„Expert*innenkommission“

Ein Beitrag von Paul S.

Mathematikunterricht in einer elften Klasse: Die Lehrerin fragt die Hausaufgaben ab, indem sie einen Schüler, der sich freiwillig gemeldet hat, auffordert, die Aufgabe an der Tafel vorzustellen. Sie kündigt an, dass dieser die Aufgaben vorstellen wird und die anderen Schüler*innen sich bei Fragen nicht an sie, sondern zunächst den Schüler wenden sollen. Der Schüler stellt die Hausaufgabe – die Analyse eines Funktionsgraphen – vor; er hat jedoch bei der ersten Ableitung der Funktion einen Fehler gemacht, was einigen Schüler*innen auffällt.

Sie melden sich, er nimmt sie dran, sie merken den Fehler an. Nachdem der Schüler seinen Fehler nicht verstanden hat, wechselt er mit einem anderen Schüler, der nun die Aufgabe richtig vorrechnet und den Fehler des anderen Schülers aufzeigt. Zudem vergewissert er sich, ob dieser seine Fehler verstanden hat – dies ist dann auch der Fall. Die Lehrerin bestätigt am Ende nochmals, dass der neue Lösungsweg richtig ist und lobt die gute Erklärung des Fehlers in der vorherigen Rechnung. Die restlichen Hausaufgaben werden auf dieselbe Art vorgestellt und durchgerechnet; die Lehrerin schreitet immer dann ein, wenn die Schüler*innen nicht mehr weiterwissen oder einen Fehler übersehen haben – ansonsten bestätigt sie am Ende die richtigen Lösungen. Ansonsten überlässt sie die Aufgaben der „Expertinnenkommission“ der Schüler*innen. Auffällig ist, dass alle Schüler*innen der Klasse an der Präsentation und der Diskussion beteiligt sind.

Meine Einsichten

Die Lehrerin traut den Schüler*innen einiges zu: Sie vertraut darauf, dass diese – zumindest in der Gesamtheit der Klassen – den Stoff, den sie in der Hausaufgabe bearbeiten mussten, verstanden haben und erklären können. Damit erkennt sie an, dass die Schüler*innen sich schwierige Sachverhalte selbst aneignen können. Dieses Vertrauen und diese Anerkennung bemerken die Schüler*innen: Sie konzentrieren sich auf die Aufgaben und sind sehr ernsthaft bei der Sache. Dadurch, dass die Schüler*innen sich zunächst gegenseitig korrigieren lässt, tritt sie als Autorität des Unterrichts zurück. Gemachte Fehler in den Aufgaben werden nicht sanktioniert. Stattdessen bekommen die Schüler*innen die Möglichkeit, die Fehler zu erkennen und darüber zu diskutieren. Die Schüler*innen sind dadurch motiviert, ihre Fehler in den Lösungswegen offenzulegen. Die Unterrichtsatmosphäre ist damit im Allgemeinen entspannt und frei von Ängsten seitens der Schüler*innen.

Meine Folgerungen

Die Lehrerin hat durch ihr Vertrauen, ihre Anerkennung sowie die fehlerfreundliche Unterrichtsatmosphäre einen Raum geschaffen, indem die Schüler*innen sich dem Unterrichtsstoff widmen können, ohne Angst vor Sanktionen in Form von Benotung oder auch in der sozialen Form der Ablehnung haben zu müssen; sie hat damit einen Lernraum geschaffen, in dem die Schüler*innen eine intrinsische Motivation zum Lernen des Unterrichtsstoffs entwickeln konnten.
Diese echte intrinsische Motivation der Schüler*innen wiederum hat eine positive Resonanz auf den gesamten Unterricht: Die restliche Zeit, in der die Lehrerin normalen Frontalunterricht macht, wird der Unterricht mit großem Interesse und hoher Konzentration verfolgt. Daraus lässt sich schließen, dass guter Unterricht – also Unterricht, in dem die Schüler*innen mit intrinsischer Motivation den Stoff lernen – keinen überbordenden Methodenkoffer braucht. Vielmehr muss die Lehrkraft einen Ansatz finden, dass die Schüler*innen sich selbstständig für den Stoff interessieren. Wenn dieses Interesse geweckt und gewährleistet ist, dann scheinen die Methoden irrelevanter zu werden, der Unterrichtsstoff selbst rückt dann in den Vordergrund.

Meine Anschlussfragen

Diese „Expert*innenkommission“ hat die Lehrerin zu einem regelmäßigen Bestandteil ihres Unterrichts gemacht. Fast jede Stunde werden die Hausaufgaben auf diese Weise präsentiert. Die Frage, die sich mir für meine eigene zukünftige schulische Praxis stellt, ist, wie ich eine solche Methode im Unterricht etablieren und die Schüler*innen an diese heranführen kann? Denn es ist vorstellbar, dass diese Methode für einige Schüler*innen – gerade im Fach Mathematik – überfordernd sein kann, wenn sie dabei nicht richtig begleitet werden. Diese Methode braucht also eine Einführungszeit.

Außerdem stellt sich mir die Frage nach anderen Methoden und/oder Verhaltensweisen, mit denen ich die Schüler*innen ermutigen kann, sich von sich aus mit dem Stoff im Unterricht auseinanderzusetzen und ein echtes Interesse an diesem zu entwickeln.

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