Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Misogynoir

Die niederländische Politik ist momentan, das kann man nicht anders sagen: een puinhoop. Anfang des Jahres trat die Regierung von Mark Rutte wegen der sogenannten toeslagenaffaire zurück. Rutte blieb aber geschäftsführend im Amt und trat sogar bei der Parlamentswahl im vergangenen März wieder an. Noch immer hält er an dem Posten fest, obwohl seine kleinen und großen Verfehlungen im politischen Betrieb sich fast täglich weiter ansammeln.

Im neu gewählten Parlament nagen an Ruttes Autorität die Zweifel seiner bisherigen politischen Verbündeten und die Kritik der neu gewählten Abgeordneten. In den Debatten zeigt sich immer wieder: Rutte hat ein Problem mit kritischen Nachfragen, vor allem wenn sie von rhetorisch gewandten Frauen kommen.

Sylvana Simons (Myrthe Minnaert, CC-BY-SA 3.0)

Zu denen gehört auch Sylvana Simons, die schon länger politisch aktiv ist, nun aber erstmals einen Sitz in der Tweede Kamer erlangt hat. Ihr warf Rutte in einer Parlamentsdebatte vor, sie sei immer so leicht reizbar. Eine Bemerkung, die ganz klar Stereotype bedient, nämlich die lange gepflegte Darstellung von Frauen und auch Schwarzen – und erst recht von Schwarzen Frauen – als emotional, irrational oder hysterisch. Simons kritisierte Rutte dafür scharf und warf ihm unter anderem vor, misogynoir zu sein. Sie erklärte den Begriff nicht weiter, auch wenn er im Niederländischen dem breiteren Publikum wahrscheinlich noch nicht allzu geläufig sein dürfte.

Bezeichnet werden damit Haltungen, bei denen speziell Schwarzen Frauen feindlich begegnet wird. Er kommt eigentlich aus der anglophonen kritischen Wissenschaft und hat ein paar interessante Eigenschaften. Das Wort wurde gebildet aus misogyn für ‚frauenfeindlich‘ und noir für ‚Schwarz‘. Damit hat das Niederländische einen Begriff mit griechisch-französischer Zusammensetzung aus dem Englischen übernommen. Aber warum Französisch?

In der Struktur ist es ein klassisches Kofferwort: Bestimmte Teile, hier das N, werden sozusagen doppelt genutzt, damit sich die verkoppelten Teile an dieser Stelle überschneiden. Das N ist durch den Schlusslaut von misogyn vorgegeben und für diese Wortbildungsform nötig. Im Englischen, Deutschen und auch Niederländischen sind aber ausgerechnet die N-Wörter diejenigen, die stark rassistisch konnotiert sind. Sie fallen als Möglichkeit also weg. Noir ist dagegen durchaus verwendbar. Hier sind die sogenannten Dubletten des Französischen nützlich: Es haben sich Formen aus dem Lateinischen lautlich entwickelt, so wurde aus nigrum also noir – oft wurden dann aber später lateinische Wörter noch einmal neu entlehnt und stehen in konservativerer Lautform mit anderer Bedeutung daneben. Dies ist der Fall bei all den rassistisch konnotierten N-Wörtern. Im Unterschied zum Französischen beginnen in den germanischen Sprachen parallel dazu mit Zwart, Black oder Schwarz die nicht-rassistischen Alternative nicht auf N. Zudem sind die Anfangslaute und -buchstaben jeweils unterschiedlich, was eine sprachübergreifend einheitliche Terminologie zusätzlich erschwert. (Wobei selbstverständlich eine komplette Entlehnung etwa aus dem Englischen unkompliziert wäre, wie es ja oft getan wird.)

Mit seinem Hintergrund als Historiker dürfte Rutte genug klassische Bildung haben, um den Begriff trotz der komplexen Entlehnungsgeschichte zu entschlüsseln. Ob er wirklich versteht, was ihm vorgeworfen wird und warum, ist eine andere Frage.

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Der Beitrag wurde am Montag, den 17. Mai 2021 um 17:46 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Sprachvergleich, Wortbildung, Wortschatz abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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