Hanna lehrt

Was es bedeutet, wenn feste Stellen mit Hochdeputat verbunden werden

35 % der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen (WiMis) auf Haushaltsstellen im Mittelbau sind an der FU unbefristet beschäftigt. Das geht aus der Antwort der Senatswissenschaftsverwaltung auf eine kleine Anfrage im Abgeordnetenhaus vom Juni 2021 hervor. Damit hat die FU das im aktuellen Hochschulvertrag festgelegte Ziel erreicht, wonach exakt 35 % der Stellen bis Ende 2020 entfristet sein sollen. Doch Grund zum Feiern ist das noch lange nicht!

Warum WiMi-Stellen überhaupt befristet werden

Unbefristete Stellen für akademische Mitarbeiter*innen sind an deutschen Universitäten rar. Dem kürzlich vom BMBF veröffentlichen Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN 2021)  zufolge sind bundesweit 92 % der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen unter 45 Jahren befristet beschäftigt. Über alle Altersgruppen hinweg waren 2018 laut einem Sonderbericht des Amtes für Statistik im bundesweiten Durchschnitt 82% aller akademischen Beschäftigten des Mittelbaus an Universitäten befristet angestellt. Möglich sind die Befristungen durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), durch das die Höchstdauer des Verbleibs auf Prä- bzw. Postdoc Qualifikationsstellen auf je sechs Jahre geregelt ist. Damit sollen aus Sicht des Bundesministeriums Kettenverträge verhindert werden (s. hier). Kritiker*innen halten dem jedoch dagegen, dass das Gesetz die ausufernde Befristungspraxis an den Hochschulen befördere.

Für den begriffsstutzigen wissenschaftlichen Nachwuchs, dem die Vorzüge des WissZeitVG nicht einleuchten wollen, hat das BMBF bereits vor einigen Jahren ein Erklärvideo in einfacher Sprache erstellt.[1] Darin erfahren wir am Beispiel der Zeichentrickfigur Hanna, einer promovierenden Biologin, welche Vorzüge eine befristete Stelle hat. Die Befristung nämlich, so wird erklärt, fördere durch die Fluktuation nicht nur die Innovation, sondern bewahre auch vor „Verstopfung“ durch dauerhaft besetzte Stellen. Wer eine feste Stelle verlangt, handelt demnach unsozial. Doch wir erfahren auch: „Bei Lars ist das anders“, denn Lars hat eine feste Stelle als Laborant. Hier Hanna, da Lars – Zufall? Dazu später. Zunächst zu Hanna.

Erklärvideos in einfacher Sprache für … wissenschaftliche Mitarbeiter*innen

Erklärvideos „for dummies“ sind nicht unbedingt das Medium erster Wahl, wenn sich wissenschaftliche Mitarbeiter*innen zu einem rechtlichen Sachverhalt informieren wollen. Und so hat es ein paar Jahre gedauert, bis das Video von der Zielgruppe zur Kenntnis genommen wurde. Doch dank der Initiative von Kristin Eichhorn, Amrei Bahr und Sebastian Kubon, die bereits unter dem #95 Thesen gegen das WissZeitVG und #ACertainDegreeOfFlexibility für Aufmerksamkeit für das Thema Befristung gesorgt hatten, hat das – zwischenzeitlich gelöschte – Video nun doch unerwartet hohe Resonanz erhalten. Unter #ichbinHanna hat sich ein Sturm der Entrüstung breit gemacht, der, mitten im landes- und bundesweiten Wahlkampf, auch für mediale Schlagzeilen gesorgt hat. Wenn nun aber doch Hoffnung aufkommt, dass sich etwas ändert, stellt sich zugleich die Frage, wie zukünftige Personalmodelle aussehen sollten.

Situation an der FU: Entfristung gegen doppelte Lehre?

Zurück zu den Zahlen und Fakten der FU. Auf den ersten Blick sprechen die Zahlen von Erfolg, nicht nur im bundesweiten Vergleich. Auch unter Aspekten der Gleichstellung scheint die Verteilung annähernd ausgewogen. Hinsichtlich der Stellenkategorien zeigen sich jedoch bedeutende Unterschiede in Bezug auf die Chancengleichheit. Von den Mitarbeiter*innen auf Haushaltsstellen sind an der FU insgesamt 25 % als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen angestellt. Weitere 10 % des Mittelbaus haben eine Festanstellung als Lehrkräfte für besondere Aufgaben. Lehrkräfte für besondere Aufgaben (§ 112 BerlHG) sind mit einer Lehrverpflichtung von 16 Lehrveranstaltungsstunden (LVS) ausschließlich in der Lehre tätig. Eine Mitarbeit in der Forschung ist nicht vorgesehen und eine wissenschaftliche Weiterqualifizierung unter solchen Bedingungen nahezu ausgeschlossen. In der Lehrkräftebildung werden diese Stellen häufig von temporär aus dem Schuldienst abgeordneten Lehrkräften besetzt. Inwieweit diese bei den Entfristungen mit einberechnet wurden, ist unklar.

Bei den festangestellten wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen gilt es zwischen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen mit Daueraufgaben und 8 LVS Lehrverpflichtung nach § 110 BerlHG und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen mit Schwerpunkt in der Lehre zu unterscheiden. Letztere Stellenkategorie wurde 2011 unter dem § 110a ins Berliner Hochschulgesetz aufgenommen. Forschung ist auf dieser Stelle zwar vorgesehen, bei einem Lehrdeputat von 18 LVS de facto jedoch kaum möglich. Die Stellenkategorie erweist sich somit als wissenschaftliches Abstellgleis. Wegen der Unvereinbarkeit mit dem universitären Grundprinzip der Einheit von Forschung und Lehre wurde die Stellenkategorie nach ihrer Einführung 2011 zunächst von den Hochschulen abgelehnt. Unter dem Druck ausreichend Lehrkräfte auszubilden wurden jedoch an der FU insbesondere in der Lehrkräftebildung in den letzten Jahren vermehrt Stellen dieser Kategorie ausgeschrieben. Entsprechend viele solcher Stellen sind dann auch in relevanten Arbeitsbereichen am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie besetzt worden.

Zur Situation am Fachbereich (FB) Erziehungswissenschaft und Psychologie

An der Stellenverteilung in unserem FB lässt sich dann auch prägnant verdeutlichen, was die o.g. Statistiken verbergen. 31% der männlichen Beschäftigten im akademischen Mittelbau am FB hatten 2020 eine feste Stelle , bei den Frauen waren es 41%. Auf den ersten Blick scheinen Männer somit deutlich im Nachteil. Eine Analyse nach Stellenkategorien ergibt jedoch ein anderes Bild (siehe auch Abb. 1).

Abb. 1.Prozentuale Verteilung der Stellentypen im wissenschaftlichen Mittelbau; Männer und Frauen im FB
  1. Obwohl 80% der Absolvent*innen bei uns Frauen sind, sind nur 69% des gesamten Mittelbaus weiblich.
  2. Zudem hat der weit überwiegende Anteil der Männer im Mittelbau mit einem unbefristeten Vertrag eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Daueraufgaben, also maximal 8 LVS. Bei den Lehrkräften für besondere Aufgaben (16 LVS) sind Frauen mit 80% vertreten. Und als wissenschaftliche Mitarbeiter*in mit Schwerpunkt in der Lehre (18 LVS) sind ausschließlich Frauen tätig.              

Im Klartext:      
Die Frauenquote im wissenschaftlichen Mittelbau (69%) unterschreitet deutlich die der Absolventinnenquote des Vorjahrs (81%). Bei Postdoc-Stellen sinkt der Anteil an Frauen nochmals drastisch auf unter 40 %.

Und: Frauen sind zwar – verglichen mit Männern – überproportional auf festen Stellen vertreten, aber zugleich auch überproportional auf Stellen eingestellt, die eine weitere wissenschaftliche Laufbahn kaum ermöglichen.

Hochdeputatsstellen: Quantität statt Qualität in der Lehre

Dass Hochdeputatsstellen von der Vereinbarkeit von Forschung und Lehre abgesehen auch dem Qualitätsanspruch an gute Lehre entgegenstehen, ist auch auf politischer Ebene erkannt worden. In der Vereinbarung „Beste (Lehrkräfte-)Bildung für Berlin“ wurde bereits vor über einem Jahr eine Reduktion des Lehrdeputats für wissenschaftliche Mitarbeiter*innen mit Schwerpunkt in der Lehre auf 12 LVS beschlossen. Die Umsetzung steht jedoch noch immer aus.[2] Eine entsprechende Reduktion für Lehrkräfte mit besonderen Aufgaben ist darin allerdings nicht vorgesehen. Die Lehrdeputate von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen mit Schwerpunkt in der Lehre außerhalb der Lehrkräftebildung bleiben von der Vereinbarung ebenfalls unberührt. Auch hier sind vermutlich Frauen überproportional häufig vertreten.

Hannas Zukunft?

Die Erhöhung entfristeter Stellen auf 35% ist bereits ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings zeigt das Beispiel der Verteilung am Fachbereich auch, dass Chancen je nach Stellenkategorie sehr ungleich verteilt sind. Hochdeputatsstellen sind für ohnehin benachteiligte Gruppen besonders nachteilig. Das gilt nicht nur für Benachteiligungen entlang binärer Geschlechterkategorien, sondern auch entlang weiterer Kategorien der Diversität. Wir brauchen unbedingt mehr feste Stellen für den akademischen Mittelbau. Weitere Hochdeputatsstellen zu den gegenwärtigen Konditionen sollten aber auf keinen Fall vergeben werden – nicht für Hanna, erst recht nicht für Hanin und auch nicht für Hannes!


[1] Das Erklärvideo wurde inzwischen von der Seite des BMBF gelöscht, findet sich aber weiterhin auf youtube:
https://www.youtube.com/watch?v=PIq5GlY4h4E

[2] S. offener Brief an die Abgeordneten:
https://www.fu-berlin.de/sites/prdahlem/aktuelle_infos/20210604_wimi_offener-brief.html

Code of Conduct (CoC) für die digitale Lehre – nettes Add-on oder doch unverzichtbar?

Der Umstand, dass Studierende aktuell fast ausschließlich online am Unigeschehen teilnehmen, lässt den Blick nicht nur auf gelingende Lehre richten, sondern auch auf Begleitumstände und Folgen. So berichten 86% der befragten Studierenden einer umfassenden Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), dass in Zeiten der digitalen Semester der Aufbau und die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte zu Mitstudierenden schwieriger geworden sind (Marzuk et al., 2021). Ähnlich wurden fehlende Kontakte im Stimmungsbild 6/2020 unseres Fachbereichs nach dem ersten digitalen Semester in allen Statusgruppen beklagt. Vieles spricht dennoch dafür, dass die Möglichkeiten zum digitalen Austausch nicht nur zum Lernen und Diskutieren genutzt werden, sondern – infolge mangelnder Alternativen – auch zum Kennenlernen unter den Studierenden, v.a. bei den „Erstis“. Und das ist auch gut so. Aber müssen wir nochmal aufschreiben, wie wir uns „benehmen“?

Wie das Einmaleins des respektvollen Umgangs miteinander (auch) zum Werkzeug gegen Diskriminierung und Belästigung wird

Seit Juli 2020 haben wir es schriftlich: Der Code of Conduct der FU benennt nicht nur, dass alle Beteiligten in der digitalen Lehre respektvoll miteinander umgehen. Er konkretisiert das auch mit scheinbaren Banalitäten wie „Wir hören einander aufmerksam zu“ oder „Wir stellen das Mikrofon auf stumm, wenn wir einer Veranstaltung beitreten“ oder mit dem Hinweis, dass keinerlei Äußerungen/Verhaltensweisen geduldet werden, die unangemessene Inhalte verbreiten oder andere diskriminieren. Ja, klar, aber warum Selbstverständliches aufschreiben?

Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb!

Im aktuellen Welt-Mädchenbericht 2020 von Plan International (#FreeToBeOnline) wird v.a. eins deutlich: So doll lieb dann wohl doch nicht. 14.000 Mädchen und junge Frauen wurden in 22 Ländern weltweit zu ihren Erfahrungen in den sozialen Medien befragt; ihre Antworten sind ernüchternd. Jede zweite wurde bereits online belästigt, beschimpft oder bedroht; die Angaben zum Erstalter fangen bei acht Jahren an (Pehlke, 2020).

Auch wenn diese Ergebnisse selbstverständlich nicht 1:1 auf den universitären Alltag übertragen werden können oder sollen, müssen wir damit rechnen, dass auch an der Universität diskriminiert, beleidigt und belästigt wird. Grobes Fehlverhalten ist dabei relativ einfach einzuordnen. Schwieriger ist es, wenn die Grenze zwischen angemessenem und unangemessenem Verhalten nicht so deutlich ist. Sicherlich würde man zu Unrecht von (Cyber-)Stalking sprechen, wenn jemand nach einem unbeantworteten Kontaktversuch nochmal nachfragt (z.B. per Mail oder mittels eines Instant-Messaging-Dienstes). Wenn hingegen eine Beziehung wiederholt eingefordert wird, obwohl die Zielperson deutlich gemacht hat, dass sie den Kontakt nicht wünscht, könnte die Grenze erreicht sein. Zentral ist, dass die Lebensführung der Zielperson schwerwiegend beeinträchtigt wird, wenn sie sich also bedroht und belästigt fühlt. Und um genau so etwas nicht hinzunehmen, um Belästigte verteidigen und schützen zu können, brauchen wir den Code of Conduct!

CoC ist kein Knigge 3.0 – Verstöße können rechtliche Folgen haben!

Der Code of Conduct ist nämlich kein Knigge 3.0, dessen Benimmregeln man nach Lust und Laune befolgen kann (oder auch nicht …). Er ist verbindlich an der FU und wird von der FU-Richtlinie zum Umgang mit sexualisierter Belästigung, Diskriminierung und Gewalt ergänzt. Geklärt ist dabei, was passiert, wenn Personen sich nicht an diese Festlegungen halten. Bei gemeldeten Regelverstößen erfolgt zunächst eine Anhörung aller Betroffenen und es wird versucht, die Situation zu klären. Im nächsten Schritt können dann (in Abhängigkeit von Art und Ausmaß des Vorfalls/der Vorfälle) Konsequenzen gezogen werden, von schriftlicher Aufklärung/Absichtserklärung über Ausschluss von Lehrveranstaltungen und/oder Abmahnung bis hin zur Kündigung/Exmatrikulation und/oder Strafverfolgung.

Was ist zu tun?

Wenn Sie selbst betroffen sind:

  • Überlegen Sie, mit wem Sie darüber sprechen möchten, und kontaktieren Sie diese Person oder Institution. Dieser Kontakt kann auch dann (sehr) sinnvoll sein, wenn Sie sich nicht so ganz sicher sind, was Sie von der Situation halten sollen.
  • In jedem Fall können Sie z.B. die Dozierenden, das Dekanat oder die dezentrale Frauenbeauftragte kontaktieren. Weitere Anlaufstellen an der FU finden Sie hier. Externe Beratungsoptionen finden Sie zudem ganz am Schluss des Beitrags.
  • Die Art der Kontaktaufnahme ist ebenfalls Ihnen überlassen: online, telefonisch oder ggf. per Videokonferenz; dabei kann online- und telefonische Beratung auf Wunsch auch anonym geschehen.
  • Vertraulichkeit und Schweigepflicht sind für Berater:innen selbstverständlich!

Wenn Sie Zeug:in solcher Regelverstöße geworden sind:

  • Schauen Sie hin und werden Sie aktiv!
  • Machen Sie deutlich, dass Sie das inadäquate Verhalten nicht tolerieren.
  • Bieten Sie der betroffenen Person Ihre Unterstützung an.
  • Überlegen Sie (falls sinnvoll), wie Sie sich mit ihr solidarisieren können (unter Berücksichtigung der Wünsche der betroffenen Person).
  • In manchen Fällen – wenn die betroffene Person z.B. gar nicht weiß, dass ihre Persönlichkeitsrechte verletzt werden – kann es auch notwendig sein, den Vorfall zu melden.

Bevor Sie eine private Chat-Gruppe zu Studienzwecken bilden (mit welchem Dienst auch immer):
Prüfen Sie, ob es nicht genauso ein User-Wiki oder ein User-Blog der FU tut, also eine der sog. „inoffiziellen“ Plattformen der FU, die auch von Studierenden genutzt werden können. Dann nämlich kann die FU als Institution bei Bedarf (Regelverletzungen) auch juristisch aktiv werden!


Hilfe und Beratung gibt es hier (eine Auswahl):

  • Bundesweites Hilfetelefon für Frauen, die Gewalt erlebt haben: 0 8000 116 016
  • Externe Chatberatung: https://www.hilfetelefon.de/  (u.a. Beratung in 17 Sprachen und Gebärdensprache)
    (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben)
  • Die Beratungsstelle Stop-Stalking berät (a) Betroffene von Stalking, (b) Menschen, die stalken, sowie (c) Dritte, die beruflich oder als Angehörige mit Stalking zu tun haben: https://www.stop-stalking-berlin.de/de/home/

Quellen

Marczuk, Anna, Multrus, Frank, & Lörz, Markus (2021). Die Studiensituation in der Corona-Pandemie. Auswirkungen der Digitalisierung auf die Lern- und Kontaktsituation von Studierenden. (DZHW Brief 01|2021). Hannover: DZHW. https://doi.org/10.34878/2021.01.dzhw_brief

Pehlke, Viktoria (2020). Jedes zweite Mädchen wird im Internet belästigt. Katapult. [https://katapult-magazin.de/de/artikel/jedes-zweite-maedchen-wird-im-internet-belaestigt]

Plan international (2020). Free to be online? [https://www.plan.de/freedom-online.html]

Balance-Akt

In der Öffentlichkeit wie in der Fachliteratur wird häufig von Work-Life-Balance gesprochen, was jedoch inhaltlich aus mehreren Gründen problematisch ist: Der Begriff suggeriert, dass Arbeit nicht wirklich zum „Leben“ dazugehöre und dass privat nicht gearbeitet werde; Familienarbeit wie Haushalt, Pflege von Angehörigen und Kindererziehung, ehrenamtliche Tätigkeiten u.ä. werden hier ignoriert, obwohl zu vermuten ist, dass sich diese Aspekte auf das Erleben einer Balance auswirken. Demgegenüber kann festgehalten werden, dass in beiden Bereichen Anforderungen und Verpflichtungen sowie Interessen und Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielen und sich auf das Erleben einer Balance auswirken können (zsfd. hierzu auch Blahopoulou, 2012). Daher bevorzuge ich den Begriff der Life-Balance.

Life-Balance umfasst noch weitere Facetten; sie kann sich nämlich auf sehr unterschiedliche Dinge beziehen: auf tatsächlich verbrachte Zeit, auf psychische und körperliche Anforderungen und Beanspruchungen, auf die Erreichung von persönlichen Zielen und und und … Bei einer gestörten Life-Balance wird oft vermutet, dass sich das Berufsleben negativ auf das Privatleben auswirkt (manchmal auch umgekehrt). Diese gegenseitige Beeinflussung wird fachlich auch gern mit Spillover betitelt und sie kann – das wird häufig vergessen – natürlich auch positiv sein: So kann eine Person z.B. von ihren im Privatleben erworbenen Organisationskompetenzen auch beruflich profitieren.

Eine Vielzahl von Rollen und Funktionen wird oft mit einer (Über-)Belastung assoziiert, obwohl ebenfalls argumentiert wird, dass Menschen von vielfältigen Rollen profitieren und Ressourcen aufbauen können. Die Frage ist m.E. weniger, welche der beiden Hypothesen zutrifft, als vielmehr, unter welchen Bedingungen die eine und wann die andere gilt.

Grenzgänger*innen

Susan Campbell Clark (2000) hat dazu eine Theorie über die Grenzen zwischen Arbeit und Familie formuliert und Erwerbstätige als Grenzgänger*innen bezeichnet. Sie hat z.B. Hypothesen dazu aufgestellt, unter welchen Bedingungen z.B. sehr starke Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben sinnvoll und hilfreich sind für eine gelungene Life-Balance und wann nicht. Die Stärke der Grenzen wird der Theorie zufolge durch ihre Durchlässigkeit[1] und Flexibilität/Starrheit bestimmt und soll eine zentrale Rolle für die Life-Balance spielen. Clark vermutet, dass starke Grenzen sich dann positiv auswirken, wenn Arbeits- und Privatleben sich in vielen Dimensionen unterscheiden; bei großen Ähnlichkeiten hingegen sollen schwache Grenzen positiv erlebt werden. Wenn Grenzen nur in eine Richtung durchlässig sind, aber nicht in die andere[2], dann ist eine stärkere Identifikation mit dem besonders stark „geschützten“ Bereich hilfreich, um eine positivere Life-Balance zu erleben. (Im unten genannten Beispiel wäre es also vorteilhaft für die betroffene Person, sich besonders mit ihrem Beruf zu identifizieren.) Ob eine Trennung von Arbeit und Privatleben zu empfehlen ist, hängt demnach von den Umständen ab. Dabei ist der Einfluss der betreffenden Person auf die Festlegung der Grenzen ebenfalls relevant: Je mehr die Grenzen selbst beeinflussbar sind, desto positiver fällt die Life-Balance aus.

Aktuell wird auch im akademischen Arbeitskontext besonders spürbar, dass „zu Hause arbeiten“ oftmals mit sehr schwachen, durchlässigen Grenzen einhergeht. Gerade diejenigen, die aktuell keinen eigenen, ungeteilten oder aber keinen ruhigen Raum zum Arbeiten haben, wissen die sonst selbstverständlichen Grenzen zum Büro oder zur Ruhe der Bibliothek in der Uni ganz neu zu schätzen (siehe auch Facts des Monats Mai). Es wird auch deutlich, dass „zu Hause arbeiten“ die ganze Vielfalt von Arbeit umfasst: Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung, Betreuung von erkrankten oder pflegebedürftigen Menschen, Haushalt, …

Klar ist, dass Life-Balance immer wieder neu gefunden werden muss, erst recht in dieser Zeit. Wie es Ihnen aktuell damit ergeht und wie Sie die letzten Wochen erlebt haben, interessiert uns ganz besonders und wir laden Sie ein, uns gern dazu ein kurzes Statement, ein Foto oder kurzes Video zu schicken (schreiben Sie uns: Frauenbeauftragte EwiPsy). Wenn Sie das zusätzlich erlauben, machen wir Ihren Beitrag auch gern anderen Angehörigen des Fachbereichs zugänglich!

Literatur

Blahopoulou, J. (2012). Work-Life-Balance-Maßnahmen: Luxus oder Notwendigkeit? Organisationale Unterstützung und ihre Auswirkungen. München: Hampp.

Clark, S.C. (2000). Work/family border theory: A new theory of family/work balance. Human Relations, 53(6), 747-770.

[1] Unter einer durchlässigen Grenze versteht sie, dass Elemente des jeweils anderen Bereichs präsent sind (z.B. Familienfotos auf der Arbeit, Anrufe von der Arbeit nach Hause usw.).

[2] Beispiel: Wenn das Privatleben auf der Arbeit in keiner Weise präsent ist und die Arbeitszeiten nicht an private Bedürfnisse angepasst werden (können), die betreffende Person jedoch zu Hause stets beruflich zu erreichen sein muss, spräche man davon, dass die Grenze der Arbeit sehr stark/undurchlässig und die des Privatlebens eher schwach/durchlässig wäre.

„Ist alles so schön bunt hier!“?*

*Aus dem Nina Hagen Song „TV-Glotzer“

Der Begriff „Diversity“, deutsch Diversität, ist den Naturwissenschaften entlehnt und bezeichnet dort biologische Artenvielfalt. Auf Gesellschaft bezogen findet der Begriff seit einiger Zeit vor allem in Verbindung mit einem positiven Verständnis von gesellschaftlicher Vielfalt Verwendung. Mit dem Begriff Diversity rückt Vielfalt in ein positives Licht. Doch allein der ressourcenorientierte Blick auf Vielfalt genügt nicht, um Diskriminierung und Ungleichheit zu beenden.

Als „Travelling Concept“ (Walgenbach 2016) hat der Begriff im Laufe der Zeit je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen angenommen. Die Entstehung des gesellschaftswissenschaftlichen Diversity-Konzepts wird historisch auf die Proteste US-amerikanischer Bürgerrechtsbewegungen gegen Rassismus und Diskriminierung zurückgeführt, welche schließlich dazu führten, dass die Gleichstellung bislang diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen in Unternehmen gesetzlich verankert wurde. In Verbindung mit drohendem lokalen Fachkräftemangel und der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft und Arbeitswelt erkannten Unternehmen jedoch schnell in der staatlich verordneten Diversity-Orientierung auch eine wirtschaftliche Ressource. Diversity-Management hat seitdem Konjunktur. Die Charta der Vielfalt, eine von deutschen Arbeitgeber*innen initiierte Selbstverpflichtung, wurde von mehreren tausend Unternehmen unterzeichnet.

Diversity im Sinne einer ressourcenorientierten Sichtweise auf Vielfalt hat sich zum normativen Leitbegriff entwickelt. Wenngleich der Blickwechsel in Richtung Ressourcenorientierung zunächst begrüßenswert scheinen mag, ist die Fokussierung auf humankapitalistische Verwertbarkeit in der Wirtschaft aus emanzipatorischer Sicht zugleich kritisch zu sehen. Parallel zu Entwicklungen in der Wirtschaft haben diverse transnationale, europäische und nationale Gesetze zu einer rechtlichen Verankerung des Abbaus von Diskriminierungen geführt. Ziel etwa des 2006 verabschiedeten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AAG) ist es, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ (AGG § 1).

Aus machtkritischer Perspektive ist die Benennung von derartigen Kategorien jedoch nicht unproblematisch, da dadurch eine quasi naturgegebene, zumindest aber statische Gegebenheit von Merkmalen suggeriert wird. Dabei, so die Kritik, wird verkannt, dass derartige Kategorien gesellschaftlich konstruiert und Diskriminierungen nicht auf Grund natürlich gegebener Merkmale einer Person oder Gruppe, sondern vielmehr erst durch die Konstruktion bestimmter Kategorien und damit verbundener Praktiken zustande kommen. Am Beispiel des im AGG und auch im Grundgesetz genannten Begriffs „Rasse“ lässt sich dies anschaulich verdeutlichen.  Rassismus – im engeren Sinne – wird erst durch das Konstrukt der „Rasse“ möglich. Aus emanzipatorischer Sicht gilt es daher vielmehr darum, zu fragen, inwieweit derartige Zuschreibungen und Essentialisierungen ungeachtet der Intention zu Strukturen und Praktiken der Diskriminierung beitragen.

Dem auch in pädagogischen Ansätzen verbreiteten Diversity-Credo „alle sind anders“ – wobei die Wertschätzung der jeweiligen Andersartigkeit als Lösung des Problems gesehen wird –  halten Kritiker*innen schließlich entgegen, dass damit eine Gleichheit suggeriert wird und dabei bestehende Ungleichheiten verschleiert werden, die weiterhin wirksam sind. Denn Anerkennung der Andersartigkeit ist nicht gleichzusetzen mit Chancengleichheit und dem Abbau von Barrieren. Vielmehr steigt durch die zugeschriebene oder reale Mehrfachzugehörigkeit zu gewissen gesellschaftlichen Gruppen die Gefahr der Benachteiligung und Diskriminierung exponentiell. Auf unser Feld bezogen: Auch wenn die Zuordnung zum weiblichen Geschlecht allgemein mit Diskriminierungen einhergehen mag, sind nicht alle, die als Frauen bezeichnet werden, in gleichem Maße benachteiligt. (In Abgrenzung zu affirmativen Diversity-Ansätzen wird übrigens für kritischere Perspektiven häufig die deutsche Übersetzung des Begriffs verwendet: „Diversität“.)

Auch die Freie Universität verpflichtet sich in ihrem Mission Statement Diversity dem Ziel, „einer barriere- und diskriminierungsfreien Lehr-, Lern- und Arbeitsumgebung sowie einer wertschätzenden Zusammenarbeit aller Statusgruppen […] um selbstkritisch Ausgrenzungsmechanismen zu erkennen, abzubauen und Integrationsmöglichkeiten zu schaffen.“[1]

In diesem Sinne sind auch im neuen Frauenförderplan des Fachbereichs entsprechend Gender- und Diversitätssensibilität in Sprache, Lehre und der Organisationskultur im Allgemeinen als Ziele verankert.

In Zeiten von Corona fragen wir uns konkret, wie sich die damit verbundenen Maßnahmen und Umstände auf Studierende und Mitarbeiter*innen am Fachbereich auswirken und – im Sinne von Diversität – welche Gruppen in besonderem Maße betroffen sind und welche Formen der Unterstützung hilfreich sind, um Benachteiligungen entgegenzuwirken. Hierzu laden wir Sie / Euch ein, eure Gedanken in unserem Blog zu teilen, zum Beispiel hierunter als Kommentare!

 

Walgenbach, K. (2017): Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft. 2., durchges. Aufl. Opladen & Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 92.

Zum Weiterlesen

https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/Ressourcen/literatur/index.html

[1] https://www.fu-berlin.de/universitaet/profil/gesellschaft/diversity/index.html

 

Muttersprache?

Der 21. Februar ist laut UNESCO Internationaler Tag der Muttersprache. Zum 20. Mal feiert die UNESCO damit die sprachliche Diversität. Im Fokus stehen dieses Jahr insbesondere indigene Sprachen, die durch die Verbreitung von Nationalsprachen vom Aussterben bedroht sind. Nicht selten wird Muttersprache jedoch nicht etwa mit indigenen Sprachen, sondern vielmehr mit offiziellen Nationalsprachen in Verbindung gebracht. „Unsere Muttersprache“[1] heißt eine Lehrbuchreihe für den Deutschunterricht in der Grundschule und Sekundarstufe in Berlin und Brandenburg. Angeboten werden die Bücher für den Einsatz in Schulklassen, in denen gewiss zahlreiche Schüler*innen Deutsch nicht als Muttersprache bezeichnen würden, wenngleich viele von ihnen Deutsch als eine ihrer Erstsprachen erlernt haben. Im Amtsdeutsch der Bildungsverwaltung bleiben sie sogenannte Schüler*innen „nicht-deutscher Herkunftssprache“. Der Begriff der „Muttersprache“ ist – wie das Wort „unsere“ im Titel des erwähnten Lehrbuchs deutlich macht – zumindest im deutschen Sprachgebrauch häufig verbunden mit Prozessen der In- und Exklusion. Die Vorstellung von deutscher „Muttersprache“ als quasi natürlicher Voraussetzung der Zugehörigkeit zu einer „nationalen Gemeinschaft“ ist in Deutschland tief verwurzelt. Wie die Mehrsprachigkeit im Kaiserreich über das Bildungssystem aus deutschen Klassenzimmern und damit aus der Vorstellungswelt verdrängt wurde, hat Ingrid Gogolin eindrucksvoll in ihrer Studie „Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“[2] dargestellt.

„Muttersprache“ – der Begriff ist auch aus feministischer Sicht nicht unproblematisch, geht er doch einher mit der Vorstellung, dass Sprache vor allem über die Mutter vermittelt wird, die – so die Assoziation – sich am heimischen Herd um die Kinder kümmert, während der Vater arbeiten geht und wenn nötig das „Vaterland“ verteidigt. „Vaterland“? Auch dies ist ein problematischer Begriff, der daran erinnert, dass die deutsche Staatsangehörigkeit bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts nur über den Vater weitergegeben wurde (mit Ausnahme von Kindern unverheirateter Mütter).

Doch zurück zur „Muttersprache“: Welche Sprache sprechen demnach Kinder, die bei ihren Vätern aufwachsen? Sind Kinder auch deutscher Muttersprache, wenn nur der Vater Deutsch spricht? Wie bezeichnet man Sprecher*innen, die mit Sprachen aufwachsen, die nicht ihre „Muttersprachen“ sind? Und welches Frauenbild transportiert der Begriff der „Muttersprache“? Wir plädieren dafür, den Begriff „Muttersprache“ durch den von Linguisten verwendeten Begriff „Erstsprache(n)“ zu ersetzen.

Mit der Unesco feiern wir die Diversität der Sprachen – und hoffen, dass sich Diversität immer mehr auch in der Sprache abbildet.  

 

[1] Reihe „Unsere Muttersprache“ Cornelsen Verlag, https://www.cornelsen.de/reihen/unsere-muttersprache-220000990000

[2] Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann Verlag.