Die Rückkehr jüdischen Erbes: Ein Buch aus der Bund-Bibliothek

Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund –kurz Bund (בונד, Бунд) genannt (jiddisch: אַלגעמײנער ייִדישער אַרבעטער־בונד, russisch: Всеобщий еврейский рабочий союз в Литве, Польше и России) wurde 1897 in Wilna (heute Vilnius) gegründet, um sich für die Rechte jüdischer Arbeiter*innen sowie soziale und kulturelle Gleichstellung einzusetzen. Aufgrund der Repressionen durch die zaristische Regierung, verlagerte das Zentralkomitee der Partei seine Aktivitäten bereits 1898 nach Genf, das für viele Bundisten zu einem wichtigen Zufluchtsort wurde. Neben Genf entstanden auch Ableger in London, Paris, New York und Buenos Aires sowie zahlreiche lokale Gruppen in der jüdischen Diaspora. Aber auch Wilna war nach der Russischen Revolution von 1905 ein wichtiger Standort der politischen Aktivitäten des Bundes.

Eine prägende Figur des „Bund“ war Franz Kursky, der 1874 in Kurland (heutiges Lettland) als Samuel Kahan geboren wurde.  Als Leiter des Auslandsarchivs ab 1906 spielte er eine zentrale Rolle bei der Sicherung und Dokumentation ihres Vermächtnisses. Bereits 1919 legte er den Grundstein für das Bund-Archiv, indem er die Archivsammlung und die Bibliothek von Genf – einem sicheren Hafen während der antisemitischen Pogrome in Osteuropa – wieder zurück nach Wilna brachte, wo der Bund gegründet wurde.

Bereits ein Jahr später, 1920, verlegte er gemeinsam mit dem Mitbegründer des Bundes, Vladimir Kosovski (1867-1941), die Schweizer Auslandsvertretung des Bundes sowie das Auslandsarchiv nach Berlin, wo er seit 1918 im Exil lebte. Der Ausbruch des Polnisch-Russischen Krieges 1919/1920 machte diese Entscheidung notwendig, da Wilna, im Zentrum territorialer Konflikte zwischen Polen, Litauen und Sowjetrussland, Schauplatz zahlreicher militärischer Auseinandersetzungen war. In diesem unsicheren Umfeld bot die Stadt keine geeignete Basis mehr für das Bund-Archiv.

Mit Unterstützung der SPD, zu der der Bund enge Kontakte unterhielt, wurde das Archiv Ende 1925 in das „Vorwärts-Haus“ der SPD, Lindenstraße 3 überführt. Dort sollten, so Kursky, die Dokumente „geordnet und vor bösen Geistern bewahrtwerden. Die Sozialdemokraten halfen dem Bund vorallem beim Druck von Parteiliteratur in der eigenen Großdruckerei, so dass es sich zu einem zentralen Umschlagplatz für jiddische und russische Veröffentlichungen, die von den im Schweizer Exil ansässigen Mitgliedern des Bundes über Berlin nach Russland weitergeleitet wurden, entwickelte. Auch die SPD-Parteibibliothek war bis 1933 im Vorwärts-Haus in Berlin untergebracht. Nach dem SPD-Verbot am 22. Juni 1933 und der „Gleichschaltung“ wurde sie vom NS-Regime beschlagnahmt.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bund_logo.svg

Wahlplakat des Bundes, aufgehängt im Wahlbezirk Kiew im Jahr 1917. Überschrift auf Hebräisch: „Wo wir leben, dort ist unser Land!“
Innerhalb des Rahmens: „Wählt Liste 9, Bund“. Unten: „Eine demokratische Republik! Volle nationale und politische Rechte für Juden!“

Der Buchfund: „Frauenarbeit und Familie“

Ein bemerkenswerter Bestandteil dieses historischen Erbes ist das 1914 erschienene Buch Frauenarbeit und Familie von Edmund Fischer, das vom Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung der UB Anfang Dezember 2024 identifiziert wurde. Das Exemplar gelangte zu einem unbekannten Zeitpunkt in den Bestand der Universitätsbibliothek.

Ab 1950 wurde es als Teil der Wissenschaftlichen Zentralbibliothek Berlin geführt und unter der Zugangsnummer 50/11499 erfasst.

Zugangsnummer der Wissenschaftlichen Zentralbibliothek Berlin: 50/11499

Die Wissenschaftliche Zentralbibliothek wurde 1950 in Dahlem gegründet und diente der Erfassung der Bibliotheksbestände der West-Berliner Sektoren. Sie existierte nur bis 1954 und bildete die Grundlage der heutigen Amerika-Gedenkbibliothek in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Wie der Stempel im Bild zur Provenienz 3 zeigt, war das Buch zwischenzeitlich Teil der Sammlung der Amerika-Gedenkbibliothek und wurde später (zu einem unbekannten Zeitpunkt) dort ausgesondert.

Provenienzen

Provenienz 3: Wissenschaftliche Zentralbibliothek Berlin und Stempel: Ausgeschieden, Gedenk-Bibl.

Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten im Jahr 1933 erhielten diese „bösen Geister“ eine erschreckend konkrete Gestalt, da die Verfolgung jüdischer und sozialdemokratischer Organisationen und die Beschlagnahme ihres Eigentums zur bedrohlichen Realität wurden. Auch der Druck auf jüdische Personen wie Kursky nahm erheblich zu. Angesichts der wachsenden Verfolgungsgefahr floh er nach Paris und brachte die Sammlung mit, um sie vor der drohenden Beschlagnahmung zu schützen. In Paris war Kurski aufgrund finanzieller Notlage jedoch dazu veranlasst, die Sammlung 1934 an die Gründer des International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam zu verkaufen. Die Überführung des Archivs und der Bibliothek gestaltete sich jedoch schwierig: Erst 1936, mit erheblicher Verzögerung und nicht in vollständigem Zustand, erreichte die umfangreiche Lieferung Amsterdam. Kursky floh 1941 von Paris nach New York, wo er am 17. Januar 1950 verstarb.

Kurskys vorausschauendes Engagement für die Sicherung des Archivs ermöglichte es ihm, einen großen Teil der Sammlung vor dem Zugriff des NS-Regimes in Berlin zu bewahren. Dennoch gelang es ihm nicht, die Sammlung vor der Deutschen Wehrmacht in Amsterdam zu retten. Nach der Besatzung der Niederlande fiel die umfangreiche Bibliothek mit etwa 300.000 Exemplaren in die Hände des Einsatzstabs Alfred Rosenberg. Die Bestände wurden im International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam beschlagnahmt und anschließend nach Deutschland sowie in den Osten transportiert.

Nach Kriegsende war die Sammlung weit verstreut, und viele ihrer Teile gingen verloren. Einige Bestände wurden 1946 bei Hannover wiedergefunden und schließlich nach Amsterdam zurückgebracht.

Heute befindet sich die Bund-Sammlung in verschiedenen Institutionen weltweit, darunter im International Institute of Social History (IISH) Amsterdam. Ein bedeutender Teil des Archivs wurde im Rahmen des Centrale-Projekts von 2012 bis 2016 digitalisiert und ist heute unter dem Namen „Yidishkayt“ im IISH zugänglich.

Die Universitätsbibliothek übergab das Buch an das International Institute of Social History (IISH) Amsterdam.

1 Franz Kurski: Gezamlte Shriftn. New York 1956, S. 24.

Quellen: abgerufen am 02.12.2024 unter:

https://archief.socialhistory.org/en/collections/yiddish-collection-brief-history, abgerufen am 25.11.2024

https://www.wikiwand.com/de/articles/Allgemeiner_J%C3%BCdischer_Arbeiterbund, abgerufen am 25.11.2024

https://search.iisg.amsterdam/Record/ARCH00195/ArchiveContentAndStructure, abgerufen am 29.11.2024

Jewish Places: Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund (Bund), abgerufen am 29.11.2024

http://www.yivoarchives.org/index.php?p=collections/controlcard&id=33762, abgerufen am 29.11.2024

Frank Wolff: Historiography on the General Jewish Labor Bund. Traditions, Tendencies and Expectations, abgerufen am 04.12.2024 unter:  https://docs.google.com/viewer?url=https%3A%2F%2Fwww.medaon.de%2Fpdf%2FM_Wolff-4-2009.pdf&fname=M_Wolff-4-2009.pdf&pdf=true