Sitzen ist ungesund. Das erklären immer wieder die Arbeitsmediziner und empfehlen Stehpulte, rückenfreundliche Gummibälle oder Bürogymnastik. Trotzdem brauchen wir das Sitzen unbedingt. Nicht so sehr aus Bequemlichkeit, sondern um der Grammatik willen. Das Niederländische bildet sehr gerne Verlaufsformen mit zitten:
Ik zit een boek te lezen.
Auf Deutsch gibt es keine exakte Entsprechung. Man kann zwar sagen Ich sitze hier und lese ein Buch, aber man braucht dann zum Beispiel immer eine Ergänzung wie hier und kann auch nicht mit einem Infinitiv anschließen. Ich sitze ein Buch zu lesen klingt undeutsch. Die skandinavischen Sprachen kennen durchaus eine ähnliche Konstruktion, z.B. Norwegisch:
Jeg sitter og leser en bok. („Ich sitze und lese ein Buch.“)
Der Unterschied liegt darin, dass wir auch hier keine Infinitivkonstruktion haben. Das Erstaunliche ist aber nun, dass das Norwegische anscheinend auf dem Weg ist, sich in Richtung der niederländischen Grammatik zu bewegen. Anstelle der und-Verbindung schleicht sich allmählich doch der Infinitiv ein. Ein Beispiel auf Twitter:
Sitter å vurdere hvilken bok eg skal starte å lese.
(wörtl.: „Sitze zu überlegen, welches Buch ich zu lesen anfangen soll.“)
Plötzlich steht hier sitzen + Präposition zu + Infinitiv: Ik zit na te denken… Oft geraten in der geschriebenen Sprache beide Möglichkeiten durcheinander, weil die Konjunktion og („und“) und die Präposition å („zu“) gleich ausgesprochen werden. Wieder Twitter:
Sitter på restaurant alene og lese tweetsa deres.
(„Sitze alleine im Restaurant und lese eure Tweets.“ – lese ist Infinitiv, davor steht aber die Konjunktion und.)
Ob die Homophonie von og und å der Auslöser dieses Wandels ist? Eine mögliche Erklärung, aber spontan lässt sich schwer sagen, ob der Übergang von der konjugierten Form zum Infinitiv vorher oder nachher geschah. Im Niederländischen sind solche Formulierungen keineswegs so neu wie im Norwegischen. In den Texten der DBNL findet man zum Beispiel schon 1730 einen Beleg. Und passend zum Beispiel oben lesen wir in einem Brief aus dem Jahr 1820 über einen Kanarienvogel:
Als ik zit te leezen komt hy op het boek zitten.
Wie alt diese Formulierung wirklich ist, lässt sich in dieser Kürze nicht klären. Man kann wohl behaupten, dass die Leute früher nicht so viel und lang saßen wie heute im Zeitalter der Bürojobs. Aber sobald für eine Tätigkeit Ruhe und Konzentration nötig war oder man wusste, dass es länger dauern würde, ließ man sich nieder – um Pfeilspitzen zu schleifen, um Portraits zu malen oder um am Flughafen aufs Boarding zu warten. Das Sitzen wird offenbar schon lange mit Dauerhaftigkeit in Verbindung gebracht. Grund genug, uns ab und zu von unserem Stuhl oder Sessel zu erheben und auch mal zu stehen oder zu liegen. Dazu im zweiten Teil mehr.
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