Ein Beitrag von Anna M.
Es handelt sich um den Unterricht einer 3./4. Klasse der Klinikschule eines Krankenhauses. Kinder, die sich zur Zeit in psychiatrischer Behandlung befinden, besuchen die Klinikschule vormittags. Sieben Kinder befinden sich insgesamt in der Klasse, jedoch nimmt nicht jedes Kind der Klasse an jeder Unterrichtsstunde teil. Maximal fünf Kinder kann eine Lehrkraft übernehmen.
Ein sehr ruhiger und zurückhaltender Schüler im Alter von 12 Jahren mit diagnostizierten Depressionen besucht seit 2 Wochen die Klinikschule. Die Klassenlehrer der einzelnen Klassen sind dazu verpflichtet, Kontakt zu den Lehrkräften und Klassenlehrer_innen der Heimatschule aufzunehmen. Über ein telefonisches Gespräch soll herausgefunden werden, über welchen Leistungsstand das Kind verfügt und an welche Lerninhalte angeknüpft werden kann. Die Lehrkraft des genannten Schülers sagt beim telefonischen Gespräch aus, dass der Schüler das schriftliche Multiplizieren nicht beherrsche. Er würde es nicht verstehen und kein Talent dafür besitzen.
So wurde die schriftliche Multiplikation der Punkt, an dem wir versuchten anzuknüpfen. Ich setzte mich mit dem Schüler in einer Schulstunde zusammen. Die Klassenlehrerin sprach mit den restlichen zwei Schüler_innen über ein anderes Thema, während wir uns mit der schriftlichen Multiplikation auseinandersetzten. Da die Klassenlehrerin die Tafel nicht benötigte, schlug ich vor, an der Tafel zu arbeiten. Daraufhin verschlug der Schüler die Arme und weigerte sich. Ich bot ihm die Möglichkeit an, in seinem Heft zu arbeiten, aber auch das verweigerte er. Ich führte einige Minuten lang ein Gespräch mit ihm darüber, warum er nicht an der Tafel und nicht im Heft arbeiten wolle und es stellte sich heraus, dass es ihm auf der Tafel zu groß und wuchtig war und ihn genauso auch das Schreiben in den zu kleinen Kästchen störte.
Also überlegte ich mir eine Alternative, die weder großformatig war, noch kleine Kästchen besaß. Schließlich präsentierte ich ihm das Whiteboard für den Tisch, von dem er begeistert war. Das Whiteboard weckte sofort sein Interesse und wir konnten anfangen. Die gesamte Zeit war der Schüler aufmerksam und motiviert bei der Sache und so begriff er schon nach zwei einfachen Beispielen das Prinzip der schriftlichen Multiplikation. Er durfte zuerst Beispielaufgaben selbst wählen, über die wir dann gemeinsam sprachen und schließlich konnte er von mir gewählte Aufgaben auch selbstständig lösen.
Nachdem er einige Aufgaben mit sichtlichem Spaß gelöst hatte, schlug ich vor, auf kariertes Papier umzusteigen. Ich erklärte ihm dafür, dass wir genau wie beim Whiteboard gemeinsam anfangen werden. Ich erfuhr, dass der Schüler nicht gerne in Kästchen schrieb, weil ihm noch nie erklärt wurde, wie die Zahlen in einem Kästchen stehen müssen. Mit dem gleichen Prinzip gingen wir einige Aufgaben gemeinsam durch, mit dem einzigen Unterschied, dass der Fokus nicht auf dem Lösen der Aufgaben lag – das konnte er ja bereits – sondern darauf, wie man die Aufgaben und ihren Lösungsweg in die Kästchen schrieb. Auch das verstand der Schüler recht schnell und löst seitdem auch andere Matheaufgaben selbstständig in seinem Heft.
Meine Einsichten und Folgerungen
Es handelt sich bei dem Schüler um ein Kind, welches sehr schüchtern ist und dadurch Probleme hat, sich auszudrücken. Die Klassenlehrerin der Heimatschule hat seine Verweigerung als ein Nicht-Können gedeutet, obwohl es lediglich an der medialen Art und Weise lag, weshalb der Schüler die Thematik nicht verstehen wollte.
Für die Arbeit mit zurückhaltenden Kindern ist es wichtig, sie als Individuum zu betrachten und genau zu erkennen, was für die Förderung des Kindes am besten ist. Dies erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kind und seinen Fähigkeiten sowie Bedürfnissen.
Durch das Gespräch, welches ich mit dem Schüler zu Beginn geführt habe, habe ich erkannt, wie wichtig es ist, sich mit jedem Kind einzeln auseinanderzusetzen und jedes als einzelnes Individuum zu betrachten. Mir ist durch diesen Fall klargeworden, dass jedes Verhalten immer wieder andere Ursachen aufweisen kann.
Als zukünftige Lehrkraft möchte ich offen mit meinen Schülerinnen und Schülern umgehen, eine vertraute Beziehung zu ihnen aufbauen und ihnen so verdeutlichen, dass sich die meisten auftretenden Probleme über Kommunikation miteinander lösen lassen. Mir ist außerdem klargeworden, dass Probleme oftmals viel einfacher zu lösen sind als vorerst angenommen. So hat es bei dem beschriebenen Schüler keinesfalls an Fähigkeit gemangelt, sondern lediglich an der Art und Weise der Wissensvermittlung. Es sollten nie die gleichen Erwartungen an alle Schüler_innen gestellt werden, da dadurch leicht Missverständnisse und Barrieren entstehen, die für die Schüler_innen allein nur sehr schwer zu bewältigen sind. Es ist somit wichtig, als Lehrkraft individuell angepasste Erwartungen zu stellen, immer wieder offen für Neues zu sein und sich ehrlich für die Schüler_innen zu interessieren sowie sich intensiv mit ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen.
Meine Anschlussfragen
- Wird der Schüler weiterhin mit kariertem Papier arbeiten wollen?
- Wirkt sich die individuelle Arbeit auf seine Motivierung aus und trägt zu seiner Heilung bei?
- Wird der Schüler zukünftig in der Lage, Bescheid zu sagen, wenn ihm etwas nicht passt?
- Wie wird sich der Aufenthalt in der Klinikschule auf sein Leben und sein Verhalten in der Heimatschule auswirken?