Binsenweisheit des Tages: Wir werden alle nicht jünger. Das gilt auch für Belgien. Vor allem in Flandern, so meldete vor einiger Zeit der Standaard, nimmt der Anteil der Rentner an der Bevölkerung rapide zu. Vlaanderen vergrijst. Eindrucksvoll sieht man das auf der Karte – Brüssel und Wallonien scheinen nicht so schnell zu altern. Auf Deutsch spricht man am ehesten von überaltern. Ein Begriff, der sehr drastisch andeutet, es sei irgendwann zu viel mit den ganzen Alten. Alternativ dazu, auch nicht viel freundlicher, könnte man sagen: Das Land vergreist. Womit man an vergrijzen wieder sehr nah dran wäre, auch etymologisch. Der deutsche Greis und die niederländische Farbe grijs teilen die gleiche Wurzel. Die Analogie ist simpel und liegt auf der Hand, denn wer greis ist, wird meistens auch grijs. Das Adjektiv greis ist aus dem Niederdeutschen in den hochdeutschen Standard eingegangen und genau deshalb dem Niederländischen so auffallend ähnlich.
Vergrijzen bezeichnet dennoch den Vorgang, grau zu werden und nicht den Vorgang, greis zu werden. Man müsste also um genau zu sein übersetzen: Flandern ergraut. Das klingt schon etwas freundlicher. Wieder einmal liegt der kleine Unterschied zwischen vergrijzen und ergrauen im v- am Wortanfang. Das er- drückt eine Zustandsänderung aus, die das Niederländische üblicherweise mit ver‑ angibt. Das deutsche ver- dagegen fühlt sich stärker an wie eine Entwicklung hin zum Übermaß oder zur vollständigen Zustandsänderung. Ein Land, das vergreist ist, besteht (zumindest gefühlt) nur noch aus Greisen oder hat jedenfalls zu viele davon.
Der Artikel im Standaard fußt auf dem vergrijzingscoëfficient der belgischen Bevölkerung. Ein entsprechender Überalterungskoeffizient scheint sich in der deutschsprachigen Demographieforschung bisher nicht durchgesetzt zu haben. Aber wer weiß, welches deutsche Wortmonstrum man in dieser Ecke der Wissenschaft stattdessen benutzt, das ich vielleicht nur nicht gefunden habe…
Wie man auf den vergrijzingscoëfficient kommt, ist nicht besonders kompliziert. Man prüft in der Bevölkerungsstatistik, wie viele Ältere über 67 Jahre auf genau 100 Jugendliche unter 18 kommen. Man darf sich dabei nur nicht verzählen, denn das wäre wieder eine Änderung zum Unerwünschten. Was dagegen hin und wieder sehr erwünscht ist, ist das Erzählen. Das machen viele der Schriftsteller/innen besonders gut, die wir kürzlich mit unserer Serie und unserer Ausstellung in der Philologischen Bibliothek vorgestellt haben. In meinem heimatlichen Dialekt hingegen verzählen wir auch alles Mögliche: Geschichten, Tratsch oder Lügen. Das standarddeutsche er- ist wieder ein saarländisches ver-. Natürlich genauso ein niederländisches (vertellen) oder ein niederdeutsches. Zum Beispiel im Westmünsterland, wie man in unserem Online-Wörterbuch auf NEON nachlesen kann. Dort findet sich der ebenso trockene wie wahre Spruch:
Well fain vertällen kann, de kann ook fain leegen.
Wer gut erzählen kann, der kann auch gut lügen.
Auch wer kein Platt kann, versteht den Satz vielleicht mit etwas Nachdenken. Und falls nicht, haben wir ja zum Glück eine Übersetzung, eine vertaling. Ursprünglich war übrigens auch das vertalen nichts anderes als das vertellen, gewissermaßen ‚etwas zur Sprache bringen‘ oder ‚in Sprache kleiden‘. Erst viel später ging die Bedeutung vom bildlichen Versprachlichen zum Versprachen über, zum Übertragen von einer Sprache in die andere. Spätestens dann war es vorbei mit dem ver- als Zustandsänderung zum Schlechten. Einem wirklich guten vertaler gelingt es, in der Zielsprache auch ein guter verteller zu sein. Deshalb war es uns wichtig, in unserer Ausstellung Wat wij delen auch die Übersetzer/innen der Werke zu nennen, die wir vorstellen wollten. Zugegeben, ein bisschen Stolz ist auch dabei. Denn im Laufe der Jahre hat unser Institut eine ganze Reihe erfolgreicher Übersetzer/innen hervorgebracht, die dafür sorgen, dass der Weg vom Niederländischen ins Deutsche alles andere ist als eine Zustandsverschlechterung. Diese talentierten Federn sind noch lange nicht vergreist und haben dennoch für ihr Werk schon längst Würdigung verdient. Deshalb werden wir einige von ihnen in unserer nächsten Serie Alumnis laus vorstellen.
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