Das Winterhochwasser 2023/24 – Verhalten der Bevölkerung und Krisenkommunikation: Lessons to Learn

Von Nicolas Bock, Cordula Dittmer, Verena Flörchinger und Peter Windsheimer

Quelle: KFS

In den letzten Wochen des Jahres 2023 kam es in Deutschland, insbesondere im Bundesland Niedersachsen, aber auch in Teilen Thüringens, Sachsens, Sachsen-Anhalts und im Westen Deutschlands zu großflächigen Überflutungen. Die Hochphase dieses Winterhochwassers fiel über die Weihnachtsfeiertage sowie Silvester. Winterhochwasser (z. B. am Rhein) sind keine Seltenheit, allerdings hatte man es bei den Winterhochwassern 2023/24 mit einer Kombination von Schneeschmelze, gesättigten Böden, volllaufenden Talsperren, langanhaltendem Regen und vollgesogenen Deichen zu tun, was die Lagebewältigung erschwerte (Müller-Tischer 2024). Durch den nach Wetterberuhigung eintretenden Frost verschärfte sich die Lage nochmals. Die Anfahrt an die Deiche mit schwerem Gerät war durch den frostharten Boden zwar möglich, gefrorenes Wasser in den Deichen barg allerdings die Gefahr von Frostbrüchen und die Einsatzmittel waren teilweisen in ihrer Tauglichkeit eingeschränkt (Müller-Tischer 2024).

Dennoch stellte dieses Winterhochwasser aus Sicht der Hydrologie kein Extremereignis wie 2002, 2013 oder gar 2021 dar (Bringewski 2024). Die Hochwasserlage war erwartbar und relativ gut planbar, sodass vereinzelte Evakuierungen, gezielte Überflutungen sowie Deichschlitzungen oder auch das Öffnen des Pretziner Wehrs in Sachsen-Anhalt als mit Vorlauf geplante Entlastungsmaßnahme durchgeführt werden konnten (Carstensen et al. 2024). Im Gegensatz zu bspw. den Hochwasser- und Starkregenereignissen im Ahrtal 2021 stieg das Wasser langsam an, es gab kaum Strömungsschäden und ein umfassender baulicher Hochwasserschutz (Deiche) sowie ausreichende Vorwarnzeit waren vorhanden (Müller-Tischer 2024).

Die Schäden an der Infrastruktur belaufen sich laut dem Gesamtverband der Versicherer auf ca. 200 Millionen Euro (Gesamtverband der Versicherer 2024), weil Hauseigentümer*innen i. d. R. noch immer unzureichend gegenüber Starkregen und Hochwasser versichert sind (Wille 2024a; Hoffmann 2023b; Wille 2024b; Endres 2024) oder die Schäden nicht aufgrund von Flusshochwasser, sondern wegen des angestiegenen Grundwasserspiegels entstanden sind, für den die Versicherung nicht haftet (wie das Beispiel Landkreis Nordhausen zeigt).

Außerhalb der betroffenen Regionen bekam die Bevölkerung über die Weihnachtsfeiertage relativ wenig vom Ausmaß, von Betroffenheiten oder der Bewältigung der Lage mit. Einzelne Schlagzeilen schafften es jedoch auch „zwischen den Jahren“ in die Medien: Zu nennen wären hier z. B. der „Sandsackklau“ (NDR 2023, 2024) oder der Katastrophentourismus (Kolhoff 2024; Bäuml et al. 2024; NDR 2024), deren Vorkommen z. T. als Vorboten bürgerkriegsähnlicher Zustände und das Ende jeden sozialen Verhaltens gewertet wurden (Kolhoff 2024). In vereinzelten Fällen verbreiteten sich über soziale Medien auch Falschmeldungen, die mit unfundierten Anschuldigungen das Vertrauen der Bevölkerung in das Katastrophenmanagement von staatlicher Seite zu unterminieren suchten, indem sie ihm falsche Prioritätensetzung und ein nicht primär am Wohl der Bevölkerung orientiertes Handeln unterstellten (MDR 2024; Thom 2024). Viel war zudem über die Zustände der Deiche und den (ungenügenden) Hochwasserschutz zu lesen (Kuhn 2024; Iser 2024). Nach den Feiertagen folgten Forderungen von Politik und Akteuren des Katastrophenschutzes nach einer verbesserten Ausstattung, ohne dass bis dahin über eklatante Lücken oder Herausforderungen in der Bewältigung durch den Katastrophenschutz berichtet worden wäre (Deutschlandfunk 2023; dpa und Dedy 2023; Evangelische Zeitung 2024; Grzeschik 2024; Meier und Rebhan 2024; Strauß 2024).

Der folgende Blogbeitrag entstand aus einer Quick-Response-Forschung, die während der Winterhochwasser 2023/24 ins Leben gerufen wurde. Neben einer ausführlichen Medienanalyse wurden sechs Expert*inneninterviews mit Personen aus dem Bevölkerungsschutz und auf Landkreisebene der beiden Landkreise Mansfeld-Südharz (Sachsen-Anhalt) und Nordhausen (Thüringen) durchgeführt (Januar/Februar 2024). Dass seitdem weitere ähnlich oder gar verheerende Hochwasser in verschiedenen Regionen Deutschlands zu verzeichnen waren, stellt auch die wissenschaftliche Analyse und Aufbereitung vor Herausforderungen. Aufgrund der rapide steigenden Taktung derartiger Ereignisse durch den sich beschleunigenden Klimawandel kann auch die Forschung kaum noch mit den Ereignissen Schritt halten.

In dem folgenden Beitrag nehmen wir eine Einschätzung der Berichterstattung zum Winterhochwasser 2023/24 aus katastrophensoziologischer Sicht vor. Dieser dient der Einordnung dominanter Diskurse sowie gängiger Narrative – insbesondere bezogen auf antisoziales Verhalten der Bevölkerung im Kontext von Extremereignissen. In einem zweiten Blogbeitrag wird die Perspektive des Katastrophenschutzes dargestellt.

Verhalten der Bevölkerung I: „Der Sandsackklau“

Besonders große Aufmerksamkeit in den sozialen und öffentlichen Medien erhielten Berichte über antisoziales Verhalten der Bevölkerung wie Sandsackklau, Katastrophentourismus (NDR 2024) oder das Missachten von offiziellen Vorgaben wie z. B. dem Verbot, den Deich zu betreten (NDR 2023). Dies wurde von einzelnen Kommentator*innen zum Anlass genommen – und in der öffentlichen Meinung vielfach so geteilt und bestätigt – den vermeintlichen Untergang jeglicher sozialer Ordnung zu thematisieren:

„Niemals zuvor hat man jedoch gehört, dass wie gerade in verschiedenen Orten geschehen, Leute Sandsäcke von den Deichen gestohlen hätten, um damit ihre eigenen Objekte abzusichern. Oder gar Generatoren, mit denen die Pumpen angetrieben werden. Niemals auch gab es so einen massenhaften Gaffer-Tourismus ins Hochwasser […]. Es sind dies wohl Erscheinungen der heutigen Zeit. Hemmungsloser Individualismus paart sich mit Egoismus und Unterhaltungssucht. Heraus kommt bei einem Teil der Bevölkerung asoziales Verhalten und totales Desinteresse an der Gemeinschaft. Diese bedauerlichen Nebenaspekte des Weihnachtshochwassers 2023 sind Vorboten für das, was mit der großen Klimakrise auf uns zukommt. Auch da, das zeichnet sich jetzt schon ab, wird es die drei Gruppen geben: Die, die versuchen das Schlimmste abzuwenden und zu retten, was zu retten ist. Die, die bloß gaffen, das ist die Mehrheit. Und die, die aus der Krise noch einen letzten Profit schlagen wollen“ (Kolhoff 2024).

In einem Gespräch mit dem Präsidenten des Feuerwehrverbandes Banse wird allerdings deutlich, dass die Menschen, denen der Sandsackklau unterstellt wurde, dies taten, „um ihre Häuser zu schützen“, weil ihnen selbst Sandsäcke fehlten (NDR 2024). Die Priorisierung der Deichrettung bzw. des Hochwasserschutzes schien vielen Menschen nicht geläufig, sodass es auch zu Diskussionen und Beschimpfungen von Einsatzkräften kam (Interview 3 Bevölkerungsschutz). „Es gibt Beleidigungen, es gibt Diskussionen mit Betroffenen, warum wird erst in der Straße A begonnen und nicht in der Straße B das Wasser abzupumpen. Warum hat mein Nachbar vorher die Feuerwehr im Keller als ich“ (Daniel 2023).

Vor allem für die lokale Presse schien das Thema Sandsackklau von Interesse gewesen zu sein, für die professionellen Akteure in den Krisenstäben der befragten Landkreise spielte es hingegen keine Rolle (Interview 1 Bevölkerungsschutz; Interview 3 Bevölkerungsschutz). Es wurde konstatiert, dass in den jeweiligen Regionen eine funktionierende Sozialstruktur existiert und soziale Kontrolle vorherrscht (Interview 2 Verwaltung).

Lesson to Learn

Die Bevölkerung ist oft nicht ausreichend darüber informiert, wie ein Einsatz des Katastrophenschut-zes aussieht, wer daran beteiligt ist, das und wie ggf. priorisiert werden muss.

Verhalten der Bevölkerung II: Behinderung der Arbeit von Einsatzkräften

Ein weiterer Aspekt, der in den Medien aufgegriffen wurde, ist, dass die Bevölkerung sich durch Missachtung der Vorgaben des Katastrophenschutzes selbst in Gefahr brachte oder die Deichsicherung gefährdete. So wurde in Medien davon berichtet, dass Menschen frühzeitig in ihre Häuser zurückkehrten, bevor die Sperrung aufgehoben war (Bäuml et al. 2024). In einer selbstorganisierten Rettungsaktion gerieten drei Menschen in Gefahr und konnten nur durch Zufall gerettet werden (Bäuml et al. 2024). In einem weiteren Fall kam es zu einem „Dieselklau aus dem Not-Bagger“ (Stadt Oldenburg 2024), der für eine potenzielle Notöffnung des Deichs am Osternburger Kanal in der Stadt Oldenburg vorbereitet wurde. Auch wenn eine Öffnung des Deiches schließlich nicht notwendig wurde, griff das Verhalten in die Einsatzstrategie ein und hätte enorme Schäden verursachen können. Besonders problematisch waren die sog. Deichtourist*innen und vielen Schaulustigen, die sowohl die Arbeit der Einsatzkräfte behinderten als auch durch das Betreten der aufgeweichten Deiche deren Bruch riskierten (Daniel 2023; Becker 2023). Die Stadt Oldenburg zählte rund 200 Verstöße gegen Betretungsverbote von Deichanlagen, die jeweils mit 300 bis 400 Euro Bußgeld geahndet wurden (Stadt Oldenburg 2024).

Diese Verhaltensweisen erschweren die Arbeit von Einsatzkräften und gefährden im schlimmsten Fall die gelingende Vorsorge und Bewältigung. Politiker*innen nahmen die Vorkommnisse auf und wandten sich z. B. mit dem Appell, die Helfenden ihre Arbeit tun zu lassen an die Bevölkerung. „Zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gehört es auch, sich gerade in Notsituationen zusammenzureißen und seinen Egoismus hinten anzustellen“, appellierte z. B. die niedersächsische Innenministerin (ZEIT ONLINE 2023). Ob die Ereignisse, über die berichtet wurde, sich tatsächlich so zugetragen haben – oder ob sie in Relation zur sehr gut funktionierenden Zusammenarbeit von Einsatzkräften und Bevölkerung überhaupt relevant sind – wurde nicht hinterfragt und so ein v. a. in den Sozialen Medien kursierendes Lagebild einer rücksichtslosen Gesellschaft gezeichnet. Berichterstattung ist selbstverständlich zentral, um die Bevölkerung in einer Lage zu informieren; auch Stellungnahmen sowie Appelle von Politiker*innen sind nachvollziehbar. Es ist ebenso nicht auszuschließen, dass einzelne Personen sich nicht an Richtlinien halten oder verunsichert darüber sind, wie sie sich verhalten sollen – insbesondere in einer großflächigen Lage. Dennoch ist zu beobachten, dass die Berichterstattung insbesondere in den sozialen Medien das Gesamtbild der Lage verzerrte: Während des Winterhochwassers wie auch in anderen Katastrophen wird von einem ruhigen und fast durchweg sozialen Verhalten der Bevölkerung berichtet (Interview 4 Bevölkerungsschutz).

Lesson to Learn

Die Berichterstattung in den öffentlichen und sozialen Medien muss sich gerade in einer Katastrophe an realen Gegebenheiten orientieren. Die Sensationalisierung von Einzelereignissen bzw. Fehlverhal-ten einiger Weniger darf nicht dazu dienen, Verallgemeinerungen zu ziehen.

Verhalten der Bevölkerung III: Krisenkommunikation

Um Regelverstößen oder unwissendem Verhalten vorzubeugen und folgenreichen Aktivitäten entgegenzuwirken, können aufklärende, kreative und innovative Lösungsansätze der professionalisierten Krisenkommunikation hilfreich sein – wie beispielsweise von der Stadt Oldenburg im Falle von Deichtourist*innen veranlasst: „Um den unerwünschten ,Deichtourismusʻ weiter einzudämmen und der Bevölkerung einen Einblick von oben zu geben, veröffentlichte die Stadt auf ihrer Website kurzerhand einige Drohnenvideos der Drohnengruppe Feuerwehr Stadt Oldenburg, die zahlreich geklickt wurden“ Stadt Oldenburg 2024). Ob dieses Angebot zu einer substanziellen Verringerung des Deichtourismus beigetragen hat, müsste analysiert werden. Dennoch, gekoppelt mit weiteren Informationen, hat diese Herangehensweise Potential, die Bevölkerung aufzuklären und Verhaltensweisen zu beeinflussen.

Lesson to Learn

Kreative und spontane Angebote sowie Transparenz in der direkten Krisenkommunikation von Seiten der verantwortlichen Behörden ist essenziell, um die Bevölkerung zum Mithelfen und Mitarbeiten zu bewegen. 

Ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Krisenkommunikation mit der Bevölkerung zeigte sich in der Gemeinde Heringen/Helme im Südharz: Aufgrund vielfältiger Hilfsangebote sowie eines hohen Informationsbedarfs der betroffenen Bevölkerung wurde zeitnah und improvisiert durch ehrenamtliche Hilfe ein Bürger*innentelefon besetzt (Interview 2 Verwaltung). Auch eine zusätzliche Helfer*innen-E-Mail ermöglichte die Koordination der Hilfsangebote; daneben wurde ein Spendenkonto eingerichtet. Diese Angebote sowie die aktuelle Lage wurden einerseits über Pressemitteilungen kommuniziert, andererseits wandten sich leitende kommunale Verantwortliche regelmäßig über soziale Medien an die Bürger*innen und informierten diese stets aktuell (Instagram 2023; Interview 2 Verwaltung).

Im Rahmen der Hochwasserlage im Südharz wurde in der Krisenkommunikation auf Freiwilligkeit gesetzt und eine mögliche Evakuierung eines Dorfes lediglich empfohlen, ohne durch eine verpflichtende Anordnung entsprechenden Druck aufzubauen. Dazu wurde eine geeignete Kommunikations- und Informationsinfrastruktur aufgebaut und die Bewohner*innen wurden informiert. Die Mehrheit folgte dieser Empfehlung (Interview 2 Verwaltung).

Krisenkommunikation und Falschmeldungen von behördlicher Seite

Krisenkommunikation über soziale Medien stellt mittlerweile eine wichtige Möglichkeit dar, um (potenziell) Betroffene schnell und direkt mit wichtigen Informationen über die Entwicklung der Katastrophenlage zu versorgen (Interview 2 Verwaltung). Sie erfordert jedoch auch eine engmaschige und erfahrene Begleitung (Interview 5 Verwaltung; Kracke 2023).

Wenngleich Falschmeldungen über soziale Medien während des Winterhochwassers 2023/24 eher eine Ausnahme darstellten, gab es dennoch einige Fälle, in denen sie in Form von Desinformationen (Hoffmann 2023a) gezielt gestreut wurden. Diese verfolgten das Ziel, in der Bevölkerung das Vertrauen in die Krisenmanagementfähigkeiten öffentlicher Akteure zu untergraben und sie zu verunsichern. So wurde einerseits Entscheidungsträger*innen falsche Prioritätensitzung unterstellt, bspw. weil sie den Tierschutz angeblich höher gewichteten als Hochwasserschutz. In diesem Fall ging es darum, dass ein Hochwasserrückhaltebecken aufgrund des Schutzes von Kranichen nicht rechtzeitig gelehrt worden sei, was von den verantwortlichen Stellen jedoch dementiert wurde (MDR 2024). Außerdem wurde in einer Falschmeldung, die bundesweit Aufmerksamkeit erhielt, behauptet, dass Geflüchtete im Rahmen eines Ortsbesuches von Bundeskanzler Olaf Scholz gezielt als Katastrophenhelfende eingesetzt und hierfür andere Helfer*innen nach Hause geschickt worden seien. Obwohl es kaum zeitliche Überschneidung mit dem Besuch des Bundeskanzlers gab und auch keine anderen Helfenden weggeschickt wurden (Stubert 2024), verbreitete sich diese Falschmeldung dennoch sehr schnell und wurde auch gezielt von AFD-nahen Kommunalpolitiker*innen geteilt (Interview 5 Verwaltung). Zudem wurden Richtigstellungen involvierter Akteure systematisch diskreditiert und diese durch massive Anfeindungen dazu gebracht, ihre online geäußerten Wortmeldungen zurückzuziehen (Interview 2 Verwaltung). Es gab Falschmeldungen zu Evakuierungen (Oldenburger Onlinezeitung 2023; tagesschau 2023; OS Kurier 2023), zu angeblichen Plünderungen (buten un binnen 2023) oder es wurden Vorwürfe verbreitet, dass andere EU-Länder Deutschland während des Hochwassers keine Hilfe zukommen ließen, während Deutschland bei Katastrophen in anderen Ländern zu hohe eigene Ressourcen aufwende (Mimikama 2024).

Lesson to Learn

Soziale Medien sind als eigene Einsatzstelle insbesondere in der Krisenkommunikation zu betrachten. Diese können sich zum Fluch entwickeln, richtig bedient aber einen Segen darstellen. 

Verhalten der Bevölkerung IV: Hilfsbereitschaft

Quelle: KFS

In allen betroffenen Regionen waren Solidarität und Hilfsbereitschaft zu beobachten: so z. B. in Meppen, wo fünf Personen mithilfe eines Traktors aus einem von Wasser umgebenen Haus gerettet werden mussten, nachdem die Feuerwehr zunächst erfolglos versucht hatte, sie mit einem Boot zu evakuieren (ZEIT ONLINE 2023). Gastrobetriebe stellten Essen bereit, Freiwillige engagierten sich aktiv beim Befüllen von Sandsäcken (Nord-West-Media TV 2024), und die Versorgung der Helfer*innen wurde sichergestellt. Ein Spendenkonto wurde eingerichtet, um finanzielle Mittel für den Wiederaufbau zu mobilisieren. Überörtliche und überregionale Hilfsmaßnahmen wie die Bereitstellung von Sandsackfüllmaschinen durch Partnerstädte (Stadt Braunschweig 2024) funktionierten reibungslos.

Der Andrang an Hilfsangeboten sowohl materieller als auch personeller Art war vielerorts derart groß, dass die lokalen Kräfte mehr mit ihrem Management beschäftigt waren als mit der konkreten Hochwasserbewältigung. Hier kamen auch die Weihnachtsfeiertage zugute, in denen viele Menschen Urlaub und Zeit hatten:

„Und trotzdem, die Menschen im Landkreis scheint in diesen Tagen eines zu verbinden: es ist das Gefühl, die Situation nur zusammen meistern zu können – und die Aufgeschlossenheit gegenüber all denen, die jetzt vorbeikommen. Zum Helfen, zum Berichten. Das ist in Oberröblingen so. Und es ist so im Katastrophenschutzstab des Landkreises. Wer dort dieser Tage als Pressevertreter anruft, bekommt Auskunft. Freundlich und zugewandt, trotz allem. Rund um die Uhr“ (Fürstenberg und Deutschländer 2024).

Quelle: KFS

Da es sich für eine Hochwasserlage um eine sehr langanhaltende Lage handelte, gelangten die Einsatzkräfte an Grenzen: „Noch ist die Stimmung gut, aber einige Einsatzkräfte kommen an ihre Grenzen. Mit jedem Tag, den die Lage weiter angespannt bleibt, ist es schwieriger, der Erschöpfung entgegenzutreten. Da sind solche positiven Momente für die Helferinnen und Helfer kleine Inseln inmitten dieser wirklich fordernden Hochwasserlage“ (Oldenburger Onlinezeitung 2023).

Diese gegenseitige Hilfe wurde auch von den Interviewpartner*innen hervorgehoben. Es wurde davon berichtet, dass Menschen den Einsatzkräften ihren Dank aussprachen (Interview 4 Bevölkerungsschutz) und z. B. selbstgebackenen Kuchen in die Bereitschaftsräume brachten (Moin Oldenburg! Dein Stadtpodcast 2024). Hilfe sei nicht nur das Sandsackschleppen, sondern auch das „Drumherum“, bspw. die indirekte Unterstützung und Versorgung der Einsatzkräfte durch die Bevölkerung (Interview 4 Bevölkerungsschutz). Auch zahlreiche Unternehmen unterstützten die Einsatzkräfte. Lebensmittelgeschäfte erlaubten den Einsatzkräften beispielsweise, außerhalb der regulären Öffnungszeiten einzukaufen. Eine Tankstelle stellte Benzin zur Verfügung und rechnete es erst im Nachhinein ab. Ein örtliches Gartencenter stellte technisches Equipment zur Verfügung, ohne dafür (bis zum Zeitpunkt des Interviews) eine Rechnung zu stellen. Ein Pizzaunternehmen spendete einen Verkaufsstand sowie Pizza für den Bereitstellungsraum. Die Solidarität bestand über die Landkreisgrenze hinweg (Interview 5 Verwaltung).

Lesson to Learn

Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist grundsätzlich hoch. Menschen verhalten sich nur in Ausnah-mefällen rücksichtslos oder egoistisch – zumeist dann, wenn vor dem Ereignis bereits eine große sozi-ale Ungleichheit herrschte. 

Wie kann man diese sehr unterschiedlichen Darstellungen katastrophensoziologisch erklären?

Die vorgestellte Analyse zeichnet neben den einzelnen unangebrachten Verhaltensweisen und riskanten Situationen auch im Winterhochwasser 2023/24 ein Bild des Bevölkerungsverhaltens von Empathie, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt. Trotz dieser überwiegend positiven Erfahrungen der Akteure nehmen einige der Befragten jedoch auch eine Polarisierung der Gesellschaft und eine inbesondere in den sozialen Medien sich etablierende Ablehnung staatlicher Stellen wahr (Interview 5 Verwaltung). Die Situation während des Hochwassers, in der gegenteilige Erfahrungen gemacht wurden, wird als Ausnahme tituliert, die „solch einer Situation“ geschuldet (Interview 5 Verwaltung) sei.

In der jüngst erschienenen soziologischen Gegenwartsstudie „Triggerpunkte“ (Mau et al. 2024) zeigt sich, dass diese Diskrepanz in der Wahrnehmung einer allgemeinen gesellschaftlichen Polarisierung und der ihr entgegengesetzten sehr sozialen persönlichen Erfahrungen die gegenwärtige Gesellschaft grundsätzlich charakterisieren. Es wird herausgearbeitet, dass die Empfindung einer in vielen Themenbereichen gespaltenen Gesellschaft nicht der tatsächlichen gesellschaftlichen Landschaft entspricht. Beispielhaft werden in der Studie vier „Arenen der Ungleichheit“ beleuchtet: Armut und Reichtum; Migration; Diversität und Gender; Klimaschutz. In diesen Feldern sei weitestgehend ein Konsens erreicht. Das heißt, dass „die meisten Menschen also viel stärker zur Mitte als zu den Rändern tendieren” (Mau et al. 2024: 381).  Schaut man auf die Struktur der Positionierung gesellschaftlicher Gruppen in politischen Kernfragen, lässt sich feststellen, dass sich diese – entgegen der öffentlichen Diskussion –  nicht unerbittlich gegenüberstehen, sondern in der Breite ein Konsens besteht. Sie resümieren: „Das Bild eines politisch-gesellschaftlichen Risses erweist sich somit als falsch. Und auch der Blick auf die letzten Jahrzehnte zeigt, dass es, allen Beschwörungen des Gegenteils zum Trotz, in unseren vier Arenen keine Anzeichen für eine zunehmende Polarisierung gibt“ (Mau et al. 2024: 381). In grundlegenden Leitvorstellungen ist sich die Mehrheit der Gesellschaft also einig. Dennoch gibt es Konflikte, die jedoch spezifisch sind und in denen eher der Umgang mit Themen ausgehandelt wird als der Inhalt der Themen selbst.

Wenn jedoch keine tatsächliche Polarisierung besteht, stellt sich die Frage, was dieses Empfinden verursacht. Mau et al. (2024) analysieren mehrere Aspekte. Ein Aspekt ist die verstärkte Aktivierung politischer Konflikte entlang der Ränder. Die äußeren Bereiche der Meinungslandschaften dominieren deshalb aktuell das deutlich größere Zentrum:

„Waren die entsprechenden Bevölkerungssegmente früher in etablierten Interessenorganisationen integriert und damit tendenziell » auf leise « gestellt, sind nunmehr an den Rändern eigenständige, » laute « und zuweilen übersteuerte Mobilisierungsformen entstanden, die über Politisierung und Depolitisierung von Themen entscheiden. Die breite gesellschaftliche Mitte ist hingegen entideologisiert und nur schwach parteipolitisch gebunden, was ihre Mobilisierungs- und Artikulationsfähigkeit schwächt. Damit wirkt sie akustisch abgedimmt, sie wird übertönt und ist in der Summe weniger hörbar. Die Konfliktformierung im öffentlichen Raum entfaltet sich nun vor allem über die politisierten Ränder, was den – falschen – Eindruck vermittelt, die Gesellschaft insgesamt zerfalle in zwei oder weniger klar abgrenzbare Lager“ (Mau et al. 2024: 378).

Die Katastrophensoziologen Clausen und Dombrowsky beantworteten bereits 1983 die Frage, ob Menschen Hilfsbereitschaft und Selbsthilfefähigkeiten ausbilden mit dem in der neoliberalen Leistungsgesellschaft vorherrschenden „Tabu […], in der man keine Angst kennt, […], in ihr ist Scheitern verpönt“ (Clausen und Dombrowsky 1983: 177). Erst die Möglichkeit, Schwächen zugeben zu können, ermögliche Solidarität. Dies fällt im o. g. Fall der eher nachbarschaftlichen bzw. überörtlichen Hilfe deutlich leichter als im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Zugleich brauche es eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, dass Risiken über verschiedene soziale Gruppen hinweg relativ gerecht verteilt seien und gemeinsam geteilte Werte und Normen vorliegen (Clausen und Dombrowsky 1983). Dieser gesamtgesellschaftliche Konsens wird gegenwärtig durch die „politisierten Ränder“ (s. o.) angegriffen und in Frage gestellt sowie das Narrativ gestärkt, dass Risiken eben nicht gleich verteilt seien.

Fazit

Das Winterhochwasser – wie auch andere Extremlagen, Krisen und Katastrophen in der Vergangenheit – wirken wie ein Brennglas vorhandener gesellschaftlicher Diskurse und Realitäten, sie sind „überdimensionale Prüfungen sowohl für den Reifegrad ganzer Gesellschaften und ihr Vermögen, Risiken kollektiv vorzubeugen, als auch für den Reifegrad der Individuen, die im Zweifelsfall dem kollektiven Unvermögen entgehen müssen“ (Clausen und Dombrowsky 1983: 161). Wie die Bewältigung des Winterhochwassers 2023/24 gezeigt hat, sind Solidarität und Unterstützung trotz gegenläufiger Tendenzen in den öffentlichen und sozialen Medien immer noch selbstverständlich (siehe zu den Hochwasserereignissen 2013 und 2021 Dittmer und Lorenz 2023, 2024; Voss et al. 2022). Es zeigt sich vielmehr, dass eine sensible und informierte Medienberichterstattung eine bislang noch immer unterschätzte Rolle in der Lagebewältigung einnimmt (siehe dazu auch die aktuelle Studie Prinzing et al. 2024).

Literaturverzeichnis

Clausen, Lars; Dombrowsky, Wolf (1983): Vorsicht Glas! Ratgeber für erhöhte Gefahr. Bonn: Bundesamt für Zivilschutz.

Interview 1 Bevölkerungsschutz: Interview 1 Bevölkerungsschutz. Hochwasser in der VOST, Gründungsmitglied – Gruppe Digitale Lageerkennung, stellv. Leitung, hauptamtlich beim BKK.

Interview 2 Verwaltung: Interview 2 Verwaltung.

Interview 3 Bevölkerungsschutz: Interview 3 Bevölkerungsschutz.

Interview 4 Bevölkerungsschutz: Interview 4 Bevölkerungsschutz..

Interview 5 Verwaltung: Interview 5 Verwaltung.

Mau, Steffen; Lux, Thomas; Westheuser, Linus (2024): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. 7. Auflage: Suhrkamp Verlag.