Dem Klischee zufolge ist der Holländer der Schwabe der Niederlande: sparsam bis zur Gier, effizient bis zum Geiz. In der Geschichte der Kaufleute und Handlungsreisenden hat sich das Image festgesetzt, und auch die aktuelle Politik versucht nicht gerade, den Ruf loszuwerden. Die rechtsliberale Regierung unter Mark Rutte sorgt aktuell wieder dafür, die Stereotype zu bestätigen, nämlich in der Wissenschaftspolitik.
Um es etwas zu verkürzen (ausführlicher kann man hier die Hintergründe nachlesen): Mehr oder weniger Konsens ist, dass die Forschung der naturwissenschaftlichen und technischen Fächer mehr Mittel braucht. Das darf aber bitteschön keine zusätzlichen Kosten verursachen, also soll umgeschichtet werden. Mehr Geld für bèta-wetenschappen bedeutet weniger für alfa und gamma.
Keine besonders hilfreiche Erläuterung? Griechische Buchstaben kennen wir im Deutschen beispielsweise für verschiedene Arten von Strahlung. In der Sprachwissenschaft kommen uns zumindest β und ɣ aus dem phonetischen Alphabet bekannt vor. Im niederländischen Sprachgebrauch teilt man die großen Wissenschaftsbereiche anhand der drei Buchstaben ein:
Alfa für Geisteswissenschaften
Bèta für Naturwissenschaften, Mathematik, Informatik, Ingenieurswissenschaften
Gamma für Sozialwissenschaften, aber auch Recht und Wirtschaftswissenschaften
Die Medizin hat keinen Buchstaben bekommen und gilt als eigene Kategorie. Traditionell gab es zuerst alfa und bèta; die gamma-Disziplinen gelten als neuere Entwicklungen, die später eine neue Klasse brauchten. Bei einigen Disziplinen ist die Zuordnung umstritten oder flexibel (etwa bei der Geographie); sowieso wird natürlich zunehmend auf interdisziplinäre Forschung geachtet. Die Linguistik gilt ursprünglich als Teil der alfa-Wissenschaften, aber je nach Ausrichtung hat sie zu den anderen beiden Feldern starke Verbindungen.
Auch im traditionellen Schulsystem fand man die Bezeichnungen schon, je nach Schwerpunktsetzung bei den gewählten Fächern. Und Menschen, die eine bestimmte Beziehung, ein Talent, ein Interesse für eine der Fachgruppen zeigen, nennt man manchmal ebenfalls nach dem Buchstaben.
Anders als im Deutschen verzichtet die niederländische Orthographie bei alfa auf die klassisch-griechische Schreibung mit ph. Beim Wörtchen bèta hilft der selten benutzte Akzent dafür, dass der Laut etwas näher an der griechischen Aussprache liegt: ein kurzes, offeneres E, und eher kein nord-niederländisches, lang diphthongiertes eej.
Warum bei der Einteilung des Bildungs- und Wissenschaftssystems genau in dieser Reihenfolge die Klassifikationen vergeben wurden, konnte ich nicht mehr nachvollziehen. Genauso schwer nachvollziehbar ist die Universitätspolitik in den Niederlanden. Besonders die liberale Partei D66, die sich oft als Wissenschaftspartei sieht und im akademischen Milieu stark ist, bekommt gerade massive Kritik von ihrer Kernwählerschaft zu hören.
Die allgemeine Tendenz hin zum vermeintlich Nützlichen, zum Konkreten, das sich bezahlt macht, die ist in den Niederlanden nicht neu und auch woanders deutlich spürbar. Aber gerade die Geistes- und Sozialwissenschaften werden jetzt gebraucht, in Zeiten von gesellschaftlicher Polarisierung, von Unverständnis für kulturelle Diversität und von Ignoranz gegenüber historischen Zusammenhängen – das gilt für ganz Europa und weit darüber hinaus.
Von Deutschland aus kann man den Entwicklungen im Nachbarland zunächst mit Kopfschütteln zusehen (oder eine Petition der Opposition dagegen unterschreiben). Egal ob Alpha, Beta oder Gamma: strahlend sind diese Entscheidungen sicher nicht. Dass sich die Wissenschaftspolitik hierzulande ähnlich entwickelt, ist aber leider überhaupt nicht auszuschließen.
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