Die Sozialistische Arbeiter-Jugend (SAJ): eine Rückgabe von NS-Raubgut an die Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Sozialistische Arbeiter-Jugend (SAJ) war von 1922 bis 1933 ein sozialistischer Jugendverband, der eng mit der SPD verbunden war. Sie richtete sich an Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren und verstand sich als Bildungs- und Erziehungsbewegung. Ihre Hauptaufgabe war es, die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Forderungen der Arbeiterjugend zu vertreten und ihre Mitglieder im Geiste des Sozialismus zu erziehen. Mit dem Niedergang der Weimarer Republik und der zunehmenden Macht der Nationalsozialisten endete die Ära der legalen demokratischen Jugendbewegung. Nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, wurden alle Arbeiterjugendorganisationen verboten, während viele bürgerliche Jugendverbände sich selbst auflösten oder durch die Nationalsozialisten „gleichgeschaltet“ wurden.“

Bild: Paul Löbe inmitten von Mitgliedern der SAJ beim SPD-Parteitag in Leipzig am 31.05.1931, Bildnachweis an „AdsD der FES, 6/FOTA013771 – mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung

Kürzlich wurde eine seltene Broschüre der SAJ aus dem Jahr 1924 aus dem Bestand der Alfred-Weiland-Sammlung der FU Berlin identifiziert, die einen Einblick in die internationalen Verbindungen und Zielsetzungen der sozialistischen Jugendorganisationen bietet. Die Publikation trägt den Titel „Die Internationale Sozialistische Jugendbewegung. Werdegang und Ziele der Sozialistischen Jugend-Internationale und der ihr angeschlossenen Verbände“. Das Exemplar weist einen Besitzstempel von Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) Barth a. d. Ostsee sowie eine Katalogisierung Nr. 36 auf.

Titelblatt mit diversen Provenienzen: Die Internationale Sozialistische Jugendbewegung, Verlag der Sozialistischen Jugend-Internationale, Berlin 1924

In Barth, einer Kleinstadt im Landkreis Vorpommern-Rügen in Mecklenburg-Vorpommern, war die SPD in der Zeit der Weimarer Republik relativ stark. Die Partei erzielte sowohl bei Reichstags- als auch bei Kommunalwahlen gute Ergebnisse, besonders in Arbeiterkreisen. Dies spiegelte sich auch in der Gründung der Barther Ortsgruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend wider. Ihre Entstehung ist untrennbar mit dem Namen Max Niemann verbunden, der Anfang der 1930er Jahre dem lokalen Vorstand der SPD angehörte. Niemann war nach dem Ersten Weltkrieg verantwortlicher Geschäftsführer der lokalen Zeitung „Der Vorpommer“ und gründete die Barther Ortsgruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend.  Nach der Veröffentlichung eines kritischen Artikels über die zunehmenden nationalsozialistischen Aktivitäten kam es zu Angriffen auf die Barther Geschäftsstelle des Vorpommer. In der Folge wurde Max Niemann unter dem Vorwurf eines Boykottaufrufs gegen örtliche Geschäftsleute – in einem politisch motivierten Verfahren – verurteilt. Die Eskalation gipfelte im Verbot des Vorpommer am 28. Februar 1933.  An seine Stelle trat kurz darauf die nationalsozialistisch ausgerichtete Zeitung Volkswillen.

Provenienz mit Bleistift: 15

Eine weitere Provenienz, der Bleistiftvermerk ‚15‘, belegt eine von den Nationalsozialisten veranlasste Beschlagnahme und die anschließende Überführung des Exemplars in die Bibliothek des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Die Nummer 15 verweist auf die Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken (Kennziffer 015), die beschlagnahmte Bücher im Rahmen des NS-Literaturraubs sichtete und an Institutionen weitergab. Die Bibliothek befand sich in der Eisenacher Straße 11–13 in Berlin, einem beschlagnahmten früheren Logenhaus, das von der SS genutzt wurde.

Anfang Juni 2025 wurde das Exemplar mit drei weiteren Broschüren, die Provenienzen aus anderen Ortsgruppen der Sozialistischen Arbeiter-Jugend aufweisen, an die Friedrich-Ebert-Stiftung restituiert.

Quellen:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/248537

https://www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie/artikelseite-adsd/gruendung-saj

Günther Gerstenberg, Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ), 1922-1933, publiziert am 13.07.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Sozialistische_Arbeiterjugend_(SAJ),_1922-1933

https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistische_Arbeiter-Jugend

Mählmann, Stephanie Patrizia: Der Vorpommer – eine vergessene Zeitung. In: LandeBarth, Band 9. Rostock 2017, https://stadt-barth.de/barth-lexikon/detailansicht/der-vorpommer.html

https://www.bergungsstelle.de/bs/15-bibliothek-ss-reichssicherheitshauptsamt

Kriegsbeute aus Polen – Die Rückkehr eines Buches aus Lubostroń an die Familie Skórzewski

Die Bibliothek der Familie Skórzewski war einst eine der größten privaten Büchersammlungen Polens – rund 70.000 Bände beherbergten die Paläste von Lubostroń und Czerniejewo, ergänzt durch eine bedeutende Kunst- und Münzsammlung. Doch mit dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 begann ihr Untergang: Die Bestände wurden beschlagnahmt, verteilt, geplündert – vieles ging unwiederbringlich verloren.

Heute, über acht Jahrzehnte später, ist von diesem einst imposanten Besitz nur wenig erhalten geblieben. Kunstwerke der Familie Skórzewski gelten bis heute als verschollen.  Auf der Plattform Lost Art ist eine Suchmeldung zu einigen beschlagnahmten Kunstgegenständen verzeichnet. Nur noch ein einziges Buch aus der üppigen Bibliothek befindet sich im Besitz der Nachfahren.

Im Zuge der Provenienzerschließung innerhalb der Alfred-Weiland-Sammlung konnte nun ein weiteres Buch aus der dieser Büchersammlung identifiziert werden.

Es handelt sich um das Rara Exemplar: „Über den niederen Adel und dessen politische Stellung in Deutschland“ von Wilhelm Freiherr Schenk zu Schweinsberg, einem hessischen Juristen und Publizisten, das 1842 im Verlag von Beck und Fränkel, Stuttgart & Sigmaringen anonym erschien.

Auf dem Titelblatt befindet sich ein markanter roter Stempel: In roten Großbuchstaben ist der Ortsname LUBOSTROŃ zu lesen, darüber kreuzen sich die Initialen L und S, über denen eine stilisierte, neun-zackige Grafenkrone schwebt – ein eindeutiger Hinweis auf die Bibliothek der Adelsfamilie Skórzewski.

Die Adelsfamilie Skórzewski nahm im 19. Jahrhundert eine prägende Rolle im kulturellen und bildungspolitischen Leben Polens ein. Ihr Stammsitz, der heute denkmalgeschützte klassizistische Palast Lubostroń (im gleichnamigen Dorf der Gemeinde Łabiszyn im Powiat Żnin der Woiwodschaft Kujawien-Pommern im Norden Polens.) beherbergte eine bedeutende Familienbibliothek, deren Grundstock zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Graf Leon Fryderyk Skórzewski (*28.6.1845 Posen, †2.3.1903 Lubostron, auch bekannt als Leon Fryderyk Walenty Hrabia Drogosław Skórzewski) gelegt wurde.

Pałac Lubostroń, © Kazimierz Mendlik | CC BY-SA 3.0

Graf Leon von Skórzewski war Abgeordneter im Deutschen Reichstag für die Polnische Fraktion und galt als großer Förderer polnischer Kultur. Seine Bibliothekssammlung in Lubestroń wuchs bis in die Zwischenkriegszeit auf schätzungsweise 20.000 Bände an. Obwohl sie nie vollständig katalogisiert wurde, dokumentiert ein erhaltenes Inventarbuch aus dem 19. Jahrhundert wesentliche Teile des Bestandes, das von dem polnischen Historiker, Prof. Dr. hab. Ryszard Nowicki untersucht wurde.

Zygmunt Włodzimierz Witold Skórzewski, CC0-Lizenz (Creative Commons Zero)

Ein Nachfahre der Familie war Zygmunt Włodzimierz Skórzewski
(*1894 Czerniejewo–†1974 Korsika). Er war der Nachfolger in der Linie der Haupterben des Familienbesitzes Czerniejewo-Radomice und Łabiszyn-Lubostroń, eines großen, nicht aufteilbaren Gutskomplexes, der als sogenanntes Ordynat geführt wurde – eine damals auch in Polen verbreitete Form des Fideikommisses (Nach 1945 durch die kommunistische Bodenreform abgeschafft.)  Als Hauptverwalter dieses Besitzes war er für die Bewahrung und Weitergabe der kulturellen und wirtschaftlichen Werte der Familie verantwortlich.  In den Jahren 1932 bis 1938 übergab er rund 11.000 Bände aus seinem Besitz der Raczyński-Bibliothek in Posen, um dieses Kulturgut einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Aber bereits Anfang September 1939, nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht, musste Zygmunt Skórzewski mit seiner Frau Leontyna und den drei Kindern ihr Gut in Czerniejewo verlassen und fliehen. Ihr Weg führte sie zunächst ostwärts nach Ołyka in Wolhynien (heute Ukraine) zu Verwandten seiner Frau. Als am 17. September 1939 auch sowjetische Truppen in Ostpolen einmarschierten, setzte die Familie ihre Flucht fort. Nach einem Aufenthalt in Lemberg (Lwów) flohen sie schließlich im Februar 1940 unter schwierigen Bedingungen – zu Fuß, bei Nacht und mitten im Winter – über den Grenzfluss Czeremosz nach Rumänien. Von dort gelangten sie mit Hilfe französischer Visa in die Schweiz und fuhren mit dem Orient-Express Richtung Italien und erreichten schließlich Rom.

In Italien war Zygmunt Skórzewski offiziell als Delegierter des Polnischen Roten Kreuzes tätig – de facto agierte er jedoch als Verbindungsmann der polnischen Exilregierung und des militärischen Nachrichtendienstes. 1943 wurde Zygmunt Skórzewski von der italienischen Geheimpolizei unter dem Druck der Deutschen Besatzung verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Seine Frau wurde getrennt inhaftiert, die Kinder kamen in die Obhut der polnischen Botschaft in Rom. Erst 1945, nach 32 Monaten Gefangenschaft, gelang durch Vermittlung von Papst Pius XII. die Freilassung. Nach der Befreiung ließ sich die Familie dauerhaft auf Korsika nieder, wo Zygmunt Skórzewski am 10. Mai 1974 verstarb.

Von der einst reichen Sammlung blieb kaum etwas erhalten, denn nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde das Schloss Lubostroń mitsamt der Bibliothek der Familie Skórzewski beschlagnahmt. Die Bestände von Lubostroń und Czerniejewo, darunter auch Teile der Raczyński-Bibliothek (1938 umfasste die Raczyński-Bibliothek insgesamt mehr als 160.000 Bände) wurden durch Einheiten der deutschen Wehrmacht nach Posen (Poznań) verbracht. Ein Großteil gelangte in das zentrale Bücherlager der Kirche des heiligen Erzengels Michael (Parafia pw. Świętego Michała Archanioła w Poznaniu) in Posen, das als Sammelstelle für von den Nationalsozialsten beschlagnahmte Bücher verschiedenster Herkunft diente. Dieses Lager umfasste nach Schätzungen bis zu drei Millionen geraubter Bände. Darunter befanden sich Werke aus kirchlichem, staatlichem und privatem Besitz.

Kirche des heiligen Erzengels Michael in Posen. Foto: Radomil / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kościół_Michała_Archanioła_Poznań_RB1.JPG

In den folgenden Jahrzehnten konnten vereinzelt Rückgaben erfolgen, die mangels überlieferter Dokumentation ausschließlich anhand erhaltener Provenienzmerkmale identifiziert und zugeordnet werden konnten. Heute sind in der Raczynski-Bibliothek noch ca. 40 Manuskripte und vier Bücher aus der Skórzewski Sammlung erhalten.

Das nun identifizierte Exemplar gelangte aus der ehemaligen Bibliothek des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin in den Besitz des ehemaligen Rätekommunisten und Widerstandkämpfers Alfred Weiland (*1906 Berlin – †1978 West-Berlin), der es nach dem Krieg aus den RSHA Beständen übernahm und in seine private Sammlung eingliederte. Diese Sammlung wurde 1979 von seiner Tochter an die Freie Universität Berlin verkauft.

Der eindeutige Nachweis der Herkunft dieses Exemplars ist Prof. Dr. Ryszard Nowicki zu verdanken, der im Rahmen seiner langjährigen Forschungen zur Bibliothek der Familie Skórzewski die Provenienz des Bandes zweifelsfrei belegt hat. Die Überlieferungskette lässt sich heute wie folgt rekonstruieren:

→ Bestandteil der Skórzewski-Bibliothek Lubestroń
→ 1939 Enteignung durch deutsche Wehrmacht
→ Verlagerung in das Bücherlager der St. Michael Kirche, Posen
→ Verlagerung nach Berlin durch die deutsche Wehrmacht
→ 1945/46 Übernahme aus den Beständen der Bibliothek RSHA durch Weiland
→ 1979 Erwerb Weiland-Sammlung durch FU Berlin

Im Juni 2025 wurde das Werk durch die Arbeitsstelle Provenienzforschung der FU Berlin an die Nachfahren der Familie Skórzewski restituiert.


Quellen:

https://www.whitemad.pl/de/es-ist-wunderschon-der-palast-in-lubostron-mit-seiner-einzigartigen-innenausstattung/ 

https://www.ceeol.com/search/article-detail?id=895921&utm_source

https://aap.poznan.pl/de/bibliothek/

https://www.sejm-wielki.pl/b/ut.33.1.18

Ryszard Nowicki: Inventory Book of the Skórzewski Counts’Lubostroń Library Collection – Preserved, S. 123, 128

https://bazhum.muzhp.pl/media/files/Biblioteka/Biblioteka-r2004-t8_(17)/Biblioteka-r2004-t8_(17)-s49-62/Biblioteka-r2004-t8_(17)-s49-62.pdf, S. 62

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/249045

 

 

Kurt Bergfeld (1894 – 1983) – Kein NS-Raubgut aber viel Lebensgeschichte

Karl Werner Erich Kurt Bergfeld, Sohn von Gustav Wilhelm Karl Bergfeld (1866-1941) und Alma Johanne Bergfeld, geborene Petersilie (1869-1938) wurde am 15. Februar 1894 in Halle an der Saale geboren.

Mit 14 Jahren zieht es ihn in die Ferne und er heuert 1908 auf einem Segelschulschiff an. Nach einer Weltumseglung und vielen Abenteuern besucht er eine Navigationsschule und wird Steuermann.

Kurt Bergfeld: Hamburger Hafen, Quelle: Privat

Mit Beginn des 1. Weltkriegs 1914 wird Kurt Bergfeld eingezogen. Bereits am 11. November desselben Jahres taucht der Name Kurt Bergfeld, Halle a. Saale, auf einer Verletztenliste auf. Im Rang eines Füsiliers des 5. Regiment Nr. 36 Halle a.S. Bernburg, I. Bataillon, 3. Kompanie – „schwer verletzt“. Ob es sich hier um eben jenen Kurt Bergfeld handelt ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar.

Deutsche Verlußtlisten (Pr. 74) vom 11. November 1914, S. 2482, Quelle: https://www.ancestry.de/search/

Laut Aussage seiner Familie geriet er in britische Kriegsgefangenschaft und verbrachte diese auf der Isle of Man. Zwischen 1914 und 1919 wurden im Internierungscamp Cunningham und Knockaloe über 30.000 Gefangene aus Deutschland, Ungarn/Österreich und der Türkei auf Grundlage des „Aliens Restriction Act“ von 1914, festgehalten. Obwohl das Leben in den Lagern sehr karg war, gab es kleine Kulturangebote: Orchester, Sportgruppen, Bibliotheken und verschiedene Künstlerkreise.

In der Kriegsgefangenschaft trifft er den vermutlich ebenfalls internierten (Professor) L.(udwig) Zullo aus Wien und studiert bei ihm Malerei und Grafik. Er beteiligt sich in England an einer Ausstellung und erhält einen Preis in einem Zeichenwettbewerb.

1919 werden die letzten deutschen Kriegsgefangenen entlassen und Kurt Bergfeld kehrt nach Deutschland zurück. Nach seiner Rückkehr erlernt er den Beruf des Melangeur (Textiltechniker) in der Kammgarnspinnerei Eisenach GmbH.

Vermutlich frühestens 1924 wird er Schüler an der Staatlichen Schule für Handwerkskunst Eisenach bei Prof. Hermann Blechschmidt (1882 – 1934), der 1924 von der Eisfelder Zeichen- und Modellierschule nach Eisenach gewechselt war. Für 1928/1929 sind, dank des Schulausweises, Besuch der Abendschule an der Staatlichen Zeichenschule Eisenach belegt.

Adressbuch Eisenach 1933-1934: Alphabetisches Verzeichnis der Einwohner, S. 15. Quelle: https://www.ancestry.de/search/

In den Adressbüchern der Stadt Eisenach, ist ein Kurt Bergfeld, wohnhaft in der Goethestr. 25a, verzeichnet. Seine Berufsbezeichnungen wechseln von 1925 -1939 Kaufmann, zu Melangeur 1943.

Adressbuch Eisenach 1943, S. 248. Quelle: https://www.ancestry.de/search/

 

 

 

Während des 2. Weltkriegs war er beim Reichsluftschutzbund (RLB) dienstverpflichtet, musste aber nicht als Wehrmachtssoldat an die Front. Möglicherweise gibt es hier einen Zusammenhang mit der „schweren Verletzung“ aus dem ersten Weltkrieg.

Nach Kriegsende arbeitete Kurt Bergfeld zunächst als freischaffender Künstler. 1946 trat er dem neu gegründeten (8. August 1945) „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ bei.

Kurt Bergfeld, Quelle: Privat
Künstlerkürzel von Kurt Bergfeld Quelle: privat

Am 26. September 1947 wird Kurt Bergfeld als namhafter Künstler durch Prüfungsausschuss Eisenach anerkannt und beim Arbeitsamt als Kunstmaler registriert und arbeitet in und über Bad Salzungen.

1949 ist er Dozent an Volkshochschule und unterzieht sich der Prüfung zum Lehramtsanwärter, mit nunmehr 58 Jahren besteht er die zweite Lehramtsprüfung und wird Kunsterzieher an der Oberschule in Bad Salzungen und später an der Oberschule Bad Liebenstein.

Bis 1958 ist er Gründungsmitglied des Kulturbundes in Bad Salzungen (gemeinsam mit Willy Degen und Hermann Müller), Mitglied des Bezirks- und Kreisvorstandes des Kulturbundes, Mitglied des Bezirksvorstandes im „Verband Bildender Künstler“, Arbeitsgebietsleiter des „Verbandes Bildender Künstler Deutschlands“, arbeitet im Bezirksvorstand der „Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse“ und organisiert engagiert Ausstellungen und Vorträge.

Ab 1959 widmet er sich zunehmend seiner Lehrtätigkeit.

Kurt Bergfeld: Stadtkirche Bad Salzungen. Quelle: privat

Kurt Bergfeld ist künstlerisch seiner Heimat (nach 1919) treu geblieben. Neben Auftragswerken hat er die Thüringer Natur, ihre Menschen und die Stadt Bad Salzungen verewigt.

Er war zweimal verheiratet. Mit seiner ersten Frau Hedwig Susanne Charlotte Müller (1898 -1950) hatte er zwei Töchter, Ursula Pfeifer (1924-2017) und Erika Bergfeld (1933). Seine zweite Frau Gerda Hilda Gedrat (1921 – 2006) brachte eine weitere Tochter mit in die Ehe, Sabine Frank, geb. Gedrat (1939 – 1991).

Kurt Bergfeld starb am 23.07.1983 in Bad Liebenstein.

Das in der Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts gefundene Buch „Line & Form“ von Walter Crane, 1914 erschienen bei G. Bell & Sons LTD in London, enthält ein von Kurt Bergfeld handgemalten Exlibris.

Exlibris Kurt Bergfeld

Wir vermuten, dass das Buch aus seiner Zeit in der Kriegsgefangenschaft auf der Ilse of Man stammen könnte – es ist in Englisch und aus dem Vorsatzblatt ist unten rechts ein Stück ausgeschnitten worden – ggf. ein Hinweis auf eine Bibliothek im Kriegsgefangenenlager.

Das Buch kam 1948 an die Freie Universität Berlin in die Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts. Als Lieferant ist im Inventarbuch ein gewisser „Horstmann“ verzeichnet. Leider ist bis jetzt unklar, ob es sich hier um eine Privatperson oder ein Antiquariat handelt.

Wie lange das Buch im Besitz von Kurt Bergfeld war, ist bislang ebenfalls nicht nachvollziehbar. Da kein weiterer Eigentümer im Buch verzeichnet ist und Kurt Bergfeld nicht vom NS-Regime verfolgt wurde, ist das Buch als „kein NS-Raubgut“ eingestuft.

Kurt Bergfelds künstlerisches Werk und die noch fehlenden Details des Lebenslaufs gilt es von seiner Enkelgeneration zu vervollständigen und zu veröffentlichen.

Quellen:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/314873

https://www.knockaloe.im

https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2021/12/wie-ein-deutscher-in-einem-britischen-gefangenenlager-pilates-erfand

https://www.archivportal-d.de/

https://www.deutschlandfunk.de/vor-75-jahren-kulturbund-zur-demokratischen-erneuerung-100.html

https://www.nsdoku.de/lexikon/artikel/reichsluftschutzbund-rlb-684

https://lars-gebauer.de/kammgarnspinnerei-eisenach.html

Eilers, Herbert: Die Eisenacher Zeichenschule: die Geschichte der Schule und ihrer Lehrer, Bonn 1986

Gespräch mit der Enkelin C. Herklotz

Die Rückkehr jüdischen Erbes: Ein Buch aus der Bund-Bibliothek

Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund –kurz Bund (בונד, Бунд) genannt (jiddisch: אַלגעמײנער ייִדישער אַרבעטער־בונד, russisch: Всеобщий еврейский рабочий союз в Литве, Польше и России) wurde 1897 in Wilna (heute Vilnius) gegründet, um sich für die Rechte jüdischer Arbeiter*innen sowie soziale und kulturelle Gleichstellung einzusetzen. Aufgrund der Repressionen durch die zaristische Regierung, verlagerte das Zentralkomitee der Partei seine Aktivitäten bereits 1898 nach Genf, das für viele Bundisten zu einem wichtigen Zufluchtsort wurde. Neben Genf entstanden auch Ableger in London, Paris, New York und Buenos Aires sowie zahlreiche lokale Gruppen in der jüdischen Diaspora. Aber auch Wilna war nach der Russischen Revolution von 1905 ein wichtiger Standort der politischen Aktivitäten des Bundes.

Eine prägende Figur des „Bund“ war Franz Kursky, der 1874 in Kurland (heutiges Lettland) als Samuel Kahan geboren wurde.  Als Leiter des Auslandsarchivs ab 1906 spielte er eine zentrale Rolle bei der Sicherung und Dokumentation ihres Vermächtnisses. Bereits 1919 legte er den Grundstein für das Bund-Archiv, indem er die Archivsammlung und die Bibliothek von Genf – einem sicheren Hafen während der antisemitischen Pogrome in Osteuropa – wieder zurück nach Wilna brachte, wo der Bund gegründet wurde.

Bereits ein Jahr später, 1920, verlegte er gemeinsam mit dem Mitbegründer des Bundes, Vladimir Kosovski (1867-1941), die Schweizer Auslandsvertretung des Bundes sowie das Auslandsarchiv nach Berlin, wo er seit 1918 im Exil lebte. Der Ausbruch des Polnisch-Russischen Krieges 1919/1920 machte diese Entscheidung notwendig, da Wilna, im Zentrum territorialer Konflikte zwischen Polen, Litauen und Sowjetrussland, Schauplatz zahlreicher militärischer Auseinandersetzungen war. In diesem unsicheren Umfeld bot die Stadt keine geeignete Basis mehr für das Bund-Archiv.

Mit Unterstützung der SPD, zu der der Bund enge Kontakte unterhielt, wurde das Archiv Ende 1925 in das „Vorwärts-Haus“ der SPD, Lindenstraße 3 überführt. Dort sollten, so Kursky, die Dokumente „geordnet und vor bösen Geistern bewahrtwerden. Die Sozialdemokraten halfen dem Bund vorallem beim Druck von Parteiliteratur in der eigenen Großdruckerei, so dass es sich zu einem zentralen Umschlagplatz für jiddische und russische Veröffentlichungen, die von den im Schweizer Exil ansässigen Mitgliedern des Bundes über Berlin nach Russland weitergeleitet wurden, entwickelte. Auch die SPD-Parteibibliothek war bis 1933 im Vorwärts-Haus in Berlin untergebracht. Nach dem SPD-Verbot am 22. Juni 1933 und der „Gleichschaltung“ wurde sie vom NS-Regime beschlagnahmt.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bund_logo.svg

Wahlplakat des Bundes, aufgehängt im Wahlbezirk Kiew im Jahr 1917. Überschrift auf Hebräisch: „Wo wir leben, dort ist unser Land!“
Innerhalb des Rahmens: „Wählt Liste 9, Bund“. Unten: „Eine demokratische Republik! Volle nationale und politische Rechte für Juden!“

Der Buchfund: „Frauenarbeit und Familie“

Ein bemerkenswerter Bestandteil dieses historischen Erbes ist das 1914 erschienene Buch Frauenarbeit und Familie von Edmund Fischer, das vom Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung der UB Anfang Dezember 2024 identifiziert wurde. Das Exemplar gelangte zu einem unbekannten Zeitpunkt in den Bestand der Universitätsbibliothek.

Ab 1950 wurde es als Teil der Wissenschaftlichen Zentralbibliothek Berlin geführt und unter der Zugangsnummer 50/11499 erfasst.

Zugangsnummer der Wissenschaftlichen Zentralbibliothek Berlin: 50/11499

Die Wissenschaftliche Zentralbibliothek wurde 1950 in Dahlem gegründet und diente der Erfassung der Bibliotheksbestände der West-Berliner Sektoren. Sie existierte nur bis 1954 und bildete die Grundlage der heutigen Amerika-Gedenkbibliothek in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Wie der Stempel im Bild zur Provenienz 3 zeigt, war das Buch zwischenzeitlich Teil der Sammlung der Amerika-Gedenkbibliothek und wurde später (zu einem unbekannten Zeitpunkt) dort ausgesondert.

Provenienzen

Provenienz 3: Wissenschaftliche Zentralbibliothek Berlin und Stempel: Ausgeschieden, Gedenk-Bibl.

Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten im Jahr 1933 erhielten diese „bösen Geister“ eine erschreckend konkrete Gestalt, da die Verfolgung jüdischer und sozialdemokratischer Organisationen und die Beschlagnahme ihres Eigentums zur bedrohlichen Realität wurden. Auch der Druck auf jüdische Personen wie Kursky nahm erheblich zu. Angesichts der wachsenden Verfolgungsgefahr floh er nach Paris und brachte die Sammlung mit, um sie vor der drohenden Beschlagnahmung zu schützen. In Paris war Kurski aufgrund finanzieller Notlage jedoch dazu veranlasst, die Sammlung 1934 an die Gründer des International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam zu verkaufen. Die Überführung des Archivs und der Bibliothek gestaltete sich jedoch schwierig: Erst 1936, mit erheblicher Verzögerung und nicht in vollständigem Zustand, erreichte die umfangreiche Lieferung Amsterdam. Kursky floh 1941 von Paris nach New York, wo er am 17. Januar 1950 verstarb.

Kurskys vorausschauendes Engagement für die Sicherung des Archivs ermöglichte es ihm, einen großen Teil der Sammlung vor dem Zugriff des NS-Regimes in Berlin zu bewahren. Dennoch gelang es ihm nicht, die Sammlung vor der Deutschen Wehrmacht in Amsterdam zu retten. Nach der Besatzung der Niederlande fiel die umfangreiche Bibliothek mit etwa 300.000 Exemplaren in die Hände des Einsatzstabs Alfred Rosenberg. Die Bestände wurden im International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam beschlagnahmt und anschließend nach Deutschland sowie in den Osten transportiert.

Nach Kriegsende war die Sammlung weit verstreut, und viele ihrer Teile gingen verloren. Einige Bestände wurden 1946 bei Hannover wiedergefunden und schließlich nach Amsterdam zurückgebracht.

Heute befindet sich die Bund-Sammlung in verschiedenen Institutionen weltweit, darunter im International Institute of Social History (IISH) Amsterdam. Ein bedeutender Teil des Archivs wurde im Rahmen des Centrale-Projekts von 2012 bis 2016 digitalisiert und ist heute unter dem Namen „Yidishkayt“ im IISH zugänglich.

Die Universitätsbibliothek übergab das Buch an das International Institute of Social History (IISH) Amsterdam.

1 Franz Kurski: Gezamlte Shriftn. New York 1956, S. 24.

Quellen: abgerufen am 02.12.2024 unter:

https://archief.socialhistory.org/en/collections/yiddish-collection-brief-history, abgerufen am 25.11.2024

https://www.wikiwand.com/de/articles/Allgemeiner_J%C3%BCdischer_Arbeiterbund, abgerufen am 25.11.2024

https://search.iisg.amsterdam/Record/ARCH00195/ArchiveContentAndStructure, abgerufen am 29.11.2024

Jewish Places: Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund (Bund), abgerufen am 29.11.2024

http://www.yivoarchives.org/index.php?p=collections/controlcard&id=33762, abgerufen am 29.11.2024

Frank Wolff: Historiography on the General Jewish Labor Bund. Traditions, Tendencies and Expectations, abgerufen am 04.12.2024 unter:  https://docs.google.com/viewer?url=https%3A%2F%2Fwww.medaon.de%2Fpdf%2FM_Wolff-4-2009.pdf&fname=M_Wolff-4-2009.pdf&pdf=true

Ein Stück jüdischer Geschichte aus Berlin

Manchmal öffnet die Geschichte ihre Türen einen Spalt breit und gewährt uns einen Blick in die Vergangenheit. So erging es uns vor Kurzem bei der Entdeckung eines historisch wertvollen Buches aus der Bibliothek der ehemaligen Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (HWJ) aus der Campusbibliothek.

Diese renommierte Institution, deren Bibliothek eine bedeutende Sammlung religiöser und wissenschaftlicher Literatur mit über 60.000 Bänden umfasste, wurde 1942 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt. Der Fund des Buches dokumentiert einen weiteren Fall der Enteignung aus dem Besitz der HWJ und verdeutlicht damit die Verlagerung und Nutzung jüdischer Kulturgüter durch das NS-Regime.

Bereits beim ersten Aufschlagen von Simon Bernfelds Werk Die Jüdische Literatur aus dem Jahr 1921 offenbaren sich auf dem Titelblatt drei bedeutende Hinweise zur Herkunft des Buches. Zunächst ist da der runde Stempel der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, gefolgt von der Exemplarnummer 17201, die mit Bleistift unten rechts vermerkt ist. Besonders auffällig jedoch ist der rote Stempel „Ghetto-Bücherei“ des KZ Theresienstadt, der oben rechts prangt.

Titelblatt mit Provenienzen: Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und Ghetto-Bücherei. Copyright: Looted Cultural Assets (LCA)

 

Das abgebildete Buch trägt eine künstlerische Gestaltung des jüdischen Künstlers Menachem Birnbaum (1893-1944) aus Wien, der für seine  Illustrationen und Karikaturen bekannt war. Birnbaum wurde wahrscheinlich im Jahr 1944 im KZ Auschwitz ermordet.

Im Buch gibt es weitere, beinahe unsichtbare Spuren, deren Bedeutung ungeklärt ist.

Lieferant unbekannt

Wie konnte dieses besondere Buch, das aus der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums stammt und Teil der NS-Raubgutbestände aus dem Ghetto Theresienstadt ist, in die Bestände der FU Berlin gelangen? Diese Frage lässt sich nur spärlich und ungenügend beantworten. Das Buch kam aus der FU-Bibliothek des Instituts für Evangelische Theologie, die es 1976 in ihren Bestand eingearbeitet hat. Das Institut existierte von 1957 bis 2009. Nach der Auflösung des Instituts wurde es in der Campusbibliothek eingearbeitet. Allerdings sind keine Zugangsbücher mehr erhalten, sodass der Lieferant unbekannt ist. Offen bleibt daher die Frage, welche Wege das Buch nach der Befreiung des KZ-Theresienstadt im Jahr 1945 nahm, bis es schließlich an die FU Berlin 1976 gelangte.

Aus der Zugangsnummer B 869/76/289 geht das Zugangsjahr 1976 hervor. Copyright: Looted Cultural Assets

Geistige Bastion des liberalen Judentums

Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (HWJ), gegründet im Jahr 1872 in Berlin, war eine wegweisende akademische Einrichtung und zugleich ein geistiges Zentrum des liberalen Judentums in Europa. Sie nahm eine einzigartige Stellung ein, indem sie jüdische Traditionen mit den aufkommenden modernen wissenschaftlichen Methoden vereinte und ihren Studierenden ein breites und fundiertes Fächerspektrum anbot. Die Hochschule spiegelte nicht nur den Geist der Emanzipation wider, sondern förderte auch das liberale jüdische Denken, das auf Integration und Modernisierung des jüdischen Glaubens und Lebensstils abzielte.

Ehemaliges Hochschulhaus 1907-1941, Artilleriestraße 14, Heute Leo-Baeck-Haus, Tucholskystraße 9, Berlin-Mitte Foto: Marco Limberg

Nur ein paar Häuserblocks weiter, befand sich in der Artilleriestraße 31 das orthodoxe Rabbinerseminar zu Berlin.1 Im Scherz wurde die Hochschule als „leichte Artillerie“ und das Rabbinerseminar als „schwere Artillerie“ bezeichnet.2

Die Gründung dieser Institution wurde von bedeutenden jüdischen Intellektuellen der liberal-religiösen Strömung wie dem Professor Moritz Lazarus und dem Rabbiner Abraham Geiger initiiert. Lazarus, ein engagierter Verfechter jüdischer Rechte in Deutschland, und Geiger, ein Vordenker des Reformjudentums, schufen mit anderen führenden Persönlichkeiten eine Hochschule, die sich durch ihre Unparteilichkeit, finanzielle Unabhängigkeit und die Betonung auf die Vermittlung umfassender jüdischer Bildung, auszeichnete. Dieser innovative, liberale Ansatz prägte jahrzehntlang die HWJ als akademische und geistige Heimat des modernen Judentums und bot eine Plattform, auf der u. a. jüdische Theologie, Philosophie, Geschichte, Literatur sowie Hebräisch studiert wurden. Die Hochschule zog Studierende aus ganz Europa an, insbesondere aus traditionellen jüdischen Gemeinden Mitteleuropas, die in Berlin eine der seltenen Möglichkeiten fanden, eine rein wissenschaftliche Ausbildung im jüdischen Kontext zu erhalten. Zusammen mit dem Berliner orthodoxen Rabbinerseminar zu Berlin und dem Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau bildete die HWJ ein Dreigestirn der jüdischen Wissenschaften in Deutschland.

Besonders bemerkenswert an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums war ihre integrative Bildungspolitik. Sie war eine der ersten akademischen Einrichtungen ihrer Zeit, die eine Zulassungspolitik für Frauen und Männer gleichermaßen verfolgte und sowohl Juden als auch Nichtjuden offen stand. So wurde Regina Jonas (Berlin 1902- KZ Auschwitz 1944) 1935 die erste Frau weltweit, die zur Rabbinerin ordiniert wurde (Gedenktafel in Berlin). In einem sozialen und bildungspolitischen Kontext, in dem Judaistik und rabbinische Studien an deutschen und preußischen Universitäten keinen Platz hatten, bot die HWJ eine theologische Ausbildung zu Rabbiner:innen oder Religionslehrer:innen an. Damit leistete die Hochschule nicht nur einen Beitrag zur wissenschaftlichen Emanzipation des Judentums, sondern ebnete auch den Weg für die Gleichberechtigung in der Hochschulbildung.

Zu den herausragenden Persönlichkeiten, die an der Hochschule lehrten und deren wissenschaftlichen Ruf prägten, zählte Leo Baeck, einer der bedeutendsten Rabbiner und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Leo Baeck, der später die Leitung der Hochschule übernahm, verband jüdisches Gelehrtentum mit einem tiefen sozialen Engagement, das besonders in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus zum Ausdruck kam.

Weitere bedeutende Gelehrte wie Ismar Elbogen, Max Wiener, Hermann Cohen und Dr. Leopold Lucas lehrten an der HWJ und trugen wesentlich zur intellektuellen Reputation dieser einzigartigen Institution bei.

Quelle: Leo Baeck Institute, Commencement ceremony at Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums: with faculty and students, including Leo Baeck (seated far right) and Ismar Elbogen (standing to his left). (1938): Berlin; Lehranstalt fuer die Wissenschaft des Judentums AR 730. Print. (F1959), Courtesy of the Leo Baeck Institute. Das Bild wurde uns mit freundlicher Genehmigung von Leo Baeck Institute zur Verfügung gestellt.

Auch Persönlichkeiten, die nur kurzzeitig an der HWJ studierten, leisteten einen entscheidenden Beitrag zum Ansehen und Vermächtnis dieser Institution bei. Der Prager Dichter Franz Kafka, eine der bekanntesten literarischen Stimmen des 20. Jahrhunderts, gehörte von November 1923 bis Januar 1924 zu ihren außerordentlichen Gasthörern.

Franz Kafka 1883-1924, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Franz_Kafka,_1923.jpg

In diesen wenigen Monaten fand der gesundheitlich angeschlagene Franz Kafka in der HWJ eine inspirierende Umgebung und intellektuelle Zuflucht, um seine jüdischen Studien zu vertiefen. Kafkas Werke enthalten zahlreiche Motive jüdischer Traditionen. Sie reflektieren seine Identität mit dem Judentum und machten ihn in der modernen Weltliteratur unsterblich. Seine drei Schwestern wurden Opfer des Holocaust.

Die Hochschule für Wissenschaft ist für mich ein Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Innern. (…) Ein ganzes Haus, schöne Hörsäle, große Bibliothek, Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und alles umsonst.“ 3

Verfolgung und Schließung

Der Frieden währte nicht lange, und die Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren für die Hochschule von tiefgreifenden Veränderungen und Enteignungen geprägt. Am 24. Juni 1933 verlor die Hochschule per Verfügung ihren Status als staatlich anerkannte Institution und wurde in die „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ umbenannt. Zwei Jahre später, Ende 1935, wurde das der Hochschule gehörende Erholungsheim „Villa Hausmann“ – damals noch Arendsee genannt (heute Villa Baltic in Kühlungsborn) – an die „Joseph-Goebbels-Stiftung für Bühnenschaffende“ überschrieben und damit enteignet.4

Die gewaltsamen Ereignisse der Reichspogromnacht am 9. November 1938 führten zur vorübergehenden Schließung der Institution, während mehrere Dozenten und Studierende verhaftet wurden. Der Lehrbetrieb wurde im Januar 1939 eingeschränkt wiederaufgenommen, nur ein kleiner Kreis von Studierenden und Lehrenden, darunter Leo Baeck, blieb bis zur endgültigen Schließung der Hochschule.  Das geschah am 19. Juni 1942, da Jüdinnen und Juden ab da vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Leo Baeck und die verbliebenen Studierenden wurden 1943 ins KZ Theresienstadt deportiert. Die Bibliothek sowie das Inventar der HWJ wurde vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beschlagnahmt. Teilbestände wurden später nach Berlin und Prag ausgelagert.

Nathan Peter Levinson 1921-2016, Quelle: https://libraryoflostbooks.com/de/lesesaal/nathan-peter-levinson/, Item AK2ORD2623 © akgimages

Auszug aus dem Nachruf von Nathan Peter Levinson auf seinen Lehrer Dr. Leopold Lucas (1872 Marburg – 1942 KZ Theresienstadt)

Zunächst möchte ich erwähnen, daß er mein Lehrer war und das in einer der dunkelsten Stunden der Geschichte. Zwischen 1940 und 1941 unterrichtete er mich und einige wenige Studenten in Berlin an der einzig verbliebenen, aber nicht als solche mehr anerkannten jüdischen Hochschule im Fach Jüdische Geschichte. Juden durften damals keine Theater mehr besuchen, keine Kinos, keine Cafés und natürlich keine Universitäten. Die Synagogen waren im November 1938 zerstört worden. So blieb die Lehranstalt fast der einzige Ort, an dem Juden sich geistig betätigen konnten. Früher Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, war ihr der Hochschulstatus aberkannt worden. Es unterrichteten dort neben dem geistigen Haupt der deutschen Judenheit, Leo Baeck, nur noch eine Handvoll Dozenten, unter ihnen Leopold Lucas. Von den damaligen Studenten überlebten nur wenige: außer mir noch drei Kommilitonen. (…) In der Tat war diese Hochschule eine Insel innerhalb eines brandenden Meeres. Draußen war die Gewalt, der Schrecken, die Einschüchterung, die Entrechtung. Innerhalb der Mauern und Lehranstalt fühlte man sich wie in einer anderen Welt, der Welt des Geistes, die nicht bezwungen werden kann.“5

Die Wege der Bibliothek der Hochschule nach dem 2. Weltkrieg sind heute nur teilweise rekonstruierbar. Nach 1945 spielte die heutige National Library of Israel eine zentrale Rolle im Erhalt jüdischer Kulturgüter aus verschiedenen Quellen und Sammelstellen. So dienten auch Bücher dem Wiederaufbau jüdischen Lebens in Israel. Auch das Leo Baeck Institute Jerusalem erhielt durch Dublettenabgaben Bücher aus der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. In Berlin tauchten 1945/46 einige Bücher und Inventarteile auf, als der Berliner Magistrat „herrenlose Buchbestände“ aus der Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken sicherte und einige Exemplare der wiederbegründeten Jüdischen Gemeinde zu Berlin übergab. In Deutschland gab es in den letzten 10 Jahren nur vereinzelt Funde. So hat in 2015 die ZLB gemeinsam mit der Bayerischen Staatsbibliothek vier Bücher an das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam restituiert. Und auch uns gelang ein Fund im Jahr 2017, so dass wir die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums von 1870 an das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zurückgeben konnten.

Weitere Werke der Hochschulbibliothek besitzt die Bibliothek der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die über den Nachlass des Rabbiners Emil Davidovic dorthin gelangten. Davidovic hatte nach dem Krieg Zugang zu Beständen der Ghetto-Bibliothek Theresienstadt, wohin die Bücher durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) verlagert worden waren.

Bis heute sind also immer noch tausende Bücher unentdeckt. Umso bemerkenswerter ist der jüngste Fund aus April 2024 von ca. 4.000 Bänden des Jüdisches Museum in Prag aus der ehemaligen HWJ Bibliothek. Dieser Fund gibt Anlass zur Hoffnung, dass das wertvolle Wissen, das in diesen Büchern verkörpert ist, zumindest virtuell an die jüdische Gemeinschaft zurückgegeben werden kann.

Neue Wege gehen – „Library of Lost Books“

Um das Erbe dieser bedeutenden Institution virtuell wiederherzustellen, hat das Leo Baeck Institute Jerusalem das internationale Projekt „Library of Lost Books“ ins Leben gerufen. Daher freuen wir uns, dass unser jüngster Fund sich als weiterer kleiner Baustein in dieses umfassende wissenschaftliche Vorhaben einfügt und eine detaillierte Aufarbeitung der Verluste jüdischen Kulturguts während der NS-Zeit auch durch die Freie Universität Berlin ermöglicht.

Vielleicht öffnet sich eines Tages eine weitere Tür und enthüllt mehr von der Geschichte dieser besonderen Bibliothek – die Suche geht auf jeden Fall weiter.

Das Buch Die Jüdische Literatur finden Sie in LCA hier.


1 Gegründet 1873 von dem Rabbiner Esriel Hildesheimer (ab 1882 Rabbinerseminar zu Berlin) war eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für orthodoxe Rabbiner in Westeuropa (bekannt auch als Hildesheimer’sches Rabbinerseminar)
2 Irene Kaufmann, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872–1942), Band 50, Hentrich & Hentrich Verlag, 2006, S. 29.
3 Franz Kafka an Robert Klopstock, Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 19.XII.1923, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/br23-053.htm, Zugriff am 01.11.2024
4 Hartmut Bomhoff, „Das Ostsee-Erholungsheim der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums wird saniert“, Jüdische Allgemeine, 16. November 2010, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/mecklenburger-mirjamsbrunnen/, Zugriff am 01.11.2024
5 „Stichwort: Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, haGalil, http://www.hagalil.com, Zugriff am 01.11.2024


Quellen:

Irene Kaufmann: Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872-1942), 2006, Band 50, Hentrich & Hentrich Verlag

Michael Bienert: Wie der Himmel über der Erde, Kafkas Orte in Berlin, S. 20 f., (Frankfurter Buntbücher 73), Verlag für Berlin-Brandenburg, 2024

Philipp Zschommler, „NS-Raubgut an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg: Die Provenienzen im Nachlass des Rabbiners Emil Davidovic“, in: Bibliotheksdienst 54 (2020), Nr. 10, S. 793-804
https://doi.org/10.1515/bd-2020-0093

Landesarchiv Berlin und Zentral- und Landesbibliothek Berlin (Hrsg.), Datenbank zur Bergungsstelle für Wissenschaftliche Bibliotheken,
https://www.bergungsstelle.de/

https://artvee.com/artist/menachem-birnbaum/

https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/ein-deutscher-oder-ein-juedischer-schriftsteller/

https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/mecklenburger-mirjamsbrunnen/

https://libraryoflostbooks.com/

http://www.berlin-judentum.de/erziehung/hochschule.htm

Provenienz der Hochschule – Wiki des GBV

https://www.ghetto-theresienstadt.de/lexikon/ghettob%C3%BCcherei

Ein Buch aus der verschollen geglaubten Bibliothek von Alfred Kerr (1867-1947) findet seinen Platz in der Bibliothek der Akademie der Künste

Im März 2024 fand unser Kollege Ulrich Benkenstein von der Fachbibliothek Sozialwissenschaften und Osteuropastudien ein kleines, unscheinbares, blau eingebundenes Buch mit dem Titel „Russland von Heute. Das Reisetagebuch eines Politikers (1929)“. In dem Buch ist die folgende Widmung niedergeschrieben: „Herrn Alfred Kerr in warmer Verehrung. Berlin, den 4. Februar 1930. Erich Koch-Weser“.

Widmung: Erich Koch-Weser an Alfred Kerr
Quelle: Looted Cultural Assets

Laut Zugangsbuch wurde das Buch 1962 im Reise- und Versandbuchhandel Dr. Hubert Jux erworben. Wie es dorthin gelangte, ist nicht mehr zu klären.

Der Name Kerr versetzte uns in Aufregung, denn es handelte sich um den zu seiner Zeit in Berlin überaus bekannten Theaterkritiker, Journalisten und Schriftsteller Alfred Kerr. Er war eine der einflussreichsten Stimmen im deutschen Kulturbetrieb. Er wurde für seinen bissigen Humor wie für seine Verrisse gleichermaßen geschätzt und gefürchtet.

Portrait Alfred Kerr von Robert Sennecke 1932
Quelle: Bibliothèque nationale de France, département / Wikipedia

Seine Lebensgeschichte ist, wie die vieler deutscher Intellektueller mit jüdischem Familien-Background, geprägt von dem kulturellen und intellektuellen Aufblühen Deutschlands und der Verfolgung ab 1933.

Als Alfred Kempner am 25. Dezember 1867 in Breslau geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend dort und kam 1887 nach Berlin, um hier sein in Breslau begonnenes Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik fortzusetzen. 1894 schloss er sein Studium in Halle mit einer Promotion zur Jugenddichtung Clemens Brentanos als Dr. phil. ab.

Schon während des Studiums schrieb er, unter dem Namen Alfred Kerr, Theaterkritiken für die Vossische Zeitung, die Neue Rundschau, die Breslauer Zeitung und die Königsberger Allgemeine Zeitung. Ab 1900 für die Berliner Zeitung Der Tag.

1911 wurde er Mit- und Herausgeber der Kunst und Literaturzeitschrift Pan. Er war Förderer von Robert Musil, Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann. Er schrieb ab 1919 für das Berliner Tageblatt und für die Frankfurter Zeitung. Parallel veröffentlichte er seine Werke unter dem Titel Die Welt im Licht, New York, London, O Spanien!, Yankee-Land, den Gedichtband Caprichos und den Band Für Alfred Kerr. Ein Buch der Freundschaft von seiner Kindheit und Jugend.

In zweiter Ehe heiratete er 1920 die Komponistin Julia Weismann (1898–1965). Das Paar hatte zwei Kinder: Michael Kerr (1921–2002) und Judith Kerr (1923–2019). Er wurde später Richter am High Court in Großbritannien, sie Schriftstellerin und Künstlerin.

Neben seiner schriftstellerischen Arbeit bezog er ab 1920 bis zum Sommer 1932 in seinen pointierten Glossen für den Berliner Rundfunk Stellung gegen die Nazis, ihren Größenwahn, ihre Brutalität und die Kriegstreiberei.

Staatsfeinde verlieren die Staats-angehörigkeit aus: Tagblatt, Graz, Samstag, den 26.08.1933

Nicht zuletzt dies hatte fatale Folgen. Am 10. Mai 1933 wurden seine Werke von den Nationalsozialisten verbrannt; drei Tage später setzte der Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler ihn auf die Liste der Autoren, deren Werke „für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten seien“. Seine Bücher wurden umgehend aus den öffentlichen Bibliotheken ausgesondert.

Er ahnte, was ihm bevorstehen würde und floh bereits im Februar 1933 über Prag in die Schweiz. Seine Familie folgte ihm im März. Nach Stationen in Zürich und Paris, gelangte die Familie 1935 nach London. Kerr arbeitete für verschiedene Zeitungen, u.a. für  das Pariser Tageblatt, Le Figaro, Le Temps und Les Nouvelles Littéraires und die jüdische Wochenzeitung Aufbau in New York.  Er war Präsident des Deutschen P.E.N.-Club im Exil in London (1941-1946). Ab 1945 arbeitete Kerr für die deutschen Tageszeitungen Die Welt und Die Neue Zeitung. 1947 wurde er britischer Staatsbürger. Alfred Kerr starb während einer Vortragsreise durch Deutschland am 12. Oktober 1948 in Hamburg.

Unsere ersten Recherchen zur Bibliothek von Alfred Kerr ließen uns vermuten, dass es sich hier um einen Notverkauf gehandelt haben muss. Für viele ExilantInnen war das der einzige Weg, um ein wenig Geld für die Emigration flüssig zu machen. In den meisten Fällen wurden Bibliotheken, Kunst, Immobilien und andere wertvolle Besitztümer weit unter dem tatsächlichen Wert und unter ökonomischem Zwang veräußert.

Foto: Regal mit Büchern aus der Privatbibliothek von Alfred Kerr in der Bibliothek der Akademie der Künste, Pariser Platz in Berlin (2007 von der Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden, restituiert)
Quelle: privat

Bereits 2007 wurden in der Staatsbibliothek zu Berlin 166 Bände identifiziert, die aus Kerrs Besitz stammten und im Jahrbuch der Staatsbibliothek für 1933 als Erwerb „aus der Bücherei eines Berliner Theaterkritikers“ ausgewiesen waren. Heute sind davon nur noch 88 Bände vorhanden, 78 sind in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verloren gegangen. In Übereinkunft mit Kerrs Tochter Judith wurden die 88 Bücher an das Archiv der Akademie der Künste übergeben, das den künstlerischen Nachlass von Alfred Kerr verwahrt.

2024 konnten wir Judith Kerr, die in der Zwischenzeit verstorben war, leider nicht mehr kontaktieren. Stattdessen traten wir mit Alfred Kerrs Enkel Matthew Kneale, selbst Autor, in Kontakt. Mit ihm haben wir vereinbart, das Buch zu den bereits vorhandenen Büchern im Archiv zu geben.

von links: Susanne Thier (Leiterin der Bibliothek in der Akademie der Künste), Ulrich Benkenstein, (Bibliothek für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien, der FU Berlin), Doris Kachel (Provenienzforscherin im Archiv der Akademie der Künste)
Quelle: privat

Am 20. Juni war es dann soweit, zusammen mit meinem Kollegen Ulrich Benkenstein haben wir das Buch an Susanne Thier, die Leiterin der Bibliothek der Akademie der Künste, und die Provenienzforscherin der Akademie der Künste, Doris Kachel, übergeben.

Wir sind froh, dass wir das Buch in den Teilbestand von Alfred Kerrs ehemaliger Bibliothek einreihen konnten, obwohl die Bibliothek vermutlich nicht mehr vollständig rekonstruierbar ist und viele der Bücher nicht mehr existieren. In der Bibliothek der Akademie der Künste ist sichergestellt, dass die Bücher für die Nachwelt bewahrt und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Rückkehr nach Riga: Die Kriegsbeute des Hygiene-Instituts der Waffen-SS

Während des Zweiten Weltkriegs rivalisierten deutsche NS-Institutionen in den besetzten Ostgebieten um wertvolle Beutestücke. Ab 1942 beauftragte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) Beschlagnahmungen von Kulturgütern, bei dem das Sonderkommando Künsberg eine zentrale Rolle spielte. Dieses SS-Sonderkommando, das dem Auswärtigen Amt und später der Waffen-SS unterstellt war, richtete Depots von Baltikum bis zur Krim ein, um die Kriegsbeute für den Abtransport nach Deutschland vorzubereiten. Inmitten dieser Machenschaften wurden im August 1944 Tausende Bücher der Universität Lettlands (lettisch Latvijas Universitāte) unter dem Vorwand der Evakuierung als Kriegsbeute nach Deutschland gebracht und galten als unwiederbringlich verloren.

Eines dieser Beutebücher wurde in der Fachbibliothek Biologie am Botanischen Garten, eine der Fachbibliotheken der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin entdeckt: das Buch „Handbuch von Polen“, versehen mit einem Stempel des Hygiene-Instituts der Waffen-SS. Es ist eines von mehreren Büchern mit Herkunftsspuren aus dem Hygiene-Institut der Waffen-SS, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bibliothek des Botanischen Gartens gelangten. Dieses Exemplar ist jedoch bisher das einzige, bei dem ein eindeutiger NS-Beutegut-Hintergrund aus Riga, Lettland, nachgewiesen werden konnte.


Provenienz: Hygiene-Institut der Waffen-SS
Copyright: Looted Cultural Assets (LCA)

Während des Zweiten Weltkriegs führten Mitarbeiter des berüchtigten Hygiene-Instituts der Waffen-SS menschenverachtende Experimente in Konzentrationslagern und anderen Einrichtungen durch. Der Institutsleiter Joachim Mrugowsky und weitere Mitglieder wurden nach dem Krieg im Nürnberger Ärzteprozess für ihre Verbrechen verurteilt und hingerichtet. Joachim Mrugowsky hatte Ludwig Diels, dem Direktor des Botanischen Gartens Berlin (1921-1945), bereits 1943 angeboten, für den Wiederaufbau von dessen kriegszerstörter Bibliothek Bücher „aus russischen Antiquariaten“ zu beschaffen. Damit war sicherlich NS-Beutegut aus besetzten Ostgebieten gemeint.
Das Buch trägt zwei Eigentumsstempel der Bibliothek der Universität Lettlands in Riga, was eindeutig auf seine Herkunft als Kriegsbeute hinweist.

Provenienz 1: Universitates Fizikās Geografijas un Geonomijas Instituta Biblioteka No 198. xi-80
Provenienz 2: Latvijas Universitātes, Geografijas Institūta bibliotēka No. 375.
Copyright: Looted Cultural Assets (LCA)

Der erste Eigentümer war das Institut für Physische Geographie und Geonomie der Universität (1922-1935), das sich 1935 in zwei separate Institute aufteilte: das Institut für Geographie und das Institut für Geophysik und Meteorologie. Dementsprechend inventarisierte die Bibliothek des Instituts für Geographie dieses Buch in ihren Bestand – dies erklärt das Durchstreichen des Stempels (Provenienz 1), und der Stempel der neuen Struktureinheit: Bibliothek des Instituts für Geographie (Provenienz 2).

Ein weiterer Hinweis auf seine Herkunft ist ein Etikett der renommierten Buchhandlung Ludwig Friederichsen & Co. in Hamburg.

Provenienz: L. Friederichsen & Co. Hamburg I, Rathaus-Hörn, Mönckeberg Str. 22
Copyright: Looted Cultural Assets (LCA)

Die Herkunftskette des Buches lässt sich teilweise rekonstruieren. Es wurde 1917 vom Reimer Verlag veröffentlicht und höchstwahrscheinlich von der Universität Lettland durch die Buchhandlung Ludwig Friederichsen & Co. Hamburg erworben. Während der deutschen Besatzung Lettlands gelangte es als Kriegsbeute in den Besitz der Bibliothek des Hygiene-Instituts der Waffen-SS nach Berlin. Die Universität Lettland hat bei der Bestandsaufnahme 1945 das Buch aus dem Inventar ausgesondert, da es nicht mehr auffindbar war.

Nach Kriegsende wurden die Buchbestände des Hygiene-Instituts der Waffen-SS an das Bezirksamt Zehlendorf übertragen und von dort weiterverteilt. 1946 wurde das Buch im Zugangsbuch unter der lfd. Inventarnummer 848, Lieferant: Bezirksamt Zehlendorf in die Bibliothek des Botanischen Gartens Berlin aufgenommen.

Zugangsbuch 1946, lfd. Nummer 848, Handbuch von Polen, 1917
Lieferant: Bezirksamt Zehlendorf

Das Buch aus der Fachbibliothek Biologie am Botanischen Garten ist hier in der LCA-Datenbank zu sehen.

Nach mehr als 75 Jahren gab die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin im April 2024 das Buch an die Bibliothek der Universität Lettland zurück. Für beide Universitäten markiert dies einen bedeutsamen Moment, da es sich um das erste Buch aus den einst geplünderten Beständen der Universität Lettland handelt, das zurückgegeben wird.

Fragmented Fates – Provenienzforschung bringt Licht ins Dunkel

Mit der Lichtinstallation Fragmented Fates erinnert die Arbeitsstelle Provenienzforschung der UB der FU Berlin an die jüdischen Opfer des NS-Regimes, die in den Schatten der Geschichte verdrängt wurden.

Quelle: Universitätsbibliothek, Freie Universität Berlin

Hier geht es zur Lichtinstallation:

https://www.fu-berlin.de/sites/ub/ueber-uns/provenienzforschung/10-jahre/lichtinstallation/index.html

Eine Rückgabe aus der Bibliothek von Dr. med. Erich Stern

Am 29. September 2023 fand in Toulouse eine feierliche Zeremonie statt, bei der insgesamt 40 Bücher (6 davon aus der UB) aus der privaten Bibliothek des deutschen Psychologen Dr. med. Erich Stern von der ZLB zurückgegeben wurden. Die einzige Tochter von Dr. med. Erich Stern war Hilde/Hélène Stern, die 2010 verstorben ist, hinterließ den Nachlass ihres Vaters der Groupe Toulousain de la Société Psychanalytique de Paris.

Die gemeinsame Restitution der Freien Universität Berlin und der ZLB wurde durch die enge Zusammenarbeit mit der französischen Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen aufgrund der antisemitischen Gesetzgebung während der Okkupationszeit CIVS möglich.

Erich Stern wurde am 30. Oktober 1889 in Berlin geboren. Er studierte Naturwissenschaften und Humanmedizin. Später wurde er ein renommierter Psychiater, Psychologe und Pädagoge, der insbesondere für seine Arbeiten im Bereich der Psychosomatik und Medizinischen Psychologie bekannt wurde. Im Juli 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, trat Stern als Hilfsarzt in den Heeresdienst ein. Während seiner Zeit im Militär diente er zunächst als Unterarzt in verschiedenen Lazaretten. Nach 1917 wurde er zum Oberarzt befördert.

Stern habilitierte 1920 und erhielt einen Lehrauftrag in Pädagogischer Psychologie in Gießen. 1934 wurde er außerordentlicher Professor in Gießen, arbeitete später in Mainz, wo er eine kleine psychiatrische Praxis betrieb. Zudem veröffentlichte Stern bis Ende der 20er Jahre verschiedene Beiträge zur Pädagogik und Jugendpsychologie.

Im Jahr 1933 wurde Dr. med. Erich Stern mit 56 Jahren aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zwangspensioniert und entlassen. Infolgedessen emigrierte er mit seiner Familie in die Schweiz, wo er zunächst am Institut für Hochgebirgsphysiologie und Tuberkuloseforschung in Davos tätig war. Später zog die Familie nach Paris, wo er in der Kinderpsychiatrischen Universitätsklinik der Sorbonne arbeitete und auch Sprechstunden für Kinder mit Intelligenz- und Verhaltensstörungen abhielt. Während dieser Zeit betreute er auch jüdische Emigranten in einem Gesundheitszentrum.

Während der deutschen Besatzung wurde seine Wohnung in der Gemeinde Boulogne-Billancourt, die sich 8 km südwestlich von Paris befand, von der deutschen Wehrmacht vollständig geplündert. Seine große Bibliothek mit über 6.000 Büchern wurde vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) nach Berlin transportiert.

Im Jahr 1938 erlangte die Familie die französische Staatsbürgerschaft. Doch infolge des Drucks der deutschen Nationalsozialisten wurde ihnen diese bereits im Jahr 1943 entzogen, was dazu führte, dass sie staatenlose und verfolgte Juden wurden. Als im Jahr 1940 deutsche Truppen in Frankreich einmarschierten, verließen die Sterns Paris und siedelten sich im Département Dordogne im Süden Frankreichs an. Dort arbeitete Dr. med. Stern im Clairvivre, einem Lungensanatorium, kehrte aber nach Kriegsende nach Paris zurück.

Dr. med. Erich Stern engagierte sich in verschiedenen jüdischen Organisationen, die sich der Betreuung von Waisen widmeten. Von 1950 bis 1956 bekleidete er die Position des „Chargé de Recherches“ am „Centre National de la Recherche Scientifique“ in Paris, wo er weiterhin an wissenschaftlichen Forschungsprojekten arbeitete. Später verbrachte er seinen Lebensabend in Kilchberg bei Zürich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte sich Dr. med. Stern intensiv, aber vergebens darum, seine Bibliothek wiederzufinden und zurückzuerlangen. Der entscheidende Wendepunkt in diesem Bemühen trat erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod, nämlich in den Jahren 2020 und 2021, ein, als die ZLB Werke aus Dr. Sterns Bibliothek in ihren eigenen Beständen entdeckte.

Wie kamen die beschlagnahmten Bücher von Dr. med. Erich Stern in die UB der FU Berlin?

Diese sechs Bücher wurden in der Sammlung Alfred Weiland gefunden, die 1979 von der FU Berlin erworben wurde. Weiland arbeitete von Juni 1945 bis Februar 1946 in der sogenannten „Bergungsstelle“ und sortierte dort NS-Raubbücher aus der Bibliothek des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Viele davon fügte er seiner eigenen Büchersammlung hinzu. Sowohl die Bücher aus dem Bestand der FU Berlin als auch diejenigen aus der ZLB stammen aus dem RSHA-Depot und fanden in der Nachkriegszeit ihren Weg in die Berliner Bibliotheken.

Das Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung freut sich darüber, dass im Rahmen ihrer Arbeit diese Bücher zurückgegeben werden konnten.

Die Bücher in LCA:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/249285

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/234377

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/288043

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/251731

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/251109

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/250908


Provenienzhinweis Dr. Erich Stern

Weitere Quellen mit Bildnachweis:

Vom früheren Reichssicherheitshauptamt VII Berlin V 30, Eisennacherstr. 11-13, beschlagnahmte Privat-Bibliotheken – Stern, Erich, Pädagoge, Giessen

Quelle: www.fold3.com

„Die Spur der Bücher“ – Ein Interview von Pepe Egger mit Ringo Narewski und Elena Brasiler

Wie gestaltet sich die Arbeit der Provenienzforschung in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, und welche Erfolge konnten bisher erzielt werden? Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Arbeitsstelle für Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek teilen der Leiter Ringo Narewski und Elena Brasiler ihre Einblicke und Erkenntnisse. Das vollständige Interview von Pepe Egger finden Sie hier.

Bildquelle: Beilage im Tagesspiegel der Freien Universität Berlin vom 8. Oktober 2023