Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Ein wunderschönes Rückmichzusammen

Gute Nachrichten aus der Ostukraine sind selten geworden. Schon kleine Fortschritte sind da eine Schlagzeile wert, zum Beispiel in der Volkskrant:

Akkoord over staakt-het-vuren tussen Oekraïne en pro-Russische rebellen

Für Deutschsprachige mag der Begriff staakt-het-vuren eigenartig klingen, auch wenn man ihn vielleicht intuitiv versteht, sofern man die Bestandteile staken (dt. anhalten, einstellen) und vuren (dt. feuern, schießen) kennt. Als deutlich einfacheres Synonym benutzt der Zeitungsartikel wapenstilstand, den wir genauso auf Deutsch kennen. Wer Französisch kann, muss über het staakt-het-vuren vielleicht schmunzeln. Die Etymologiebank sagt zu dem Wort nichts, aber es sieht sehr offensichtlich aus wie eine Lehnübersetzung von cessez-le-feu.

Ist dieser Ausdruck wirklich ein Wort? Oder ist es nicht eigentlich vielmehr ein Satz? Im weitesten Sinne ist der Begriff wohl eine Zusammenrückung (nl. samenkoppeling), d.h. mehrere Elemente einer syntaktischen Einheit werden zu einem Ganzen vereint, das sich von da an wie ein einziges Wort verhält. Auf Niederländisch schreibt man nominalisierte Zusammenrückungen immer mit Bindestrichen, so dass die ursprüngliche Satzstruktur noch erkennbar bleibt, aber die Einheit trotzdem deutlich gemacht wird. Auf Deutsch ist bei Zusammenrückungen die Schreibweise ganz ohne Trennungen üblich. Beim Hörtaufzuschießen betrifft dies nicht nur ein paar Satzteile, sondern einen ganzen Satz. Im engeren Sinne kann man daher von einer Satznominalisierung sprechen: Ein ganzer Satz ergibt ein Substantiv, das beispielsweise auch einen Artikel bekommt, hier het staakt-het-vuren. Die Pluralbildung von solchen Begriffen funktioniert hingegen oft nicht so recht, was allerdings auch an der Wortbedeutung liegen kann, wenn es beispielsweise um Abstrakta geht. Auch bei Waffenstillstand, das keine Zusammenrückung ist, wirkt die Mehrzahl Waffenstillstände etwas unbeholfen. Man würde das Problem eher umgehen, indem man z.B. von mehreren Waffenstillstandsabkommen spricht, die leichter pluralisiert werden können.

Besonders interessant sind Satznominalisierungen, wenn darin ein Imperativ vorkommt. Erstaunlicherweise bleibt dabei nämlich manchmal noch ein Indiz dafür erhalten, an wen sich die Aufforderung richtet. Der niederländische Imperativ staakt kommt etwas veraltet daher und zeigt noch die zweite Person Plural an, so wie auch das französische cessez. Die Aufforderung, mit den Kriegshandlungen aufzuhören, gilt immer beiden Seiten des Konflikts, daher also Plural.

Die Fliege am Springkraut hält sich nicht an den Imperativ. (H. Storch, CC-BY-SA 3.0)

Nicht so beim viel bekannteren Beispiel, dem vergeet-mij-nietje, das auf Niederländisch wie fast alle Substantive ganz selbstverständlich auch einen Diminutiv bekommt – wieder ein Zeichen dafür, dass es ohne weiteres nominalisiert wurde. Beim Vergissmeinnicht richtet sich der Imperativ an eine einzelne Person, nämlich immer diejenige, die das Blümchen betrachtet. Dasselbe gilt für das kruidje-roer-me-niet (dt. Springkraut, aber auch Rührmichnichtan), das auch in vielen anderen Sprachen bis zurück ins Lateinische diesen Imperativ schon kennt. Genauso aus einem Imperativ der zweiten Person Singular abgeleitet ist das niederländische doe-het-zelven, von englisch do it yourself im Sinne von Heimwerken oder Basteln, das sogar vom Satz zum Verb geworden ist. Der deutsche Gottseibeiuns richtet sich auch an eine zweite Person Singular, aber an eine genau festgelegte, nämlich Gott. Etwas barsch kommt der klaar-over (dt. Schülerlotse, Verkehrslotse) daher. Er gibt das Signal, wann es sicher ist, die Straße zu überqueren. Vom Imperativ steek over! ist sogar nur die Präposition geblieben und der eigentliche Verbstamm verschwunden. Übrig ist also die knappe Aufforderung: Bereit – rüber!

Nicht immer sind Satznominalisierungen aber eindeutig von Imperativen abgeleitet. Beim niederländischen sta-in-de-weg (dt. Hindernis, Barriere) oder beim englischen know-it-all wäre die Interpretation als Aufforderung eher absurd. Schließlich ist es gerade nicht erwünscht, dass etwas im Weg steht bzw. dass jemand ständig so tut als wüsste er alles. Imperative haben oft Formen, die nur mit dem Verbstamm ohne Endung identisch sind. Manchmal brauchen wir aber von den Verben nur den Stamm und möchten keinen Infinitiv benutzen. Bekanntestes Beispiel dafür sind die sogenannten Inflektive, die manchmal auch Erikative genannt werden und besonders aus der Comicsprache vorkommen, wie beispielsweise heul! oder slik!. Von Imperativen sind diese Verben formal oft nicht unterscheidbar. Aus dem Kontext heraus wissen wir aber, dass keine Aufforderung gemeint ist.

Beim staakt-het-vuren dagegen kann man nur wünschen, dass die Aufforderung sehr wirksam ist und eher respektiert wird als die Bitte um eine Tüte Haumichblau.

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Der Beitrag wurde am Freitag, den 24. Februar 2017 um 10:41 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Sprachvergleich, Wortbildung, Wortschatz abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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