Die Heimkehr des Buches an das YIVO Institute for Jewish Research

Die Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin hat ein Buch des legänderen YIVO Institute for Jewish Research als NS-Raubgut identifiziert und an das YIVO Institute in New York zurückgegeben. Dieses Buch wurde während des Zweiten Weltkriegs aus der „Bibliothek des Jiddisch Wissenschaftlichen Instituts“ „בּיבּליאׇטעק פון דעם יידישן וויסנשאַפטלעכן אינסטיטוט“ infolge der deutschen Besatzung in Vilnius, Litauen beschlagnahmt. Nach einer 81-jährigen Odyssee kehrt dieses Buch endlich in den New Yorker Hauptsitz zurück. Wir sind dankbar, dieses verlorene Stück Geschichte zurück in die Hände des YIVO-Instituts überbringen zu können.

Provenienz: בּיבּליאׇטעק פון דעם יידישן וויסנשאַפטלעכן
אינסטיטוט‘
Übersetzung: Bibliothek des Jiddisch Wissenschaftlichen Instituts

Das YIVO Institute war eine renomierte Institution mit akademischem Fokus auf ostjüdischer und jiddischer Kultur und Wirtschaft. Es wurde 1925 in Berlin gegründet, um das Studium und die Erhaltung der jiddischen Sprache und Kultur zu fördern. Der Hauptsitz des Instituts wurde in das damals polnische Vilnius verlegt, das als Kulturhauptstadt der jiddischsprachigen Juden galt. Im Jahr 1935 zog das YIVO Institute in die Wiwulski Strasse 10 und hatte damit ein festes Zuhause, um weiterhin an der Dokumentation und Erhaltung der jiddischen Sprache und Kultur zu arbeiten. [1]

Auch die Bibliothek des YIVO Institutes galt vor dem Zweiten Weltkrieg als eine der bedeutendsten jüdischen Bibliotheken Europas. Im Jahre 1939 beinhaltete die Bibliothek ca. 85.000 Bände. Die Existenz des YIVO Instituts in Vilnius wurde jedoch schlagartig und gewaltsam beendet, als Litauen von der Sowjetunion annektiert und von den deutschen Truppen im Sommer 1941 besetzt wurde. Nach der Invasion der deutschen Wehrmacht von Vilnius errichteten die Nationalsozialisten im März 1942 ein Sortierzentrum für jüdisches Kultureigentum im Gebäude von YIVO und brachten die Arbeit des Instituts zum Erliegen.

Provenienz: Sichergestellt durch Einsatzstab RR, Wilna

In dieser Zeit reiste Johannes Pohl als Mitglied des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (ERR) und Chefbibliothekar von Alfred Rosenberg durch die besetzten Ostgebiete, um für das Institut zur Erforschung der Judenfrage brauchbare Schriften in Bibliotheken auszusondern, was in Wirklichkeit ein Raubzug des jüdischen Kulturguts für den NS-Staat war. Er war seit 1941 Bibliothekar an der „Jüdischen Bücherei“ des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, einer besonderen Abteilung der Hohen Schule der NSDAP beschäftigt. Der ERR beschlagnahmte kulturelles Eigentum, insbesondere Bücher und Kunstwerke von jüdischen Familien, Organisationen und Bibliotheken im von den Nazis besetzten Europa. Dieses Buch konnte aufgrund der vorgefundenen Provenienzhinweise eindeutig als NS-Raubgut identifiziert werden, da es vom Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) konfisziert wurde.

Anfang des Jahres 1942 traf Pohl in Vilnius ein. Unter seiner Anweisung wurden zwischen September 1941 und September 1943 40 jüdische Intellektuelle aus dem Ghetto von Vilnius gezwungen, die Sammlungen des YIVO-Instituts für eine Beschlagnahme systematisch zu überprüfen, zu sortieren oder diese auch zu zerstören. Die Gruppe dieser Intellektuellen, die als „Papierbrigade“ bekannt wurde, bestand aus bekannten Persönlichkeiten wie Herman Kruk, Dina Abramowicz, Zelig Kalmanowicz und dem Dichter Abraham Sutzkever. Trotz der Lebensgefahr gelang es ihnen jedoch, einen Teil der wertvollsten Zeugnisse jüdischer Kultur in Europa zu retten.

Wi bajm baschitsn an eifl –
ich lojf mitn jidishn wort,
nishter in itlechn hejfl,
der gajst zol nit wern dermordt.

Wie einen zarten Säugling
beschütz ich das jiddische Wort,
schnuppre in jeden Berg Papier,
rette den Geist vor Mord.

Abraham Sutzkever: Weizenkörner, März 1943
Aus: Geh über Wörter wie über ein Minenfeld.
Frankfurt/New York: Campus Verlag 2009

Die Verluste, den das Institut erlitt, traf das YIVO schwer. Nicht nur ein beträchtlicher Teil des Wissens und der Geschichte, die das YIVO im Laufe der Jahre gesammelt hatte, ging unwiederbringlich verloren, sondern es waren auch persönliche Verluste zu beklagen. Unter denjenigen, die im Wilnaer Ghetto ihr Leben ließen, befanden sich auch Herman Kruk und Zelig Kalmanowicz, deren tragischer Tod eine schmerzliche Lücke in der Institution und im Herzen ihrer MitstreiterInnen hinterließ. Nur Dina Abramowicz und Abraham Sutzkever sind dem Tod entkommen, indem sie sich den jüdischen Partisanen anschlossen.[2]

Im Oktober und November 1942 sowie im Februar 1943 wurden durch den ERR bedeutende Teile der Bibliothek und Archive der YIVO u. a. in das Institut zur Erforschung der Judenfrage nach Frankfurt am Main, Bockenheimer Landstraße 68-70 verbracht. Dieses Institut diente den Nazis als zentrales Lager für sämtliche jüdische Kulturschätze, die sie aus Forschungseinrichtungen und Privatsammlungen in ganz Europa enteignet hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieges wurden die geborgenen Bestände der geplünderten YIVO Bibliothek und der Archive im Offenbach Archival Depot (OAD) sichergestellt und später zum Hauptsitz des YIVO Institutes nach New York gebracht.

Provenienz Nachweis aus dem Offenbach Archival Depot: Bibliothek des Jiddisch Wissenschaftlichen Instituts
YIVO OAD 18, Page 22
https://www.fold3.com/image/232163389?terms=yivo

Dort bestand seit 1925 bereits eine Niederlassung, und einige der führenden MitarbeiterInnen kamen aus Europa in die USA, um dort ihre Arbeit fortzusetzen. Das YIVO-Institute beherbergt mittlerweile die weltweit größte Sammlung von jiddischen Schriften und Materialien zur Geschichte und Kultur osteuropäischer Juden mit über 380.000 Büchern und Zeitschriften sowie mehr als 24 Millionen Dokumenten, Fotos, Postern, Filmen und anderen Archivalien.

Über das Buch

Das gefundene Buch in der FU Berlin stammte aus der Bibliothek für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien und gelangte 1978 in den Bestand der FU. Ursprünglich gehörte es zum Bestand des Instituts für Balkanologie, das in den 70er Jahren aufgelöst wurde. Bedauerlicherweise sind keine Zugangsbücher aus dieser Zeit erhalten geblieben, wodurch der Lieferant nicht mehr festgestellt werden kann.

Provenienz: Abteilung Balkanstudie des Osteuropa-Instituts
Inv-Nr. 893/78/10674

Dieses Buch enthält mehrere Provenienzhinweise, die wichtige Informationen über die Herkunft und den Verbleib des Buches während der NS-Zeit lieferten und zur eindeutigen Identifizierung als NS-Raubgut beigetragen haben.

Die älteste Provenienz in diesem Buch ist ein Ausfuhrzeichen aus dem 1. Weltkrieg, auf dem ein stilisiertes Völkerschlachtdenkmal in Leipzig abgebildet ist (s. Mitte unten). Da mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges die formale Pressefreiheit aufgehoben wurde, ging die Kontrolle über die Medien an Zensurstellen beim Militär über. Im Jahr 1916 wurde in der Deutschen Bücherei in Leipzig eine Militärzensurstelle namens Buchprüfungsstelle Ober Ost eingerichtet, um den Import von Büchern zu kontrollieren, die in das Besatzungsgebiet der deutschen Streitkräfte an der Ostfront (kurz Ober Ost) gebracht werden sollten. Dieses Gebiet umfasste vom November 1915 bis Juli 1918 große Teile von Kurland, Litauen, Lettland und Weißrussland.[3]

Provenienz:
Ausfuhrzeichen Völkerschlachtdenkmal Leipzig

Die Verwendung von Zensur-Stempeln auf Büchern war auch Teil eines breiten Versuchs der deutschen Regierung, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen und die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Bücher, die den Idealen des Denkmals entsprachen und als patriotisch angesehen wurden, sollten die Moral der Bevölkerung stärken. Die von der Zensurstelle als unbedenklich eingestuften Bücher erhielten ein Ausfuhrzeichen als Genehmigung für den Export. Die Zensur für die Region Leipzig wurde vom 19. Armeekorps übernommen, welches das Völkerschlachtdenkmal auf den Stempeln verwendete. Daher durften nur Bücher mit diesem Ausfuhrzeichen von den lokalen Buchhändlern ins verbündete und neutrale Ausland sowie in die besetzten Gebiete – in diesem Fall nach Vilnius – exportiert werden. Es ist daher davon auszugehen, dass das Buch im Zeitraum von 1916-1918 von Leipzig nach Vilnius verbracht wurde.

Eine weitere Provenienz ist auf Hebräisch דר יעקב שאצקי von Dr. Jacob Shatzky.

Provenienz: Stempel: Dr. Yankev Shatzky

Der Name ist in der Provenienz entsprechend mit seinem Doktortitel angegeben: Dr. Yankev Shatzky. Ob Shatzky dieses Buch aber bereits vor seiner Disseration, und zwar während seines Aufenthalts in Vilnius im Jahre 1918 erworben hat, ist unbekannt. Eine hypothetische Anschaffung des Buches könnte aber erst nach dem Import aus Deutschland nach Litauen in den Jahren 1918 bis 1922 stattgefunden haben, da Schatzky im Dezember 1922 nach New York ging.[6] Anschließend wurde das Buch vermutlich von der YIVO-Bibliothek übernommen.

Foto: Yankev Shatzky (zweiter von rechts in Militäruniform mit seinen Brüdern, Warschau
Quelle:
https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Shatzky_Yankev

Dr. Yankev (Jacob) Shatzky (1893-1956) war ein anerkannter polnisch-jüdischer Historiker und Autor vieler Bücher, der in Warschau geboren wurde. Shatzky war ein bekannter Experte für jüdische Geschichte und Kultur in Polen und Ostmitteleuropa. Während des Ersten Weltkriegs diente er unter Marschall Józef Piłsudski in der polnischen Legion. Er erhielt drei Auszeichnungen für seinen Einsatz und stieg zum Leutnant auf. Nach dem Krieg arbeitete er kurzzeitig für die neue polnische Regierung. So wurde Shatzky 1918 vom polnischen Außenministerium nach Vilnius geschickt, um Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung zu untersuchen, die in der Stadt stattgefunden haben. Shatzky schrieb später einen Bericht über den Vorfall, der in der polnischen Presse veröffentlicht wurde. Als das Ministerium nicht auf seinen Bericht reagierte, trat er von seinem Posten zurück und unterrichtete Geschichte an jüdischen Gymnasien in Warschau.[4] Nach Abschluss seines Doktorats in 1922 wanderte er unmittelbar danach in die USA aus und wurde ab 1929 Bibliothekar des New York State Psychiatric Institute.[5] Er war Präsident des Yiddish PEN Clubs und engagierte sich in vielen Organisationen wie z. B. YIVO und der Jewish Historical Society of Israel (HSI). Einen Teil seiner umfangreichen Bibliothek vermachte er der Hebräischen Universität Jerusalem und der Jewish Historical Society of Israel.

Weiterführende Quellen und Links:

Das Buch in der LCA Datenbank:
https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/263439

Internet-Seite des YIVO in New York

[1] https://www.jewishvirtuallibrary.org/yivo

[2] https://www.piqd.de/zeitgeschichte/papier-brigade-die-shoah-und-die-bucher-von-vilnius

[3] https://www.wikiwand.com/de/Ober_Ost

[4] https://archives.cjh.org//repositories/7/resources/3509#a2

[5] New York Times, 14. Juni 1956

[6] Vgl. Ancestry, Einbürgerungsregister, Jacob Shatzky

Restitution an die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main K. d. ö. R.

Die Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin freut sich über die Rückgabe eines Buches an die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main (JG FFM). In dem Buch, was am 3. Mai 2023 restituiert werden konnte, befindet sich der Bibliotheksstempel des „Israelitischen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main„.

Bibliotheksstempel des Israelitischen Krankenhauses FFM. © Freie Universität Berlin

Das erste Gemeindekrankenhaus der JG FFM eröffnete 1875. Da das Gebäude schon bald nicht mehr genügend Platz für die Patientinnen und Patienten bot, entschied sich die jüdische Gemeinde 1904 für einen zeitgemäßen Neubau. Der Bau des neuen Gebäudes an der Gagernstraße begann 1909. Die feierliche Eröffnung erfolgte im Jahr 1914.

Von den Folgen der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 war der Krankenhausbetrieb zunächst nicht direkt betroffen. Im Rahmen der „Arisierung“ musste die IG FFM am 1. April 1939 das Gelände, die Gebäude und die Einrichtung zum Preis von 900.000,- RM an die Stadt Frankfurt am Main zwangsverkaufen. Dazu gehörte auch die Bibliothek. Der Gemeinde wurde gestattet, gegen Miete weitere drei Jahre im Gebäude zu bleiben. Immer mehr Altersheime, Kinderheime und Krankenhäuser wurden nun geschlossen und deren Bewohnerinnen und Bewohner in das Krankenhaus verlegt. Die koschere Küche musste 1940 schließen. Bis Oktober 1942 wurde das Krankenhaus zwangsgeräumt. Die Patientinnen und Patienten und viele der Schwestern wurden nach Theresienstadt und in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Durch einen Luftangriff am 4. Oktober 1943 wurde der Gebäudekomplex schwer beschädigt. Nach Kriegsende kamen die Liegenschaften wieder in den Besitz der Jüdischen Gemeinde FFM. Heute existiert auf dem Gelände das jüdische Altenheim. Die Gemeinde entschied sich Mitte der 70er-Jahre dazu, das Krankenhausgebäude abzureissen.

Der Weg des Buches in den Bestand der UB der Freien Universität lässt sich nicht lückenlos klären. Erschwert wird die Recherche dadurch, dass das Buch 1962 neu gebunden wurde. Mögliche Anhaltspunkte zum Vorbesitz können damit verloren gegangen sein. Außerdem existieren für diesen Bestand keine Zugangsbücher. So kann nur mithilfe der Zugangsnummer nachgewiesen werden, dass der Band 1954 durch die FU Berlin akquiriert wurde. Überdies hat eine uns nicht bekannte Person sich darum bemüht, alle Stempel bis auf einen des Israelitischen Krankenhauses FFM zu übermalen. Dass noch ein vollständiger Stempel im Buch zu finden war, muss als glücklicher Zufall gewertet werden.

Vermutlich wurde hier der rote Bibliotheksstempel des Krankenhauses der IG FFM durchgestrichen. © Freie Universität Berlin

Aufgrund der begrenzten Informationen zum Erwerb kann das Buch nur anhand der enthaltenen Merkmale bewertet werden. Der Titel weist das Buch als eindeutigen Besitz der historischen IG FFM aus, die 1939 liquidiert wurde. Es handelt sich demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit um NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Deshalb entschied sich die Arbeitsstelle Provenienzforschung dazu, das Buch an die Rechtsnachfolgerin, die JG FFM, zu restituieren.

Das Buch in LCA:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/282672

Spuren in Tausenden Büchern – Podcast Provenienzforschung

Unser dritter Podcast ist da!

In der dritten Folge Geraubte Kultur geht es darum, woher die Bücher für die Bibliothek des Instituts für Judaistik kamen.

Diese Folge widmet sich den Büchern des Instituts für Judaistik, welches 1963 an der Freien Universität Berlin gegründet wurde. Obwohl es sich hierbei um eine Nachkriegsgründung handelt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass auf verschiedenen Wegen NS-Raubgut in den Bibliothekskorpus gelangte. Provenienzforscher Stephan Kummer erzählt von den Anfängen des Fachbereichs, dem Aufbau der Institutsbibliothek und den Besonderheiten bei der Bestandsuntersuchung. Da es sich bei dem Provenienzforschungsprojekt um eine durch Drittmittel finanzierte und befristete Forschungsarbeit handelt, wird das Interview mit Dr. Uwe Hartmann ergänzt. Als Leiter des Fachbereichs Kulturgutverluste im 20. Jahrhundert in Europa beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste berichtet Dr. Hartmann von den Anfängen der zentralen Koordinierung von Provenienzforschung, den wesentlichen Aufgabenbereichen der Stiftung und den umfangreichen Fördermöglichkeiten. Am Ende dieser Folge erfahren wir von einer Restitution nach Polen und lernen, wie Provenienzforschung durch internationales Netzwerken Brücken bauen kann.

Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 3: Geraubte Kultur

https://www.fu-berlin.de/sites/ub/ueber-uns/provenienzforschung/10-jahre/podcast/podcast-folge3/index.html