreffekt beobachten. In Deutschland arbeiten in der Baubranche viele Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa, ebenso in den Niederlanden. Es kann sein, dass ein bedeutender Anteil zunächst in Deutschland gearbeitet hat und dort für die Verständigung zwischen den verschiedenen Sprachfamilien – Polnisch, Ungarisch oder Rumänisch usw. – lernte man Deutsch. Möglicherweise Baustellendeutsch, mit vielen Wendungen und Begriffen, die für die Arbeitsumgebung relevant sind. Wer dann eine neue Arbeit noch weiter westlich fand, nahm die Gewohnheit zur Verständigung, die inzwischen eingeübte Fachsprache einfach mit.
Zur Fachsprache des Branchenportals aannemervak.nl scheint übrigens auch ein interessanter Umgang mit Singular und Plural zu gehören. Das beginnt mit dem oben zitierten Satzteil: „veiligheidsgebaren die voor betere en eenduidige communicatie moet zorgen”. Das ist wohl ein Versehen, bei dem die Kongruenz verrutscht ist. Ungewöhnlicher ist aus deutscher Perspektive eher diese Frage:
Maar wie werken er op de bouw?
Wer-Fragen ziehen auf Deutsch immer einen Singular nach sich. Auf Niederländisch dagegen kann hier auch ein Plural stehen, wenn nach einer Gruppe gefragt ist bzw. wenn die erwartete Antwort wahrscheinlich auch im Plural stehen wird. Umgekehrt setzt das Branchenportal wiederum dort einen Singular, wo es ganz offensichtlich um mehrere Menschen geht:
Als ik kijk naar mijn bedrijf, komt het voor dat er soms 15 man aan het werk is.
Mann als Plural ist auch im Deutschen geläufig. Dabei muss das Verb dann aber ebenfalls im Plural stehen. Im Niederländischen findet man dagegen problemlos Belege wie diese:
Er is 20 man ingeschreven. (bron)
Es sind 20 Mann angemeldet.
Er is 15 man nodig geweest om hem te kalmeren. (bron)
Es waren 15 Mann nötig, um ihn zu beruhigen.
Gängig sind auch hier Formen wie er zijn 15 man nodig, möglicherweise werden viele die Beispiele mit dem Singular sogar für ungrammatisch halten. Aber offenbar ist gelegentlich die Form man stärker als sogar das eindeutige Zahlwort, das für einen Plural sorgen müsste.
Bei aller Vorliebe des Deutschen für den Plural ist eines trotzdem klar: Ein einziges wasserdichtes Dach über dem Kopf würde uns für unser Uni-Gebäude eigentlich genügen.
*Mit Dank an Cefas van Rossem (Meertens Instituut) für die Entdeckung!
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