Die Gretchenfrage der europäischen Politik lautet derzeit: „Wie hältst du es mit Orbán?“ Die konservative EVP ist auf der Suche nach einem Politiker (keine einzige Frau wird momentan ernsthaft ins Spiel gebracht), der bei den Europawahlen im kommenden Jahr als möglicher EU-Kommissionspräsident ins Rennen gehen soll.
Umstritten ist die Kandidatur von Manfred Weber, weil dessen CSU allzu kuschlig mit der demokratiefeindlichen Politik in Ungarn umgeht. Als Gegenentwurf präsentiert sich nun der Finne Alexander Stubb, wie De Standaard zu berichten weiß. Die Zeitung nutzt dabei einen interessanten deutsch-niederländischen Hybridbegriff für die Funktion, die der Erwählte im Wahlkampf einnehmen soll: Spitzenkandidaat.
Ein Kompositium mit deutscher Großschreibung und einem eindeutig deutschen linken Glied – kombiniert mit der niederländischen Schreibung von kandidaat. Dass Kandidat bzw. kandidaat sprachübergreifend funktioniert, macht die Sache natürlich einfacher.
Woher kommt aber diese Wortschöpfung, die aus dem Deutschen abgeleitet ist? Eigentlich hat das Niederländische doch selbst jede Menge Begriffe, mit denen man wichtige politische Kandidaturen bezeichnen kann, denken wir z.B. zurück an kopstukken und lijsttrekkers. Allerdings passt nichts davon exakt auf den Kontext der Europapolitik. Es gibt keine europaweiten Parteilisten, also wird der Spitzenkandidat kein lijsttrekker sein. Er muss auch nicht unbedingt Vorsitzender der EVP sein, also ist er auch nicht wirklich ein kopstuk im engeren Sinne. Das deutsche Wort Spitzenkandidat ist praktischerweise unspezifisch genug, um auch für die komplizierten Mechanismen der Europawahl zu passen.
Und weil der Begriff so praktisch ist, hat ihn nicht nur das Niederländische übernommen, sondern beispielsweise auch das Französische. Natürlich versteht man auch dort, was ein Kandidat ist, selbst wenn man ihn mal nicht candidat schreibt. Manchmal setzt man den Begriff noch in Anführungszeichen, wie Le Monde – dort auch mit Großbuchstaben und damit noch klar als Lehnwort markiert. L’Opinion schreibt den Begriff le spitzenkandidat kursiv, aber schon mit Kleinbuchstaben, angereichert mit einer Übersetzung in Klammern. Die lautet nun allerdings „tête de liste“, was im Prinzip genau einem lijsttrekker entspräche. Ähnlich übernimmt man den Spitzenkandidat in anderen Sprachen komplett, übersetzt ihn aber noch einmal: in Portugal beim Diário de Notícias als „cabeça de lista“ (wörtlich: „Listenkopf“), oder in Polen beim Dziennik als „kandydatem wiodącym“ („anführender Kandidat“).
Auch in niederländischen und flämischen Medien finden sich noch Berichte, in denen der Begriff nicht als komplett vertraut vorausgesetzt wird und mit Anführungszeichen markiert ist, beispielsweise bei der VRT (mit Kleinschreibung) oder bei Trouw (im Plural, wo man gar keinen Unterschied zwischen Deutsch und Niederländisch mehr sieht). Dort glaubt man auch, den Urheber für den Begriff zu kennen: „Dat Duitse woord is gemeengoed geworden sinds toenmalig parlementsvoorzitter Schulz vijf jaar geleden voor introductie van dit systeem pleitte.“
Die Kernfrage dabei ist, was schwerer wiegt: Die erst langsam wachsende Vertrautheit mit dem deutschen Wort Spitzenkandidat, oder die Tatsache, dass überhaupt das Konzept des Spitzenkandidats für die Europapolitik noch nicht selbstverständlich ist? Schließlich dreht sich die Diskussion häufig um die Frage, ob die Europawahl verknüpft werden soll mit zentralen Personen als mögliche Kommissionspräsidenten. Eine Neuerung im politischen Prozess geht also hier einher mit einer Neuerung der Begrifflichkeiten in mehreren europäischen Sprachen. Warum der neue Begriff ausgerechnet deutsch ist, auch darüber kann man nachdenken. Die Flexibilität in der Bedeutung mag eine Rolle spielen, aber so mancher dürfte darin vielleicht auch einen Beleg sehen, dass die EU wieder ein Stückchen deutscher wird.
Relativ neutral umschreibt beispielsweise der schwedische Rundfunk SVT die Begriffswahl: „Med ett tyskt ord kallas detta ”Spitzenkandidat” eller toppkandidat.“ (Mit einem deutschen Wort nennt man dies „Spitzenkandidat“ oder Topkandidat.) Dass überall der deutsche Begriff kursiert, fällt offenbar auf. Und Alternativen gibt es durchaus, aber anscheinend macht trotzdem das deutsche Wort europaweit die Runde.
Da das in manchen Teilen Europas weiterhin Unwohlsein weckt (und weil man sich von Autokraten besser fernhalten sollte), müsste man wirklich nicht unbedingt einen CSU-Politiker zum Spitzenkandidaten machen – ein finnischer spitzenkandidaatti wäre mal was Neues. Nun ist kandidaatti auf Finnisch leider nur ein Begriff für einen Studienabschluss; ein politischer Kandidat ist ein ehdokas. Aber davor müssen Entlehnung und Sprachwandel ja nicht Halt machen – und siehe da: die Boulevardzeitung Ilta-Lehti schreibt längst vom spitzen-kandidaatti.
Tags: Auf Deutsch, Politik
Am 8. Oktober 2018 um 18:05 Uhr
Psst, der Genitiv von „Kandidat“ ist immer noch „des Kandidaten“ ;-).
Am 8. Oktober 2018 um 18:30 Uhr
Nö. Die Ära des Genitivs auf -en geht doch inzwischen schon sehr zielstrebig ihrem Ende entgegen. Besser wäre natürlich ohnehin „dem Kandidat sein X“ oder „das X von dem Kandidat“. Wie sollte ich meinen Text sonst auch als Werk eines ungebildeten Prolets kennzeichnen? 😉
Am 10. Oktober 2018 um 12:11 Uhr
Bovenstaande commentaren sluiten aan op discussie waarin ikzelf mij tot illustratief voorbeeld heb beperkt, op https://www.neerlandistiek.nl/2018/10/de-nieuwe genitief-is-de-oude-genitief-zn-concurrent/.
De Duitse uitdrukking voor “ ’s mensen lust is ’s mensen leven“ of „een mens z’n lust is een mens z’n leven“ is trouwens „des Menschen Wille ist sein Himmelreich“ en dat zie ik nog niet zo gauw „einem Menschen sein Wille …“ worden.
Am 10. Oktober 2018 um 13:12 Uhr
Inderdaad zal dat misschien niet zo snel gebeuren, maar in vaste verbindingen en zegswijzen blijft de genitief uiteraard vaak langer bestaan. Eerlijk gezegd vind ik „Dem Mensch(en) sein Wille ist sein Himmelreich“ helemaal niet zo gek, o.a. door de parallele constructie met 2x „sein“. 🙂