Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Ein okayes Attribut ist noch such

Fangen wir mal wieder mit einer Fernsehserie an. Vor einigen Jahren produzierte die niederländische Rundfunkanstalt VARA die Dramaserie Vuurzee. Darin ging es um eine Familie türkischer Herkunft, die in einem fiktiven Ort an der holländischen Küste ein Strandbistro betreibt. Die Serie traf recht gut die sprachliche Situation vieler solcher Familien zwischen alltäglichem Gebrauch des Niederländischen und hauptsächlich familiärem Gebrauch des Türkischen. Und sie zeigte, dass Mehrsprachigkeit nicht nur in großstädtischen Zentren zuhause ist, sondern auch im Herzen der holländischen Dünenlandschaft.

In der Serie wurde nun diese Familie von einem Schicksalsschlag getroffen. Die Tochter ist plötzlich verschwunden, alle vermissen sie schrecklich und niemand weiß, was mit ihr passiert ist: De dochter is zoek.

Eine faszinierende Konstruktion. Auf Deutsch gibt es keine unmittelbare Entsprechung. Mijn pen is zoek kann nicht direkt übersetzt werden mit Mein Stift ist such. Der einsprachige Van Dale möchte uns dieses zoek einfach nur als Substantiv verkaufen, die niederländisch-deutsche Ausgabe trifft es etwas genauer und bezeichnet es als prädikatives Adverb.

Nun ist es keineswegs so, als sei eine Konstruktion wie Mein Stift ist such auf Deutsch absolut ausgeschlossen. Wir haben zum Beispiel eine ganz ähnliche Konstruktion in Das Unternehmen ist pleite. Beide Adverbien hängen mit Substantiven zusammen: die Pleite oder de zoek (eigentlich nur in festen Wendungen gebräuchlich, z.B. op zoek gaan/zijn). In beiden Sprachen bekannt ist natürlich auch die Variante Mijn pen is weg. / Mein Stift ist weg. Diese Adverbien lassen sich aber nicht ohne weiteres in attributive Adjektive überführen. Nicht möglich sind zum Beispiel die Äußerungen

* Mijn zoeke pen was duur.

* Mijn wegge pen was duur.

* Sein pleites Unternehmen war lange in finanziellen Schwierigkeiten.

(Im Boulevardzeitungsstil geht natürlich problemlos: Sein Pleite-Unternehmen…)

Pleite-Unternehmen. (Foto: T. Maiwald, GFDL-1.2)

Besonders erstaunlich ist diese grammatische Blockade bei einer anderen Variante, mit der man auf Niederländisch das Fehlen oder Verlieren einer Sache ausdrückt: Ik ben mijn pen kwijt. Das Wort kwijt ist aus dem Lateinischen bzw. Französischen entlehnt und war schon immer ein Adjektiv. Das ist es auch heute noch, es kann aber nur prädikativ gebraucht werden. Da es sich auf ik bezieht, ist auch hier der Bezug zu pen unmöglich. Niemand sagt

*Mijn kwijte pen was duur.

Durch diese Beschränkungen auf den attributiven Gebrauch wird die wunderbare Erklärung des Schriftstellers Kees van Kooten erst rhythmisch und poetisch:

Iets is weg als wij zeker weten dat het er niet meer is, maar weten wij zeker dat iets wat weg is nog ergens moet zijn, dan spreken wij van kwijt.

Derselbe van Kooten schreckt ansonsten nicht davor zurück, zusammen mit Kollege Wim de Bie in der Satire Het sokkenbolletje ein Adverb in ein Attribut zu pressen:

Ik ben zelf een zeer grage zwemmer, maar ik had dus geen zwembroek meegenomen.  (Text)

(Ich bin ein sehr gerner Schwimmer, aber ich hatte eben keine Badehose dabei.)

Ist das nun eine allgemeine Regel, dass solche Konstruktionen keine Umwandlung in attributiven Gebrauch bzw. Adjektivbildungen zulassen? Liegt es vielleicht daran, dass die Deklination irgendwie misslingt? So langweilig ist es nicht mit der Grammatik, wie man etwa am relativ jungen Begriff okay sieht. Ursprünglich kannten wir nur Sätze wie De film was oké und Das Buch ist (ganz) okay. Zumindest auf Deutsch ist hier auch ein Substantiv möglich: Er hat sein Okay gegeben. Ein neueres Phänomen ist nun aber das entsprechende attributive Adjektiv.

Die Süddeutsche Zeitung diskutierte kürzlich beispielsweise die Formulierung ein okayes Leben. Und in der niederländischen Gegenwartsliteratur liest man schon: Nick is een okaye man. Deklinationsmorphologie: Kein Problem! Wann solche Konstruktionen in den beiden Sprachgemeinschaften nicht mehr für Irritationen sorgen, und ob Wörter wie zoek oder kwijt nachziehen und sich auch endlich attributiv benutzen lassen, lässt sich nicht voraussagen. Wir können nur abwarten und inzwischen einen einigermaßen okayen Sprachgebrauch pflegen. In der Fernsehserie ging alles deutlich schneller. Vorsicht, Spoileralarm: Das suche Mädchen taucht am Ende der ersten Staffel von Vuurzee wieder auf.

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Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 16. April 2015 um 09:21 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Etymologie, Grammatik, Idiom, Sprachvergleich abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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