Ein Beitrag von Alice D.
Die folgende Situation ereignete sich in einer Montessori-Grundschule in einer Jül-Klasse der Jahrgangsstufe B (Klassenstufen 3 und 4), freitags in der sechsten Stunde kurz vor Schulschluss. Im Plenum wurden über das anstehende Fußballturnier der Schule und die Klassensprecherwahl gesprochen. In solchen Phasen des Unterrichts sitze ich hinten in der Leseecke. Vor mir sitzt Enis (Name geändert) und schräg an der gegenüberliegenden Seite des Raums Aras (Name geändert), beides Schüler, die zu den sonderpädagogisch geförderten Schülern der vierten Klasse gehören. Aras störte die Stunde permanent; er redete dazwischen, stand auf, holte Spielkarten aus den Schränken.
Da keine weitere Betreuung anwesend war, die Klassenlehrkraft Fr. P ihr Handlungsprogramm ständig unterbrechen musste und Mitschüler*innen genervt waren, lud ich Aras in die Leseecke ein. Die Klasse schien einverstanden. Enis, dem ich schon zuvor ein Zahlenmandala gezeichnete hatte, welches er aber an seinem eigenen Platz bearbeiten musste, empfand das als unfair: er schnappte sein Zeug und ließ sich neben Aras auf die Couch fallen. Sofort brandete Protest unter den Schüler*innen aus. Alle wollten jetzt in der
Leseecke sitzen. Fr. P reagierte direkt indem sie Enis an seinen Platz zurück schickte mit den Worten: „Nein Enis, das geht so nicht, das weißt du“. Ohne Protest setzte sich Enis an seinen Platz zurück, während die Klasse unmittelbar leise wurde. Der Rest der Stunde verlief ohne weitere Störungen, Aras und Enis verhielten sich unauffällig, alle Schüler*innen hielten sich an die Klassenregeln und der Tag konnte positiv verabschiedet werden.
Meine Einsichten
Aras fiel es schwer, sich ohne weitere Beschäftigung auf das Geschehen im
Klassenverband zu konzentrieren. Da er sowieso schon einen Sonderstatus trägt, war es ihm vermutlich auch unangenehm sich an der klasseninternen Besprechung zu beteiligen. Auch Enis trägt einen solchen Status, gelingt ihm die Integration in die Klasse jedoch besser. Fr. P ist sich dessen bewusst, sowie auch um die diesbezügliche Akzeptanz und Toleranz in der Klasse. Anstatt beiden Schülern die Extrabehandlung zu verwehren, gelingt es ihr mit ihrer Entscheidung die Störungen zu minimieren.
Meine Folgerungen
Nach diesem Erlebnis ist mir bewusst, wie wichtig es für die Lehrkraft ist, ihre
Schüler*innen und deren Positionierung in der Peer-Group gut zu kennen. Außerdem habe ich erkannt, wie Lob und Sanktionen individuell differenziert eingesetzt werden sollten, um dem heterogenen Anspruch der Schülerschaft gerecht zu werden. Dabei sollte aber für alle Anwesenden klar sein, aus welchem Grund bestimmte Konsequenzen gezogen wurden.
Meine Anschlussfragen
- Sollten SPF-beschulte Kinder einer Eins-zu-Eins-Betreuung unterstehen? (Hinweis: SPF = sonderpädagogischer Förderstatus)
- Ist es nötig und sinnvoll, Schüler*innen in Lernphasen an ihrem Tisch sitzen zu lassen, oder sollte mehr Bewegung und flexible Arbeitsflächen angeboten werden?
- Wie kann Inklusion erfolgreich sein, wenn sie durch Ausnahmesituationen und Extrabehandlungen definiert ist?