Ein Beitrag von Johanna L.
Die folgende Situation spielte sich in einer 7. Klasse im Unterrichtsfach „Kultur“ ab. Die Lehrkraft Frau U., eine erfahrene Englisch- und Ethiklehrerin, macht mit den SchülerInnen gerade eine Assoziationsübung und kreative Lückentextaufgabe zum Thema Farben, als zwei Schülerinnen aus der Oberstufe in die Klasse kommen. Die beiden fragen Frau U., ob sie sich kurz vorstellen können, da sie sich für die kommende Wahl der Schülervertretung bzw. Schulsprecher als Team aufstellen lassen. Für viele der 7.-Klässler, die ja alle neu auf dem Gymnasium sind, ist dies eine neue Situation und es besteht durchaus Interesse. Das Team wirbt vor allem damit, dass sie gegen das schulweite Handyverbot vorgehen und für die Einrichtung von Räumen bzw. Zonen in der Schule eintreten wollen, in denen Handys benutzt werden dürfen. Eine Schülerin fragt das Team: „Muss ich euch wählen?“, woraufhin eine der Oberstufenschülerinnen nach dem Motto antwortet: „Wir würden es auf jeden Fall gut finden.“
Frau U. stellt ebenfalls Fragen, wie z.B. ob es auch noch andere Teams gibt, die sich zur Wahl aufgestellt haben. Sie kann in Erfahrung bringen, dass es ein weiteres Team gibt.
Nachdem die beiden SchülerInnen gegangen sind, geht Frau U. noch einmal auf die Situation ein und beginnt hier mit der Frage einer ihrer Schülerinnen, ob sie das Team wählen „muss“. Dabei stellt sie die Frage an das Plenum zum Unterschied zwischen Wahlrecht und Wahlpflicht parallel zu politischen Wahlen in Deutschland und wirft die Frage auf, ob das Recht zu wählen doch auch mit einer gewissen sozialen Verantwortung verbunden ist. Diese Frage wird von den SchülerInnen altersentsprechend in dem Sinne erfasst, dass, wenn man nicht wählen geht, andere für einen entscheiden. Klar wird hier aber auch in Bezug auf die Einstiegsfrage, dass keine bestimmte Gruppe gewählt werden muss. Frau U. weist die SchülerInnen hier auch noch einmal darauf hin, sich über das andere Team, deren Ziele und Einstellungen zu informieren und darüber nachzudenken, welche Gruppe einem inhaltlich mehr zusagt, bevor man ein Team wählt.
Meine Einsichten
Frau U. pausiert in der oben beschriebenen Situation spontan ihren Unterricht und nutzt das Momentum, das aktuelle Interesse der SchülerInnen und den Alltagsbezug, um auf das wichtige Thema Wahlrecht einzugehen. Dabei geht sie altersgerecht auf die Fragen der SchülerInnen ein, regt sie zur Reflektion über demokratisches Wählen an und klärt gleichzeitig über entscheidende Unterschiede zwischen Wahlrecht, Wahlpflicht und der Interpretierung einer Schülerin des „Wahlzwangs“ auf. Des Weiteren appelliert sie an die SchülerInnen, eine informierte Entscheidung zu treffen, indem sie sich auch über das andere zur Wahl aufgestellte Team informieren.
Frau U. erkennt hier die hohe Wahrscheinlichkeit, dass viele SchülerInnen sozusagen das erstbeste Team wählen, das für sie präsent ist, anstatt eine Entscheidung auf der Grundlage von Informationen zu Inhalten und den Abgleich der eigenen Vorstellungen zu treffen.
Ich finde, dass es Frau U. sehr gut gelungen ist, die Situation als spontane Lerngelegenheit zu nutzen und die Verbindung zwischen den aktuellen Möglichkeiten zur Wahlbeteiligung und zur politischen Wahlbeteiligung, die den jungen SchülerInnen erst in der Zukunft zur Verfügung stehen, zu ziehen und dabei auch ethische Fragen in diesem Kontext aufzuzeigen. Frau U. gelingt es insgesamt eindrucksvoll und zwanglos, die SchülerInnen zur Reflektion anzuregen.
Meine Folgerungen
Meine Hauptfolgerung aus der oben beschriebenen Situation ist, dass es sich sehr lohnt, spontane Lerngelegenheiten zu nutzen, auch wenn es einen kompletten Themenwechsel und den Abbruch des aktuellen Handlungsprogramms bedeutet. Wäre Frau U. nicht auf die Situation eingegangen, sondern hätte ihren Unterricht stringent weitergeführt, so wäre eine wertvolle Lerngelegenheit zum Thema „Wählen bzw. Wahlen“ verloren gegangen, ein Thema, mit dem die SchülerInnen der 7. Klasse vermutlich bisher noch nicht sehr viele Berührungspunkte hatten. Weiterführend lässt sich aus dieser Erfahrung ableiten, dass es sinnvoll erscheint, aktuelle Geschehnisse, die die SchülerInnen betreffen, so oft es geht in den Unterricht zu integrieren, um prägnante Lehr-/Lernerfahrungen für und mit den SchülerInnen zu schaffen.
Meine Anschlussfragen
- Wie können aktuelle Geschehnisse und spontane Lerngelegenheiten so häufig wie möglich in den Unterricht integriert und gleichzeitig mit den Vorgaben des Lehrplans vereinbart werden?
- Welche Möglichkeiten gibt es, SchülerInnen zur Reflektion anzuregen, ohne dabei (zu) suggestiv vorzugehen?