Praktikum bei einer gemeinnützlichen Kulturorganisation in Beirut

Marhaba aus Beirut! Hier war ich nun für vier Monate und sitze aktuell am Flughafen, um meine nächste Station Griechenland anzusteuern. Ich kann kaum glauben, dass die Zeit schon vorbei ist. Eines ist sicher – intensiv war es in jedem Falle und das auf so vielen Ebenen. Wo anfangen und wo aufhören fragt sich da?

WARUM LIBANON UND WARUM UMAM D&R ALS ORGANISATION?
Vielleicht zunächst einmal wie ich zu der Entscheidung gekommen bin, ein Praktikum in Beirut und bei UMAM zu machen. Ich studiere aktuell im Bachelor Geschichte und Kultur des Vorderen Orients mit Schwerpunkt Islamwissenschaft und Neugriechische Geschichte. Von Beginn an war es mein Ziel, im Rahmen meines Studiums in verschiedenen Kontexten ins Ausland zu gehen – zum einen um meine Sprachkenntnisse in Arabisch und Griechisch auch anwenden zu können, zum anderen aber auch, weil ich mein thematischer Schwerpunkt auf der Region des östlichen Mittelmeerraumes liegt und ich davon überzeugt bin, dass ein längeres „vor Ort sein“, ein breit angelegter Austausch und ein Eintauchen in die Kultur ein absolutes Muss ist um sich ein wirkliches Bild machen zu können. Außerdem macht es mir persönlich große Freude, mich immer wieder in neuen Kontexten wiederzufinden, meine Gewohnheiten und Denkweisen kritisch zu hinterfragen und mich somit auch selbst besser kennenzulernen und weiterzuentwickeln. Das hat sich bereit in meinem halbjährigen Auslandsaufenthalt 2019 in Ägypten im Rahmen meines ersten Studiums des Nachhaltigen Wirtschaftens gezeigt und seither konnte ich es kaum erwarten, bis es nach COVID endlich wieder möglich war, längere Auslandsaufenthalte zu planen und zu realisieren.
Für den Libanon als arabischsprachiges Land habe ich mich entschieden, da mir bereits durch die Neugriechische Geschichte bewusst geworden ist, dass ich für mich gerne das Thema Erinnerungskultur vertiefen möchte. Dass gerne dieses Thema zu meinem Herzensthema geworden ist, hat mehrere Gründe: Zum einen finde ich es wichtig, bestehende Narrative über die Vergangenheit immer wieder aufzubrechen und zu hinterfragen, von wem diese ausgehen und warum sie dominieren. Erinnerungskultur macht deutlich, dass die Vergangenheit eben nicht in der Vergangenheit bleibt, sondern an bestimmten Punkten immer wieder hochkommt, besonders wenn das Erzählen über und damit eine Verarbeitung prägender Ereignisse, wie beispielsweise eines Bürgerkrieges oder gewaltsam unterdrückter Proteste bewusst unterdrückt oder von den Betroffenen selbst unterlassen wird. Zum anderen kann mit dem Entwickeln anderer Narrative, basierend auf geschichtswissenschaftliche Forschung eine „wahrheitsgetreuere“ Abbildung der Vergangenheit stattfinden, frei von politischer Ideologie, dem Narrativ des Siegers oder tagesaktueller politischer Instrumentalisierung stattfinden. Wichtig ist mir dabei auch, das Thema praktisch anzugehen: Wie bringe ich sich ehemals gegenüberstehende Parteien dazu, miteinander zu sprechen? Was braucht es, um eine gemeinsame Gesprächsbasis zu schaffen? Und gibt es überhaupt so etwas wie ein einziges Narrativ über die Vergangenheit?
Der Libanon hat in den letzten 100 Jahren eine mehr als bewegte Vergangenheit hinter sich, bedenkt man die Okkupation durch das französische Mandat, die anschließende Gründung eines multi-religiösen und multi-ethnischen Staates im Jahr 1943, 15 Jahre Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 und auch im Anschluss immer wieder Unruhen, Protest, politische Morde und Stagnation und wirtschaftliche Schwierigkeiten, zuletzt perpetuiert durch die katastrophale Explosion im Hafen Beiruts im Jahr 2020. Mittlerweile ist der Dollar als alternative Währung akzeptiert, die Lebenshaltungskosten steigen stetig während die Löhne weiter sinken – eine Entwicklung, die aktuell weltweit zu beobachten ist, im sowieso schon gebeutelten Libanon aber doppelt so krass spürbar ist. Doch dazu an späterer Stelle mehr.
Durch einen Kurs in der Islamwissenschaft zum Thema „Friedenspotential der Religionen“ konnte ich einen tieferen theoretischen Einblick in die Narrative libanesischer Geschichte bekommen. Im Bürgerkrieg standen sich vor allem religiöse Gruppierungen entgegen und so sind die gesellschaftlich-strukturellen Auswirkungen und das sich fortziehende Generationentraum immer noch stark spürbar. Wie oben bereits beschrieben sind genau dies Themen, die mich persönlich bewegen und mit denen ich mich auch wissenschaftlich beschäftigen möchte. Somit war für mich klar, dass ich auf jeden Fall für längere Zeit in den Libanon möchte, um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen. Da ich mich in meiner Freizeit beim journalistischen Kollektiv dis:orient e.V. engagiere und ab und zu auch Recherchen zu diesem Zweck betreibe, hat mich zudem die Situation von Syrer:innen im Libanon dazu bewegt, mir die Lage vor Ort anzuschauen.
Durch einen Dozenten sowie einen Kommilitonen, die beide ein breites Netzwerk im Libanon haben bin ich auf UMAM D&R und ihre Arbeit aufmerksam geworden. UMAM wurde 2005 von der deutschen Journalistin und Filmemacherin Monika Borgmann und ihrem Mann Lokman Slim, einem libanesischen Intellektuellen und Verleger aus der Shia-Community gegründet. UMAM hat die Tradition des Verlags- und Publikationshauses der Familie Slim weitergeführt und seit seiner Gründung etliche Bücher editiert und herausgebracht. Zusätzlich besitzt UMAM neben einer stattlichen Bibliothek in ihrem Hauptbüro im Beiruter Stadtteil Harek Hreik eine große Sammlung von Zeitungen und Zeitschriften, die seit den 60er-Jahren im Libanon erschienen sind. Außerdem haben sich seither weitere spannende Projekte von UMAM ausgehend entwickelt, wie beispielsweise das MENA Prison Forum oder weitere Archive wie das Beirut Carlton Hotel Archive oder die Baalbek-Collection. Wesentlich ist dabei vor allem ihr großes persönliches Netzwerk, bestehend aus Historiker:innen, Politiker:innen, Journalist:innen und alles was sonst noch so Rang und Namen hat. UMAM und seine Gründer:innen Monika und Lokman hielten sich mit ihrer politischen Meinung nie zurück, thematisierten Missstände und Korruption im Libanon und attackierten und kritisierten die Machenschaften der entsprechenden Gruppierungen, vor allem jene der extremistischen Hisbollah. Überregional vernetzt traten sie dabei immer für Gerechtigkeit und juristische Aufarbeitungen ein, beispielsweise für politische Gefangene in der MENA-Region. Lokman bezahlte dafür 2021 mit seinem Leben; er wurde Opfer eines politischen Mordes. Aufgeklärt wurde der Mord bis heute nicht. Bei UMAM hinterlässt sein Tod ein riesiges Loch, sowohl auf persönlicher als auch professioneller Ebene. Umso mehr haben sich Monika und die Mitarbeitenden ihrem Kampf für Aufklärung und Gerechtigkeit für Lokman verschrieben, auch um sein Werk aufrecht zu erhalten.
Mir war bereits im Voraus bewusst, dass das alles nach einer sehr schwierigen Ausgangslage klingt. Allerdings war mir auch von Anfang an klar, dass ich genau in die Themen, zu denen UMAM arbeitet einen Eindruck bekommen und somit einen Blickwinkel auf den Libanon aber auch überregionale Thematiken der MENA-Region möchte, der an Vielfältigkeit kaum zu übertreffen ist – Archivarbeit, politischer Aktivismus und Kunstelemente vereint, das gibt es wirklich nicht oft. Zudem habe ich persönlich keine Berührungsängste mit solchen Thematiken, viel mehr finde ich es wichtig, dass dazu gearbeitet wird.
BEWERBUNG, STIPENDIUM UND VORBEREITUNG AUFS PRAKTIKUM
Bei UMAM beworben habe ich mich dann schlussendlich mit Motivationsschreiben und Lebenslauf Mitte Oktober, nachdem mein Prof mich bereits per Mail an das Team empfohlen hatte. Nach kurzem Mailverkehr folgte ein schönes Telefongespräch mit meiner späteren Kollegin Nathalie und am nächsten Tag dann auch die Zusage von UMAM. Gleichzeitig hatte ich bei ERASMUS + weltweit ein noch zu vergebendes 4-monatiges Stipendium für den Libanon entdeckt, auf welches ich mich dann gleich beworben und dieses dann auch bekommen habe, mit dem Grant-Agreement pünktlich als Weihnachtsgeschenk unter dem Baum.
Zunächst stand auch noch die Überlegung im Raum, den Praktikumszeitraum mit einer weiteren Organisation anzureichern, wogegen ich mich dann aber doch entschieden habe, da ich den gesamten Zeitraum zu nutzen wollte um UMAM und ihre Arbeit kennenzulernen und auch wirklich effektiv unterstützen und an Projekten mitarbeiten zu können.
Anfang des Jahres ging es dann auch schon an die nähere Planung in Form von Flügen buchen, Unterkunft suchen und nochmals Absprachen zu den Tätigkeiten zu treffen. Die Wohungssuche war schnell erledigt, da mir Nathalie großzügig angeboten hatte, für den ersten Monat aber gerne auch darüber hinaus ein Zimmer in ihrer WG im Stadtteil Furn El Chebbak zu beziehen, was ich dankend angenommen habe. Im Anschluss habe ich über syrische Freund:innen aus Berlin auch gleich eine weitere WG im Stadtteil Geitawi gefunden, wohin ich dann Anfang Mai umgezogen bin.
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell, das Semester war zu Ende, die Studi-Jobs beim Zentrum Moderner Orient und bei der Domäne Dahlem sowie die Wohnung in Berlin gekündigt und schon ging es Mitte März los nach Griechenland, mein kleiner Zwischenstopp vor Beirut. In Athen und auf der Insel Kithira habe ich mich sozusagen schonmal ein bisschen wettertechnisch akklimatisiert, aber bewusst
auch eine emotionale Distanz zu Deutschland geschaffen und Zeit für mich zu haben, um mich im nächsten Schritt voll auf Beirut und die Arbeit bei UMAM einzulassen.

ANKOMMEN, WOHNEN UND LEBEN IN BEIRUT UND DERZEITIGE WIRTSCHAFTLICHE UND POLITISCHE LAGE IM LIBANON
Anfang April kam ich dann in Beirut an, mitten in der Nacht vom Flughafen mit dem Taxi durch eine noch zu entdeckende Stadt, ein herrliches Gefühl. Nathalies Wohnung gab mir sofort ein Zuhause-Gefühl, weiträumig und die Wände mit Filmplakaten aus den 60ern und großen Bücherregalen gesäumt und einer Art des Zusammenlebens, wie sie mir entspricht – jede:r hat seinen Tagesablauf, aber gekocht und gegessen wird gemeinsam und abends gibt es ein Gläschen Wein, einen Film, man geht gemeinsam aus oder besucht Konzerte oder andere kulturelle Veranstaltungen.

Am nächsten Tag gab es erstmal eine kleine Stadtführung von meinem Dozenten aus der Islamwissenschaft, der gerade zur gleichen Zeit in Beirut weilte, was mir schonmal einen wunderbaren Einblick in diese faszinierende Stadt gegeben hat. Das Stadtbild ist auch nach über 30 Jahren nach Ende des Bürgerkrieges noch sehr von den damaligen Ereignissen geprägt. Zum einen durch klar ersichtliche Einschusslöcher in noch bestehenden, aber oftmals verlassenen Gebäuden, den Stacheldraht an jeder Ecke und die Militärcheckpoints, die teilweise immer noch in Benutzung sind. Zum anderen sind seit Ende des Bürgerkrieges vermehrt Bausünden anstelle der abgerissenen Gebäude entstanden, welche sich nicht wirklich in die bestehenden Strukturen einfügen. Die Explosion des Hafens hat ihr übriges dazugetan, viele Gebäude sind bis heute noch nicht wieder aufgebaut oder mittlerweile einfach verlassen.

Die Viertel in Beirut sind historisch nach religiösen Gruppierungen segregiert und auch wenn mittlerweile sehr viel mehr Austausch stattfinden, so ist die Tendenz immer noch da und an religiösen Bauten wie Kirchen und Moscheen, aber auch Fahnen und kleinen Schreinen an jeder Ecke erkennbar. Beide Viertel in denen ich gelebt habe sind maronitisch-christlich geprägt und so bekam ich Anfang April viel von den dortigen Ostertraditionen mit, alleine schon weil jeden Tag um 12 Uhr über Lautsprecher eines meiner Lieblingslieder der libanesischen Kultsängerin Fairuz, „Ya Umm Allah“, laut proklamiert wurde, was ich gerne in die Debatte um das Thema Minarette im öffentlichen Raum mit eingebracht hätte. Aufgrund meiner griechischen Wurzeln interessierten mich zudem die Geschichte und Praktiken der griechisch-orthodoxen Community im Libanon sehr, welche sich in einer Mischung aus arabisch- und griechisch-sprachiger Liturgie widerspiegelten aber ansonsten sehr ähnliche Abläufe und Traditionen wie im Herkunftsland hat. Auch das Miterleben des Fastenbrechens zum Ende des Ramadan mit einer befreundeten syrischen Familie war ein kleines Highlight. Ich liebe es, die Kultur- und Musikszene in einer neuen Stadt zu erkunden und bin damit per Zufall wohl genau in den richtigen Kreisen gelandet. Nathalie ist eine absolute Kino-Fanatikerin (auch aber nicht nur von Beruf wegen ), unser anderer Mitbewohner Maxim ist Theaterschauspieler und Opernsänger und Ehab, mein Mitbewohner in der zweiten WG ist Kameramann, dokumentiert Konzerte und andere musikalische und künstlerische Zusammenkünfte und hat zudem ein Café mit offenem Space für Comedy, Konzerte und Workshops mitgegründet. Auch meine Praktikumsstelle UMAM war oftmals (Mit-)Veranstalterin von Filmfestivals, Kunstausstellungen, Podiumsdiskussionen oder Workshops.
So war ich ehrlich gesagt kaum einen Abend zuhause, sondern immer auf irgendwelchen Konzerten, Lesungen, im Theater, auf Filmfestivals oder auch Veranstaltungen und Konferenzen des Orient-Instituts oder der American University. Insgesamt habe ich das Gefühl, mir so innerhalb der vier Monate einen relativ guten Überblick über die Kulturszene in Beirut verschafft zu haben und tolle Kontakte geknüpft zu haben, für die ich in jedem Falle zurückkommen möchte.

Am Wochenende machte ich mich daran, das Land selbst zu erkunden. Der Libanon hat eine Gesamtfläche von gerade einmal 10.450 km², was im Vergleich gerade einmal 2/3 Schleswig-Holsteins entspricht. Gleichzeitig ist es mit 5,5 Millionen Einwohnenden eines der am dichtesten besiedelten Ländern der Erde. Dies mag einer der Gründe sein, warum es überall hin, und sei es ein noch so kleines Bergdorf, eine nicht-staatliche Minibus-Verbindung gibt, welche umgerechnet nie mehr als 2€ kostet (eines der wenigen Dinge, neben Zigaretten, die mit der Inflation nicht teurer geworden sind). Auch Trampen an abgelegenere Orte war kein Problem. Das hat es einfach gemacht, meine Entdeckungs- und Wandertouren zu orthodoxen Klöstern, antiken Ausgrabungsstätten, aber auch einfach ans Meer durchzuführen. Sicher habe ich mich dabei eigentlich immer gefühlt, wenn dann kam es vor dass ich mich beim alleine Wandern verlaufen habe.
Außerdem habe ich zweimal einige Tage auf einer Farm in Akkar im Norden des Libanon verbracht, was mir zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben hat, auch wirklich Arabisch zu sprechen. In Beirut oder auf der Arbeit bin ich dazu kaum gekommen. Das Leben mit der Familie und auch die täglich Arbeit auf dem Feld und das Rauskommen aus Beirut haben mir unglaublich gut getan.
Jeden Sonntag war ich zudem bei drei armenisch-stämmigen Schwestern zum Lunch eingeladen, die ich bei einem Konzert kennengelernt habe. Durch diese Verbindung habe mich nochmals zusätzlich zuhause gefühlt, es war einfach so schön ihren Geschichten zu lauschen und mit einbezogen zu werden. Zudem war das Essen einfach so lecker.

Mit meinem ERASMUS-Stipendiengeld von 700€ sowie zusätzlichen Ersparnissen von ca. 200€ im Monat bin ich im Libanon eigentlich gut hingekommen. Trotzdem war ich zu Beginn geschockt über die Preise im Supermarkt, besonders weil den Leuten die Verzweiflung angesichts der täglichen Preisanstiege ins Gesicht geschrieben war. Insgesamt ist die Grundversorgung im Libanon mit täglichen Powercuts des staatlichen Stromes von bis zu 12 Stunden und je näher es in Richtung Sommer ging auch Ausfälle in der Wasserversorgung schlichtweg nicht gegeben. Für die Bevölkerung bedeutet dies vor allem zwei Dinge: Erstens, man ist auf sich alleine gestellt und muss sich ein eigenes Netzwerk an persönlichen Kontakten verschaffen, welches im Notfall aushelfen kann. Auf den Staat ist kein Verlass. Zweitens, man bezahlt für seine Grundversorgung, sprich, Wasser, Strom und Internet horrende Summen; sei es in Form eines privaten Generators oder dafür, seinen Wassertank von einem privaten Unternehmen befüllen zu lassen. Mein Eindruck von der Grundstimmung war, dass man zwar daran gewöhnt ist auf sich selbst gestellt zu sein, dies aber an der inneren Unruhe und der Unzufriedenheit angesichts der Aussichtslosigkeit der Situation wenig ändert.
Ein weiteres großes politisches Thema ist die Situation von Syrer:innen im Libanon, welche oftmals hitzige und vor allem emotionale Debatten hervorgerufen hat. Für einen Überblick hierzu würde ich einmal auf meinen Artikel für dis:orient verweisen.

Das Miterleben der Situation auf alltäglicher Basis und die vielen Gespräche über die vier Monate hinweg haben mich zum Ende hin ehrlich gesagt auch selbst emotional ziemlich mitgenommen, sodass ich als Coping-Mechanismus definitiv auch viel Zeit mit und für mich selbst gebraucht habe.

PRAKTIKUMSLEBEN
Vor Praktikumsbeginn wusste noch nicht genau, mit welchem Projekt wir starten würden oder wo genau die Schwerpunkte meiner Arbeit sein werden, was auch daran liegt, dass die Arbeit bei UMAM einfach insgesamt hochflexibel und sich den tagesaktuellen Themen stellend konzipiert ist.

Gleich am ersten Tag aber wurde ich von Nathalie eingeführt und zwar ins Archiv des Beirut Carlton Hotel, zu dem wir dann hauptsächlich auch gearbeitet haben. Das BCH, wie wir es der Einfachheit halber abgekürzt haben, war ein Luxus-Hotel, welches Anfang der 60er an der Beiruter Raouché von der einflussreichen Familie Medawar eröffnet wurde. Es beherbergte Politiker:innen wie den späteren Präsidenten Elias Sarkis, Stars und Sternchen der aufblühenden Filmindustrie und nahm die ersten großen Touristenwellen in den Libanon mit. Während des gesamten 15-jährigen libanesischen Bürgerkrieges blieb es geöffnet und hatte immer wieder von „Zwischenfällen“ zu berichten. Bis in die Anfänge der 2000er existierte das Hotel, bis das Gebäude 2009 abgerissen wurde. Das Archiv gelangte durch einen absoluten Zufall zu UMAM. An dem Tag als das Hotel abgerissen wurde, fuhr UMAM-Gründer Lokman Slim von einem Treffen nachhause an der Raouche entlang. Als er sah, dass riesige Lastwagen Tonnen an Dokumenten aus dem Gebäude herausschafften, mit der Intension diese zu entsorgen lenkte er sie um zu UMAMs Hauptsitz in Harek Hreik, wo tausende von Dokumenten wie Korrespondenzen und Rechnungen, Fotos und persönliche Gegenstände, Personalakten, Poolkarten, etc. eine neue Heimat fanden.

Zwar wurde davor schon mit dem Archiv gearbeitet, beispielsweise in Form einer Kunstausstellung, und die Folder wurden anschließend in Archivboxen in den Regalen des Archives aufbewahrt. Warf man allerdings einen genaueren Blick auf die Anordnung der Folder in den Boxes und vor allem auf den Zustand der Dokumente selbst, so wurde schnell deutlich, dass man mit der Konservierung und Restaurierung des Archives Jahre verbringen könnte. Doch wir entschieden, Schritt für Schritt vorzugehen. Zunächst einmal sollte es darum gehen, die 518 Folder nach entsprechenden Kategorien zu sortieren, beispielhaft hierfür wären „Communication with Customers“, „Revenue“ oder „Personal Correspondence“. In einem aufwendigen Prozess begannen wir also, die Folder aus den Boxen zu suchen, sie zusammenzubringen und in den Regalen neu anzuordnen. Dies alles wurde in einer Escel-Datei dokumentiert.

Mit einher ging die Preservierung der Dokumente selbst. Wann immer wir einen Ordner öffneten und sahen, dass das Papier der Dokumente beschädigt war, beispielweise durch rostige Klammern oder schlicht durch die schlechte Qualität des Papieres selbst, separierten wir die Dokumente und verwahrten sie in einem Papierumschlag. Für einen Folder brauchten wir so im Schnitt eine Stunde.

 

Sobald wir mit einem Folder fertig waren, ging es darum, den Inhalt möglichst detailliert in der Excel zu vermerken (Keywording). Manche Dokumente wurden auch gescannt.

Auf die Woche betrachtet waren dies unsere Tätigkeiten von Dienstag bis Mittwoch, welche auch im Archiv selbst stattfanden. Montags und Freitag hingegen war mir meist freigestellt, von wo aus ich gerne arbeiten möchte. So unternahm ich an diesen beiden Wochentagen zu Beginn des Praktikum noch Recherchearbeiten zum Hotel selbst; zum einen um mir einen Überblick zu verschaffen, aber auch um das Hotel abseits des Archives einbetten zu können – Zeitungsartikel und wissenschaftliche Beschäftigungen, Erwähnungen in Reiseführern, das Herausarbeiten der Hauptakteur:innen etc. So hatte ich das Gefühl, immer tiefer in eine vergangene Welt einzutauchen und ein Gefühl dafür zu bekommen.

Zur Halbzeit des Praktikums begann ich dann auch, bei anderen UMAM-Projekten reinzuschnuppern und teilweise mitzuarbeiten. So lernte ich von meinem Kollegen Ayman, welcher das Baalbek-Studios Projekt betreut, wie man alte Filmrollen neu aufrollt und restauriert, was für mich unglaublich spannend weil eben eigentlich so gar nicht mein Gebiet war.

Auch wenn UMAM Besucher:innen-Gruppen hatten, half ich bei der thematischen Vorbereitung und der Betreuung und durfte auch den ein oder anderen informativen Part übernehmen.
Zudem habe ich zwei Zusammenfassungen für Online-Veranstaltungen des MENA Prison Forums geschrieben, die im Anschluss auf der Website hochgeladen wurden. Auf Eigeninitiative hin habe ich zudem noch einen Artikel auf dem Blog des MPF zum Thema „On suing the Syrian Government: Civil Cases vs. Criminal Cases“ veröffentlicht, für den ich ebenfalls die Zeit am Montag und Freitag genutzt habe, um zu recherchieren.
Die letzten Praktikumstage habe ich noch genutzt, um ein Interview mit UMAM-Gründerin Monika Borgmann zu ebendiesem Projekt zu führen, welches ich Anfang September bei dis:orient veröffentlichen möchte.
FAZIT
Ich bin immer noch voller Eindrücke und Emotionen aber eines ist sicher: Ich werde in jedem Falle verbunden bleiben und auch zurückkehren nach Beirut, sowohl zu UMAM und die dortigen Projekten als auch für all die Bekanntschaften und Freundschaften, die ich dort geschlossen habe. Beirut ist über vier Monate hinweg ein weiteres Zuhause geworden.

Tipps für andere Praktikant:innen

Vorbereitung
Siehe Text oben

Beantragung Visum
Bei Einreise am Flughafen. Es gibt ein dreimonatiges Tourist:innen-Visum, welches entweder im Land verlängert werden kann oder aber man bezahlt 50.000 Lebanese Pounds (umgerechnet 50ct!) Strafe bei der Ausreise

Praktikumssuche
Zunächst Festlegung auf das Land und den Schwerpunkt der Arbeit, dann Kontakt zur Organisation über einen Prof

Wohnungssuche
Über persönliche Kontakte aus Berlin

Versicherung
Auslandsversicherung des DAAD für Studierende

Formalitäten vor Ort
Telefon-/Internetanschluss
Libanesische SIM-Card (30€ für die SIM-Karte; danach 10€/Monat für 10GB Internet)

Bank/Kontoeröffnung
!!! Alles benötigte Bargeld in Dollar mitnehmen und vor Ort in Lebanese Pounds umtauschen !!!
Es ist wirklich ein komisches Gefühl mit so viel Bargeld zu reisen aber leider notwendig, da eine Auszahlung von Bargeld an Bankautomaten kaum möglich und wenn dann zu einem sehr schlechten Kurs vorhanden ist.

Alltag/Freizeit

Ausgehmöglichkeiten
Cafés/Bars:
– Kalei Coffee in Ashrafie und Ras Beirut (zum Arbeiten)
– Riwaq Beirut (tagsüber zum Arbeiten, abends und am Wochenende oft DJ Set oder Veranstaltungen im Kellerraum; LGBTQI-friendly)
– Tota (tagsüber zum Arbeiten, abends oft DJ Set; LGBTQI-friendly)
– Aaliya’s Books (zum Arbeiten, jeden Mittwoch Live-Podcasting mit Ronny Chatah aka „The Beirut Banyan“)
– Haven for Artists (kein Café; aber ein toller kostenlosser Co-Workingspace mit Garten und kleiner Bibliothek; zudem tolle kostenlose Workshops!)
Clubs/Feiern:
– KED (Rap, Techno, Mainstream; je nach Abend)
– Frequent Defect (Techno)
Restaurants/Imbiss:
– T-Marbuta (Libanesisch)
– Pizzeria Da Marco (Neapolitanische Pizza)
– Onno Bistro (Armenisch)
– Mavia Bakery (super leckeres Sauerteigbrot; jeden Freitag Pizza-Night)
– Abou Marc Bakery(Beste Frühstücks-Manoushe!)
Strände:
– Joining Beach (public; südlich von Batroun; mit familienbetriebenem Fischrestaurant)
– Safra Beach (public; direkt nach Jounieh)
Sonstiges

 

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