Die Heimkehr des Buches an das YIVO Institute for Jewish Research

Die Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin hat ein Buch des legänderen YIVO Institute for Jewish Research als NS-Raubgut identifiziert und an das YIVO Institute in New York zurückgegeben. Dieses Buch wurde während des Zweiten Weltkriegs aus der „Bibliothek des Jiddisch Wissenschaftlichen Instituts“ „בּיבּליאׇטעק פון דעם יידישן וויסנשאַפטלעכן אינסטיטוט“ infolge der deutschen Besatzung in Vilnius, Litauen beschlagnahmt. Nach einer 81-jährigen Odyssee kehrt dieses Buch endlich in den New Yorker Hauptsitz zurück. Wir sind dankbar, dieses verlorene Stück Geschichte zurück in die Hände des YIVO-Instituts überbringen zu können.

Provenienz: בּיבּליאׇטעק פון דעם יידישן וויסנשאַפטלעכן
אינסטיטוט‘
Übersetzung: Bibliothek des Jiddisch Wissenschaftlichen Instituts

Das YIVO Institute war eine renomierte Institution mit akademischem Fokus auf ostjüdischer und jiddischer Kultur und Wirtschaft. Es wurde 1925 in Berlin gegründet, um das Studium und die Erhaltung der jiddischen Sprache und Kultur zu fördern. Der Hauptsitz des Instituts wurde in das damals polnische Vilnius verlegt, das als Kulturhauptstadt der jiddischsprachigen Juden galt. Im Jahr 1935 zog das YIVO Institute in die Wiwulski Strasse 10 und hatte damit ein festes Zuhause, um weiterhin an der Dokumentation und Erhaltung der jiddischen Sprache und Kultur zu arbeiten. [1]

Auch die Bibliothek des YIVO Institutes galt vor dem Zweiten Weltkrieg als eine der bedeutendsten jüdischen Bibliotheken Europas. Im Jahre 1939 beinhaltete die Bibliothek ca. 85.000 Bände. Die Existenz des YIVO Instituts in Vilnius wurde jedoch schlagartig und gewaltsam beendet, als Litauen von der Sowjetunion annektiert und von den deutschen Truppen im Sommer 1941 besetzt wurde. Nach der Invasion der deutschen Wehrmacht von Vilnius errichteten die Nationalsozialisten im März 1942 ein Sortierzentrum für jüdisches Kultureigentum im Gebäude von YIVO und brachten die Arbeit des Instituts zum Erliegen.

Provenienz: Sichergestellt durch Einsatzstab RR, Wilna

In dieser Zeit reiste Johannes Pohl als Mitglied des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (ERR) und Chefbibliothekar von Alfred Rosenberg durch die besetzten Ostgebiete, um für das Institut zur Erforschung der Judenfrage brauchbare Schriften in Bibliotheken auszusondern, was in Wirklichkeit ein Raubzug des jüdischen Kulturguts für den NS-Staat war. Er war seit 1941 Bibliothekar an der „Jüdischen Bücherei“ des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, einer besonderen Abteilung der Hohen Schule der NSDAP beschäftigt. Der ERR beschlagnahmte kulturelles Eigentum, insbesondere Bücher und Kunstwerke von jüdischen Familien, Organisationen und Bibliotheken im von den Nazis besetzten Europa. Dieses Buch konnte aufgrund der vorgefundenen Provenienzhinweise eindeutig als NS-Raubgut identifiziert werden, da es vom Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) konfisziert wurde.

Anfang des Jahres 1942 traf Pohl in Vilnius ein. Unter seiner Anweisung wurden zwischen September 1941 und September 1943 40 jüdische Intellektuelle aus dem Ghetto von Vilnius gezwungen, die Sammlungen des YIVO-Instituts für eine Beschlagnahme systematisch zu überprüfen, zu sortieren oder diese auch zu zerstören. Die Gruppe dieser Intellektuellen, die als „Papierbrigade“ bekannt wurde, bestand aus bekannten Persönlichkeiten wie Herman Kruk, Dina Abramowicz, Zelig Kalmanowicz und dem Dichter Abraham Sutzkever. Trotz der Lebensgefahr gelang es ihnen jedoch, einen Teil der wertvollsten Zeugnisse jüdischer Kultur in Europa zu retten.

Wi bajm baschitsn an eifl –
ich lojf mitn jidishn wort,
nishter in itlechn hejfl,
der gajst zol nit wern dermordt.

Wie einen zarten Säugling
beschütz ich das jiddische Wort,
schnuppre in jeden Berg Papier,
rette den Geist vor Mord.

Abraham Sutzkever: Weizenkörner, März 1943
Aus: Geh über Wörter wie über ein Minenfeld.
Frankfurt/New York: Campus Verlag 2009

Die Verluste, den das Institut erlitt, traf das YIVO schwer. Nicht nur ein beträchtlicher Teil des Wissens und der Geschichte, die das YIVO im Laufe der Jahre gesammelt hatte, ging unwiederbringlich verloren, sondern es waren auch persönliche Verluste zu beklagen. Unter denjenigen, die im Wilnaer Ghetto ihr Leben ließen, befanden sich auch Herman Kruk und Zelig Kalmanowicz, deren tragischer Tod eine schmerzliche Lücke in der Institution und im Herzen ihrer MitstreiterInnen hinterließ. Nur Dina Abramowicz und Abraham Sutzkever sind dem Tod entkommen, indem sie sich den jüdischen Partisanen anschlossen.[2]

Im Oktober und November 1942 sowie im Februar 1943 wurden durch den ERR bedeutende Teile der Bibliothek und Archive der YIVO u. a. in das Institut zur Erforschung der Judenfrage nach Frankfurt am Main, Bockenheimer Landstraße 68-70 verbracht. Dieses Institut diente den Nazis als zentrales Lager für sämtliche jüdische Kulturschätze, die sie aus Forschungseinrichtungen und Privatsammlungen in ganz Europa enteignet hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieges wurden die geborgenen Bestände der geplünderten YIVO Bibliothek und der Archive im Offenbach Archival Depot (OAD) sichergestellt und später zum Hauptsitz des YIVO Institutes nach New York gebracht.

Provenienz Nachweis aus dem Offenbach Archival Depot: Bibliothek des Jiddisch Wissenschaftlichen Instituts
YIVO OAD 18, Page 22
https://www.fold3.com/image/232163389?terms=yivo

Dort bestand seit 1925 bereits eine Niederlassung, und einige der führenden MitarbeiterInnen kamen aus Europa in die USA, um dort ihre Arbeit fortzusetzen. Das YIVO-Institute beherbergt mittlerweile die weltweit größte Sammlung von jiddischen Schriften und Materialien zur Geschichte und Kultur osteuropäischer Juden mit über 380.000 Büchern und Zeitschriften sowie mehr als 24 Millionen Dokumenten, Fotos, Postern, Filmen und anderen Archivalien.

Über das Buch

Das gefundene Buch in der FU Berlin stammte aus der Bibliothek für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien und gelangte 1978 in den Bestand der FU. Ursprünglich gehörte es zum Bestand des Instituts für Balkanologie, das in den 70er Jahren aufgelöst wurde. Bedauerlicherweise sind keine Zugangsbücher aus dieser Zeit erhalten geblieben, wodurch der Lieferant nicht mehr festgestellt werden kann.

Provenienz: Abteilung Balkanstudie des Osteuropa-Instituts
Inv-Nr. 893/78/10674

Dieses Buch enthält mehrere Provenienzhinweise, die wichtige Informationen über die Herkunft und den Verbleib des Buches während der NS-Zeit lieferten und zur eindeutigen Identifizierung als NS-Raubgut beigetragen haben.

Die älteste Provenienz in diesem Buch ist ein Ausfuhrzeichen aus dem 1. Weltkrieg, auf dem ein stilisiertes Völkerschlachtdenkmal in Leipzig abgebildet ist (s. Mitte unten). Da mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges die formale Pressefreiheit aufgehoben wurde, ging die Kontrolle über die Medien an Zensurstellen beim Militär über. Im Jahr 1916 wurde in der Deutschen Bücherei in Leipzig eine Militärzensurstelle namens Buchprüfungsstelle Ober Ost eingerichtet, um den Import von Büchern zu kontrollieren, die in das Besatzungsgebiet der deutschen Streitkräfte an der Ostfront (kurz Ober Ost) gebracht werden sollten. Dieses Gebiet umfasste vom November 1915 bis Juli 1918 große Teile von Kurland, Litauen, Lettland und Weißrussland.[3]

Provenienz:
Ausfuhrzeichen Völkerschlachtdenkmal Leipzig

Die Verwendung von Zensur-Stempeln auf Büchern war auch Teil eines breiten Versuchs der deutschen Regierung, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen und die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Bücher, die den Idealen des Denkmals entsprachen und als patriotisch angesehen wurden, sollten die Moral der Bevölkerung stärken. Die von der Zensurstelle als unbedenklich eingestuften Bücher erhielten ein Ausfuhrzeichen als Genehmigung für den Export. Die Zensur für die Region Leipzig wurde vom 19. Armeekorps übernommen, welches das Völkerschlachtdenkmal auf den Stempeln verwendete. Daher durften nur Bücher mit diesem Ausfuhrzeichen von den lokalen Buchhändlern ins verbündete und neutrale Ausland sowie in die besetzten Gebiete – in diesem Fall nach Vilnius – exportiert werden. Es ist daher davon auszugehen, dass das Buch im Zeitraum von 1916-1918 von Leipzig nach Vilnius verbracht wurde.

Eine weitere Provenienz ist auf Hebräisch דר יעקב שאצקי von Dr. Jacob Shatzky.

Provenienz: Stempel: Dr. Yankev Shatzky

Der Name ist in der Provenienz entsprechend mit seinem Doktortitel angegeben: Dr. Yankev Shatzky. Ob Shatzky dieses Buch aber bereits vor seiner Disseration, und zwar während seines Aufenthalts in Vilnius im Jahre 1918 erworben hat, ist unbekannt. Eine hypothetische Anschaffung des Buches könnte aber erst nach dem Import aus Deutschland nach Litauen in den Jahren 1918 bis 1922 stattgefunden haben, da Schatzky im Dezember 1922 nach New York ging.[6] Anschließend wurde das Buch vermutlich von der YIVO-Bibliothek übernommen.

Foto: Yankev Shatzky (zweiter von rechts in Militäruniform mit seinen Brüdern, Warschau
Quelle:
https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Shatzky_Yankev

Dr. Yankev (Jacob) Shatzky (1893-1956) war ein anerkannter polnisch-jüdischer Historiker und Autor vieler Bücher, der in Warschau geboren wurde. Shatzky war ein bekannter Experte für jüdische Geschichte und Kultur in Polen und Ostmitteleuropa. Während des Ersten Weltkriegs diente er unter Marschall Józef Piłsudski in der polnischen Legion. Er erhielt drei Auszeichnungen für seinen Einsatz und stieg zum Leutnant auf. Nach dem Krieg arbeitete er kurzzeitig für die neue polnische Regierung. So wurde Shatzky 1918 vom polnischen Außenministerium nach Vilnius geschickt, um Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung zu untersuchen, die in der Stadt stattgefunden haben. Shatzky schrieb später einen Bericht über den Vorfall, der in der polnischen Presse veröffentlicht wurde. Als das Ministerium nicht auf seinen Bericht reagierte, trat er von seinem Posten zurück und unterrichtete Geschichte an jüdischen Gymnasien in Warschau.[4] Nach Abschluss seines Doktorats in 1922 wanderte er unmittelbar danach in die USA aus und wurde ab 1929 Bibliothekar des New York State Psychiatric Institute.[5] Er war Präsident des Yiddish PEN Clubs und engagierte sich in vielen Organisationen wie z. B. YIVO und der Jewish Historical Society of Israel (HSI). Einen Teil seiner umfangreichen Bibliothek vermachte er der Hebräischen Universität Jerusalem und der Jewish Historical Society of Israel.

Weiterführende Quellen und Links:

Das Buch in der LCA Datenbank:
https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/263439

Internet-Seite des YIVO in New York

[1] https://www.jewishvirtuallibrary.org/yivo

[2] https://www.piqd.de/zeitgeschichte/papier-brigade-die-shoah-und-die-bucher-von-vilnius

[3] https://www.wikiwand.com/de/Ober_Ost

[4] https://archives.cjh.org//repositories/7/resources/3509#a2

[5] New York Times, 14. Juni 1956

[6] Vgl. Ancestry, Einbürgerungsregister, Jacob Shatzky

Spuren in Tausenden Büchern – Podcast Provenienzforschung

Unser erster Podcast ist da! 🎙️ Zum Auftakt des 10-jährigen Jubiläums der Arbeitsstelle Provenienzforschung der Universitätsbibliothek an der FU Berlin starten wir unsere Podcast-Reihe: Spuren in Tausenden Büchern. In der ersten Folge „Anfänge“ geht es darum, wie die Suche nach den geraubten Büchern begann und wie die Spuren aus den Büchern ins Internet kamen.

Von historischen Erinnerungen an die Suche nach geraubten Büchern kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führt diese erste Folge im Zickzack bis zum 10-jährigen Jubiläum der Arbeitsstelle Provenienzforschung im Jahr 2023. Auf dem Weg liegen unter anderem die Gründung der Freien Universität Berlin 1948, die Anfänge systematischer NS-Raubgutforschung in den 1990er Jahren und jede Menge Spuren in Büchern – die heute in einer modernen Datenbank
(Looted Cultural Assets) verzeichnet werden.

Ringo Narewski, Leiter der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU, erzählt im Interview mit Lizaveta Wunderwald von Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Bei diesem Thema ergänzen ihn Dr. Andreas Brandtner, Leitender Direktor der Universitätsbibliothek der FU, sowie die Provenienzforscher Sebastian Finsterwalder und Peter Prölß von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und dem Deutschen Technikmuseum.    

Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 1: Anfänge

Folge 1: Anfänge

10 Jahre Jubiläum Arbeitsstelle Provenienzforschung

Die Arbeitsstelle Provenienzforschung wird 10!🎉

Zahlreiche Events bieten das ganze Jahr 2023 einen Blick auf die junge Geschichte der Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU Berlin. Infos zum Auftakt unseres Jubiläums finden Sie in Kürze auf unserer Webseite und auf Twitter. https://twitter.com/raubgut_books

Rückgabe von NS-Beutegut: zurück in die Bibliothek der Karls-Universität Prag

Im September 2022 wurde ein Buch aus dem Bücherraub der deutschen Wehrmacht an die Karls-Universität Prag zurückgegeben. Die Arbeitsstelle Provenienzforschung hat im Zuge der Provenienzforschung in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin (FU) das Buch als NS-Beutegut identifiziert.

Nur wenige Monate nach der deutschen Besetzung Tschechiens, errichtete die Wehrmacht das „Protektorat Böhmen und Mähren“. Dabei wurde die älteste Universität Mitteleuropas 1939 in die Berliner Reichsverwaltung übernommen und zur Reichsuniversität unter dem Namen „Deutsche Karls-Universität in Prag“ erklärt.

Im Zuge der so genannten „Arisierung“ verdrängten die Nationalsozialistinnen jüdische Studierende und jüdisches Lehrpersonal aus der Karls-Universität Prag. Gleichzeitig kam es zu Plünderungen und Beschlagnahmungen zahlreicher Fakultätsbibliotheken zur Sicherstellung des sogenannten „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ durch die deutsche Wehrmacht. So wurde das Gebäude der Juristischen Fakultät vom SS-Hauptquartier besetzt und ein Großteil der Bibliotheksbestände beschlagnahmt und später nach Deutschland verbracht.

Das Zugangsbuch der Universitätsbibliothek aus dem Jahr 1963 weist als Lieferanten das wissenschaftliche Antiquariat Sauer & Keip auf. Das Exemplar enthält zwei Stempel der Juristischen Fakultät der Karls-Universität in Prag.

Die Beschlagnahmeaktion aus der Bibliothek der Juristischen Fakultät der Karls-Universität Prag steht im Zusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes während des 2. Weltkrieges. Dieses Buch gilt daher als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut aus den besetzten Territorien. Detaillierte Informationen der Bibliotheksverluste aus dieser Zeit sind nicht vorhanden.

Seminář práva mezinárodního na české práv. fakultě v Praze.
deutsch: Seminar zum Internationalen Recht an der Tchechischen Fakultät für Rechtswissenschaften in Prag

Bewertung: NS-Beutegut

Das zurückgegebene Buch finden Sie in der Datenbank LCA:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/MultiSearch/Index?search=Urkunden+zur+Geschichte+des+V%C3%B6lkerrechts.

Neues Mitglied bei der LCA: die Deutsche Nationalbibliothek (DNB)

Heute begrüßen wir unseren neuen Kooperationspartner die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) bei LCA und freuen uns auf die Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Provenienzforschung und Aufarbeitung von NS-Raubgut in Bibliotheken.

Die DNB überprüft derzeit systematisch die Zugangsjahre 1933-1945 im Monografienbestand der vormaligen Deutschen Bücherei Leipzig auf ihre Herkunft. Als Ausgangspunkt für die Recherche dienen Zugangsbücher der Deutschen Bücherei, die bis einschließlich 1940 im Original erhalten sind.

Weitere Informationen über die Provenienzforschung der Deutschen Nationalbibliothek finden Sie hier.

www.dnb.de/provenienzforschung

„Mit dem Stimmzettel werden wir sie besiegen!“

Provenienz 1: H. Kammerahl
Provenienz 2: Runder Stempel: Staatspolizeistelle für den Reg. Bez. Stade, Wesermünde
Provenienz 3: Stempel: Bestandsbuch Seite 3, Nr. 13 F

Mit dem Stimmzettel werden wir sie besiegen!“ rief einst Heinrich Kammerahl zu seinen Genossen, die sich in Bremerhaven im Gewerkschaftshaus Eintracht an der Deichstraße 55 versammelten. Der Sieg bei der anstehenden Reichstagswahl am 5. März 1933 blieb bekanntlich aus. Die NSDAP wurde zur stärksten Fraktion im Reichstag, obgleich sie die absolute Mehrheit verfehlte. Und auch die Abstimmung der sozialdemokratischen Fraktion (SPD) am 24. März 1933 gegen das sogenannte Ermächtigungsgesetz, kann die Abschaffung des Parlaments als demokratische Institution nicht mehr verhindern. Das Ende der deutschen Demokratie ist damit endgültig besiegelt.

Wenige Tage später, am 2. Mai 1933 stürmte die SA gewaltsam das Gewerkschaftshaus Eintracht, plünderte die Parteibüros, die Arbeiterbibliothek und aneignete sich das Gewerkschaftsvermögen. Das Gewerkschaftshaus war danach von „Deutsche Arbeiterfront“ (DAF) der NSDAP besetzt, die unmittelbar nach der Zerschlagung der Gewerkschaften gegründet wurde.

Am 3. Mai 1933 wurde Heinrich Kammerahl und viele andere Sozialdemokraten und Gewerkschafter verhaftet. Er kam in die sogenannte „Schutzhaft“, wo er bis 1936 gefangen gehalten wurde. Nach seiner Entlassung stand er vorübergehend unter der Aufsicht der politischen Polizei bis er 1944 erneut verhaftet und in das KZ Sachsenhausen, politischer Häftlingsnummer 93200, verschleppt wurde.

Zur Vita: Heinrich Kammerahl (1893-1971) wurde in Wesermünde (Niedersachsen) geboren. Er war ein deutscher SPD/SED Politiker und Gewerkschafter.
Nach seiner Ausbildung als Klemptner/Installateur trat er als 20-jähriger der SPD und dem Deutschen Metallarbeiterverband bei. Kammerahl diente als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg. Im Laufe seiner politischen Karriere übte er viele politische Ämter bei der SPD aus. So war er in Bremerhaven Unterbezirksvorsitzer der USPD, ab 1924 Parteisekretär, Bürgermeister in Lehe sowie ADGB-Vorsitzender in Bremerhaven. Er war zudem aktiv im Widerstand gegen die Nationalsozialisten.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde Heinrich Kammerahl Bürgermeister von Gülsdorf und Seyda (Sachsen-Anhalt) und war ab 1946 als Mitglied der SED aktiv.

Die im Bibliotheksbestand der FU Berlin als NS-Raubgut identifizierten Bücher wurden in der Sammlung Alfred Weiland gefunden. Die Restitution an die Erben erfolgte im Juli 2022.

Bewertung: NS-Raubgut

Die Bücher in der Datenbank Looted Cultural Assets:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/254859

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/248960



Leo Baeck Institute Jerusalem שלום and welcome on board of LCA

Wir freuen uns sehr, unsere erste internationale Partnerschaft mit dem Leo Baeck Institute Jerusalem (LBI) bekannt zu geben!

Das Leo Baeck Institute Jerusalem (LBI) ist eine Forschungseinrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mit drei Niederlassungen in New York, Jerusalem und London. Benannt ist die Einrichtung nach dem Rabbiner Dr. Leo Baeck (1873-1956), dem prominentesten Repräsentanten der deutschen Juden des 20. Jahrhunderts. Die Bibliothek des Leo Baeck Institute Jerusalem ist eine bedeutende Forschungsbibliothek zur Geschichte der deutschsprachigen Juden. Die Bibliothek umfasst etwa 13 000 Bücher. Viele dieser Bücher kamen nach dem 2. Weltkrieg aus Europa und enthalten Besitzvermerke früherer Eigentümer, die untersucht und in LCA dokumentiert werden sollen.

Gemeinsame Werte wie Erinnerung und Verantwortung sowie eine Sichtbarmachung der Forschungsergebnisse stehen im Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit. Die neuen Möglichkeiten, die sich im Rahmen einer vernetzten internationalen Provenienzforschung mit LBI Jerusalem bieten, unterstreichen das Engagement aller LCA Partner, die Provenienzforschung international auszurichten und somit einen Beitrag zur Grundlagenforschung im Bereich der NS-bezogenen Provenienzforschung in Bibliotheken als kulturbewahrende Einrichtungen zu leisten.

Wir sind stolz, mit unserem neuen Partner, dem LBI Jerusalem, die erste israelische Institution in unserer Kooperation begrüßen zu können. Das gibt uns Gelegenheit, die Provenienzforschung auf eine breitere, internationalere Basis zu stellen und die Vergangenheit mit der Gegenwart in Zeiten der Digitalisierung proaktiv zu vernetzen und unsere Forschungsergebnisse als Quelle für eine digitale Erinnerungskultur zu erweitern, denn:

Das Erinnern hat kein Ende und darf es auch nicht haben.“1

1 Außenminister Frank-Walter Steinmeier zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.2017
Quelle: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/170127-bm-holocaust-gedenktag/287394






Stephan Kummer: Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale, sondern auch ihre Leser

Provenienzforschung im Altbestand für Judaistik in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin

Zusammenfassung: „Der Aufsatz skizziert das Provenienzforschungsprojekt in
den judaistischen Altbeständen der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, das im November 2021 begonnen hat. Ziel des Projekts ist es, die Provenienzspuren zu identifizieren, zu dokumentieren, die Wege der Bücher und das Schicksal ihrer Leserschaft zu erforschen. Neben einer Genese über die Gründung und Etablierung des Instituts für Judaistik widmet sich der Hauptteil des Beitrages dem Workflow. Für die Präsentation des Arbeitsalltages dienen zwei ausgewählte und abgeschlossene Fallbeispiele aus der Projektarbeit.“

Erschienen in: Bibliotheksdienst, Bd. 56, 6, 2022, S. 362–374

https://doi.org/10.1515/bd-2022-0056

Wir sind auf der Spur nach geraubten Büchern

Der Tagesspiegel berichtet am 26. Februar 2022 über zwei unserer Forschungsprojekte in den Bibliotheken des Instituts für Judaistik und des Botanischen Gartens der Freien Universität Berlin. Mit Unterstützung des Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste wird in den beiden Bibliotheken systematisch nach NS-Raubgut gesucht. Nach ersten Erkenntnissen unserer Kolleg*innen befindet sich in diesen Bibliotheken nicht nur NS-Raubgut, sondern auch ein besonders hoher Anteil an NS-Beutegut.

Hier geht es zum Artikel:

https://www.tagesspiegel.de/themen/freie-universitaet-berlin/provenienzforschung-in-bibliotheken-auf-der-spur-der-geraubten-buecher/28096974.html

Neues Mitglied bei LCA: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg (UB JCS)

Wir begrüßen unser jüngstes Mitglied, die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg (UB JCS) in unserer LCA Kooperation und freuen uns auf die Zusammenarbeit!

Die UB JCS hat im November 2020 ein Projekt zur Provenienzforschung begonnen, das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste für zunächst zwei Jahre gefördert wird und beim Archivzentrum der UB angesiedelt ist. Im Laufe des Projekts sollen rund 80.000 Bände der UB auf ihre Herkunft überprüft werden.

Weitere Informationen über die Universitätsbibliothek JCS und zum Projekt finden Sie hier.

https://www.ub.uni-frankfurt.de/provenienz/projekt-raubgut.html