Am kommenden Sonntag, 26. Mai wird gewählt*, und zwar nicht nur das Europaparlament, sondern in Belgien auch das föderale Parlament und die Parlamente der Gemeinschaften und Regionen. Es gibt also viel zu entscheiden für die belgischen Wahlberechtigten.
Pünktlich zum Wahlkampf hat man in Belgien die Sprachpolitik wiederentdeckt, beispielsweise im Bildungssystem von Brüssel. Dort bestehen im Prinzip zwei Schulsysteme nebeneinander, jeweils getragen von der flämischen und der frankophonen Gemeinschaft. Die Strukturen simulieren einen Zustand, als würden zwei einsprachige Communities getrennt in der Stadt nebeneinanderher leben. Dass das immer weniger der Realität entspricht, versteht man natürlich auch in der Politik und man hat schon einige Möglichkeiten für mehrsprachige Bildung eingerichtet. Aber die mühsam ausgehandelten politischen Grundstrukturen lassen sich nicht so leicht umformen.
Um die Qualität des mehrsprachigen Unterrichts zu verbessern, kam jetzt ein Vorschlag vom Brüsseler Spitzenkandidaten der Christdemokraten für das flämische Parlament: Der Sprachunterricht sollte nur noch von Lehrkräften erteilt werden, die jeweils muttersprachliche Kenntnisse haben, etwa mit einer Art Austausch zwischen frankophonen und niederländischsprachigen Schulen innerhalb von Brüssel. Das ließe sich innerhalb der Stadt mit relativ kurzen Wegen praktisch lösen.
Klingt auf den ersten Blick gut und logisch. Auch in anderen Bereichen des Sprachenlernens, an Universitäten, Sprachschulen usw. gilt es als Qualitätsmerkmal, muttersprachliche Lehrkräfte zu haben, und die Lernenden fordern das oft selbst ein oder bewerten es zumindest positiv. Bei näherem Hinschauen steckt dahinter eine Denkweise, die in der Soziolinguistik native speaker ideology genannt wird:
Die ‚authentische‘ und ‚legitime‘ Sprachform schreibt man denjenigen zu, die diese Sprache von Kind auf erworben haben. Sie dürfen entscheiden, was ‚gute Sprache‘ ist, was ‚echt‘ und ‚natürlich‘ wirkt. Wer eine Sprache lernt, möchte so weit wie möglich genau diese ‚natürliche‘ Sprache lernen. Es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass man ein ganz anderes Sprachgefühl hat, wenn man von klein an die Sprache kennt und benutzt.
Aber ist das wirklich die wichtigste Qualifikation für die Fremdsprachenlehre? Mindestens ebenso wichtig sind didaktische Kenntnis, Lehrerfahrung, kritisches Sprachbewusstsein. Und gerade letzteres haben auch viele nicht-muttersprachliche Lehrkräfte. Man kann kaum überschätzen wie zentral es ist, sich bei der Lehre in den Denkprozess und die Erfahrungen der Lernenden hineinzuversetzen. Wer diesen Prozess und diese Erfahrungen selbst schon einmal durchgemacht hat, kann sie auch im Unterricht nachvollziehen.
Das symbolische Signal an Kinder und Jugendliche wäre bei einer solchen Regelung ziemlich unschön. Ihnen würde gezeigt, dass es Menschen gibt, die legitim die Sprache vertreten dürfen, während andere als weniger legitime Sprecher*innen gelten. Die Vorstellung, dass ich mir auch im Jugend- oder Erwachsenenalter eine Sprache zueigen machen kann, sie als meine Sprache annehmen kann, wird damit erschwert.
Wie so oft kommt hier im Wahlkampf eine Lösung zum Vorschein, die simpel und plausibel wirkt, aber nicht zu Ende gedacht ist. Der Denkrahmen bleibt leider immer noch in der binären belgischen Logik stecken: hier frankophon, da niederländischsprachig; hier Muttersprache, da nicht. In Brüssel darf zwar beides gemeinsam vorkommen, vielleicht gar gleichzeitig – aber trotzdem fein erkennbar sortiert. Zwischenstufen oder Alternativen sind in dieser Logik schwer zu erfassen.
Wo beginnt überhaupt „muttersprachliche Kenntnis“? In Brüssel und in vielen anderen Regionen der Welt besuchen viele Kinder ab jüngstem Alter inzwischen Schulen oder schon Kindergärten mit Immersionsunterricht, bei dem die Schulsprache nicht die Familiensprache ist. Wird man diese Kinder später als Muttersprachler*innen einstufen, wenn sie Lehrkräfte werden?
Ideal wäre es, wenn an den Schulen das Kollegium so divers zusammengesetzt wäre, wie die Gemeinschaft der Schülerinnen und Schüler. Die haben nämlich oft mehrere Muttersprachen, bei manchen gehört dazu schon jetzt Niederländisch und Französisch, bei anderen keines von beiden. Da wäre es ein Anfang, wenn die Politik sich von der Vorstellung lösen könnte, dass es ein ‚eigentliches‘ Niederländisch oder Französisch gibt und wer das vermitteln soll.
*Nur damit niemand den Termin verpasst: In den Niederlanden findet die Europawahl schon morgen, am 23. Mai statt, wie auch in Großbritannien (sonntags ist offenbar den Reformierten in den Niederlanden eine Wahl nicht zuzumuten). Ein paar Länder wählen am 24. oder 25. Mai, die meisten – darunter Belgien und Deutschland – am 26. Mai.
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