Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Der Traum von der Neuerscheinung

Wenn belgische intellektuelle Prominenz zu Besuch kommt, dann geht man selbstverständlich hin. Erst recht wenn der Börsenverein des Buchhandels einlädt, um die Kulturelite der Hauptstadt (oder alle, die sich dafür halten) auf die Frankfurter Buchmesse einzustimmen. So geschehen vorgestern in der Repräsentanz des Börsenvereins in Berlin.

Einer der Gastredner merkte an, der Gastlandauftritt habe in den Niederlanden für derart viel Aufmerksamkeit gesorgt, dass die dortige Presse das deutsche Wort Neuerscheinung schon als Lehnwort übernommen habe. An sich ist das eine durchaus realistische Vorstellung. Ein exaktes Äquivalent kennt das Niederländische nicht, man muss also zu Umschreibungen greifen, wie beispielsweise im Van Dale: pas verschenen boek. Natürlich gibt es durchaus Nominalisierungen von verschijnen. Aber ein verschijnsel ist nur ein Phänomen, ein Anzeichen, und eine verschijning ist die äußere Erscheinung, die Gestalt oder aber eine Vision. Keine der beiden Formen steht für Erscheinung im Sinne von Publikation oder Veröffentlichung. Ein neues Buch, eine Neuerscheinung, ist also kein *nieuw verschijnsel – da greift man doch gerne ganz bequem zu een neuerscheinung. Aber tut man das wirklich? Weder die Websites der großen niederländischen Zeitungen noch eine Google-Suche nach Neuerscheinung auf niederländischsprachigen Seiten liefern Ergebnisse. Hier war wohl der Wunsch Vater des Gedankens. Aber vielleicht entfaltet die Buchmesse ja noch ihre Wirkung, so dass das Wort Neuerscheinung irgendwann doch noch im niederländischen Wortschatz verschijnt.

VanReybrouck

David Van Reybrouck im Gespräch mit Thomas Böhm. (Foto: PK)

Wer aber sehr wohl erschien, nämlich zu der Soirée des Börsenvereins, das war David Van Reybrouck. Die Schauspielerin Claudia Michelsen las Auszüge aus seinem Buch Kongo. Eine Geschichte und außerdem aus Hella Haasses Roman Das indonesische Geheimnis, der im Buchmessejahr auf Deutsch erschienen ist (mit einem etwas mager übersetzten Titel, im Original: Sleuteloog, 2002). In einer Podiumsdiskussion gewährte Van Reybrouck Einblicke in die Entstehung seines Monumentalwerks und rief zu einer neuen Auseinandersetzung Europas mit der gemeinsamen Kolonialgeschichte auf. Die Forderung: Anstelle nationaler Geschichtsschreibung müsse Europa endlich zu einer comparative Vergangenheitsbewältigung finden.  

Das Schlagwort verrät schon, dass das Gespräch zwischen Van Reybrouck und dem Schriftsteller und Moderator Thomas Böhm auch in sprachlicher Hinsicht faszinierend war. Böhm fragte auf Deutsch, Van Reybrouck antwortete auf Englisch mit gelegentlichen deutschen Einsprengseln wie etwa Vergangenheitsbewältigung (aber nicht: Aufarbeitung). Die Sprachkombination kann einen nachdenklich machen: Semikommunikation auf Deutsch und Niederländisch war offenbar unrealistisch. Das Berliner Publikum hätte dabei wohl nur einzelne Brocken erraten können. Stattdessen wählten die Veranstalter ein Konstrukt, für das es möglicherweise noch gar keinen passenden Begriff gibt. Das Konzept Semikommunikation oder rezeptive Mehrsprachigkeit geht immer davon aus, dass die Beteiligten ihre jeweilige Muttersprache sprechen, und das Gegenüber diese versteht. Was aber, wenn nur ein Beteiligter die andere Muttersprache versteht, für seine Redeanteile aber zu einer gemeinsamen Fremdsprache (hier: Englisch) greift? Und wenn dies geschieht, weil an der Semikommunikation nicht nur zwei Sprechende beteiligt sind, sondern auch noch ein Publikum, dessen rezeptiven Sprachkenntnisse zu berücksichtigen sind? Wie immer sind die Realitäten komplexer als unsere Beschreibungsmodelle es gerne hätten.

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Der Beitrag wurde am Freitag, den 23. September 2016 um 11:01 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Allgemein, Niederlande, Wortschatz abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

Eine Reaktion zu “Der Traum von der Neuerscheinung”

  1. Philipp Krämer

    Beim Vlaams Fonds voor de Letteren und beim Nederlands Letterenfonds spricht man in einer Pressemitteilung tatsächlich von Neuerscheinungen, allerdings auch nur in Anführungszeichen. Dort scheint man auch ein Gefühl dafür zu haben, dass das Lehnwort im Niederländischen noch nicht so recht etabliert ist.