Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Beinahinsel und Graumöncheneiland

Die Debatten über Schutzsuchende, die nach Europa kommen, haben schon zahlreiche Superlative hervorgebracht. Ständig ist die Rede von Überlastung, Flut, Katastrophe, Krise, Belastung und Grenzen. Erstaunlicherweise tritt dabei des öfteren auch ein recht seltenes Wörtchen in Erscheinung, das eigentlich eher aus dem Bereich der Relativierung kommt: schier. Hier und da wird gewarnt vor der „schier unlösbaren“ Aufgabe oder dem „schier endlosen“ Strom von Flüchtlingen, wird die „schier unerträgliche“ Belastung der Freiwilligen hervorgehoben.

Dieses Adverb schier schränkt die Bedeutung des nachfolgenden Adjektivs ein, im Sinne von fast oder so gut wie. Ein historisch verwandtes schier kennt auch das Niederländische. Es geht zurück auf eine proto-indoeuropäische Wurzel, die in Richtung spalten oder schneiden geht. Von dort aus bewegte sich die Bedeutung vermutlich über rasch und schnell über bald zu beinah. Es bekam in gewisser Weise eine zeitliche Komponente, die inzwischen wieder verschwunden ist. Dieses beinah ist im Niederländischen vor allem im Begriff schiereiland vertreten: ein Stück Land, das fast eine Insel ist, aber eben nicht ganz. Die deutsche Halbinsel geht eher mathematisch vor, wobei man sich dabei einige Fragen stellen muss… Wenn das Land an drei Seiten von Wasser umgeben ist, und nur an einer Seite mit dem restlichen Festland verbunden ist, warum ist es dann keine Viertelinsel? Die niederländische Beinahinsel ist vorsichtiger, aber damit vielleicht auch zutreffender.

Schiermonnikoog: Eindeutig kein schiereiland. (NASA, PD)

Nun ergriff den einen oder anderen Wutbürger oder Politiker in der aktuellen Diskussion schon die schiere Panik, was ihm zu Aussagen trieb wie

Die schiere Masse an Flüchtlingen erdrückt uns

Bei diesem Zitat war dem Urheber selbstverständlich nicht um Relativierung gelegen, sondern eher um bewusste Übertreibung. Es ging nicht darum, dass es fast eine Masse von Flüchtlingen sei, sondern er wollte die Menge als wirklich überwältigende darstellen. Und siehe da, es gibt ein zweites schier, nämlich als Adjektiv statt als Adverb. Das etymologische Wörterbuch von Kluge zeigt – ebenso wie die niederländische Etymologiebank – einen anderen Worthintergrund, dieses Mal nur germanisch. Es geht um rein, klar oder hell, auch um weiß oder hellgrau. Der Politiker sprach von der reinen Masse. Besonders produktiv ist weder dieses farbliche schier noch das relativierende schier im Niederländischen. Aber die farbliche Komponente gibt es in den Niederlanden noch heute, nämlich bei der Insel Schiermonnikoog. Diese ist nämlich gerade kein schiereiland sondern eine schiere Insel, also eine wahrhaftige. Sie ist aber benannt nach den grauen Mönchen, nämlich den Zisterziensern die auf der Insel im Kloster leben.

Das -oog ist im Übrigen nicht das Auge der Mönche, sondern steht schlicht für Insel. Es ist ähnlich wie bei den deutschen Inseln nebenan (Spiekeroog, Wangerooge…) eine von vielen Formen mit gemeinsamem germanischem Hintergrund. Dazu zählt etwa auch die Greifswalder Oie, die schwedische Insel Öland und die anderen skandinavischen Inseln mit ö, ø oder øy, auch die Färöer, und sogar das ei- im niederländischen eiland. Eine kleine protogermanische Wurzel hat rund um die Nord- und Ostsee eine schier unvorstellbare Vielfalt an Möglichkeiten zur Bildung von Inseltoponymen mit sich gebracht. Dass einige Länder auf dem europäischen Kontinent zur Abwehr von Geflüchteten ihre Grenzen abriegeln und so tun wollen, als seien sie Inseln, das war bis vor Kurzem noch schier unvorstellbar.

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Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 7. Januar 2016 um 17:37 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Etymologie, Niederlande, Sprachvergleich, Wortschatz abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

2 Reaktionen zu “Beinahinsel und Graumöncheneiland”

  1. Philipp Krämer

    Eine ausführlichere Erklärung der Etymologie von schier gibt Michiel de Vaan auf Neder-L.

  2. Johanna Ridderbeekx

    Schiermonnikoog is de eerste!