Rückgabe eines Buches an die Familie Kallner

Exlibris-Etikett von David Kallner

2023 konnte von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ein Buch der Familie Kallner zurückgegeben werden.

Durch ein Exlibris und eine im Buch eingelegte Glückwunschkarte konnte eindeutig David Kallner als vormaliger Eigentümer identifiziert werden. Bei dem Buch handelt es sich um einen Parschanim, einen rabbinischen Kommentar, in dem es u.a. um Verbote des Verzehrs unkoscherer Lebensmittel und dem Verhalten gegenüber Nichtjuden geht. In Bezug steht es zum Buch der Sprüche Salomos Kapitel 13-15 und 19. Der Titel nimmt direkten Bezug auf Sprüche 15:23.

David Kallner wurde ca. 1838 in Pajūris, Russland geboren. Er war verheiratet mit der 1847 ebenfalls dort geborenen Babette Kahn. Das Paar hatte fünf Kinder und lebte bis mindestens 1881 im heutigen Litauen. 1886 zog die Familie nach Merchingen, wo David Kallner stark in der Jüdischen Gemeinde aktiv war, u.a. als Kantor. Seine Tätigkeit sowie die lokale Verortung in Merchingen führten schließlich zur eindeutigen Zuordnung der Provenienzhinweise. Merchingen liegt wie Braunsbach in Baden-Württemberg, dem Wirkungsort des auf der ebenfalls im Buch gefundenen Karte glückwunschenden Rabbiners Dr. Jakob Berlinger. Jakob Berlinger wurde am 1866 in Braunsbach geboren. Er war von 1900 bis zur Verlegung des Rabbinats nach Schwäbisch Hall 1913 Rabbiner in Braunsbach. Berlinger und seine Frau Rifka Herz (*1880) konnten 1939 aus Deutschland fliehen und emigrierten nach Palästina. Jakob Berlinger starb dort 1945, Rifka folgte ihm ein Jahr später.

Die im Exlibris von David Kallner enthaltene Bezeichnung מהר׳ר (Mehorar = unser Lehrer, Herr und Meister) weist auf einen traditionsfrommen Gelehrten hin. David Kallner starb am 26. Februar 1909 in Merchingen. Eine Todesanzeige aus der Zeitschrift „Der Israelit“ bezeichnet ihn als Lehrer, Vorsänger und großen Talmudisten.  Babette Kahn war bereits 1888 verstorben. David Kallner heiratete ein Jahr später ein zweites Mal, die 1851 in Järkendorf, Unterfranken, geborene Bertha Niedermann. Mit dieser hatte er einen weiteren Sohn, Philipp.

Es ist anzunehmen, dass das Buch von einem der Kinder von David Kallner geerbt wurde.

  • Abraham Kallner wurde am 23. April 1868 geboren. Er war verheiratet mit Lena Lark. Abraham Kallner wanderte vor 1929 in die USA aus, er starb am 31. Mai 1929 in Gary, Indiana. Er kommt als Letzteigentümer des Buches nicht infrage.
  • Jacob Kallner wurde am 12. Oktober 1870 geboren. Er war verheiratet mit Bertha Strauß. Jacob Kallner war Arzt. Jacob und Bertha Kallner konnten 1939/40 über die Schweiz in die USA emigrieren und überlebten so den Holocaust. Beide starben 1946 in Chicago. Es ist gut möglich, dass Jacob Kallner, seine Frau oder seine Kinder das Buch vor dessen Entzug besessen haben.
  • Adolf Leser Kallner wurde am 13. August 1873 geboren. Er war verheiratet mit Sara Beith, Nachfahren sind nicht bekannt. Adolf Leser Kallner starb bereits am 13. Januar 1922 in Bad Soden. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass er der Letzteigentümer des Buches war.
  • Bettie Sara Kallner wurde am 1. Oktober 1877 geboren. Sie wanderte bereits 1891 in die USA aus und ließ sich in Chicago nieder. Sie starb dort 1944. Bettie Sara Kallner kommt als Letzteigentümerin des Buches vor dessen Entzug nicht infrage.
  • Joseph Kallner wurde am 6. Januar 1881 geboren. Er war verheiratet mit Gertrud Katzenstein. Joseph Kallner war ebenfalls Arzt und lebte in Berlin, wo er am 20. August 1938 starb. Es ist gut möglich, dass Joseph Kallner, seine Frau oder seine Kinder das Buch vor dessen Entzug besessen haben.
  • Philipp Kallner wurde am 22. Juli 1892 geboren. Er fiel im Alter von nur 23 Jahren im I. Weltkrieg in Galizien, sein Todesdatum ist der 28. Juli 1915. Er kommt als Letzteigentümer des Buches nicht infrage.

Joseph und Jacob Kallner hatten beide jeweils vier Kinder, von denen insgesamt sieben den Holocaust überlebten – Joseph Kallners 1913 geborene Tochter Eva starb bereits im Alter von ca. 3 Jahren. Insgesamt konnten in der genealogischen Recherche zur Familie Kallner über 30 direkte Nachkommen von Joseph und Jacob Kallner recherchiert werden.

Der Zugangsweg des Buches in den Bestand der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ist unklar. Es wurde in unbearbeiteten Depotbeständen gefunden und enthält keinerlei Einarbeitungsspuren. Anhand der durch die enthaltenen Provenienzmerkmale recherchierten Familiengeschichte der Kallners ist es wahrscheinlich, dass das Buch Teil des Ankaufs der Bücher der deportierten Berliner Jüdinnen und Juden durch die Berliner Stadtbibliothek 1943 war. Praktisch auszuschließen ist ein gezielter Ankauf, z.B. über den Antiquariatshandel, dafür fehlen nicht nur jegliche Hinweise, das Werk ist auch viel zu speziell für den Bestand der Berliner Stadtbibliothek.

Für ihre Unterstützung bei der Recherche, Übersetzung und Transliteration bedankt sich die ZLB herzlich bei Dr. Nick Block, Dr. Michael Brocke, Dr. Anke Geißler-Grünberg, Uwe Hofschläger, Stephan Kummer und Gudrun O’Daniel-Elmen.


Quellen:

  • Schwoch, Rebecca (Hrsg.): Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus : Ein Gedenkbuch. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2009. S. 423 ff.
  • Doetz, Susanne und Kopke, Christoph: „und dürfen das Krankenhaus nicht mehr betreten“ : der Ausschluss jüdischer und politisch unerwünschter Ärzte und Ärztinnen aus dem Berliner städtischen Gesundheitswesen 1933-1945. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2018. S. 233.
  • Strauss, Herbert A./Röder, Werner (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Émigrés 1933-1945, hrsg. Vom Institut für Zeitgeschichte München. Volume II, Part 1: A-K. the Arts, Science and Literature. München [u.a.] 1999, S. 588.
  • https://www.alemannia-judaica.de/merchingen_synagoge.htm (Abschnitt: Zum Tod von Lehrer D. Callner)

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