Ein Beitrag von Ilka L.
Um neue klassenübergreifende „rules & regulations“ für die Schule aufzustellen, haben die Schüler*innen in Gruppen ihre Ideen ausgearbeitet und der Klassenlehrerin ausgehändigt. Eine Gruppe von Jungen hatte die Gelegenheit genutzt, um sich über die Stuhlkreise zu beschweren, die der Organisation und Mitteilung von Informationen dienen, die jedoch ihrer Meinung nach zu viel Zeit in Anspruch nehmen würden. Die Klassenlehrerin nahm sich dies zu Herzen und informierte die Schulleiterin über dieses Anliegen, die folglich am darauf folgenden Stuhlkreis teilnahm.
Dabei handelte es sich um eine Gruppe von Jungen aus der 9. Klassenstufe, unter denen sich Max (Name geändert) auffallend oft beschwerte. Die gesamte Klasse nahm sich folglich Zeit, um über das Anliegen zu diskutieren. Max war besonders genervt davon, dass Inhalte häufig wiederholt wurden. Gleichzeitig wurde in derselben Sitzung immer wieder klar, dass ER ständig nachfragte, weil ER nicht zuhörte. Das wiederum verärgerte einige aus der Peer-Gruppe. Die Schulleiterin war dennoch sehr darauf bedacht, eine Lösung für die Verkürzung der Stuhlkreise zu finden. Es wurden verschiedene Vorschläge eingebracht, beispielsweise eine/n Zeitwächter*in zu bestimmen. Max war jedoch gegen jeden Vorschlag und seine Begründung lautete jedes Mal: „Das bringt doch sowieso nichts.“ Am Ende wurde sich darauf geeinigt, dass neue und wichtige Informationen auf ein großes Plakat geschrieben werden und jeder selbst verantwortlich ist, sich zu informieren. Als es um die Bestimmung eines/r Verantwortlichen für das Info-Plakat ging, wurde eine gewisse Erwartungshaltung der Gruppe gegenüber Max deutlich. Er weigerte sich mit der Begründung: „Das bringt doch sowieso nichts.“ und die Aufgabe wurde folglich von zwei anderen Schülerinnen übernommen.
Die Schulleiterin machte darauf aufmerksam, dass es nicht effektiv ist, dagegen zu sein und keine Lösungsvorschläge zu erbringen und richtete sich dabei explizit an die Gruppe der Jungen um Max. Außerdem wies sie sie darauf hin, dass es kein faires Verhalten gegenüber den anderen sei, die sich alle eine Stunde Zeit genommen haben, um über dieses Anliegen zu diskutieren, während sie sich jedoch nicht konstruktiv beteiligen würden. Dennoch wirkte das nicht wie eine Moralpredigt, sondern vielmehr wie ein Gespräch auf Augenhöhe, was auch mit dem Montessori-Konzept (der Schule) zu tun hat, was sich z.B. darin zeigt, dass sich alle duzen und eine angstfreie, diskussionsfreudige Atmosphäre herrscht.
Meine Einsichten
Ich hatte den Eindruck, dass es nicht um die Problematik der Stuhlkreise an sich ging, sondern dass die Gruppe der Jungen gehört und ernst genommen werden wollte. Vielleicht ging es den Jungen vielmehr darum, zu testen, ob sie gehört werden. Wahrscheinlich war dies allen Beteiligten klar, aber die Reaktion der Lehrpersonen stellte eine Art Lektion für alle dar. Es zeigte sich, dass Kritik ernst genommen wird, Regeln bzw. Situationen tatsächlich wandelbar und nicht statisch sind, wodurch Engagement und Teilnahme sinnvoll werden und dahingehende Motivierung stattfindet. Der Einstellung „Das bringt sowieso nichts“ wurde genau damit entgegengewirkt, auch wenn sich diese Einstellunge akut bei Max und seiner Gruppe (vor allem altersbedingt) nicht verändern wird.
Meine Folgerungen
Die Reaktion der Klassenlehrerin und der Schulleiterin führten dazu, dass Max und die Gruppe den Eindruck vermittelt bekamen, dass sie bei Einwänden und Kritik ernst genommen werden, aber auch, dass jede Form des Handelns Konsequenzen nach sich zieht. Außerdem geht es darum selbst ins Handeln zu kommen, denn bloßes Beschweren aus Prinzip erweist sich als ineffektiv. Obwohl wahrscheinlich allen Beteiligten klar war, dass Max nicht von seiner „Anti-Haltung“ abzubringen ist, und eher aus Prinzip dagegen ist und nicht motiviert ist, sich selbst zu engagieren, scheint mir die Reaktion nachhaltig sinnvoll: Denn nicht ernst genommen zu werden oder abgewertet zu werden, wäre für die Entwicklung von Jugendlichen kontraproduktiv und würde lediglich zu mehr Frustration führen. Die Schulleiterin begegnete den Jugendlichen dabei auf Augenhöhe. Als Außenstehende wirkte es für mich wie ein Gespräch zwischen Erwachsenen, indem die Schulleiterin genau diesen Eindruck gegenüber den Schüler*innen vermittelte, obwohl diese sich altersgemäß unreifer verhielten. Gerade Schüler*innen in dieser Altersgruppe ist das aber sehr wichtig und ich folgere daraus, dass ein effektives und nachhaltiges Ergebnis erzielt wird, wenn Schüler*innen auf Augenhöhe begegnet wird und die Meinungen und Anliegen von allen gleich ernst genommen werden. Sicherlich können Diskussionen dann anstrengender sein, als Beschlüsse allein zu fassen und auch der resultierende Kompromiss oder die Veränderung, wie in diesem Falle (Plakate schreiben und lesen, statt gemeinsam miteinander zu sprechen) können sich als nicht zufriedenstellend erweisen, aber es geht schließlich darum, Dinge auszuprobieren und zu optimieren. Zudem ist die Unzufriedenheit sicherlich geringer, wenn man selbst dafür verantwortlich ist, ganz egal ob bei Erfolg oder Misserfolg, denn man nimmt eine aktive Rolle ein.
Meine Anschlussfragen
Mir scheint es, dass in dieser Klasse sehr viel Zeit dafür verwendet wird, um darüber zu diskutieren, wie man was macht. Aus den bereits genannten Gründen halte ich das für sehr sinnvoll, dennoch habe ich den Eindruck, dass es häufig nicht zielführend ist und ich frage mich außerdem, ob der Fachunterricht dabei zu kurz kommt.
Außerdem stelle ich mir die Frage, wie man gut bzw. fair zwischen Aufmerksamkeit und Ignoranz abwägt. Einerseits scheint es wichtig, rebellischen und unzufriedenen Jugendlichen Aufmerksamkeit zu schenken und ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass sie ernst genommen werden, um Frustration entgegenzuwirken. Andererseits ist es nicht fair, dass immer die Personen, die am lautesten sind, im Mittelpunkt stehen, wodurch ruhigere und zurückhaltende Schüler*innen in den Hintergrund geraten. Es sollte nicht der Eindruck vermittelt werden, dass man auf die Weise seinen Willen immer durchsetzen kann.