Nothilfe in und für die Ukraine – Lessons to Learn für den deutschen Zivil-/Bevölkerungsschutz

Cordula Dittmer & Daniel F. Lorenz 

Am 23. April 2024 fand im Rahmen der Fachtagung Katastrophenvorsorge eine von Daniel F. Lorenz und Cordula Dittmer organisierte Session zur Nothilfe in der Ukraine und der Frage, welche Lehren aus den Erfahrungen für den deutschen Zivilschutz gezogen werden können, statt. Dazu wurden durch vier verschiedene Fachvorträge der Diakonie Katastrophenhilfe (DKH), der Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH), des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) sowie der Katastrophenforschungsstelle (KFS) konkrete Nothilfemaßnahmen in der Ukraine vorgestellt und verschie-dene Aspekte möglicher Lehren für Deutschland diskutiert.   

Die folgenden Ziele wurden mit der Session verbunden:

  1. Diskussion humanitärer Hilfe unter Kriegsbedingungen: Viele humanitäre Organisationen, Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und des Bevölkerungsschutzes waren z. T. bereits vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 in der Ukraine aktiv, während andere nach 2014 hinzukamen oder seit 2022 involviert sind. Dennoch gerät die seit nunmehr über zwei Jahren andauernde Eskalation des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zunehmend aus dem Fokus der Welt-, aber vor allem auch Fachöffentlichkeit. Diese Arbeit, nun unter Kriegsbedingungen für die humanitäre Nothilfe, in die Diskussion (zurück) zu bringen, war ein zentrales Anliegen der Session.
  2. Möglichkeiten und Grenzen humanitärer Hilfe in Räumen, in denen das humanitäre Völkerrecht von Kriegsparteien missachtet wird: Anschließend ergeben sich für humanitäre Akteure neue Fragen und Herausforderungen, wie humanitäre Hilfe möglich ist, wenn die humanitären Prinzipien (insbesondere der Neutralität und der Unabhängigkeit) wie im Kontext der Ukraine nur noch schwer eingehalten werden können – und das humanitäre Völkerrecht, welches die Helfenden schützen sollte – von Russland de facto außer Kraft gesetzt oder diesem bewusst als Teil der Kriegsführung entgegengehandelt wird. 
  3. Beitrag zur Diskussion des Zivilschutzes in Deutschland: Dieser Krieg führt auch zu einem Überdenken bislang geltender Überzeugungen in Deutschland: Die seither nur sehr wenig diskutierte Frage, wie gut Deutschland für einen Kriegsfall gerüstet wäre, wird nun deutlich stärker – auch für den zivilen Bereich – öffentlich diskutiert. Zwar gab es Zivilschutzplanungen zu Zeiten des Kalten Krieges, es stellt sich jedoch gegenwärtig die Frage, wie gut diese auf die heutige Zeit und Gesellschaft übertragbar wären – und ob nicht das Lernen aus dem Internationalen hier deutlich umfassendere Erkenntnisse bringen könnte. Verschiedene Themenfelder, die sich hier anbieten würden, sind z. B. die medizinische Versorgung von Personen mit kriegsbedingten Verletzungen resp. unter Kriegsbedingungen, die Evakuierung älterer und vulnerabler Personen, der Betrieb von „Katastrophenschutzleuchttürmen“ unter extremen Bedingungen und Warnung. Diese Themenfelder wurden neben anderen in den Vorträgen adressiert (siehe unten).
  4. Etablierung und Ausbau der sozialwissenschaftlichen Zivilschutzforschung: Dazu gehört erstens die Stimulation einer wissenschaftlichen Debatte über den Zivilschutz unter Einbezug von Erkenntnissen der Sozial- und Politikwissenschaften, der Friedens- und Konfliktforschung oder der Katastrophenforschung, um dieses Feld überhaupt erst zu etablieren. Dies scheint insbesondere für den deutschen Kontext im Angesicht der Verbrechen der Nationalsozialisten sowie der nationalen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg schwierig, da sich diese anders ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben, als dies für andere europäische Mitgliedsstaaten gilt. Wir verstehen Zivilschutz zweitens sozialwissenschaftlich als „soziale Frage“ (Clausen 1994) mit der entsprechenden Etablierung von sozialen Praktiken, d. h. wir gehen davon aus, dass sich Zivilschutz nicht allein in staatlichen Strukturen und Planungen erschöpft, sondern sich situativ in der Bevölkerung verschiedene funktionale soziale, vielfach informelle Praktiken komplementär zu den formalen Strukturen des Zivilschutzes entwickeln (und in der Ukraine bereits etabliert haben), die unter anhaltenden Kriegsbedingungen zu Alltagsroutinen werden können – und als solche auch Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Zivilschutzforschung sein sollten. Drittens begreifen wir den Krieg als komplexe Katastrophe par excellence, da sich, katastrophensoziologisch (Clausen 1994) betrachtet – bei aller Unterschiedlichkeit mit Blick auf politische Prozesse – sowohl Katastrophen als auch Krieg Formen „krassen sozialen Wandels“ darstellen, die beide in ihren Wirkungen nur über eine „katastrophale Form der sozialen Verflechtung“ (Clausen 1994: 15) verstanden werden können.

Die vier Beiträge der Session zeigten aus der Sicht verschiedener humanitärer Hilfsorganisationen sowie der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung auf, welche Erfahrungen aufgrund der Nothilfe in der Ukraine bestehen und welche Potenziale und Herausforderungen für das Lernen aus der Ukraine für den deutschen Zivilschutz vorliegen.

  1. Multisektorale Unterstützung initiiert durch lokale Partner

Mario Göb (Diakonie Katastrophenhilfe (DKH))

Die DKH hat seit Februar 2022 einen massiven Anstieg an Spenden für die Ukrainehilfe zu verzeichnen, die in verschiedene Projekte sowohl in der Ukraine als auch in den Nachbarstaaten wie die Republik Moldau, Polen, Slowakei oder Rumänien umgesetzt werden. Unmittelbar nach der Eskalation des Konflikts wurden v. a. Hilfsgütertransporte und CASH-Programme organisiert sowie Winterhilfe angeboten. Ein aktueller Schwerpunkt der Arbeit der DKH liegt in der Reparatur von zerstörten Häusern nahe der Kontaktlinie, wo noch immer insbesondere ältere Personen (oft mit Behinderung leben), die ihre Heimat eigentlich nicht verlassen wollen oder können. Ältere Menschen stellen in der Ukraine einen überproportional hohen Anteil an den zivilen Opfern des Krieges dar. Wo logistisch möglich und die Menschen willens sind, wird versucht, diese höchst vulnerablen Personen zu evakuieren und in neu eingerichteten und renovierten Pflegeheimen unterzubringen. Dies gestaltet sich jedoch als äußerst schwierig, da viele der Betroffenen Angst vor der Fremde haben und kaum Netzwerke oder Kontakte außerhalb ihres gewohnten sozialen Umfeldes vorweisen. Des Weiteren werden humanitäre Minenräumprogramme umgesetzt, in denen v. a. Schulungen stattfinden, die über die Risiken von Landminen und nicht explodierter Munition und Sprengstoffen aufklären.

Lessons to Learn für den deutschen Zivilschutz

Der Schutz der Bevölkerung muss in Notsituationen oberste Priorität haben und insbesondere höchst vulnerable Personen einbeziehen. Die behördenübergreifende Koordination und Zusammenarbeit muss funktionieren und es sollten klare Protokolle für Kommunikation und Koordination im Krisenfall vorliegen. In diesen kriegsbedingten Lagen sind Flexibilität und Innovation entscheidend für die Effektivität und Effizienz, adaptive Planungsansätze sind anzuwenden.

2. Akteursübergreifende Zusammenarbeit und flexible Strukturen im Kleeblatt bei der Behandlung und Betreuung von MedEvac-Patient*innen in Deutschland

Stefan Mönnich (Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH))

Die Johanniter-Unfall-Hilfe engagiert sich in Deutschland auch für Geflüchtete aus der Ukraine und unterstützt in der Ukraine Partnerorganisationen bei der Versorgung von intern Vertriebenen und Menschen in frontnahen Dörfern mit Lebensmitteln sowie bei der Reparatur von Dächern und Fenstern und Instandsetzung von Wasserleitungen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf psychosozialer Unterstützung, insbesondere für Frauen. Im Rahmen einer MEDEVAC-Mission des Europäischen Katastrophenschutzverfahrens zur Evakuierung von schwer verletzten und erkrankten Personen aus der Ukraine in europäische Länder unterstützt die JUH gemeinsam mit dem ASB, der DLRG, dem DRK und dem MHD Patient*innen, die nach Deutschland evakuiert und hier über das Kleeblatt-System auf Krankenhäuser verteilt werden.

Die Hilfsorganisationen leisten eine ergänzende soziale Betreuung für die Patient*innen vor allem bei behördlichen Angelegenheiten und organisieren für Patient*innen mit Unterstützungsbedarf auf deren Wunsch auch medizinische Rücktransporte in die Ukraine.  Das Projekt wird aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der Europäischen Union finanziert.

Besondere Herausforderungen in dem Projekt sind:

  • Status der Zielgruppe: Die aufenthalts-, ausländer- und sozialgesetzlichen Regelungen für MEDEVAC-Patient*innen und ihre Angehörigen entsprechen den Regelungen für Geflüchtete aus der Ukraine. Die damit verbundenen notwendigen Verwaltungsangelegenheiten, die Unterbringungssituation oder Verzögerungen bei der Behandlung sind für die Patienten häufig schwer nachzuvollziehen, da sie keinen Schutz oder dauerhaften Aufenthalt begehren, sondern sich lediglich vorübergehend zu Behandlungszwecken in Deutschland aufhalten.
  • Datenschutz: Für die Wahrung des Datenschutzes in der Kommunikation mit den Akteuren müssen gute Prozesse und sichere Übermittlungswege hierzulande und in der internationalen Kommunikation geschaffen und eingeübt werden.
  • Mangelnde psychosoziale Betreuung: Viele der Zielgruppenangehörigen sind durch den Krieg traumatisiert und benötigen dringend psychosoziale Unterstützung. Bei den ohnehin schon sehr knappen Ressourcen in Deutschland ist dies kaum zu leisten.
  • Finanzierung: Die Drittmittelfinanzierung des Projektes lässt wenig Spielraum für ggf. notwendige Anpassungen, um auf spontan entstehende oder sich verändernde Bedarfe zu reagieren, und erschwert es, nachhaltige und resiliente Strukturen und Ressourcen zu schaffen, die im Krisenfall reaktiviert werden können.

Lessons to Learn für den deutschen Zivilschutz

Das Kleeblattsystem hat sich in der Praxis sehr gut bewährt. Seit Sommer 2022 sind rund 1.100 Patient*innen in Deutschland aufgenommen worden. Von großer Bedeutung ist im Gesamtprozess die sektor- und regionenübergreifende enge Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure – über die Kleeblätter und aufnehmenden Krankenhäuser hinaus: der betreuenden und unterstützenden Strukturen in den Kommunen, der Hilfsorganisationen und der Freiwilligen und Diasporaorganisationen. Auch eine gute Vernetzung mit den ukrainischen Akteuren – im Projekt das ukrainische Gesundheitsministerium und der Rettungsdienst – unterstützt die bestmögliche Versorgung der Patient*innen. Konkurrenzen haben im Zivilschutz nichts zu suchen.

Bei aller Professionalität der staatlichen und nichtstaatlichen Akteure gilt es, die Bedarfe der Zielgruppen in den Mittelpunkt zu stellen: Sie benötigen einfache, verständliche Regelungen, barrierefreie Zugänge zu Informationen und Feedback-Möglichkeiten in einfacher Sprache, Übersetzungsmöglichkeiten sowie niederschwellige Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten. Die Vorteile der Digitalisierung, um z. B. psychosoziale Unterstützung über Fachkräfte in der Ukraine digital zu organisieren, sollten hier unbedingt genutzt werden.

3. „Punkte der Unbesiegbarkeit“ – Zivile Betreuungsstellen im Krieg

Stina Steingraeber/Michael Schnatz (Arbeiter-Samariter-Bund (ASB))

Krieg und Vertreibung als Folge der russischen Militäroffensive haben massiven Einfluss auf die Versorgungssicherheit in der ganzen Ukraine. Bei Stromausfällen und im Falle eines längeren Stromausfalls aufgrund von Angriffen auf die Energieinfrastruktur helfen stationäre und mobile Wärmepunkte/Versorgungspunkte, in der Ukraine als „Punkte der Unbesiegbarkeit“ bezeichnet. Ziel der Betreuungsstellen des lokalen Partners, dem ukrainischen Samariterbund, ist die Versorgung der kriegsbetroffenen Bevölkerung in Kyjiw und der Region Kyjiw. Als Hauptstadt ist Kyjiw ständiges Ziel für russische Luftangriffe. Insbesondere kritische Infrastrukturen und speziell solche der Energieversorgung werden seit Herbst 2022 regelmäßig und massiv angegriffen. Auch zivile Ziele wie Wohnblöcke etc. werden regelmäßig getroffen oder durch herabstürzende Drohnentrümmer zerstört oder beschädigt. In Kooperation mit städtischem Katastrophenschutz ermöglicht der ASB den Betrieb stationärer Wärmepunkte mit Zelten, Betten und Öfen, mobilen Küchen und Stromversorgung, Versorgung der kriegsbetroffenen Bevölkerung mit warmen Mahlzeiten und Getränken, einem Ort zum Aufwärmen und Strom zum Laden von Handys, Akkus etc.

Auch gibt es eine Möglichkeit zum Übernachten, sollte die eigene Wohnung nach einem Angriff oder wegen Kälte nicht mehr/zeitweise nicht bewohnbar sein sowie basismedizinische und psychosoziale Versorgung. Für Kinder sind zudem Spielecken vorgesehen. Zusätzlich dienen die Versorgungspunkte als Verteilstellen von Hilfsgütern an die kriegsbetroffene Bevölkerung (Lebensmittel, Hygieneprodukte, (Winter-) NFIs). Es existieren sowohl stationäre Versorgungspunkte als auch mobile Einheiten. Die Koordination der Versorgungspunkte erfolgt durch den Katastrophenschutz Kyjiw, der auch eigene Wärmepunkte in der Stadt aufgebaut hat. Die Koordination zielt auf die sinnvolle und flächendeckende Verteilung der Versorgungspunkte in der Stadt ab und stellt u. a. sicher, dass sie gut erreichbar und ans Stromnetz angeschlossen sowie Luftschutzräumen in der Nähe verfügbar sind.

Eine Übersicht/Informationen zu offiziellen Wärmepunkten finden sich im Internet sowie bspw. in der offiziellen App der Stadt Kyjiw und der App Diia, die fast jeder in der Ukraine nutzt.

Die bislang nur im Winter betriebenen Wärmepunkte sollen zukünftig auch im Sommer aufrechterhalten und zu ganzjährig einsetzbaren Betreuungspunkten ausgebaut werden, da man von einer weiteren Eskalation der Angriffe im Sommer ausgeht.

Lessons to Learn für den deutschen Zivilschutz

Warnungen inkl. konkreter Handlungsanweisungen erfolgen in der Ukraine v. a. über Apps; Sirenen werden zusätzlich als Alarmsignal genutzt. Über Apps gibt es auch die Option, gesichtete Drohnenangriffe von Seiten der Bevölkerung zu melden. Möglichkeiten, Mobiltelefone mit Strom aufzuladen, sind überall vorhanden. Die Strom- sowie Mobilfunk- und Internetnetze sind mittlerweile derart autark, dass großflächige Stromausfälle zwar vorkommen, in den seltensten Fällen jedoch der Mobilfunk unmittelbar betroffen ist. Kommunikation ist auf diese Weise jederzeit möglich. Die Bevölkerung muss ernst genommen und sollte nicht für „blöd“ verkauft werden. In der Ukraine zeigt sich weiterhin ein starker Nationalstolz als ein verbindendes Narrativ, was dabei hilft, die Situation zu bewältigen. Auch (Galgen-)Humor ist weit verbreitet und zeigt sich als resilienzstärkend.

4. Lehren für den deutschen Zivilschutz – Beispiel Gesundheitsschutz

Nicolas Bock (Katastrophenforschungsstelle (KFS))

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wirft für den deutschen Zivilschutz tiefgreifende Fragen auf. In Deutschland wurden seit Ende des Kalten Krieges flächendeckend System- und Infrastrukturbestandteile des Bevölkerungsschutzes abgebaut und eingespart. Sichtbar wurde dies u. a. im Gesundheitswesen, in dem z. B. die Hilfskrankenhäuser, die Ausbildung von Pflegehilfspersonal, und große Teile der Sanitätsmittelbevorratung bis in die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts hinein abgeschafft wurden. Das Szenario der Landes- und Bündnisverteidigung verschwand nach und nach als Planungsgrundlage für den Zivilschutz und wurde weitestgehend durch zivile Katastrophenszenarien ersetzt. Bedrohungsszenarien wurden in der Folge oft nur noch als friedenszeitliche, regional und zeitlich begrenzte Schadensereignisse gedacht.

Die Auswirkungen des Krieges, wie sie sich in der Ukraine darstellen, können zwar nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen werden, die in der Ukraine zu beobachtenden und durch den Krieg entstehenden Disruptionen, Bedrohungen und Systemwechselwirkungen in kritischen Dienstleistungssystemen wie dem Gesundheitssystem können und sollten dennoch im deutschen Zivilschutz in kritischer Selbstreflexion wahrgenommen werden. In Ermangelung eines konkreten Szenarios der Landes- und Bündnisverteidigung und der entsprechenden Implikationen und Anforderungen für die zivile Seite, welches den Akteuren u. a. im Gesundheitswesen als Planungsgrundlage für den Selbstschutz und die Resilienzsteigerung ihrer Betriebsabläufe dienen kann, ist der Blick in die Ukraine sogar dringend geboten.

Die Analyse der Lage des Gesundheitswesens in der Ukraine und die abstrahierte Übertragung auf den deutschen Kontext zeigt zunächst, dass alle Bestandteile des Gesundheitssystems als Ziele wahrgenommen werden und angegriffen werden können. Der völkerrechtliche Schutz von Gesundheitseinrichtungen wird nicht mehr von allen Staaten anerkannt. Entsprechend ist davon auszugehen, dass in einem Szenario der Landes- und Bündnisverteidigung auch in Deutschland Angriffe auf das Gesundheitswesen, sei es durch bspw. Drohnen, Sabotagehandlungen oder im Cyberraum, zu befürchten sind. Das Gesundheitssystem hängt auch in Deutschland in besonderem Maße von der Funktionsfähigkeit anderer kritischer Infrastruktursysteme ab, bspw. von der Versorgung mit Energie und Trinkwasser. Angriffe auf entsprechende zivile Ziele würden also auch Gesundheitseinrichtungen betreffen. In Deutschland müssen bislang nur wenige Akteure des Gesundheitswesens hierfür Vorsorgemaßnahmen treffen: Im Allgemeinen verfügen bspw. nur die Krankenhäuser über (begrenzte) Notstromversorgung. Der Blick in die Ukraine zeigt jedoch, dass insbesondere Menschen mit chronischen Erkrankungen oder andere Bevölkerungsgruppen (teils mit vorliegenden Multimorbiditäten) in besonderer Weise von einem funktionierendem ambulanten medizinisch-pflegerischen Versorgungssystem abhängen, da die Krankenhäuser über lange Zeiträume mit der Versorgung einer Vielzahl teilweise schwer verletzter Soldat*innen ausgelastet sind. Die militärischen Rettungsketten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte enden in Deutschland jedoch im zivilen Gesundheitssystem.

Lessons to Learn für den deutschen Zivilschutz

Der Verteidigungsfall kann als Ressourcenmangellage verstanden werden, in der ein grundständiges Interesse der Gegenseite an überlasteten Systemen herrscht. Dafür bräuchte es eigentlich eines Äquivalents, das eine Gesamtsystemredundanz (Zivilschutz) schafft, um mögliche Ausfälle zu kompensieren.  Umso wichtiger ist es, dass alle Akteure des Gesundheitswesens (nicht nur Krankenhäuser) eine gewisse Resilienz und Durchhaltefähigkeit gegenüber möglichen Implikationen von Verteidigungsszenarien entwickeln, von denen auch friedenszeitliche Katastrophenlagen profitieren würden. Die Anpassungsleistung der Akteure des Gesundheitswesens ist auch deshalb nötig, da Zivilschutz immer nur zeitlich-räumlich begrenzte, punktuell wirkende Maßnahmen zur Verfügung stellen kann –  eine Art Vollschutz, welcher flächendeckende Redundanzwirkung entfalten kann, wurde bereits zu Beginn des Kalten Krieges als praktisch nicht umsetzbar verworfen.

Hierzu bedarf es der breiten Vermittlung der Implikationen und Folgen eines Szenarios der Landes- und Bündnisverteidigung an entsprechende Felder der Stakeholder. Der Blick in die Ukraine zeigt darüber hinaus, dass sich Szenarien eines Verteidigungsfalls und ziviler Katastrophenlagen nicht mehr trennscharf unterscheiden lassen. So bedeutete der Krieg für die Ukraine in seinem bisherigen Verlauf u. a. die Bedrohung durch Havarien von und Anschläge auf Atomanlagen, die Auswirkungen eines Hochwassers im Nachgang des Bruchs des Kachowka-Staudammes, Stromausfälle und Ausfälle der Wärmeversorgung sowie tägliche Massenanfälle von Verletzten. Diese Szenarien sind in Deutschland zwar einzeln mit Maßnahmenplänen unterlegt und es existieren in begrenztem Maße Ressourcen und Personal zur Lagebewältigung, eine Überlappung und eine Gleichzeitigkeit dieser Lagen, wie in der Ukraine zu beobachten, wird jedoch kaum antizipiert oder vorausgeplant. Hier müssen die Strukturen des deutschen Zivilschutzes kritisch hinterfragt und gegebenenfalls angepasst werden.