Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund –kurz Bund (בונד, Бунд) genannt (jiddisch: אַלגעמײנער ייִדישער אַרבעטער־בונד, russisch: Всеобщий еврейский рабочий союз в Литве, Польше и России) wurde 1897 in Wilna (heute Vilnius) gegründet, um sich für die Rechte jüdischer Arbeiter*innen sowie soziale und kulturelle Gleichstellung einzusetzen. Aufgrund der Repressionen durch die zaristische Regierung, verlagerte das Zentralkomitee der Partei seine Aktivitäten bereits 1898 nach Genf, das für viele Bundisten zu einem wichtigen Zufluchtsort wurde. Neben Genf entstanden auch Ableger in London, Paris, New York und Buenos Aires sowie zahlreiche lokale Gruppen in der jüdischen Diaspora. Aber auch Wilna war nach der Russischen Revolution von 1905 ein wichtiger Standort der politischen Aktivitäten des Bundes.
Eine prägende Figur des „Bund“ war Franz Kursky, der 1874 in Kurland (heutiges Lettland) als Samuel Kahan geboren wurde. Als Leiter des Auslandsarchivs ab 1906 spielte er eine zentrale Rolle bei der Sicherung und Dokumentation ihres Vermächtnisses. Bereits 1919 legte er den Grundstein für das Bund-Archiv, indem er die Archivsammlung und die Bibliothek von Genf – einem sicheren Hafen während der antisemitischen Pogrome in Osteuropa – wieder zurück nach Wilna brachte, wo der Bund gegründet wurde.
Bereits ein Jahr später, 1920, verlegte er gemeinsam mit dem Mitbegründer des Bundes, Vladimir Kosovski (1867-1941), die Schweizer Auslandsvertretung des Bundes sowie das Auslandsarchiv nach Berlin, wo er seit 1918 im Exil lebte. Der Ausbruch des Polnisch-Russischen Krieges 1919/1920 machte diese Entscheidung notwendig, da Wilna, im Zentrum territorialer Konflikte zwischen Polen, Litauen und Sowjetrussland, Schauplatz zahlreicher militärischer Auseinandersetzungen war. In diesem unsicheren Umfeld bot die Stadt keine geeignete Basis mehr für das Bund-Archiv.
Mit Unterstützung der SPD, zu der der Bund enge Kontakte unterhielt, wurde das Archiv Ende 1925 in das „Vorwärts-Haus“ der SPD, Lindenstraße 3 überführt. Dort sollten, so Kursky, die Dokumente „geordnet und vor bösen Geistern bewahrt“1 werden. Die Sozialdemokraten halfen dem Bund vorallem beim Druck von Parteiliteratur in der eigenen Großdruckerei, so dass es sich zu einem zentralen Umschlagplatz für jiddische und russische Veröffentlichungen, die von den im Schweizer Exil ansässigen Mitgliedern des Bundes über Berlin nach Russland weitergeleitet wurden, entwickelte. Auch die SPD-Parteibibliothek war bis 1933 im Vorwärts-Haus in Berlin untergebracht. Nach dem SPD-Verbot am 22. Juni 1933 und der „Gleichschaltung“ wurde sie vom NS-Regime beschlagnahmt.
Wahlplakat des Bundes, aufgehängt im Wahlbezirk Kiew im Jahr 1917. Überschrift auf Hebräisch: „Wo wir leben, dort ist unser Land!“
Innerhalb des Rahmens: „Wählt Liste 9, Bund“. Unten: „Eine demokratische Republik! Volle nationale und politische Rechte für Juden!“
Der Buchfund: „Frauenarbeit und Familie“
Ein bemerkenswerter Bestandteil dieses historischen Erbes ist das 1914 erschienene Buch Frauenarbeit und Familie von Edmund Fischer, das vom Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung der UB Anfang Dezember 2024 identifiziert wurde. Das Exemplar gelangte zu einem unbekannten Zeitpunkt in den Bestand der Universitätsbibliothek.
Ab 1950 wurde es als Teil der Wissenschaftlichen Zentralbibliothek Berlin geführt und unter der Zugangsnummer 50/11499 erfasst.
Die Wissenschaftliche Zentralbibliothek wurde 1950 in Dahlem gegründet und diente der Erfassung der Bibliotheksbestände der West-Berliner Sektoren. Sie existierte nur bis 1954 und bildete die Grundlage der heutigen Amerika-Gedenkbibliothek in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Wie der Stempel im Bild zur Provenienz 3 zeigt, war das Buch zwischenzeitlich Teil der Sammlung der Amerika-Gedenkbibliothek und wurde später (zu einem unbekannten Zeitpunkt) dort ausgesondert.
Provenienzen
Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten im Jahr 1933 erhielten diese „bösen Geister“ eine erschreckend konkrete Gestalt, da die Verfolgung jüdischer und sozialdemokratischer Organisationen und die Beschlagnahme ihres Eigentums zur bedrohlichen Realität wurden. Auch der Druck auf jüdische Personen wie Kursky nahm erheblich zu. Angesichts der wachsenden Verfolgungsgefahr floh er nach Paris und brachte die Sammlung mit, um sie vor der drohenden Beschlagnahmung zu schützen. In Paris war Kurski aufgrund finanzieller Notlage jedoch dazu veranlasst, die Sammlung 1934 an die Gründer des International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam zu verkaufen. Die Überführung des Archivs und der Bibliothek gestaltete sich jedoch schwierig: Erst 1936, mit erheblicher Verzögerung und nicht in vollständigem Zustand, erreichte die umfangreiche Lieferung Amsterdam. Kursky floh 1941 von Paris nach New York, wo er am 17. Januar 1950 verstarb.
Kurskys vorausschauendes Engagement für die Sicherung des Archivs ermöglichte es ihm, einen großen Teil der Sammlung vor dem Zugriff des NS-Regimes in Berlin zu bewahren. Dennoch gelang es ihm nicht, die Sammlung vor der Deutschen Wehrmacht in Amsterdam zu retten. Nach der Besatzung der Niederlande fiel die umfangreiche Bibliothek mit etwa 300.000 Exemplaren in die Hände des Einsatzstabs Alfred Rosenberg. Die Bestände wurden im International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam beschlagnahmt und anschließend nach Deutschland sowie in den Osten transportiert.
Nach Kriegsende war die Sammlung weit verstreut, und viele ihrer Teile gingen verloren. Einige Bestände wurden 1946 bei Hannover wiedergefunden und schließlich nach Amsterdam zurückgebracht.
Heute befindet sich die Bund-Sammlung in verschiedenen Institutionen weltweit, darunter im International Institute of Social History (IISH) Amsterdam. Ein bedeutender Teil des Archivs wurde im Rahmen des Centrale-Projekts von 2012 bis 2016 digitalisiert und ist heute unter dem Namen „Yidishkayt“ im IISH zugänglich.
Die Universitätsbibliothek übergab das Buch an das International Institute of Social History (IISH) Amsterdam.
1Franz Kurski: Gezamlte Shriftn. New York 1956, S. 24.
Manchmal öffnet die Geschichte ihre Türen einen Spalt breit und gewährt uns einen Blick in die Vergangenheit. So erging es uns vor Kurzem bei der Entdeckung eines historisch wertvollen Buches aus der Bibliothek der ehemaligen Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (HWJ) aus der Campusbibliothek.
Diese renommierte Institution, deren Bibliothek eine bedeutende Sammlung religiöser und wissenschaftlicher Literatur mit über 60.000 Bänden umfasste, wurde 1942 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt. Der Fund des Buches dokumentiert einen weiteren Fall der Enteignung aus dem Besitz der HWJ und verdeutlicht damit die Verlagerung und Nutzung jüdischer Kulturgüter durch das NS-Regime.
Bereits beim ersten Aufschlagen von Simon Bernfelds Werk Die Jüdische Literatur aus dem Jahr 1921 offenbaren sich auf dem Titelblatt drei bedeutende Hinweise zur Herkunft des Buches. Zunächst ist da der runde Stempel der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, gefolgt von der Exemplarnummer 17201, die mit Bleistift unten rechts vermerkt ist. Besonders auffällig jedoch ist der rote Stempel „Ghetto-Bücherei“ des KZ Theresienstadt, der oben rechts prangt.
Das abgebildete Buch trägt eine künstlerische Gestaltung des jüdischen Künstlers Menachem Birnbaum (1893-1944) aus Wien, der für seine Illustrationen und Karikaturen bekannt war. Birnbaum wurde wahrscheinlich im Jahr 1944 im KZ Auschwitz ermordet.
Im Buch gibt es weitere, beinahe unsichtbare Spuren, deren Bedeutung ungeklärt ist.
Lieferant unbekannt
Wie konnte dieses besondere Buch, das aus der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums stammt und Teil der NS-Raubgutbestände aus dem Ghetto Theresienstadt ist, in die Bestände der FU Berlin gelangen? Diese Frage lässt sich nur spärlich und ungenügend beantworten. Das Buch kam aus der FU-Bibliothek des Instituts für Evangelische Theologie, die es 1976 in ihren Bestand eingearbeitet hat. Das Institut existierte von 1957 bis 2009. Nach der Auflösung des Instituts wurde es in der Campusbibliothek eingearbeitet. Allerdings sind keine Zugangsbücher mehr erhalten, sodass der Lieferant unbekannt ist. Offen bleibt daher die Frage, welche Wege das Buch nach der Befreiung des KZ-Theresienstadt im Jahr 1945 nahm, bis es schließlich an die FU Berlin 1976 gelangte.
Geistige Bastion des liberalen Judentums
Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (HWJ), gegründet im Jahr 1872 in Berlin, war eine wegweisende akademische Einrichtung und zugleich ein geistiges Zentrum des liberalen Judentums in Europa. Sie nahm eine einzigartige Stellung ein, indem sie jüdische Traditionen mit den aufkommenden modernen wissenschaftlichen Methoden vereinte und ihren Studierenden ein breites und fundiertes Fächerspektrum anbot. Die Hochschule spiegelte nicht nur den Geist der Emanzipation wider, sondern förderte auch das liberale jüdische Denken, das auf Integration und Modernisierung des jüdischen Glaubens und Lebensstils abzielte.
Nur ein paar Häuserblocks weiter, befand sich in der Artilleriestraße 31 das orthodoxe Rabbinerseminar zu Berlin.1 Im Scherz wurde die Hochschule als „leichte Artillerie“ und das Rabbinerseminar als „schwere Artillerie“ bezeichnet.2
Die Gründung dieser Institution wurde von bedeutenden jüdischen Intellektuellen der liberal-religiösen Strömung wie dem Professor Moritz Lazarus und dem Rabbiner Abraham Geiger initiiert. Lazarus, ein engagierter Verfechter jüdischer Rechte in Deutschland, und Geiger, ein Vordenker des Reformjudentums, schufen mit anderen führenden Persönlichkeiten eine Hochschule, die sich durch ihre Unparteilichkeit, finanzielle Unabhängigkeit und die Betonung auf die Vermittlung umfassender jüdischer Bildung, auszeichnete. Dieser innovative, liberale Ansatz prägte jahrzehntlang die HWJ als akademische und geistige Heimat des modernen Judentums und bot eine Plattform, auf der u. a. jüdische Theologie, Philosophie, Geschichte, Literatur sowie Hebräisch studiert wurden. Die Hochschule zog Studierende aus ganz Europa an, insbesondere aus traditionellen jüdischen Gemeinden Mitteleuropas, die in Berlin eine der seltenen Möglichkeiten fanden, eine rein wissenschaftliche Ausbildung im jüdischen Kontext zu erhalten. Zusammen mit dem Berliner orthodoxen Rabbinerseminar zu Berlin und dem Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau bildete die HWJ ein Dreigestirn der jüdischen Wissenschaften in Deutschland.
Besonders bemerkenswert an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums war ihre integrative Bildungspolitik. Sie war eine der ersten akademischen Einrichtungen ihrer Zeit, die eine Zulassungspolitik für Frauen und Männer gleichermaßen verfolgte und sowohl Juden als auch Nichtjuden offen stand. So wurde Regina Jonas (Berlin 1902- KZ Auschwitz 1944) 1935 die erste Frau weltweit, die zur Rabbinerin ordiniert wurde (Gedenktafel in Berlin). In einem sozialen und bildungspolitischen Kontext, in dem Judaistik und rabbinische Studien an deutschen und preußischen Universitäten keinen Platz hatten, bot die HWJ eine theologische Ausbildung zu Rabbiner:innen oder Religionslehrer:innen an. Damit leistete die Hochschule nicht nur einen Beitrag zur wissenschaftlichen Emanzipation des Judentums, sondern ebnete auch den Weg für die Gleichberechtigung in der Hochschulbildung.
Zu den herausragenden Persönlichkeiten, die an der Hochschule lehrten und deren wissenschaftlichen Ruf prägten, zählte Leo Baeck, einer der bedeutendsten Rabbiner und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Leo Baeck, der später die Leitung der Hochschule übernahm, verband jüdisches Gelehrtentum mit einem tiefen sozialen Engagement, das besonders in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus zum Ausdruck kam.
Auch Persönlichkeiten, die nur kurzzeitig an der HWJ studierten, leisteten einen entscheidenden Beitrag zum Ansehen und Vermächtnis dieser Institution bei. Der Prager Dichter Franz Kafka, eine der bekanntesten literarischen Stimmen des 20. Jahrhunderts, gehörte von November 1923 bis Januar 1924 zu ihren außerordentlichen Gasthörern.
In diesen wenigen Monaten fand der gesundheitlich angeschlagene Franz Kafka in der HWJ eine inspirierende Umgebung und intellektuelle Zuflucht, um seine jüdischen Studien zu vertiefen. Kafkas Werke enthalten zahlreiche Motive jüdischer Traditionen. Sie reflektieren seine Identität mit dem Judentum und machten ihn in der modernen Weltliteratur unsterblich. Seine drei Schwestern wurden Opfer des Holocaust.
„Die Hochschule für Wissenschaft ist für mich ein Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Innern. (…) Ein ganzes Haus, schöne Hörsäle, große Bibliothek, Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und alles umsonst.“ 3
Verfolgung und Schließung
Der Frieden währte nicht lange, und die Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren für die Hochschule von tiefgreifenden Veränderungen und Enteignungen geprägt. Am 24. Juni 1933 verlor die Hochschule per Verfügung ihren Status als staatlich anerkannte Institution und wurde in die „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ umbenannt. Zwei Jahre später, Ende 1935, wurde das der Hochschule gehörende Erholungsheim „Villa Hausmann“ – damals noch Arendsee genannt (heute Villa Baltic in Kühlungsborn) – an die „Joseph-Goebbels-Stiftung für Bühnenschaffende“ überschrieben und damit enteignet.4
Die gewaltsamen Ereignisse der Reichspogromnacht am 9. November 1938 führten zur vorübergehenden Schließung der Institution, während mehrere Dozenten und Studierende verhaftet wurden. Der Lehrbetrieb wurde im Januar 1939 eingeschränkt wiederaufgenommen, nur ein kleiner Kreis von Studierenden und Lehrenden, darunter Leo Baeck, blieb bis zur endgültigen Schließung der Hochschule. Das geschah am 19. Juni 1942, da Jüdinnen und Juden ab da vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Leo Baeck und die verbliebenen Studierenden wurden 1943 ins KZ Theresienstadt deportiert. Die Bibliothek sowie das Inventar der HWJ wurde vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beschlagnahmt. Teilbestände wurden später nach Berlin und Prag ausgelagert.
Auszug aus dem Nachruf von Nathan Peter Levinson auf seinen Lehrer Dr. Leopold Lucas (1872 Marburg – 1942 KZ Theresienstadt)
„Zunächst möchte ich erwähnen, daß er mein Lehrer war und das in einer der dunkelsten Stunden der Geschichte. Zwischen 1940 und 1941 unterrichtete er mich und einige wenige Studenten in Berlin an der einzig verbliebenen, aber nicht als solche mehr anerkannten jüdischen Hochschule im Fach Jüdische Geschichte. Juden durften damals keine Theater mehr besuchen, keine Kinos, keine Cafés und natürlich keine Universitäten. Die Synagogen waren im November 1938 zerstört worden. So blieb die Lehranstalt fast der einzige Ort, an dem Juden sich geistig betätigen konnten. Früher Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, war ihr der Hochschulstatus aberkannt worden. Es unterrichteten dort neben dem geistigen Haupt der deutschen Judenheit, Leo Baeck, nur noch eine Handvoll Dozenten, unter ihnen Leopold Lucas. Von den damaligen Studenten überlebten nur wenige: außer mir noch drei Kommilitonen. (…) In der Tat war diese Hochschule eine Insel innerhalb eines brandenden Meeres. Draußen war die Gewalt, der Schrecken, die Einschüchterung, die Entrechtung. Innerhalb der Mauern und Lehranstalt fühlte man sich wie in einer anderen Welt, der Welt des Geistes, die nicht bezwungen werden kann.“5
Die Wege der Bibliothek der Hochschule nach dem 2. Weltkrieg sind heute nur teilweise rekonstruierbar. Nach 1945 spielte die heutige National Library of Israel eine zentrale Rolle im Erhalt jüdischer Kulturgüter aus verschiedenen Quellen und Sammelstellen. So dienten auch Bücher dem Wiederaufbau jüdischen Lebens in Israel. Auch das Leo Baeck Institute Jerusalem erhielt durch Dublettenabgaben Bücher aus der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. In Berlin tauchten 1945/46 einige Bücher und Inventarteile auf, als der Berliner Magistrat „herrenlose Buchbestände“ aus der Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken sicherte und einige Exemplare der wiederbegründeten Jüdischen Gemeinde zu Berlin übergab. In Deutschland gab es in den letzten 10 Jahren nur vereinzelt Funde. So hat in 2015 die ZLB gemeinsam mit der Bayerischen Staatsbibliothek vier Bücher an das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam restituiert. Und auch uns gelang ein Fund im Jahr 2017, so dass wir die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums von 1870 an das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zurückgeben konnten.
Weitere Werke der Hochschulbibliothek besitzt die Bibliothek der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die über den Nachlass des Rabbiners Emil Davidovic dorthin gelangten. Davidovic hatte nach dem Krieg Zugang zu Beständen der Ghetto-Bibliothek Theresienstadt, wohin die Bücher durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) verlagert worden waren.
Bis heute sind also immer noch tausende Bücher unentdeckt. Umso bemerkenswerter ist der jüngste Fund aus April 2024 von ca. 4.000 Bänden des Jüdisches Museum in Prag aus der ehemaligen HWJ Bibliothek. Dieser Fund gibt Anlass zur Hoffnung, dass das wertvolle Wissen, das in diesen Büchern verkörpert ist, zumindest virtuell an die jüdische Gemeinschaft zurückgegeben werden kann.
Neue Wege gehen – „Library of Lost Books“
Um das Erbe dieser bedeutenden Institution virtuell wiederherzustellen, hat das Leo Baeck Institute Jerusalem das internationale Projekt „Library of Lost Books“ ins Leben gerufen. Daher freuen wir uns, dass unser jüngster Fund sich als weiterer kleiner Baustein in dieses umfassende wissenschaftliche Vorhaben einfügt und eine detaillierte Aufarbeitung der Verluste jüdischen Kulturguts während der NS-Zeit auch durch die Freie Universität Berlin ermöglicht.
Vielleicht öffnet sich eines Tages eine weitere Tür und enthüllt mehr von der Geschichte dieser besonderen Bibliothek – die Suche geht auf jeden Fall weiter.
Das Buch Die Jüdische Literatur finden Sie in LCA hier.
1 Gegründet 1873 von dem Rabbiner Esriel Hildesheimer (ab 1882 Rabbinerseminar zu Berlin) war eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für orthodoxe Rabbiner in Westeuropa (bekannt auch als Hildesheimer’sches Rabbinerseminar) 2 Irene Kaufmann, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872–1942), Band 50, Hentrich & Hentrich Verlag, 2006, S. 29. 3 Franz Kafka an Robert Klopstock, Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 19.XII.1923, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/br23-053.htm, Zugriff am 01.11.2024 4 Hartmut Bomhoff, „Das Ostsee-Erholungsheim der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums wird saniert“, Jüdische Allgemeine, 16. November 2010, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/mecklenburger-mirjamsbrunnen/, Zugriff am 01.11.2024 5 „Stichwort: Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, haGalil, http://www.hagalil.com, Zugriff am 01.11.2024
Quellen:
Irene Kaufmann: Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872-1942), 2006, Band 50, Hentrich & Hentrich Verlag
Michael Bienert: Wie der Himmel über der Erde, Kafkas Orte in Berlin, S. 20 f., (Frankfurter Buntbücher 73), Verlag für Berlin-Brandenburg, 2024
Philipp Zschommler, „NS-Raubgut an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg: Die Provenienzen im Nachlass des Rabbiners Emil Davidovic“, in: Bibliotheksdienst 54 (2020), Nr. 10, S. 793-804 https://doi.org/10.1515/bd-2020-0093
Landesarchiv Berlin und Zentral- und Landesbibliothek Berlin (Hrsg.), Datenbank zur Bergungsstelle für Wissenschaftliche Bibliotheken, https://www.bergungsstelle.de/
Bereits 2016 wurde das Buch „Roscher, Wilhelm: Nationalökonomie des Handels- und Gewerbfleißes. Aus der Reihe: System der Volkswirtschaft. Ein Hand- und Lesebuch für Studierende und Geschäftsmänner. Band 3. 6. Auflage. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger, 1892.“ in die Datenbank Looted Cultural Assets aufgenommen.
Das Werk gehört zur Sozialwissenschaftlichen Bibliothek und kam über das 1950 neu gegründete „Institut für Politische Wissenschaften Berlin“ dorthin. Nach der Integration des Instituts in die Freie Universität Berlin 1959, kam es vermutlich 1962 in die neu gebaute Bibliothek für Sozialwissenschaften. Die Zugangsbücher des Instituts sind nicht erhalten.
Acht Jahre später, im März 2024, erreichte uns eine überraschende Nachricht aus Kanada. Eine Nachfahrin der Familie von Klarwill hatte in unserer LCA-Datenbank das Exlibris von Ernst und Adele von Klarwill entdeckt, das von dem bekannten österreichischen Künstler und Illustrator Friedrich (Fritz) Pontini gestaltet wurde. Dieses Exlibris lässt sich auf den Zeitraum zwischen 1899 und 1912 datieren, also zwischen dem Jahr der Heirat von Ernst und Adele von Klarwill und dem Jahr des Todes des Künstlers.
Die Nachfahren der Familie von Klarwill standen bereits in Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen der Klassik Stiftung Weimar, die in ihren Buchbeständen die Provenienz „Bibliothek Victor v. Klarwill“ (1873 Baden bei Wien – 1933 Wien) gefunden hatten, dem Bruder von Ernst von Klarwill.
In diesem Zusammenhang hat Franz David Eschner MA BA, Archäologe und Historiker https://univie.academia.edu/FranzDavidEschner, in Wien zuständig für die Naturdenkmale der Stadt, im Auftrag seiner Tante aus Kanada den Kontakt zu vielen anderen Bibliotheken in Deutschland und Österreich wie der Wiener Stadt- und Landesbibliothek vermittelt und eigene Nachforschungen angestellt, um weitere Informationen über die Geschichte der gefundenen Buchexemplare aus der Bibliothek der Familie zu erlangen.
Ein Leben im Glanz der Wiener Gesellschaft
Hofrat Dr. (jur.) Ernst von Klarwill, geboren am 30. Juni 1869 in Wien, war der älteste Sohn des wohlhabenden jüdischen Ehepaars Isidor und Henriette Edle von Klarwill. Neben ihm hatte die Familie noch zwei weitere Söhne: Victor (geboren am 23. August 1873) und Georg Ludwig (geboren am 27. April 1876).
Zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Jurist und Ministerialbeamter beim Finanzministerium in Wien, war Ernst von Klarwill auch als Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen aktiv. Darüber hinaus schrieb er auch für die „Neue Freie Presse“ und das „Neue Wiener Tagblatt“.
Sein Vater Isidor Ritter von Klarwill (vormals Isidor Ritter von Pollak Klarwill) war ein wohlhabender Großgrundbesitzer und einflussreicher Journalist, der ursprünglich aus Prag stammte. In Wien war Isidor von Klarwill Chefredakteur und Herausgeber der politischen Tageszeitung „Fremdenblatt“, das als „Organ des Ballplatzes“ bezeichnet wurde.
In der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wurde Isidor von Klarwill am 14. August 1881 in Wien zum österreichischen Ritter Pollak von Klarwill geadelt und ersuchte 1894, den Namen Pollak aus seinem Titel streichen zu lassen. Am 27. September 1894 – vier Jahre vor seinem Tod – genehmigte Kaiser Franz Joseph I. von Österreich diesen Antrag, so dass er und seine Nachkommen sich künftig „von Klarwill“ nennen durften.
Die kaiserliche Genehmigung zur Änderung von Namen und Titeln war jedoch nicht nur ein formaler Akt, sondern reflektiert vielmehr einen umfassenderen gesellschaftlichen Wandel unter der Schirmherrschaft des Kaisers, der sich für die Rechte der jüdischen Bürger einsetzte. Gleichzeitig spiegelte die Namensänderung den Wunsch nach Anerkennung und Emanzipation der jüdischen Bevölkerung wider. Sie ist aber auch im Kontext des aufkommenden Antisemitismus in Wien um die Jahrhundertwende zu sehen. Häufig ging ein solcher Namenswechsel auch mit einer Taufe einher. So ließ sich Ernst von Klarwill im selben Jahr, am 28. Juli 1894, katholisch taufen.
Fünf Jahre später, am 2. Oktober 1899 begann für Ernst von Klarwill ein neuer Lebensabschnitt, als er in der Votivkirche in Wien der damals 23-jährigen Adele Julie Bab, das Ja-Wort gab. Adele Bab war zuvor, am 27. Mai 1899, katholisch getauft worden.
Das Paar lebte wohlhabend und war aktiv in der kulturellen Szene Wiens eingebunden. Sie residierten u. a. in der eleganten Tulpengasse 5 im 8. Bezirk, bekannt als Josefstadt, einem der angesehensten Viertel Wiens, wo Beamte und Künstler der Wiener High Society zu Hause waren.
1930 sind im Häuser-Kataster der Stadt Wien für den VIII. Bezirk, die drei Brüder Ernst, Victor und Georg von Klarwill als Eigentümer benannt. Das Gebäude diente der Familie von Klarwill als Familiensitz.
Die Ehe von Ernst und Adele blieb kinderlos. Adele beendete, laut Sterbebuch, am 23. Mai 1936 mit dem Freitod im Hotel Kummer ihr Leben. Die Gründe für diesen Schritt sind nicht bekannt. Sie wurde in der Familiengruft auf dem Friedhof Wien Döbling beigesetzt. Ernst heiratete nach dem Tod Adeles nicht wieder und lebte bis zu seinem eigenen Tod am 17. März 1940 in der Tulpengasse 5.
Nur wenige Jahre zuvor verstarben seine beiden Brüder: Georg Ludwig von Klarwill am 26. Januar 1932. Georgs Ehefrau Hildegard Ruscha Stephanie von Klarwill, geb. Goldschmidt war bereits am 22. August 1914 in Wien an Diphterie gestorben. Ihr Sohn Peter Ernst Georg Victor von Klarwill, geboren am 10. Februar 1909 in Wien, verließ Österreich und floh 1938 nach Neuseeland. Er verstarb am 11. September 1992 in Wellington, Neuseeland.
Victor von Klarwill verstarb nur ein Jahr nach seinem Bruder Georg, am 25. März 1933. Seinem Sohn Victor Isidor Ernst von Klarwill (02.06.1902 Wien – 1985 Eastborne, GB) gelang 1938 die Ausreise nach Kenia. Er floh 1938 zuerst nach Italien und von dort nach Nairobi. Seine Mutter Elsa (29.04.1877 Wien – 08.04.1945 Nairobi, Kenia) konnte ihm 1939 folgen. Victor Isidor war seit 1935 mit Fredericke Victoria Gesser (20.01.1910 Troppau – 03.01.1980 Kenya) verheiratet – das Paar blieb kinderlos und ließ sich 1938 scheiden. In zweiter Ehe war Victor von Klarwill ab 1944 mit Rachel von Klarwill, geborene Sutton (30.07.1905 London, GB – 10.1988 Eastborne, GB) verheiratet. Aus dieser Ehe stammt die Tochter Victoria Elsa von Klarwill, geboren am 8. April 1945 in Nairobi, dem Sterbedatum Ihrer Großmutter Elsa von Klarwill.
Verfolgung und Enteignung im Nationalsozialismus
Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 begann die systematische Verfolgung und Enteignung jüdischer Bürgerinnen und Bürger. Dieses Schicksal ereilte auch die Familie von Klarwill, sie wurde auf ihre jüdischen Wurzeln reduziert und fortan verfolgt.
Aufgrund der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938“ war Ernst von Klarwill trotz seiner Konversion zum katholischen Glauben gezwungen, als Jude eine Vermögenserklärung abzugeben. Nach Auskunft des Österreichischen Staatsarchivs vom April 2024 ist in der „Vermögensanmeldung 12.937 betreffend Ernst Klarwill (*30.06.1869)“ vom 12. Juli 1938 auch eine Bibliothek aufgeführt, die mit 1.200 RM bewertet wird. Eine Auflistung der genauen Titel fehlt jedoch, und es sind keine Informationen zur Veräußerung der Bibliothek bekannt.
Die „Dritte Anordnung auf Grund der Verordnung zur Abgabe des Vermögens von Juden vom 21. Februar 1939“ zwang Dr. Ernst von Klarwill am 15. März 1939 zum Zwangsverkauf seiner ihm verbliebenen Wertgegenstände über das von der NSDAP kontrollierte Auktionshaus Dorotheum in Wien. Der Zwangsankauf wurde am 15. März 1939 laut Liste der „Öffentlichen Ankaufsstelle nach § 14 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens“ von der „Schätzstelle für Juwelen“ des Auktionshauses Dorotheum vollzogen.
Das Dorotheum in Wien diente als zentrale Verwertungsstelle für enteignete Vermögenswerte in der „Ostmark“. Es versteigerte beschlagnahmte sowie zwangsverkaufte Besitztümer entrechteter „Jüdinnen“ und „Juden“ und anderen NS-Verfolgten. Als Kommissionär kassierte es Provisionen und leitete die Erlöse an das Deutsche Reich weiter.
Im November 1938 versuchte Ernst von Klarwill, seinen Lebensunterhalt zu sichern, indem er eine Korrektur seiner Vermögenserklärung einreichte und um eine Befreiung von der Kontributionsabgabe für Juden bat. Ob dieser Bitte entsprochen wurde, ist nicht bekannt.
Dr. Ernst von Klarwill verstarb am 17. März 1940 im Familienwohnsitz in der Tulpengasse 5 in Wien. In der standesamtlichen Sterbeurkunde wird zwar sein Titel sowie seine konfessionelle Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche vermerkt, jedoch finden sich auch der ursprüngliche Familienname „Pollak“ und der diskriminierende Zweitname „Israel“, der jüdischen Männern auferlegt wurde.
Nachdem sein Vermögen unter Wert zwangsverkauft werden musste, wurde ihm nicht nur sein Besitz, sondern auch der durch den Kaiser garantierter Familienname wieder entzogen, was die umfassende Diskriminierung widerspiegelt, der er in der NS-Zeit ausgesetzt war.
Am 23. August 2024, 84 Jahre nach dem Tod von Ernst von Klarwill, konnten wir das Buch persönlich an Andrea Voros, als Vertreterin der Familie von Klarwill, zurückgegeben. Sie kam zu uns in die Universitätsbibliothek und nahm das Buch, das einst Ernst und Adele von Klarwill gehörte, in Empfang.
Im März 2024 fand unser Kollege Ulrich Benkenstein von der Fachbibliothek Sozialwissenschaften und Osteuropastudien ein kleines, unscheinbares, blau eingebundenes Buch mit dem Titel „Russland von Heute. Das Reisetagebuch eines Politikers (1929)“. In dem Buch ist die folgende Widmung niedergeschrieben: „Herrn Alfred Kerr in warmer Verehrung. Berlin, den 4. Februar 1930. Erich Koch-Weser“.
Laut Zugangsbuch wurde das Buch 1962 im Reise- und Versandbuchhandel Dr. Hubert Jux erworben. Wie es dorthin gelangte, ist nicht mehr zu klären.
Der Name Kerr versetzte uns in Aufregung, denn es handelte sich um den zu seiner Zeit in Berlin überaus bekannten Theaterkritiker, Journalisten und Schriftsteller Alfred Kerr. Er war eine der einflussreichsten Stimmen im deutschen Kulturbetrieb. Er wurde für seinen bissigen Humor wie für seine Verrisse gleichermaßen geschätzt und gefürchtet.
Seine Lebensgeschichte ist, wie die vieler deutscher Intellektueller mit jüdischem Familien-Background, geprägt von dem kulturellen und intellektuellen Aufblühen Deutschlands und der Verfolgung ab 1933.
Als Alfred Kempner am 25. Dezember 1867 in Breslau geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend dort und kam 1887 nach Berlin, um hier sein in Breslau begonnenes Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik fortzusetzen. 1894 schloss er sein Studium in Halle mit einer Promotion zur Jugenddichtung Clemens Brentanos als Dr. phil. ab.
Schon während des Studiums schrieb er, unter dem Namen Alfred Kerr, Theaterkritiken für die Vossische Zeitung, die Neue Rundschau, die Breslauer Zeitung und die Königsberger Allgemeine Zeitung. Ab 1900 für die Berliner Zeitung Der Tag.
1911 wurde er Mit- und Herausgeber der Kunst und Literaturzeitschrift Pan. Er war Förderer von Robert Musil, Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann. Er schrieb ab 1919 für das Berliner Tageblatt und für die Frankfurter Zeitung. Parallel veröffentlichte er seine Werke unter dem Titel Die Welt im Licht, New York, London, O Spanien!, Yankee-Land, den Gedichtband Caprichos und den Band Für Alfred Kerr. Ein Buch der Freundschaft von seiner Kindheit und Jugend.
In zweiter Ehe heiratete er 1920 die Komponistin Julia Weismann (1898–1965). Das Paar hatte zwei Kinder: Michael Kerr (1921–2002) und Judith Kerr (1923–2019). Er wurde später Richter am High Court in Großbritannien, sie Schriftstellerin und Künstlerin.
Neben seiner schriftstellerischen Arbeit bezog er ab 1920 bis zum Sommer 1932 in seinen pointierten Glossen für den Berliner Rundfunk Stellung gegen die Nazis, ihren Größenwahn, ihre Brutalität und die Kriegstreiberei.
Nicht zuletzt dies hatte fatale Folgen. Am 10. Mai 1933 wurden seine Werke von den Nationalsozialisten verbrannt; drei Tage später setzte der Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler ihn auf die Liste der Autoren, deren Werke „für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten seien“. Seine Bücher wurden umgehend aus den öffentlichen Bibliotheken ausgesondert.
Er ahnte, was ihm bevorstehen würde und floh bereits im Februar 1933 über Prag in die Schweiz. Seine Familie folgte ihm im März. Nach Stationen in Zürich und Paris, gelangte die Familie 1935 nach London. Kerr arbeitete für verschiedene Zeitungen, u.a. für das Pariser Tageblatt, Le Figaro, Le Temps und Les NouvellesLittéraires und die jüdische Wochenzeitung Aufbau in New York. Er war Präsident des Deutschen P.E.N.-Club im Exil in London (1941-1946). Ab 1945 arbeitete Kerr für die deutschen Tageszeitungen Die Welt und Die Neue Zeitung. 1947 wurde er britischer Staatsbürger. Alfred Kerr starb während einer Vortragsreise durch Deutschland am 12. Oktober 1948 in Hamburg.
Unsere ersten Recherchen zur Bibliothek von Alfred Kerr ließen uns vermuten, dass es sich hier um einen Notverkauf gehandelt haben muss. Für viele ExilantInnen war das der einzige Weg, um ein wenig Geld für die Emigration flüssig zu machen. In den meisten Fällen wurden Bibliotheken, Kunst, Immobilien und andere wertvolle Besitztümer weit unter dem tatsächlichen Wert und unter ökonomischem Zwang veräußert.
Bereits 2007 wurden in der Staatsbibliothek zu Berlin 166 Bände identifiziert, die aus Kerrs Besitz stammten und im Jahrbuch der Staatsbibliothek für 1933 als Erwerb „aus der Bücherei eines Berliner Theaterkritikers“ ausgewiesen waren. Heute sind davon nur noch 88 Bände vorhanden, 78 sind in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verloren gegangen. In Übereinkunft mit Kerrs Tochter Judith wurden die 88 Bücher an das Archiv der Akademie der Künste übergeben, das den künstlerischen Nachlass von Alfred Kerr verwahrt.
2024 konnten wir Judith Kerr, die in der Zwischenzeit verstorben war, leider nicht mehr kontaktieren. Stattdessen traten wir mit Alfred Kerrs Enkel Matthew Kneale, selbst Autor, in Kontakt. Mit ihm haben wir vereinbart, das Buch zu den bereits vorhandenen Büchern im Archiv zu geben.
Am 20. Juni war es dann soweit, zusammen mit meinem Kollegen Ulrich Benkenstein haben wir das Buch an Susanne Thier, die Leiterin der Bibliothek der Akademie der Künste, und die Provenienzforscherin der Akademie der Künste, Doris Kachel, übergeben.
Wir sind froh, dass wir das Buch in den Teilbestand von Alfred Kerrs ehemaliger Bibliothek einreihen konnten, obwohl die Bibliothek vermutlich nicht mehr vollständig rekonstruierbar ist und viele der Bücher nicht mehr existieren. In der Bibliothek der Akademie der Künste ist sichergestellt, dass die Bücher für die Nachwelt bewahrt und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Während des Zweiten Weltkriegs rivalisierten deutsche NS-Institutionen in den besetzten Ostgebieten um wertvolle Beutestücke. Ab 1942 beauftragte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) Beschlagnahmungen von Kulturgütern, bei dem das Sonderkommando Künsberg eine zentrale Rolle spielte. Dieses SS-Sonderkommando, das dem Auswärtigen Amt und später der Waffen-SS unterstellt war, richtete Depots von Baltikum bis zur Krim ein, um die Kriegsbeute für den Abtransport nach Deutschland vorzubereiten. Inmitten dieser Machenschaften wurden im August 1944 Tausende Bücher der Universität Lettlands (lettisch Latvijas Universitāte) unter dem Vorwand der Evakuierung als Kriegsbeute nach Deutschland gebracht und galten als unwiederbringlich verloren.
Eines dieser Beutebücher wurde in der Fachbibliothek Biologie am Botanischen Garten, eine der Fachbibliotheken der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin entdeckt: das Buch „Handbuch von Polen“, versehen mit einem Stempel des Hygiene-Instituts der Waffen-SS. Es ist eines von mehreren Büchern mit Herkunftsspuren aus dem Hygiene-Institut der Waffen-SS, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bibliothek des Botanischen Gartens gelangten. Dieses Exemplar ist jedoch bisher das einzige, bei dem ein eindeutiger NS-Beutegut-Hintergrund aus Riga, Lettland, nachgewiesen werden konnte.
Während des Zweiten Weltkriegs führten Mitarbeiter des berüchtigten Hygiene-Instituts der Waffen-SS menschenverachtende Experimente in Konzentrationslagern und anderen Einrichtungen durch. Der Institutsleiter Joachim Mrugowsky und weitere Mitglieder wurden nach dem Krieg im Nürnberger Ärzteprozess für ihre Verbrechen verurteilt und hingerichtet. Joachim Mrugowsky hatte Ludwig Diels, dem Direktor des Botanischen Gartens Berlin (1921-1945), bereits 1943 angeboten, für den Wiederaufbau von dessen kriegszerstörter Bibliothek Bücher „aus russischen Antiquariaten“ zu beschaffen. Damit war sicherlich NS-Beutegut aus besetzten Ostgebieten gemeint. Das Buch trägt zwei Eigentumsstempel der Bibliothek der Universität Lettlands in Riga, was eindeutig auf seine Herkunft als Kriegsbeute hinweist.
Der erste Eigentümer war das Institut für Physische Geographie und Geonomie der Universität (1922-1935), das sich 1935 in zwei separate Institute aufteilte: das Institut für Geographie und das Institut für Geophysik und Meteorologie. Dementsprechend inventarisierte die Bibliothek des Instituts für Geographie dieses Buch in ihren Bestand – dies erklärt das Durchstreichen des Stempels (Provenienz 1), und der Stempel der neuen Struktureinheit: Bibliothek des Instituts für Geographie (Provenienz 2).
Ein weiterer Hinweis auf seine Herkunft ist ein Etikett der renommierten Buchhandlung Ludwig Friederichsen & Co. in Hamburg.
Die Herkunftskette des Buches lässt sich teilweise rekonstruieren. Es wurde 1917 vom Reimer Verlag veröffentlicht und höchstwahrscheinlich von der Universität Lettland durch die Buchhandlung Ludwig Friederichsen & Co.Hamburg erworben. Während der deutschen Besatzung Lettlands gelangte es als Kriegsbeute in den Besitz der Bibliothek des Hygiene-Instituts der Waffen-SS nach Berlin. Die Universität Lettland hat bei der Bestandsaufnahme 1945 das Buch aus dem Inventar ausgesondert, da es nicht mehr auffindbar war.
Nach Kriegsende wurden die Buchbestände des Hygiene-Instituts der Waffen-SS an das Bezirksamt Zehlendorf übertragen und von dort weiterverteilt. 1946 wurde das Buch im Zugangsbuch unter der lfd. Inventarnummer 848, Lieferant: Bezirksamt Zehlendorf in die Bibliothek des Botanischen Gartens Berlin aufgenommen.
Das Buch aus der Fachbibliothek Biologie am Botanischen Garten ist hier in der LCA-Datenbank zu sehen.
Nach mehr als 75 Jahren gab die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin im April 2024 das Buch an die Bibliothek der Universität Lettland zurück. Für beide Universitäten markiert dies einen bedeutsamen Moment, da es sich um das erste Buch aus den einst geplünderten Beständen der Universität Lettland handelt, das zurückgegeben wird.