Ein Beitrag von Lena M.
Bei der folgenden Situation handelt es sich um eine JüL-Klasse, in der Kinder der ersten, zweiten und dritten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Zu Beginn der dritten Stunde durften die Kinder noch ein wenig frühstücken. Schon während der Frühstückspause fiel auf, dass sich ein Schüler intensiv mit seinem Lineal beschäftigte. Unter anderem schlug er mit dem Lineal sowohl auf den Tisch als auch an seinen Stehordner. Bevor die Lehrkraft den Unterricht startete, fragte sie, ob ihr jemand ein Lineal borgen könne, weil sie ihr eigenes nicht findet.
Der Schüler rief eifrig, dass die Lehrkraft sich eines seiner Lineale borgen könne, da er noch weitere drei Lineale in seiner Schultasche hat. Der Schüler griff nach seiner Schultasche und packte die anderen drei Lineale aus. Daraufhin sagte die Lehrkraft, dass sie noch nicht genau wüsste, ob sie ein kleines oder ein großes Lineal bräuchte und fragte, ob sie sich alle vier ausborgen könne. Der Junge war damit einverstanden und gab ihr seine Lineale.
Anschließend hielt die Lehrkraft die Lineale hoch und begann gemeinsam mit der gesamten Klasse ein Gespräch über Lineale. Zuerst fragte sie, wozu die Kinder ein Lineal benutzen und wie ein Lineal meist aussieht. Außerdem sollten die Kinder die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vier Lineale benennen. Der Junge, dem die Lineale gehören, beteiligte sich ebenfalls aktiv an dem Klassengespräch. Am Ende des Gesprächs fragte die Lehrkraft den Jungen, ob sie sich die Lineale noch bis zum Nachmittag borgen könne. Der Junge war erneut damit einverstanden und die Lehrkraft nahm die Lineale an sich. Nun startete sie mit dem eigentlichen Unterricht.
Meine Einsichten
Die Lehrkraft hat zu Beginn direkt erkannt, dass der Schüler auf sein Lineal fixiert ist und sich das vermutlich auch nach Start des Unterrichts nicht verändern wird. Um die Störung präventiv zu umgehen, hat sich die Lehrkraft in dem Moment nicht von ihren eigenen impulsiven Emotionen beeinflussen lassen, sondern hat sich eine ruhige und effektive Möglichkeit zur Störungsintervention überlegt. Durch ihr Handeln ist sie nicht nur auf das Bedürfnis eines einzelnen Schülers eingegangen, sondern hat die Situation genutzt, um einen Lernertrag für die gesamte Klasse zu schaffen.
Außerdem hat sie den Schüler auf die eigentliche Störung gar nicht angesprochen und hat so sowohl einen Konflikt als auch eine Unterbrechung des Unterrichtsflusses verhindert. In Folge dessen wurde das Arbeitsbündnis zwischen der Lehrkraft und dem Schüler nicht angegriffen, sondern gestärkt.
Ich empfinde diesen präventiven Umgang mit der Störung hinsichtlich der Erhaltung des Arbeitsbündnisses und der Steuerung des Unterrichtsflusses als effektiv und gelungen. Außerdem stärkt jeder vorweggenommene Konflikt das Klassenklima.
Durch diese Art der Handlung wird dem Schüler jedoch nicht bewusstgemacht, dass dieses Verhalten im Unterricht nicht erwünscht ist und als Störung empfunden wird.
Meine Folgerungen
Aus der oben beschriebenen Unterrichtssituation nehme ich mit, dass es in manchen Situationen erforderlich ist, dass eine Lehrkraft die eigentlichen Unterrichtspläne aufgrund von Themen und Problemen der Schüler und Schülerinnen verändert, damit sie auf diese eingehen kann. Dadurch werden weitere Störungen präventiv vorweggenommen. Durch diese Art der Störungsintervention wird das Arbeitsbündnis gestärkt und der Unterrichtsfluss nicht gestört.
Meine Anschlussfragen
- Was hätte es für Auswirkungen hinsichtlich des Unterrichtflusses und des Arbeitsbündnisses gehabt, wenn die Lehrkraft dem Schüler sein Lineal weggenommen hätte?
- Findet ihr es richtig, wenn Lehrkräfte auf das Bedürfnis eines einzelnen Schülers eingehen, ohne die restliche Klasse miteinzubinden?
- Sollten Schüler und Schülerinnen lernen ihre Bedürfnisse in Gruppen zurückstecken?
- Würdet ihr sagen, dass es sinnvoller wäre, wenn Lehrkräfte Schüler und Schülerinnen auf Störungen aufmerksam machen, anstatt die Störung beiläufig und effektiv zu unterbinden?
Ich finde das Vorgehen der Lehrkraft sehr sinnvoll. Es zeigt verschiedene Punkte auf, die für eine Lehrkraft wichtig sind und die den Unterricht bestmöglich schützen.
Zum Einen zeigt dieser Beitrag ein gelungenes Monitoring. Bereits vor dem Unterricht schweifte die Lehrkraft mit ihrem Blick durch die Klasse, wodurch sie erkennen konnte, dass der eineSchüler auf sein Lineal fixiert war. So konnte sie am Anfang der Stunde darauf eingehen und beugte so möglichen Störungen während des Unterrichts vor. Dadurch konnte im Endeffekt die maximale Unterrichtszeit genutzt werden ohne Ablenkung und Störung des Unterrichts und anderer Mitschüler. Ich finde es gut, dass die Lehrkraft den Schüler nicht angesprochen oder ermahnt hat, sondern dass sie seine Bewunderung für das Lineal genutzt hat, um ihren Unterricht bestmöglich durchführen zu können und weiterhin andere SuS bereits im Voraus vor Ablenkung bewahrt hat.
Ich finde es einerseits sehr gut, dass die Lehrkraft in dieser Situation einen Konflikt und eine Störung während des Unterrichts vermeiden konnte.
Andererseits ist das Ausleihen der Lineale vor der Unterrichtsstunde meiner Meinung nach keine langfristige Lösung. Schließlich weiß der Junge dadurch nicht, dass er etwas falsch gemacht hat und könnte am Nachmittag, wenn er die Lineale zurückbekommt, erneut stören.
Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, dem Jungen zuerst die Möglichkeit zu geben der Klasse seine Lineale zu zeigen und darüber zu reden. Dann hätte die Lehrkraft ihm und seinen Mitschülern und Mitschülerinnen mitteilen können, dass sie nun alle Materialien, die nicht benötigt werden in ihrer Tasche verstauen sollen, da es störend ist, wenn damit z.B. auf den Tisch geschlagen wird.
Anschließend hätte die Lehrkraft mit dem Unterricht beginnen können. So hätte der Junge und die Klasse aus seinem Verhalten lernen können und das Arbeitsbündnis wäre gestärkt worden.
Der Unterrichtsfluss wurde durch den Eingriff der Lehrkraft nicht sichtbar unterbrochen. Sie leitete ihre Unterrichtsstunde durch das Gespräch gut ein und konnte einen möglichen Konflikt oder eine mögliche Streitsituation erfolgreich umgehen. Danach konnte sie auch erfolgreich ihr eigentliches Unterrichtsthema einleiten, ohne, dass die Lineale zur Störung führen können.
Ich finde dies ist eine sehr erfolgreiche Lösung um eine Konfliktsituation zu umgehen.
Denkt man jedoch an die nächsten Stunden, so kann es sein, dass der Junge sich weiter mit seinen Linealen beschäftigen will. Die selbe Strategie könnte sie nun jedoch nicht mehr verwenden. Sie muss sich nun wahrscheinlich einen anderen Weg suchen.
In Zukunft könnte man das Verhalten vielleicht durch das aufmerksam machen auf das Problem unterbinden.
In Lena M.s Beitrag hat die Lehrkraft den Schüler gekonnt geschickt und somit ohne die direkte Benennung seines Verhaltens aus der Situation geholt, indem sie ihn dazu brachte, seine Fixierung auf das Lineal in den Unterricht zu integrieren bzw. „transferieren“. Dieses präventive Eingreifen in die Situation störte den Unterricht nicht, sondern hielt ihn sogar im Fluss. Gleichzeitig war es dadurch auch möglich, dass das zeigte, wie das Verhalten des Schülers von der Lehrperson akzeptiert und nicht als „beschwerlich“ bewertet wurde. Die Einbeziehung der gesamten Klasse empfinde ich auch sehr positiv und zwar nicht nur deshalb, weil der Unterrichts deswegen gewissermaßen bereichert wurde, sondern auch, dass die Lehrperson auf diese Weise einen „Mehrwert“ geschaffen hat, sodass ein Lernmoment für die Schüler in dieser Situation eingetreten ist.