Brûler, brûler, brûler (2020)

Black Words (2018)

Qui oubliera?

Übersetzung und Kommentar von Frederic Göldner

„Qui oubliera qu’à un noir on disait ‘Tu’, non certes comme à un ami, mais parce que le ‘Vous’ honorable était réservé aux seuls blancs ?“ Mit diesem Satz drückt der erste kongolesische Präsident Patrice Lumumba in seiner Rede vom 30. Juni 1960 zur Unabhängigkeit seines Landes die Demütigungen und Ungerechtigkeiten aus, die seine Nation durch die belgische Kolonialmacht erfahren hat. Lisette Lombé nimmt diesen Satz in ihrem Gedicht „Qui oubliera?“ auf und verweist damit auf den Schmerz, den der Kolonialismus verursacht hat – bis in die heutige Zeit hinein.

Das Gedicht „Qui oubliera?“ entstammt dem 2018 erschienenen Gedichtband „Black Words“. Der Band besteht aus zwölf Gedichten, einem Interview mit Lisette Lombé im Nachwort und einer Reihe von Bildern, die sich mit den Themen Kolonialismus, Gewalt, Rassismus und afrikanischer Kultur auseinandersetzen (Lombé 2018). „Qui oubliera?“ ist nach eigenen Angaben ihr erster „texte de slam“. Im Nachwort des Buchs erklärt Lombé, dass das Gedicht eine Art reinigende Funktion für sie hatte, um ihre eigenen Erfahrungen von Rassismus zu verarbeiten:

Je pourrais [le] qualifier de cathartique. Je me disais : « J’ai presque quarante ans, je suis universitaire, je suis née à Namur, je suis Belge et pourtant, je peux toujours me faire traiter de négresse au coin d’une rue, dans un supermarché ou dans un train. » (Lombé 2018, Postface)

Qui oubliera?
Qui oubliera ?
Qu’à un Noir, on disait tu…
Non certes, comme à un ami
Mais parce que le vous, honorable, était réservé aux seuls
Blancs.
Qui oubliera?

Ils m’ont dit
Tu es une bamboula! Une grosse guenon ! Un cancrelat!
Ils m’ont dit
Tu es sale! Sale bougnoule!
Ta mère a couché avec un Nègre ! Tu es une bâtarde !
Ils m’ont dit
Tu devrais retourner dans ton pays ! Dans ta brousse !
Dans ta hutte !
Tu devrais remonter dans ton arbre ! Ta liane ! Tes
bananes !
Tu devrais remercier la Belgique de t’avoir accueillie!
Même si tu es née ici…

Qui oubliera?
Qu’à un Noir, on disait tu…

Tu devras apprendre à passer ton chemin…
C’est déjà loué ! C’est déjà pourvu ! C’est déjà complet!
Tu devras apprendre à te justifier…


Je suis belge ! Je suis diplômée ! Je suis qualifiée !
Tu devras apprendre une autre histoire aussi…
Afrique! Sauvages ! Sous-développés !
T’intégrer. T’assimiler.
T’encager. Te corseter.
Te faire douter. Te faire avoir peur.
Te faire avoir honte de ta couleur.
Te faire oublier tes frères et tes sœurs.
Toi, le petit oiseau exotique, la Joséphine Baker,
Gazelle-tigresse, le cul, les fesses !

Qui oubliera ?
Qu’à un Noir, on disait tu…
Qu’à un Arabe, on disait tu…
Qu’à une Rom, on disait tu…
Qu’à toi, mon père, on disait tu…
Non certes, comme à un ami
Mais parce que le vous, honorable, était réservé aux seuls
Blancs.

Qui oubliera?
Wer wird vergessen?
Wer wird vergessen?
Dass man zu einem Schwarzen du sagte…
Natürlich nicht wie zu einem Freund
Sondern weil das – ehrenwerte – Sie reserviert war für
Weiße.
Wer wird vergessen?

Sie sagten zu mir
Du bist eine Bamboula! Eine fette Äffin! Eine Kakerlake!
Sie sagten zu mir
Du bist schmutzig! Dreckige Kameltreiberin!
Deine Mutter hat mit einem Neger geschlafen! Du Bastard!
Sie sagten zu mir
Geh in dein Land zurück! In deinen Busch!
In deine Hütte!
Geh zurück auf deinen Baum! Deine Liane! Deine Bananen!
Du solltest Belgien danken, dass es dich aufgenommen hat!
Auch wenn du hier geboren bist…


Wer wird vergessen?
Dass man zu einem Schwarzen du sagte…

Du wirst lernen müssen, weiterzugehen…
Schon vermietet! Schon vergeben! Schon voll!
Du wirst lernen müssen, dich zu rechtfertigen…



Ich bin Belgierin! Ich habe studiert! Ich bin qualifiziert!
Du wirst auch eine andere Geschichte lernen müssen…
Afrika! Wilde! Unterentwickelt!
Dich integrieren. Dich assimilieren.
Dich einsperren. Dich einengen.
Dich zum Zweifeln bringen. Dir Angst machen.
Dich schämen für deine Hautfarbe.
Dich deine Brüder und Schwestern vergessen lassen.
Du, der kleine exotische Vogel, die Joséphine Baker,
Gazellen-Tigerin, der Arsch, die Pobacken!

Wer wird vergessen?
Dass man zu einem Schwarzen du sagte…
Dass man zu einem Araber du sagte…
Dass man zu einer Roma du sagte…
Dass man zu dir, mein Vater, du sagte…
Natürlich nicht wie zu einem Freund
Sondern weil das – ehrenwerte – Sie reserviert war für
Weiße.

Wer wird vergessen?

Glossar

  • Zeile 1-5: diese Zeilen stammen aus der Rede von Präsident Patrice Lumumba zum Tag der Unabhängigkeit Kongos am 30. Juni 1960
  • Zeile 8: une bamboula: afrikanischer Trommeltanz bzw. Person, die diesen praktiziert (im Kontext der Kolonialzeit unter anderem als Form von Protest in Gefängnissen)
  • une guenon: Affenweibchen
  • un cancrelat: Kakerlake/Küchenschabe
  • Zeile 10: une bougnoule: Kameltreiber(in)
  • Zeile 13: ta brousse: deinen „Busch“ (stereotype Bezeichnung des vermeintlich rückständigen Afrikas)
  • Zeile 27: t’assimiler: die Idee der Assimilation war zentraler Bestandteil der Kolonialpolitik, in der es um die „Zivilisierung“ und Anpassung der vermeintlich unterlegenen afrikanischen Völker an die westlichen Normen ging, wobei Kulturen, Sprachen und ganze Volksgruppen ausgelöscht wurden. Der Begriff kann also verstanden werden als eine Praxis, die zwar aus dem Kolonialismus hervorgegangen ist, im postkolonialen Kontext allerdings nach wie vor präsent ist in der westlichen Welt – als die Idee, das man sich anzupassen habe und andersherum ein Zelebrieren der afrikanischen Wurzel als Verweigerung der Anpassung verstanden werden kann
  • Zeile 32: Joséphine Baker (1906-1975) war die erste international erfolgreiche afro-amerikanische Künstlerin, die in ihren Auftritten mit afrikanischen, animalischen Clichés spielte (vgl. Arte 2021)
  • Zeile 33: gazelle-tigresse: Neologismus bestehend aus den Wörtern „Tigerin“ und „Gazelle“