Die vierte Corona-Welle hat Deutschland und die Niederlande fest im Griff. Gerade Deutschland hat ein dramatisches Problem mit viel zu niedrigen Impfquoten. Das liegt unter anderem daran, dass der Staat zu wenig Impulse gesetzt hat. An informellen Aufrufen zum Impfen fehlt es dabei nicht, man findet sie zum Beispiel in sozialen Netzwerken – auf Deutsch, aber natürlich auch auf Niederländisch.
Dabei ist ein wundersamer Vorgang geschehen: Die Verben impfen und vaccineren haben neue Kräfte entwickelt. Zunächst ist vaccineren auch intransitiv geworden, darauf wies Marc van Oostendorp schon vor einigen Monaten hin: ik vaccineer kann ‚ich impfe‘ oder ‚ich lasse mich impfen‘ bedeuten. Auf Deutsch funktioniert das nach meiner Wahrnehmung bisher noch nicht: Ich impfe oder Komm, wir impfen! würde ich eher nicht so interpretieren, dass die Sprechenden auch die Injektion empfangen.
Was aber in beiden Sprachen geht, Marc van Oostendorp schneidet es für das Niederländische am Rande an: Die Verben sind reflexiv geworden. Impft euch! oder Ga je vaccineren! findet man allerorten. Auch die Gegenseite greift zur reflexiven Form:
Woher kommt es, dass das Verb neuerdings reflexiv ist? Eine Hypothese: Es hängt von der ‚Impfgewalt‘ ab, wie es Kollegin Theresa Heyd kürzlich so elegant ausdrückte. Natürlich ist es selten, dass wir uns selbst die Injektion geben, das überlassen wir lieber Fachkundigen. Aber die Entscheidung liegt bei uns, wir bestimmen den Zeitpunkt, müssen dazu selbst zur Praxis oder ins Impfzentrum fahren, dort wird ein Vorgang an unserem eigenen Körper ausgeführt. Ähnlich funktioniert es beim Friseurbesuch: Oft sagen wir Hast du dir die Haare geschnitten? – ohne dabei notwendigerweise zu unterstellen, dass die angesprochen Person selbst zur Schere gegriffen hat. Wollen wir das explizit machen, würden wir eher Hast du dir die Haare selbst geschnitten? sagen. Ebenso ist auf Niederländisch zich knippen möglich, auf Norwegisch ist å klippe seg überhaupt die gängigste Bezeichnung für einen Haarschnitt.
Dass impfen reflexiv geworden ist, mag auch damit zusammenhängen, dass es so viele Debatten um Impf(un)willen gab, die Entscheidung dafür oder dagegen also mit viel Überlegung über das Selbst und das eigene Wohlergehen getroffen wird. Diese Reflexivität funktioniert auch in weiteren Sprachen, etwa auf Französisch beim Aufruf vaccinez-vous!
Neben der Reflexivität finden wir auch transitive Formen gerade bei Fällen, in denen die ‚Impfgewalt‘ über andere ausgeübt wird, etwa wenn Eltern darüber entscheiden, ob ihre Kinder geimpft werden: Ik vaccineer mijn kinderen oder Ich impfe mein Kind auf keinen Fall! Auch hier wird in aller Regel auf qualifizierte Hilfe zurückgegriffen oder verzichtet.
Anders als im Deutschen finden wir im Niederländischen einen noch größeren Formenreichtum für das Impfen. Das ist erstens durch die Variation des Pronomens bedingt, so ist zum Beispiel im südlichen Sprachraum die Form vaccineer u! auffindbar.
Im Norden natürlich kommt das natürlich durchaus auch vor, es hängt wie immer von den Verwendungsunterschieden von u ab. Zweitens kennt das Niederländische neben vaccineren noch das Verb inenten. Die Aufforderung ent je in! lässt sich interessanterweise kaum auffinden. Womöglich liegt das daran, dass man ein ohnehin nicht allzu geläufiges Verb syntaktisch trennt und damit eine ziemlich ungewöhnliche Form entstehen würde. Was aber hin und wieder vorkommt, ist die Form ga je inenten! – gefunden etwa hier in einem Beispiel aus Suriname, wo Periphrasen mit gaan ja sowieso sehr produktiv sind. Das deutsche Pendant geht euch impfen! ist selbstverständlich auch tausendfach vorhanden. Logisch, die Wenigsten impfen sich zuhause, das macht den Übergang zu gehen-Konstruktionen leicht. Und siehe da, mit der Unterstützung des zusätzlichen Verbs kann nun auch das Deutsche intransitiv und ohne reflexive Form impfen: Geht impfen! liest man allerorten.
Wer sich schon zweimal geimpft hat, steht bald vor der dritten Spritze: Boostern ist angesagt. Auf Deutsch finden wir parallel noch boosten, aber das scheint die seltenere Form zu werden. Der Entstehungsweg von engl. to boost über das Substantiv b/Booster und zurück zu einem Verb boostern ist offenbar stärker, als innerhalb des Verbbestandes direkt von to boost zu boosten zu gehen. Dass das durchaus möglich ist, sieht man daran, dass diese Form in vielen Kontexten abseits der Corona-Impfung durchaus vorkommt. Was passiert auf Niederländisch? Noch erstaunlich wenig: Im Zusammenhang mit Corona findet man boosteren nicht übermäßig oft, im NRC steht es beispielsweise noch in Anführungszeichen und ist damit als ungewöhnlich markiert. Das Substantiv booster dagegen ist absolut geläufig – ähnlich wie wohl auch im Deutschen diese Substantivform prägend war, bevor das Verb neu daraus abgeleitet wurde.
Beide Sprachen sind sich inzwischen also zwar einig, dass man sich impfen kann, ohne sich selbst zu impfen. Aber ob nun ich impfe oder wij boosteren: An einigen Stellen sind die Abwehrkräfte im Verbsystem recht hartnäckig.
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