Ein Beitrag von Natalie W.
Die beobachtete Situation spielte sich in einer Mathematikstunde einer ersten Klasse ab. Die Klassenlehrerin, im folgenden Frau A. genannt, gab mir fünf Schülerinnen und Schüler nach draußen auf den Flur, um mit ihnen Aufgaben zur Schreibung der Zahl 5 zu machen. Unter ihnen war ein 6-jähriger Junge, der unter einer emotionalen Störung leidet. Dieser war sehr empfindlich was Geräusche angeht und verschrieb sich jedes Mal, wenn ein anderes Kind an dem Tisch etwas sagte. Auch ich konnte den Schülerinnen und Schülern nichts erklären, ohne dass er sich verschrieb. Da dies natürlich nicht zu vermeiden war (in dem Flur gab es keinen weiteren Tisch an den man ihn hätte separieren können und auch seine noise cancelling-Kopfhörer, die er sonst immer dabei hatte, waren nicht zu finden) lief diese Stunde auf einen großen Wutausbruch hinaus.
Er schmiss seine Stifte und seine Bücher vom Tisch, schrie und rannte durch den Flur und tobte auch im Klassenraum vor Wut umher. Ich war in dem Moment völlig überfordert, da dies auch meine erste Woche im Praktikum war und mich niemand vorgewarnt hatte. Als Frau A. dann selbst versuchte ihn zu beruhigen, merkte ich, wie sie ihn auf einmal fragte, was die Affen letzte Woche (wahrscheinlich in einem Film oder Buch) alles gemacht hatten. Ich war ein wenig verdutzt, was sie mit dieser Frage bezwecken wollte, so war mir zwar klar, dass die Klasse auch die „Affenklasse“ genannt wurde, dies aber in dieser Situation ziemlich irrelevant erschien. Doch man merkte, wie der Junge sofort überlegte und sich dann wie ein Gorilla mit den Fäusten auf die Brust schlug und schrie. Danach ging er zu seinem Kuscheltier und schüttelte es mit den Worten „die haben noch eine Palme geschüttelt“ und dann rannte er fünfmal um den Tisch im Flur um danach vor der Lehrerin stehen zu bleiben und in den Arm genommen zu werden. Danach sammelte er seine Stifte auf und ging ruhig wieder in den Klassenraum.
Meine Einsichten
Ich fand es beeindruckend, wie ruhig Frau A. in dieser Situation gehandelt hat und wie souverän sie diese löste. Man merkte, dass sie den Schüler kannte und selbst in der kurzen Zeit, in der er in der Schule ist, eine Beziehung zu ihm aufbauen konnte. Da diese „Abregungsstrategie“ mit dem Klassentier verbunden wurde, konnte der Junge einen persönlichen Zugang finden und wurde auch an bereits Vergangenes erinnert. Mit dieser Frage und den anschließenden Übungen konnte Frau A. also ein Ritual aufbauen, welches in diesen sehr anstrengenden Situationen helfen kann.
Meine Folgerungen
In dieser Situation konnte man gut erkennen, dass eingeübte Rituale in vielen Situationen eine enorme Hilfe sein können und gegebenenfalls auch Situationen entschärfen können. Dies erfordert aber ein ständiges Einüben und auch eine gute Kenntnis der Schülerinnen und Schüler. Ich finde es faszinierend, wie Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkraft als eine so große Bezugsperson sehen, dass sie sich nur von dieser beruhigen lassen. Dennoch sind diese Rituale vermutlich der Schlüssel um solche Situationen in den Griff zu bekommen. Aber auch da muss die Situation und vor allem die Schülerinnen bzw. der Schüler richtig eingeschätzt werden. Denn gerade bei diesem Schüler können solche Übungen auch einen negativen Effekt haben und die Situation noch weiter eskalieren lassen.
Meine Anschlussfragen
- Wie führe ich solche Rituale ein?
- Wie kann ich meine eigenen Emotionen in so einer Situation kontrollieren?
- Wie kann ich sicherstellen, dass sich kein anderes Kind in so einer Situation verletzt?
- Wie kann ich die Situationen richtig einschätzen lernen und die beste deeskalierende Methode finden?