Dr. Siegbert Meyersohn wurde am 01. Februar 1886 in Bromberg (heute Bydgoszcz/Polen) als Sohn von Moritz (1858 – 1926) und Herietta (geb. Horwitz 1856 – 1927) Meyersohn geboren. Die Eltern betrieben ein gut gehendes Bekleidungsgeschäft in Bromberg. Siegbert hatte drei Geschwister Erna, Margarethe und Herbert.
Nach seinem Abitur 1905, vermutlich am (König-) Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Bromberg (Royal Friedrich High School at Bromberg), begann Siegbert Medizin in Freiburg zu studieren. Seine Dissertation schrieb er 1910 über „Typische Frakturen bei Skiläufern“ an der Universität Freiburg.
1914, zu Beginn des 1. Weltkriegs, wurde er als Arzt zum Militär eingezogen und gehörte zum Bayrischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 6 (Fürth), dem er laut Militärakten, bereits seit 1907 als Reservist angehörte. Siegbert war an der Westfront stationiert. Seine Entlassung aus dem Militärdienst erfolgte am 05.12.1918. In den Militärakten von 1914 ist als Wohnort Schivelbein angegeben sowie seine Frau Käthe, ein Kind und seine Eltern Moritz und Henrietta.
Die von uns gefundene Provenienz weist ihn als praktischen Arzt in Schivelbein aus. Dies deckt sich mit den Erzählungen und Aufzeichnungen der Familienangehörigen, die nach England immigriere konnte.
Siegbert heiratete am 17.10.1913 Käthe (auch Käte o. Kaethe) Salomon aus Schivelbein. Am 11.08.1914 wurde die erste Tochter des Paares, Lisa Therese, in Schivelbein geboren. Am 03.03.1921 folgte Tochter Eva.
Die Familie lebte ein harmonisches Familienleben. Die Sommer verbrachten vor allem die Frauen und Kinder der Familie am Meer. Doch das sorgenfreie, meist beschauliche Leben hatte mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 ein Ende. Anfänglich schützte Siegbert vielleicht noch seine Teilnahme am 1. Weltkrieg und seine Position als geschätzter Arzt, doch spätestens 1938, nach den Novemberpogromen in Deutschland, war diese vermeintliche Sicherheit vorbei. Siegbert wurde festgenommen und war einige Tage oder Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Laut Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945, des Bundesarchivs, wurde Siegbert im Dezember 1938 im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Laut der, im Russisches Staatlichen Militärarchiv Moskau lagernden Originalakten, hatte Siegbert die Häftlingsnummer 13240, er war in der Häftlingskategorie „Jude“ im Häftlingsblock 18 interniert. Die zuständige Institution im Konzentrationslager Sachsenhausen war die Politische Abteilung, seine Entlassung erfolgte am 12.12.1938.
Anfang September 1939, als das Leben für Juden in kleinen Städten immer schwieriger wurde, verließen Siegbert, Käthe und Eva Schivelbein, um nach Berlin zu gehen. Zuvor war die Familie etlichen Repressalien ausgesetzt. Bruder Herbert und seine Frau Regina berichten in einer eidesstattlichen Erklärung (Wieder-gutmachungsverfahren Lisa Meyersohn gegen das Deutsche Reich) unter anderem von der gewaltsamen Beschlagnahme des Autos (amerikanische Marke Nash) und der ärztlichen Instrumente (u.a. ein Mikroskop und ein Röntgenapparat) durch die SS.
Schwester Erna mit Familie und Schwester Margarethe und Familie lebten bereits in Berlin bzw. zogen nach Berlin und so konnte man sich in den schweren Zeiten gegenseitig unterstützen. Bruder Herbert mit Familie hatte Deutschland bereits verlassen. Ebenso sein Neffe Jan Gessler. Seine Tochter Lisa Therese war bereits 1936 nach Berlin gezogen und arbeitete im Jüdischen Krankenhaus zuerst als Lehrschwester und dann als Krankenschwester.
Siegbert war, so die Aussage seiner Familie in England, schon lange ein Zionist und betrieb seine Ausreise nach Palästina. Das Gros des beweglichen Besitzes der Familie (Möbeln, Hausrat, Büchern, Gemälden, Wäsche etc.) war bereits vor der Reise nach Berlin von Schivelbein nach Hamburg versandt worden und wartete hier auf den Weitertransport nach Palästina. Die Angebote in andere Länder zu gehen schlug er aus. Seine Ausreise nach Palästina scheiterte jedoch an den Einwanderungsbeschränkungen der Mandatsmacht. Siegbert erhielt keine Einreisepapiere für sich und seine Familie.
Am 14. Dezember 1942 wurden Siegbert, Käthe und Eva Meyersohn mit dem 25. „Osttransport“ (813 Personen) von Berlin nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sämtliches Vermögen der Deportierten wurde vom Deutschen Reich eingezogen und ging damit auf das Reich über. Ihre letzte Berliner Adresse wird in den Papieren des Standesamtes Berlin-Ost und in der Transportliste des 25. „Osttransports“ mit Maikowskistr. 107, Berlin-Charlottenburg angeben.
Im Register des Standesamtes Berlin ist am 08. November 1948 der Zeitpunkt des Todes mit „Anfang 1943 Riga/Lettland im Konzentrationslager verstorben“ angegeben. Die Abweichung von Auschwitz und Riga taucht in verschiedenen Quellen auf. Siegbert war zum Zeitpunkt seiner Deportation und Ermordung 56 Jahre, seine Frau Käthe 53 Jahre und Tochter Eva 21 Jahre alt.
Einzige Überlebende der Familie war die Tochter Lisa Therese Meyersohn (11.08.1914 Schivelbein – 2001 Brasilien). Sie konnte sich in den Kriegsjahren in Berlin verstecken. Ihre Überlebensumstände liegen im Dunkeln, auch ihre Familie in England hat zu dieser Zeit keine Informationen.
Auf der Homepage des Jüdischen Krankenhauses im Wedding (1914 eröffnet, ehemals Schulstraße heute Heinz-Galinski-Straße) ist folgendes zur Geschichte des Krankenhauses vermerkt: „Das Krankenhaus war Sammellager und Zwischenstation für die Transporte der Juden in die Konzentrationslager. Es wurde Ghetto, aber auch Zufluchtsstätte für Untergetauchte. Zur Befreiung im Jahr 1945 sollen sich zwischen 800 und 1.000 Menschen innerhalb seiner Mauern versteckt gehalten haben.“ Möglicherweise gehörte Lisa Therese zu den Menschen die sich dort verstecken konnten.
Sie wanderte 1948 nach Brasilien aus und verstarb dort 2001. Nach Aussage der Familie in England, war sie nie verheiratet und hatte keine Kinder. Ihre letzte Berliner Adresse ist in den Immigrationspapieren von 1948 mit Iranische Str. 4 (aber auch 2), Berlin N 65 angegeben – hier befand sich ein Durchgangslager für jüdische Displaced Persons (DP).
Siegbert wird von seinem Neffen Jan Gessler wie folgt beschrieben: „(…), he was a mensch. That is to say, a human being and not just somebody who lives with two legs and walks on the earth.” In einer Aufzeichnung über die Familiengeschichte für seine Kinder nennt er Siegbert u.a. auch: einen Familienmann, enthusiastischen Gärtner, miserablen Autofahrer aber sehr guten Gesprächspartner.
Folgendes ist zu Siegberts Geschwistern bekannt:
Die Schwester Erna Meyersohn (01.03.1885 Bromberg/Bydgoszcz – ermordet 03.03.1943 Auschwitz) war mit Bruno Gessler/Geßler (07.02.1880 Liptani/Liebenthal, Tschechoslowakei – 06.10.1940 Berlin) verheiratet. Das Ehepaar hatte zwei Söhne, Hans, der sich später in Jan umbenannte (1922 Zittau – 1994 England) und Otto (1925 Zittau – ermordet 03.03.1943 Auschwitz).
Bruno Gessler ließ sich nach dem ersten Weltkrieg in Zittau nieder. Hier leitete er das Deutsche Schuhwarenhaus in der Inneren Weberstraße. Stolpersteine hat die Geschichte der Familie Gessler recherchiert. 1938 ging die Familie nach Berlin. Hans gelang 1939 die Ausreise nach England, seine Familie konnte er nicht nachholen. Vater Bruno verstarb 1940 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Mutter Erna und Bruder Otto wurden mit dem 33. „Osttransport“ am 3. März 1943 von Berlin nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Die letzte gemeinsame Berliner Adresse des Ehepaars war die Tile-Hardenbergstr. 20.
Die Schwester Margarethe (Lotte) Meyersohn (26.12.1887 Bromberg/Bydgoszcz – 09.04.1976 Cincinnati) lebte in Königsberg und war mit Erich Oscher (17.02.1888 Königsberg – 13.09.1956 Cincinnati) verheiratet, der sich in den USA Eric nannte. Das Paar hatte einen Sohn namens Horst Peter (15.09.1920 Bromberg – 03.05.1973 Golf Manor, Hamilton, Ohio).
Ende der 30er Jahre zog die Familie nach Berlin. Margarethe und ihre Familie emigrierte mit einem Visum über Honduras in die USA, so die Erinnerungen von Jan Gessler. Laut Suchanfrage von Lisa Meyersohn nach ihrer Tante Lotte (Margarethe) von 1946 konnte die Familie über Panama in die USA flüchten. Am 22.09.1940 erreichten sie New York und ließen sich in Cincinnati, Ohio nieder.
Ihr Sohn Horst Peter änderte seinen Vornamen in „Horace Pete“ und war mit Hella Louise, geborene Pauson (02.10.1920 Bamberg – 19.01.2001 Tampa/Florida, USA) verheiratet. Das Paar hatte 2 Kinder: Steven (Stevie) (21.09.1947) und Vivien Ann (Vivi) (21.01.1952). Horst und Hella ließen sich am 26. September 1967 scheiden.
Der Bruder Herbert Meyersohn (25.05.1890 Bromberg/Bydgoszcz – 22.06.1966 London) machte 1908 Abitur und wurde Zahnarzt. 1934 heiratete er Regina Hirsch, geborene Less (06.02.1892 Schwetz a.W. – 20.07.1973 London). Regina Hirsch hatte zwei Söhne aus ihrer ersten Ehe mit Ismar Hirsch (01.04.1879 – 14.12.1936) Peter (16.01.1925 Berlin) und Hans, später John Hirsch (03.10.20 Berlin – 09.10.2010 England). Regina und John gelang es 1938 nach London zu immigrieren. 1939 folgten ihnen Herbert und Peter.
Sir Peter Hirsch heiratete 1959 Steve Keller, die 2 Kinder mit in die Ehe brachte Janet und Paul. John Hirsch heiratete 1948 Ann Pendlebury. Das Paar hat vier Kinder – Peter, Penny, Stella and Ann.
Als Adresse in Berlin wird im Jüdischen Adressbuch (1931/32) Dr. Herbert Meyersohn prakt. Zahnarzt: NW 23 Flensburger Str. 22 Moabit angegeben. Mit selbiger Adresse wird auch die Mutter, Henriette Meyersohn, genannt. Die letzte Berliner Adresse laut Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 18. Januar 1939 lautet, Berlin NW 87, Levetzowstr. 11a.
Am 24. Januar 2022 – fast 80 Jahre nach der Ermordung von Siegbert Meyersohn – erreichte, das in der Universitätsbibliothek der Freien Universität gefundene Buch, Sue Gessler, die Tochter von Jan Gessler, dem Sohn von Erna Gessler der Schwester von Siegbert. Sie hat uns dankenswerterweise viele der angeführten Informationen zu Verfügung gestellt.
Bei der Recherche für die Klärung des tatsächlichen Namens für Lotte, die eigentlich Margarethe hieß, danke ich der Ahnenforscherin Julia Henke, die die Geburtsurkunde in den polnischen Archiven fand.
Weitere Informationen finden Sie unter: Looted Cultural Assets (LCA).