Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund –kurz Bund (בונד, Бунд) genannt (jiddisch: אַלגעמײנער ייִדישער אַרבעטער־בונד, russisch: Всеобщий еврейский рабочий союз в Литве, Польше и России) wurde 1897 in Wilna (heute Vilnius) gegründet, um sich für die Rechte jüdischer Arbeiter*innen sowie soziale und kulturelle Gleichstellung einzusetzen. Aufgrund der Repressionen durch die zaristische Regierung, verlagerte das Zentralkomitee der Partei seine Aktivitäten bereits 1898 nach Genf, das für viele Bundisten zu einem wichtigen Zufluchtsort wurde. Neben Genf entstanden auch Ableger in London, Paris, New York und Buenos Aires sowie zahlreiche lokale Gruppen in der jüdischen Diaspora. Aber auch Wilna war nach der Russischen Revolution von 1905 ein wichtiger Standort der politischen Aktivitäten des Bundes.
Eine prägende Figur des „Bund“ war Franz Kursky, der 1874 in Kurland (heutiges Lettland) als Samuel Kahan geboren wurde. Als Leiter des Auslandsarchivs ab 1906 spielte er eine zentrale Rolle bei der Sicherung und Dokumentation ihres Vermächtnisses. Bereits 1919 legte er den Grundstein für das Bund-Archiv, indem er die Archivsammlung und die Bibliothek von Genf – einem sicheren Hafen während der antisemitischen Pogrome in Osteuropa – wieder zurück nach Wilna brachte, wo der Bund gegründet wurde.
Bereits ein Jahr später, 1920, verlegte er gemeinsam mit dem Mitbegründer des Bundes, Vladimir Kosovski (1867-1941), die Schweizer Auslandsvertretung des Bundes sowie das Auslandsarchiv nach Berlin, wo er seit 1918 im Exil lebte. Der Ausbruch des Polnisch-Russischen Krieges 1919/1920 machte diese Entscheidung notwendig, da Wilna, im Zentrum territorialer Konflikte zwischen Polen, Litauen und Sowjetrussland, Schauplatz zahlreicher militärischer Auseinandersetzungen war. In diesem unsicheren Umfeld bot die Stadt keine geeignete Basis mehr für das Bund-Archiv.
Mit Unterstützung der SPD, zu der der Bund enge Kontakte unterhielt, wurde das Archiv Ende 1925 in das „Vorwärts-Haus“ der SPD, Lindenstraße 3 überführt. Dort sollten, so Kursky, die Dokumente „geordnet und vor bösen Geistern bewahrt“1 werden. Die Sozialdemokraten halfen dem Bund vorallem beim Druck von Parteiliteratur in der eigenen Großdruckerei, so dass es sich zu einem zentralen Umschlagplatz für jiddische und russische Veröffentlichungen, die von den im Schweizer Exil ansässigen Mitgliedern des Bundes über Berlin nach Russland weitergeleitet wurden, entwickelte. Auch die SPD-Parteibibliothek war bis 1933 im Vorwärts-Haus in Berlin untergebracht. Nach dem SPD-Verbot am 22. Juni 1933 und der „Gleichschaltung“ wurde sie vom NS-Regime beschlagnahmt.
Wahlplakat des Bundes, aufgehängt im Wahlbezirk Kiew im Jahr 1917. Überschrift auf Hebräisch: „Wo wir leben, dort ist unser Land!“
Innerhalb des Rahmens: „Wählt Liste 9, Bund“. Unten: „Eine demokratische Republik! Volle nationale und politische Rechte für Juden!“
Der Buchfund: „Frauenarbeit und Familie“
Ein bemerkenswerter Bestandteil dieses historischen Erbes ist das 1914 erschienene Buch Frauenarbeit und Familie von Edmund Fischer, das vom Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung der UB Anfang Dezember 2024 identifiziert wurde. Das Exemplar gelangte zu einem unbekannten Zeitpunkt in den Bestand der Universitätsbibliothek.
Ab 1950 wurde es als Teil der Wissenschaftlichen Zentralbibliothek Berlin geführt und unter der Zugangsnummer 50/11499 erfasst.
Die Wissenschaftliche Zentralbibliothek wurde 1950 in Dahlem gegründet und diente der Erfassung der Bibliotheksbestände der West-Berliner Sektoren. Sie existierte nur bis 1954 und bildete die Grundlage der heutigen Amerika-Gedenkbibliothek in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Wie der Stempel im Bild zur Provenienz 3 zeigt, war das Buch zwischenzeitlich Teil der Sammlung der Amerika-Gedenkbibliothek und wurde später (zu einem unbekannten Zeitpunkt) dort ausgesondert.
Provenienzen
Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten im Jahr 1933 erhielten diese „bösen Geister“ eine erschreckend konkrete Gestalt, da die Verfolgung jüdischer und sozialdemokratischer Organisationen und die Beschlagnahme ihres Eigentums zur bedrohlichen Realität wurden. Auch der Druck auf jüdische Personen wie Kursky nahm erheblich zu. Angesichts der wachsenden Verfolgungsgefahr floh er nach Paris und brachte die Sammlung mit, um sie vor der drohenden Beschlagnahmung zu schützen. In Paris war Kurski aufgrund finanzieller Notlage jedoch dazu veranlasst, die Sammlung 1934 an die Gründer des International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam zu verkaufen. Die Überführung des Archivs und der Bibliothek gestaltete sich jedoch schwierig: Erst 1936, mit erheblicher Verzögerung und nicht in vollständigem Zustand, erreichte die umfangreiche Lieferung Amsterdam. Kursky floh 1941 von Paris nach New York, wo er am 17. Januar 1950 verstarb.
Kurskys vorausschauendes Engagement für die Sicherung des Archivs ermöglichte es ihm, einen großen Teil der Sammlung vor dem Zugriff des NS-Regimes in Berlin zu bewahren. Dennoch gelang es ihm nicht, die Sammlung vor der Deutschen Wehrmacht in Amsterdam zu retten. Nach der Besatzung der Niederlande fiel die umfangreiche Bibliothek mit etwa 300.000 Exemplaren in die Hände des Einsatzstabs Alfred Rosenberg. Die Bestände wurden im International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam beschlagnahmt und anschließend nach Deutschland sowie in den Osten transportiert.
Nach Kriegsende war die Sammlung weit verstreut, und viele ihrer Teile gingen verloren. Einige Bestände wurden 1946 bei Hannover wiedergefunden und schließlich nach Amsterdam zurückgebracht.
Heute befindet sich die Bund-Sammlung in verschiedenen Institutionen weltweit, darunter im International Institute of Social History (IISH) Amsterdam. Ein bedeutender Teil des Archivs wurde im Rahmen des Centrale-Projekts von 2012 bis 2016 digitalisiert und ist heute unter dem Namen „Yidishkayt“ im IISH zugänglich.
Die Universitätsbibliothek übergab das Buch an das International Institute of Social History (IISH) Amsterdam.
1Franz Kurski: Gezamlte Shriftn. New York 1956, S. 24.
Manchmal öffnet die Geschichte ihre Türen einen Spalt breit und gewährt uns einen Blick in die Vergangenheit. So erging es uns vor Kurzem bei der Entdeckung eines historisch wertvollen Buches aus der Bibliothek der ehemaligen Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (HWJ) aus der Campusbibliothek.
Diese renommierte Institution, deren Bibliothek eine bedeutende Sammlung religiöser und wissenschaftlicher Literatur mit über 60.000 Bänden umfasste, wurde 1942 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt. Der Fund des Buches dokumentiert einen weiteren Fall der Enteignung aus dem Besitz der HWJ und verdeutlicht damit die Verlagerung und Nutzung jüdischer Kulturgüter durch das NS-Regime.
Bereits beim ersten Aufschlagen von Simon Bernfelds Werk Die Jüdische Literatur aus dem Jahr 1921 offenbaren sich auf dem Titelblatt drei bedeutende Hinweise zur Herkunft des Buches. Zunächst ist da der runde Stempel der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, gefolgt von der Exemplarnummer 17201, die mit Bleistift unten rechts vermerkt ist. Besonders auffällig jedoch ist der rote Stempel „Ghetto-Bücherei“ des KZ Theresienstadt, der oben rechts prangt.
Das abgebildete Buch trägt eine künstlerische Gestaltung des jüdischen Künstlers Menachem Birnbaum (1893-1944) aus Wien, der für seine Illustrationen und Karikaturen bekannt war. Birnbaum wurde wahrscheinlich im Jahr 1944 im KZ Auschwitz ermordet.
Im Buch gibt es weitere, beinahe unsichtbare Spuren, deren Bedeutung ungeklärt ist.
Lieferant unbekannt
Wie konnte dieses besondere Buch, das aus der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums stammt und Teil der NS-Raubgutbestände aus dem Ghetto Theresienstadt ist, in die Bestände der FU Berlin gelangen? Diese Frage lässt sich nur spärlich und ungenügend beantworten. Das Buch kam aus der FU-Bibliothek des Instituts für Evangelische Theologie, die es 1976 in ihren Bestand eingearbeitet hat. Das Institut existierte von 1957 bis 2009. Nach der Auflösung des Instituts wurde es in der Campusbibliothek eingearbeitet. Allerdings sind keine Zugangsbücher mehr erhalten, sodass der Lieferant unbekannt ist. Offen bleibt daher die Frage, welche Wege das Buch nach der Befreiung des KZ-Theresienstadt im Jahr 1945 nahm, bis es schließlich an die FU Berlin 1976 gelangte.
Geistige Bastion des liberalen Judentums
Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (HWJ), gegründet im Jahr 1872 in Berlin, war eine wegweisende akademische Einrichtung und zugleich ein geistiges Zentrum des liberalen Judentums in Europa. Sie nahm eine einzigartige Stellung ein, indem sie jüdische Traditionen mit den aufkommenden modernen wissenschaftlichen Methoden vereinte und ihren Studierenden ein breites und fundiertes Fächerspektrum anbot. Die Hochschule spiegelte nicht nur den Geist der Emanzipation wider, sondern förderte auch das liberale jüdische Denken, das auf Integration und Modernisierung des jüdischen Glaubens und Lebensstils abzielte.
Nur ein paar Häuserblocks weiter, befand sich in der Artilleriestraße 31 das orthodoxe Rabbinerseminar zu Berlin.1 Im Scherz wurde die Hochschule als „leichte Artillerie“ und das Rabbinerseminar als „schwere Artillerie“ bezeichnet.2
Die Gründung dieser Institution wurde von bedeutenden jüdischen Intellektuellen der liberal-religiösen Strömung wie dem Professor Moritz Lazarus und dem Rabbiner Abraham Geiger initiiert. Lazarus, ein engagierter Verfechter jüdischer Rechte in Deutschland, und Geiger, ein Vordenker des Reformjudentums, schufen mit anderen führenden Persönlichkeiten eine Hochschule, die sich durch ihre Unparteilichkeit, finanzielle Unabhängigkeit und die Betonung auf die Vermittlung umfassender jüdischer Bildung, auszeichnete. Dieser innovative, liberale Ansatz prägte jahrzehntlang die HWJ als akademische und geistige Heimat des modernen Judentums und bot eine Plattform, auf der u. a. jüdische Theologie, Philosophie, Geschichte, Literatur sowie Hebräisch studiert wurden. Die Hochschule zog Studierende aus ganz Europa an, insbesondere aus traditionellen jüdischen Gemeinden Mitteleuropas, die in Berlin eine der seltenen Möglichkeiten fanden, eine rein wissenschaftliche Ausbildung im jüdischen Kontext zu erhalten. Zusammen mit dem Berliner orthodoxen Rabbinerseminar zu Berlin und dem Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau bildete die HWJ ein Dreigestirn der jüdischen Wissenschaften in Deutschland.
Besonders bemerkenswert an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums war ihre integrative Bildungspolitik. Sie war eine der ersten akademischen Einrichtungen ihrer Zeit, die eine Zulassungspolitik für Frauen und Männer gleichermaßen verfolgte und sowohl Juden als auch Nichtjuden offen stand. So wurde Regina Jonas (Berlin 1902- KZ Auschwitz 1944) 1935 die erste Frau weltweit, die zur Rabbinerin ordiniert wurde (Gedenktafel in Berlin). In einem sozialen und bildungspolitischen Kontext, in dem Judaistik und rabbinische Studien an deutschen und preußischen Universitäten keinen Platz hatten, bot die HWJ eine theologische Ausbildung zu Rabbiner:innen oder Religionslehrer:innen an. Damit leistete die Hochschule nicht nur einen Beitrag zur wissenschaftlichen Emanzipation des Judentums, sondern ebnete auch den Weg für die Gleichberechtigung in der Hochschulbildung.
Zu den herausragenden Persönlichkeiten, die an der Hochschule lehrten und deren wissenschaftlichen Ruf prägten, zählte Leo Baeck, einer der bedeutendsten Rabbiner und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Leo Baeck, der später die Leitung der Hochschule übernahm, verband jüdisches Gelehrtentum mit einem tiefen sozialen Engagement, das besonders in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus zum Ausdruck kam.
Auch Persönlichkeiten, die nur kurzzeitig an der HWJ studierten, leisteten einen entscheidenden Beitrag zum Ansehen und Vermächtnis dieser Institution bei. Der Prager Dichter Franz Kafka, eine der bekanntesten literarischen Stimmen des 20. Jahrhunderts, gehörte von November 1923 bis Januar 1924 zu ihren außerordentlichen Gasthörern.
In diesen wenigen Monaten fand der gesundheitlich angeschlagene Franz Kafka in der HWJ eine inspirierende Umgebung und intellektuelle Zuflucht, um seine jüdischen Studien zu vertiefen. Kafkas Werke enthalten zahlreiche Motive jüdischer Traditionen. Sie reflektieren seine Identität mit dem Judentum und machten ihn in der modernen Weltliteratur unsterblich. Seine drei Schwestern wurden Opfer des Holocaust.
„Die Hochschule für Wissenschaft ist für mich ein Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Innern. (…) Ein ganzes Haus, schöne Hörsäle, große Bibliothek, Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und alles umsonst.“ 3
Verfolgung und Schließung
Der Frieden währte nicht lange, und die Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren für die Hochschule von tiefgreifenden Veränderungen und Enteignungen geprägt. Am 24. Juni 1933 verlor die Hochschule per Verfügung ihren Status als staatlich anerkannte Institution und wurde in die „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ umbenannt. Zwei Jahre später, Ende 1935, wurde das der Hochschule gehörende Erholungsheim „Villa Hausmann“ – damals noch Arendsee genannt (heute Villa Baltic in Kühlungsborn) – an die „Joseph-Goebbels-Stiftung für Bühnenschaffende“ überschrieben und damit enteignet.4
Die gewaltsamen Ereignisse der Reichspogromnacht am 9. November 1938 führten zur vorübergehenden Schließung der Institution, während mehrere Dozenten und Studierende verhaftet wurden. Der Lehrbetrieb wurde im Januar 1939 eingeschränkt wiederaufgenommen, nur ein kleiner Kreis von Studierenden und Lehrenden, darunter Leo Baeck, blieb bis zur endgültigen Schließung der Hochschule. Das geschah am 19. Juni 1942, da Jüdinnen und Juden ab da vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Leo Baeck und die verbliebenen Studierenden wurden 1943 ins KZ Theresienstadt deportiert. Die Bibliothek sowie das Inventar der HWJ wurde vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beschlagnahmt. Teilbestände wurden später nach Berlin und Prag ausgelagert.
Auszug aus dem Nachruf von Nathan Peter Levinson auf seinen Lehrer Dr. Leopold Lucas (1872 Marburg – 1942 KZ Theresienstadt)
„Zunächst möchte ich erwähnen, daß er mein Lehrer war und das in einer der dunkelsten Stunden der Geschichte. Zwischen 1940 und 1941 unterrichtete er mich und einige wenige Studenten in Berlin an der einzig verbliebenen, aber nicht als solche mehr anerkannten jüdischen Hochschule im Fach Jüdische Geschichte. Juden durften damals keine Theater mehr besuchen, keine Kinos, keine Cafés und natürlich keine Universitäten. Die Synagogen waren im November 1938 zerstört worden. So blieb die Lehranstalt fast der einzige Ort, an dem Juden sich geistig betätigen konnten. Früher Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, war ihr der Hochschulstatus aberkannt worden. Es unterrichteten dort neben dem geistigen Haupt der deutschen Judenheit, Leo Baeck, nur noch eine Handvoll Dozenten, unter ihnen Leopold Lucas. Von den damaligen Studenten überlebten nur wenige: außer mir noch drei Kommilitonen. (…) In der Tat war diese Hochschule eine Insel innerhalb eines brandenden Meeres. Draußen war die Gewalt, der Schrecken, die Einschüchterung, die Entrechtung. Innerhalb der Mauern und Lehranstalt fühlte man sich wie in einer anderen Welt, der Welt des Geistes, die nicht bezwungen werden kann.“5
Die Wege der Bibliothek der Hochschule nach dem 2. Weltkrieg sind heute nur teilweise rekonstruierbar. Nach 1945 spielte die heutige National Library of Israel eine zentrale Rolle im Erhalt jüdischer Kulturgüter aus verschiedenen Quellen und Sammelstellen. So dienten auch Bücher dem Wiederaufbau jüdischen Lebens in Israel. Auch das Leo Baeck Institute Jerusalem erhielt durch Dublettenabgaben Bücher aus der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. In Berlin tauchten 1945/46 einige Bücher und Inventarteile auf, als der Berliner Magistrat „herrenlose Buchbestände“ aus der Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken sicherte und einige Exemplare der wiederbegründeten Jüdischen Gemeinde zu Berlin übergab. In Deutschland gab es in den letzten 10 Jahren nur vereinzelt Funde. So hat in 2015 die ZLB gemeinsam mit der Bayerischen Staatsbibliothek vier Bücher an das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam restituiert. Und auch uns gelang ein Fund im Jahr 2017, so dass wir die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums von 1870 an das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zurückgeben konnten.
Weitere Werke der Hochschulbibliothek besitzt die Bibliothek der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die über den Nachlass des Rabbiners Emil Davidovic dorthin gelangten. Davidovic hatte nach dem Krieg Zugang zu Beständen der Ghetto-Bibliothek Theresienstadt, wohin die Bücher durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) verlagert worden waren.
Bis heute sind also immer noch tausende Bücher unentdeckt. Umso bemerkenswerter ist der jüngste Fund aus April 2024 von ca. 4.000 Bänden des Jüdisches Museum in Prag aus der ehemaligen HWJ Bibliothek. Dieser Fund gibt Anlass zur Hoffnung, dass das wertvolle Wissen, das in diesen Büchern verkörpert ist, zumindest virtuell an die jüdische Gemeinschaft zurückgegeben werden kann.
Neue Wege gehen – „Library of Lost Books“
Um das Erbe dieser bedeutenden Institution virtuell wiederherzustellen, hat das Leo Baeck Institute Jerusalem das internationale Projekt „Library of Lost Books“ ins Leben gerufen. Daher freuen wir uns, dass unser jüngster Fund sich als weiterer kleiner Baustein in dieses umfassende wissenschaftliche Vorhaben einfügt und eine detaillierte Aufarbeitung der Verluste jüdischen Kulturguts während der NS-Zeit auch durch die Freie Universität Berlin ermöglicht.
Vielleicht öffnet sich eines Tages eine weitere Tür und enthüllt mehr von der Geschichte dieser besonderen Bibliothek – die Suche geht auf jeden Fall weiter.
Das Buch Die Jüdische Literatur finden Sie in LCA hier.
1 Gegründet 1873 von dem Rabbiner Esriel Hildesheimer (ab 1882 Rabbinerseminar zu Berlin) war eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für orthodoxe Rabbiner in Westeuropa (bekannt auch als Hildesheimer’sches Rabbinerseminar) 2 Irene Kaufmann, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872–1942), Band 50, Hentrich & Hentrich Verlag, 2006, S. 29. 3 Franz Kafka an Robert Klopstock, Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 19.XII.1923, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/br23-053.htm, Zugriff am 01.11.2024 4 Hartmut Bomhoff, „Das Ostsee-Erholungsheim der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums wird saniert“, Jüdische Allgemeine, 16. November 2010, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/mecklenburger-mirjamsbrunnen/, Zugriff am 01.11.2024 5 „Stichwort: Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, haGalil, http://www.hagalil.com, Zugriff am 01.11.2024
Quellen:
Irene Kaufmann: Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872-1942), 2006, Band 50, Hentrich & Hentrich Verlag
Michael Bienert: Wie der Himmel über der Erde, Kafkas Orte in Berlin, S. 20 f., (Frankfurter Buntbücher 73), Verlag für Berlin-Brandenburg, 2024
Philipp Zschommler, „NS-Raubgut an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg: Die Provenienzen im Nachlass des Rabbiners Emil Davidovic“, in: Bibliotheksdienst 54 (2020), Nr. 10, S. 793-804 https://doi.org/10.1515/bd-2020-0093
Landesarchiv Berlin und Zentral- und Landesbibliothek Berlin (Hrsg.), Datenbank zur Bergungsstelle für Wissenschaftliche Bibliotheken, https://www.bergungsstelle.de/
Während des Zweiten Weltkriegs rivalisierten deutsche NS-Institutionen in den besetzten Ostgebieten um wertvolle Beutestücke. Ab 1942 beauftragte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) Beschlagnahmungen von Kulturgütern, bei dem das Sonderkommando Künsberg eine zentrale Rolle spielte. Dieses SS-Sonderkommando, das dem Auswärtigen Amt und später der Waffen-SS unterstellt war, richtete Depots von Baltikum bis zur Krim ein, um die Kriegsbeute für den Abtransport nach Deutschland vorzubereiten. Inmitten dieser Machenschaften wurden im August 1944 Tausende Bücher der Universität Lettlands (lettisch Latvijas Universitāte) unter dem Vorwand der Evakuierung als Kriegsbeute nach Deutschland gebracht und galten als unwiederbringlich verloren.
Eines dieser Beutebücher wurde in der Fachbibliothek Biologie am Botanischen Garten, eine der Fachbibliotheken der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin entdeckt: das Buch „Handbuch von Polen“, versehen mit einem Stempel des Hygiene-Instituts der Waffen-SS. Es ist eines von mehreren Büchern mit Herkunftsspuren aus dem Hygiene-Institut der Waffen-SS, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bibliothek des Botanischen Gartens gelangten. Dieses Exemplar ist jedoch bisher das einzige, bei dem ein eindeutiger NS-Beutegut-Hintergrund aus Riga, Lettland, nachgewiesen werden konnte.
Während des Zweiten Weltkriegs führten Mitarbeiter des berüchtigten Hygiene-Instituts der Waffen-SS menschenverachtende Experimente in Konzentrationslagern und anderen Einrichtungen durch. Der Institutsleiter Joachim Mrugowsky und weitere Mitglieder wurden nach dem Krieg im Nürnberger Ärzteprozess für ihre Verbrechen verurteilt und hingerichtet. Joachim Mrugowsky hatte Ludwig Diels, dem Direktor des Botanischen Gartens Berlin (1921-1945), bereits 1943 angeboten, für den Wiederaufbau von dessen kriegszerstörter Bibliothek Bücher „aus russischen Antiquariaten“ zu beschaffen. Damit war sicherlich NS-Beutegut aus besetzten Ostgebieten gemeint. Das Buch trägt zwei Eigentumsstempel der Bibliothek der Universität Lettlands in Riga, was eindeutig auf seine Herkunft als Kriegsbeute hinweist.
Der erste Eigentümer war das Institut für Physische Geographie und Geonomie der Universität (1922-1935), das sich 1935 in zwei separate Institute aufteilte: das Institut für Geographie und das Institut für Geophysik und Meteorologie. Dementsprechend inventarisierte die Bibliothek des Instituts für Geographie dieses Buch in ihren Bestand – dies erklärt das Durchstreichen des Stempels (Provenienz 1), und der Stempel der neuen Struktureinheit: Bibliothek des Instituts für Geographie (Provenienz 2).
Ein weiterer Hinweis auf seine Herkunft ist ein Etikett der renommierten Buchhandlung Ludwig Friederichsen & Co. in Hamburg.
Die Herkunftskette des Buches lässt sich teilweise rekonstruieren. Es wurde 1917 vom Reimer Verlag veröffentlicht und höchstwahrscheinlich von der Universität Lettland durch die Buchhandlung Ludwig Friederichsen & Co.Hamburg erworben. Während der deutschen Besatzung Lettlands gelangte es als Kriegsbeute in den Besitz der Bibliothek des Hygiene-Instituts der Waffen-SS nach Berlin. Die Universität Lettland hat bei der Bestandsaufnahme 1945 das Buch aus dem Inventar ausgesondert, da es nicht mehr auffindbar war.
Nach Kriegsende wurden die Buchbestände des Hygiene-Instituts der Waffen-SS an das Bezirksamt Zehlendorf übertragen und von dort weiterverteilt. 1946 wurde das Buch im Zugangsbuch unter der lfd. Inventarnummer 848, Lieferant: Bezirksamt Zehlendorf in die Bibliothek des Botanischen Gartens Berlin aufgenommen.
Das Buch aus der Fachbibliothek Biologie am Botanischen Garten ist hier in der LCA-Datenbank zu sehen.
Nach mehr als 75 Jahren gab die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin im April 2024 das Buch an die Bibliothek der Universität Lettland zurück. Für beide Universitäten markiert dies einen bedeutsamen Moment, da es sich um das erste Buch aus den einst geplünderten Beständen der Universität Lettland handelt, das zurückgegeben wird.
Mit der Lichtinstallation Fragmented Fates erinnert die Arbeitsstelle Provenienzforschung der UB der FU Berlin an die jüdischen Opfer des NS-Regimes, die in den Schatten der Geschichte verdrängt wurden.
Quelle: Universitätsbibliothek, Freie Universität Berlin
Am 29. September 2023 fand in Toulouse eine feierliche Zeremonie statt, bei der insgesamt 40 Bücher (6 davon aus der UB) aus der privaten Bibliothek des deutschen Psychologen Dr. med. Erich Stern von der ZLB zurückgegeben wurden. Die einzige Tochter von Dr. med. Erich Stern war Hilde/Hélène Stern, die 2010 verstorben ist, hinterließ den Nachlass ihres Vaters der Groupe Toulousain de la Société Psychanalytique de Paris.
Die gemeinsame Restitution der Freien Universität Berlin und der ZLB wurde durch die enge Zusammenarbeit mit der französischen Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen aufgrund der antisemitischen Gesetzgebung während der Okkupationszeit CIVS möglich.
Erich Stern wurde am 30. Oktober 1889 in Berlin geboren. Er studierte Naturwissenschaften und Humanmedizin. Später wurde er ein renommierter Psychiater, Psychologe und Pädagoge, der insbesondere für seine Arbeiten im Bereich der Psychosomatik und Medizinischen Psychologie bekannt wurde. Im Juli 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, trat Stern als Hilfsarzt in den Heeresdienst ein. Während seiner Zeit im Militär diente er zunächst als Unterarzt in verschiedenen Lazaretten. Nach 1917 wurde er zum Oberarzt befördert.
Stern habilitierte 1920 und erhielt einen Lehrauftrag in Pädagogischer Psychologie in Gießen. 1934 wurde er außerordentlicher Professor in Gießen, arbeitete später in Mainz, wo er eine kleine psychiatrische Praxis betrieb. Zudem veröffentlichte Stern bis Ende der 20er Jahre verschiedene Beiträge zur Pädagogik und Jugendpsychologie.
Im Jahr 1933 wurde Dr. med. Erich Stern mit 56 Jahren aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zwangspensioniert und entlassen. Infolgedessen emigrierte er mit seiner Familie in die Schweiz, wo er zunächst am Institut für Hochgebirgsphysiologie und Tuberkuloseforschung in Davos tätig war. Später zog die Familie nach Paris, wo er in der Kinderpsychiatrischen Universitätsklinik der Sorbonne arbeitete und auch Sprechstunden für Kinder mit Intelligenz- und Verhaltensstörungen abhielt. Während dieser Zeit betreute er auch jüdische Emigranten in einem Gesundheitszentrum.
Während der deutschen Besatzung wurde seine Wohnung in der Gemeinde Boulogne-Billancourt, die sich 8 km südwestlich von Paris befand, von der deutschen Wehrmacht vollständig geplündert. Seine große Bibliothek mit über 6.000 Büchern wurde vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) nach Berlin transportiert.
Im Jahr 1938 erlangte die Familie die französische Staatsbürgerschaft. Doch infolge des Drucks der deutschen Nationalsozialisten wurde ihnen diese bereits im Jahr 1943 entzogen, was dazu führte, dass sie staatenlose und verfolgte Juden wurden. Als im Jahr 1940 deutsche Truppen in Frankreich einmarschierten, verließen die Sterns Paris und siedelten sich im Département Dordogne im Süden Frankreichs an. Dort arbeitete Dr. med. Stern im Clairvivre, einem Lungensanatorium, kehrte aber nach Kriegsende nach Paris zurück.
Dr. med. Erich Stern engagierte sich in verschiedenen jüdischen Organisationen, die sich der Betreuung von Waisen widmeten. Von 1950 bis 1956 bekleidete er die Position des „Chargé de Recherches“ am „Centre National de la Recherche Scientifique“ in Paris, wo er weiterhin an wissenschaftlichen Forschungsprojekten arbeitete. Später verbrachte er seinen Lebensabend in Kilchberg bei Zürich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte sich Dr. med. Stern intensiv, aber vergebens darum, seine Bibliothek wiederzufinden und zurückzuerlangen. Der entscheidende Wendepunkt in diesem Bemühen trat erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod, nämlich in den Jahren 2020 und 2021, ein, als die ZLB Werke aus Dr. Sterns Bibliothek in ihren eigenen Beständen entdeckte.
Wie kamen die beschlagnahmten Bücher von Dr. med. Erich Stern in die UB der FU Berlin?
Diese sechs Bücher wurden in der Sammlung Alfred Weiland gefunden, die 1979 von der FU Berlin erworben wurde. Weiland arbeitete von Juni 1945 bis Februar 1946 in der sogenannten „Bergungsstelle“ und sortierte dort NS-Raubbücher aus der Bibliothek des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Viele davon fügte er seiner eigenen Büchersammlung hinzu. Sowohl die Bücher aus dem Bestand der FU Berlin als auch diejenigen aus der ZLB stammen aus dem RSHA-Depot und fanden in der Nachkriegszeit ihren Weg in die Berliner Bibliotheken.
Das Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung freut sich darüber, dass im Rahmen ihrer Arbeit diese Bücher zurückgegeben werden konnten.
Wie gestaltet sich die Arbeit der Provenienzforschung in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, und welche Erfolge konnten bisher erzielt werden? Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Arbeitsstelle für Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek teilen der Leiter Ringo Narewski und Elena Brasiler ihre Einblicke und Erkenntnisse. Das vollständige Interview von Pepe Egger finden Sie hier.
Im Herbst laden das Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung und der Verlag Hentrich & Hentrich Sie herzlich ein zu unserer Lesereihe „Seitenumbruch – Lesungen in der UB”.
Zum Auftakt am 12. Oktober 2023 um 18:00 Uhr begrüßen wir Dr. Dr. h. c. Hermann Simon, der aus den Memoiren seiner Mutter liest. Das Buch mit dem Titel „Untergetaucht – Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945“ erschien 2014 im S. Fischer Verlag.
Alle Lesungen finden in der Zentralbibliothek der Freien Universität Berlin in der Garystraße 39 statt. Zur besseren Planung bitten wir Sie, sich für die Teilnahme ab der zweiten Lesung am 2. November 2023 bis spätestens zum 31. Oktober 2023 anzumelden. Das Anmeldeformular finden Sie hier.
Alle Lesungen werden auch per Live-Stream übertragen. Den Link zum Live-Stream finden Sie zeitnah auf unserer Webseite.
Hier finden Sie alle Informationen zu den einzelnen Lesungen sowie zu den Terminen.
Die Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin hat ein Buch des legänderen YIVO Institute for Jewish Research als NS-Raubgut identifiziert und an das YIVO Institute in New York zurückgegeben. Dieses Buch wurde während des Zweiten Weltkriegs aus der „Bibliothek des Jiddisch Wissenschaftlichen Instituts“ „בּיבּליאׇטעק פון דעם יידישן וויסנשאַפטלעכן אינסטיטוט“ infolge der deutschen Besatzung in Vilnius, Litauen beschlagnahmt. Nach einer 81-jährigen Odyssee kehrt dieses Buch endlich in den New Yorker Hauptsitz zurück. Wir sind dankbar, dieses verlorene Stück Geschichte zurück in die Hände des YIVO-Instituts überbringen zu können.
Das YIVO Institute war eine renomierte Institution mit akademischem Fokus auf ostjüdischer und jiddischer Kultur und Wirtschaft. Es wurde 1925 in Berlin gegründet, um das Studium und die Erhaltung der jiddischen Sprache und Kultur zu fördern. Der Hauptsitz des Instituts wurde in das damals polnische Vilnius verlegt, das als Kulturhauptstadt der jiddischsprachigen Juden galt. Im Jahr 1935 zog das YIVO Institute in die Wiwulski Strasse 10 und hatte damit ein festes Zuhause, um weiterhin an der Dokumentation und Erhaltung der jiddischen Sprache und Kultur zu arbeiten. [1]
Auch die Bibliothek des YIVO Institutes galt vor dem Zweiten Weltkrieg als eine der bedeutendsten jüdischen Bibliotheken Europas. Im Jahre 1939 beinhaltete die Bibliothek ca. 85.000 Bände. Die Existenz des YIVO Instituts in Vilnius wurde jedoch schlagartig und gewaltsam beendet, als Litauen von der Sowjetunion annektiert und von den deutschen Truppen im Sommer 1941 besetzt wurde. Nach der Invasion der deutschen Wehrmacht von Vilnius errichteten die Nationalsozialisten im März 1942 ein Sortierzentrum für jüdisches Kultureigentum im Gebäude von YIVO und brachten die Arbeit des Instituts zum Erliegen.
In dieser Zeit reiste Johannes Pohl als Mitglied des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (ERR) und Chefbibliothekar von Alfred Rosenberg durch die besetzten Ostgebiete, um für das Institut zur Erforschung der Judenfrage brauchbare Schriften in Bibliotheken auszusondern, was in Wirklichkeit ein Raubzug des jüdischen Kulturguts für den NS-Staat war. Er war seit 1941 Bibliothekar an der „Jüdischen Bücherei“ des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, einer besonderen Abteilung der Hohen Schule der NSDAP beschäftigt. Der ERR beschlagnahmte kulturelles Eigentum, insbesondere Bücher und Kunstwerke von jüdischen Familien, Organisationen und Bibliotheken im von den Nazis besetzten Europa. Dieses Buch konnte aufgrund der vorgefundenen Provenienzhinweise eindeutig als NS-Raubgut identifiziert werden, da es vom Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) konfisziert wurde.
Anfang des Jahres 1942 traf Pohl in Vilnius ein. Unter seiner Anweisung wurden zwischen September 1941 und September 1943 40 jüdische Intellektuelle aus dem Ghetto von Vilnius gezwungen, die Sammlungen des YIVO-Instituts für eine Beschlagnahme systematisch zu überprüfen, zu sortieren oder diese auch zu zerstören. Die Gruppe dieser Intellektuellen, die als „Papierbrigade“ bekannt wurde, bestand aus bekannten Persönlichkeiten wie Herman Kruk, Dina Abramowicz, Zelig Kalmanowicz und dem Dichter Abraham Sutzkever. Trotz der Lebensgefahr gelang es ihnen jedoch, einen Teil der wertvollsten Zeugnisse jüdischer Kultur in Europa zu retten.
Wi bajm baschitsn an eifl – ich lojf mitn jidishn wort, nishter in itlechn hejfl, der gajst zol nit wern dermordt.
Wie einen zarten Säugling beschütz ich das jiddische Wort, schnuppre in jeden Berg Papier, rette den Geist vor Mord.
Abraham Sutzkever: Weizenkörner, März 1943 Aus: Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2009
Die Verluste, den das Institut erlitt, traf das YIVO schwer. Nicht nur ein beträchtlicher Teil des Wissens und der Geschichte, die das YIVO im Laufe der Jahre gesammelt hatte, ging unwiederbringlich verloren, sondern es waren auch persönliche Verluste zu beklagen. Unter denjenigen, die im Wilnaer Ghetto ihr Leben ließen, befanden sich auch Herman Kruk und Zelig Kalmanowicz, deren tragischer Tod eine schmerzliche Lücke in der Institution und im Herzen ihrer MitstreiterInnen hinterließ. Nur Dina Abramowicz und Abraham Sutzkever sind dem Tod entkommen, indem sie sich den jüdischen Partisanen anschlossen.[2]
Im Oktober und November 1942 sowie im Februar 1943 wurden durch den ERR bedeutende Teile der Bibliothek und Archive der YIVO u. a. in das Institut zur Erforschung der Judenfrage nach Frankfurt am Main, Bockenheimer Landstraße 68-70 verbracht. Dieses Institut diente den Nazis als zentrales Lager für sämtliche jüdische Kulturschätze, die sie aus Forschungseinrichtungen und Privatsammlungen in ganz Europa enteignet hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieges wurden die geborgenen Bestände der geplünderten YIVO Bibliothek und der Archive im Offenbach Archival Depot (OAD) sichergestellt und später zum Hauptsitz des YIVO Institutes nach New York gebracht.
Dort bestand seit 1925 bereits eine Niederlassung, und einige der führenden MitarbeiterInnen kamen aus Europa in die USA, um dort ihre Arbeit fortzusetzen. Das YIVO-Institute beherbergt mittlerweile die weltweit größte Sammlung von jiddischen Schriften und Materialien zur Geschichte und Kultur osteuropäischer Juden mit über 380.000 Büchern und Zeitschriften sowie mehr als 24 Millionen Dokumenten, Fotos, Postern, Filmen und anderen Archivalien.
Über das Buch
Das gefundene Buch in der FU Berlin stammte aus der Bibliothek für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien und gelangte 1978 in den Bestand der FU. Ursprünglich gehörte es zum Bestand des Instituts für Balkanologie, das in den 70er Jahren aufgelöst wurde. Bedauerlicherweise sind keine Zugangsbücher aus dieser Zeit erhalten geblieben, wodurch der Lieferant nicht mehr festgestellt werden kann.
Dieses Buch enthält mehrere Provenienzhinweise, die wichtige Informationen über die Herkunft und den Verbleib des Buches während der NS-Zeit lieferten und zur eindeutigen Identifizierung als NS-Raubgut beigetragen haben.
Die älteste Provenienz in diesem Buch ist ein Ausfuhrzeichen aus dem 1. Weltkrieg, auf dem ein stilisiertes Völkerschlachtdenkmal in Leipzig abgebildet ist (s. Mitte unten). Da mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges die formale Pressefreiheit aufgehoben wurde, ging die Kontrolle über die Medien an Zensurstellen beim Militär über. Im Jahr 1916 wurde in der Deutschen Bücherei in Leipzig eine Militärzensurstelle namens Buchprüfungsstelle Ober Ost eingerichtet, um den Import von Büchern zu kontrollieren, die in das Besatzungsgebiet der deutschen Streitkräfte an der Ostfront (kurz Ober Ost) gebracht werden sollten. Dieses Gebiet umfasste vom November 1915 bis Juli 1918 große Teile von Kurland, Litauen, Lettland und Weißrussland.[3]
Die Verwendung von Zensur-Stempeln auf Büchern war auch Teil eines breiten Versuchs der deutschen Regierung, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen und die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Bücher, die den Idealen des Denkmals entsprachen und als patriotisch angesehen wurden, sollten die Moral der Bevölkerung stärken. Die von der Zensurstelle als unbedenklich eingestuften Bücher erhielten ein Ausfuhrzeichen als Genehmigung für den Export. Die Zensur für die Region Leipzig wurde vom 19. Armeekorps übernommen, welches das Völkerschlachtdenkmal auf den Stempeln verwendete. Daher durften nur Bücher mit diesem Ausfuhrzeichen von den lokalen Buchhändlern ins verbündete und neutrale Ausland sowie in die besetzten Gebiete – in diesem Fall nach Vilnius – exportiert werden. Es ist daher davon auszugehen, dass das Buch im Zeitraum von 1916-1918 von Leipzig nach Vilnius verbracht wurde.
Eine weitere Provenienz ist auf Hebräisch דר יעקב שאצקי von Dr. Jacob Shatzky.
Der Name ist in der Provenienz entsprechend mit seinem Doktortitel angegeben: Dr. Yankev Shatzky. Ob Shatzky dieses Buch aber bereits vor seiner Disseration, und zwar während seines Aufenthalts in Vilnius im Jahre 1918 erworben hat, ist unbekannt. Eine hypothetische Anschaffung des Buches könnte aber erst nach dem Import aus Deutschland nach Litauen in den Jahren 1918 bis 1922 stattgefunden haben, da Schatzky im Dezember 1922 nach New York ging.[6] Anschließend wurde das Buch vermutlich von der YIVO-Bibliothek übernommen.
Dr. Yankev (Jacob) Shatzky (1893-1956) war ein anerkannter polnisch-jüdischer Historiker und Autor vieler Bücher, der in Warschau geboren wurde. Shatzky war ein bekannter Experte für jüdische Geschichte und Kultur in Polen und Ostmitteleuropa. Während des Ersten Weltkriegs diente er unter Marschall Józef Piłsudski in der polnischen Legion. Er erhielt drei Auszeichnungen für seinen Einsatz und stieg zum Leutnant auf. Nach dem Krieg arbeitete er kurzzeitig für die neue polnische Regierung. So wurde Shatzky 1918 vom polnischen Außenministerium nach Vilnius geschickt, um Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung zu untersuchen, die in der Stadt stattgefunden haben. Shatzky schrieb später einen Bericht über den Vorfall, der in der polnischen Presse veröffentlicht wurde. Als das Ministerium nicht auf seinen Bericht reagierte, trat er von seinem Posten zurück und unterrichtete Geschichte an jüdischen Gymnasien in Warschau.[4] Nach Abschluss seines Doktorats in 1922 wanderte er unmittelbar danach in die USA aus und wurde ab 1929 Bibliothekar des New York State Psychiatric Institute.[5] Er war Präsident des Yiddish PEN Clubs und engagierte sich in vielen Organisationen wie z. B. YIVO und der Jewish Historical Society of Israel (HSI). Einen Teil seiner umfangreichen Bibliothek vermachte er der Hebräischen Universität Jerusalem und der Jewish Historical Society of Israel.
Unser erster Podcast ist da! 🎙️ Zum Auftakt des 10-jährigen Jubiläums der Arbeitsstelle Provenienzforschung der Universitätsbibliothek an der FU Berlin starten wir unsere Podcast-Reihe: Spuren in Tausenden Büchern. In der ersten Folge „Anfänge“ geht es darum, wie die Suche nach den geraubten Büchern begann und wie die Spuren aus den Büchern ins Internet kamen.
Von historischen Erinnerungen an die Suche nach geraubten Büchern kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führt diese erste Folge im Zickzack bis zum 10-jährigen Jubiläum der Arbeitsstelle Provenienzforschung im Jahr 2023. Auf dem Weg liegen unter anderem die Gründung der Freien Universität Berlin 1948, die Anfänge systematischer NS-Raubgutforschung in den 1990er Jahren und jede Menge Spuren in Büchern – die heute in einer modernen Datenbank (Looted Cultural Assets) verzeichnet werden.
Ringo Narewski, Leiter der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU, erzählt im Interview mit Lizaveta Wunderwald von Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Bei diesem Thema ergänzen ihn Dr. Andreas Brandtner, Leitender Direktor der Universitätsbibliothek der FU, sowie die Provenienzforscher Sebastian Finsterwalder und Peter Prölß von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und dem Deutschen Technikmuseum.
Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 1: Anfänge
Zahlreiche Events bieten das ganze Jahr 2023 einen Blick auf die junge Geschichte der Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU Berlin. Infos zum Auftakt unseres Jubiläums finden Sie in Kürze auf unserer Webseite und auf Twitter. https://twitter.com/raubgut_books