„Boah, das wusste ich ja gar nicht … krass!“

Ein Beitrag von Jonas H.

Wie jeden Montag in meiner Praktikumszeit saß ich in der fünften Stunde im zweiten Obergeschoss des Schulgebäudes und begleitete die achte Klasse von Herrn R. Nur etwas war anders dieses Mal. Es saß ein Schüler allein in der ersten Reihe, den ich noch nicht kannte. Er war fast doppelt so groß und doppelt so schwer wie seine Klassenkamerad*innen. Alle Schüler*innen hatten ihre Federtaschen und Hefter an ihren Tischen bereitgelegt nur der „Neue“ nicht. Er besaß lediglich einen einzigen Bleistift.

Der Unterricht begann und der Lehrer erklärte den Arbeitsauftrag. Die Schüler*innen wussten schon, was sie zu tun hatten (da es letzte Stunde besprochen wurde) und setzten sich schleunigst in ihre Tischgruppen (ein besonderes Konzept der Schule). Nur der Schüler in der ersten Reihe blieb allein. Der Lehrer ging auf ihn zu und erklärte ihm in aller Ruhe den Arbeitsauftrag. Während er erklärte, hockte er sich hin und redete freundlich und gelassen auf ihn ein. Auf einmal hörte ich den Jungen sagen „Boah, das wusste ich ja gar nicht … krass!“ Der Lehrer lachte auf und der Schüler fing an zu arbeiten.
Man mag sich wundern, warum ich mich für diese Situation entschieden habe, scheint sie doch zunächst unspektakulär zu sein. Doch dabei ist es wichtig, die Hintergründe zu verstehen, die auch ich erst nach dem Unterricht erfuhr. Wieso saß der Junge allein und wieso bekam er eine Sonderbehandlung?
Dieser Schüler wurde vom Unterricht suspendiert, weil er auf dem Schulhof in mehrere Schlägereien verwickelt war und mit einem Schlagring das Schulgelände betreten hatte. Es war nicht die erste Schule, in die er sich nicht integrieren konnte. Er lebte nicht bei seinen Eltern, sondern in einer Wohngemeinschaft und wurde auch dort herausgeworfen wegen stark auffälligen Verhaltens. Er durfte nur noch bis zum Ende des Schuljahres eine
Unterrichtsstunde pro Woche besuchen und wurde jedes Mal von einem Sozialarbeiter zum Unterricht gebracht.

Meine Einsichten

In Anbetracht dieser Tatsachen, hat es mich beeindruckt und berührt zu sehen, inwieweit es dem Lehrer gelungen ist, durch warmherzige Worte und Aufmerksamkeitslenkung einen Jungen kognitiv zu aktivieren und zu motivieren, der sonst schwer – nicht nur in das Schulkonzept, sondern auch generell in soziale Strukturen – einzugliedern ist. Auch wenn der Junge nicht viel geschafft hat in dieser einzelnen Unterrichtsstunde, denke ich, kann man seine Lernerfahrung doch als Erfolg verzeichnen. Dem Lehrer ist es gelungen sein Handlungsprogramm ohne Störungen vollziehen zu können und zusätzlich hat er es geschafft, dem Schüler durch Aufmerksamkeitslenkung (persönliche Ansprache) und Weckung von Interesse mit einzubeziehen und gleichzeitig zu motivieren. Auffallend war auch seine Körpersprache, die deutliches Wohlwollen signalisierte und so die Grundlage für ein funktionierendes Arbeitsbündnis geschaffen hat.

Meine Folgerungen

Ich ziehe daraus die Erkenntnis, dass man es schaffen kann, durch Sensibilität, Respekt und Schaffen von Vertrauen auch Schüler*innen zu motivieren, denen es schwer fällt, sich in soziale Strukturen einzugliedern.

Meine Anschlussfragen

Nach dieser Unterrichtsstunde fragte ich mich, wie viele Schüler*innen wohl jährlich denselben harten Weg gehen müssen wie dieser Junge und wie viele von ihnen es wohl nie schaffen werden, ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Und genau aus diesem Grund und der Erfahrung, die ich mit der Lehrperson und dem Schüler machte, denke ich, dass es enorm wichtig ist, dass eine Lehrkraft in solchen Situationen so feinfühlig handelt wie eben dieser Lehrer. Ich denke, der Schüler hatte nach dieser Unterrichtsstunde möglicherweise nicht das Gefühl, unbedeutend zu sein. Und ich denke, solche kleinen Momente sind es, die (summiert) dazu führen könnten, ihn auf den richtigen Weg zu bringen.

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