Von Cordula Dittmer und Daniel F. Lorenz
Am 20. Juli 2023 weckte die Warn-App NINA die Bewohner*innen des beschaulichen Oberschichtghettos Kleinmachnow, im Süden von Berlin um 4:26 Uhr mit der Nachricht: „Warnung vor freilaufender Raubkatze“, die um 6:07 Uhr nochmals erneuert wurde mit der Botschaft „Warnung vor einem freilaufenden gefährlichen Wildtier“ und der Ergänzung „Bei dem Wildtier soll es sich vermutlich um eine Löwin handeln“.
Empfohlen wurde in weiteren Warnungen, das Haus möglichst nicht zu verlassen und Haustiere ins Haus zu holen. Grundlage der Warnungen war ein relativ verpixeltes in der Nacht aufgenommenes Video, auf dem nach Aussagen der Beobachtenden sowie der Polizei, relativ eindeutig eine Löwin zu sehen wäre, wie sie nach erfolgter – ebenfalls beobachteter – Wildschweinjagd das erlegte Wildschwein fräße.
Daraufhin erfolgte eine 36-stündige Suchaktion von Berliner und Brandenburger Polizeibeamt*innen, Amtstierärzt*innen, Jäger*innen, Fährtensucher*innen und schwerem Gerät.
Die #Loewin wurde hin und wieder „gesichtet“ und die Such- und Schutzmaßnahmen entsprechend angepasst: Kindergartenkinder sollten nicht in den Garten, auf dem Wochenmarkt keine Stände aufgebaut werden usw. Die Zuschauer*innen des Sommertheaters suhlten sich in den sozialen Medien am leicht wohligen Schauer der Vorstellung, ein Wildtier habe seinen Weg in die Zivilisation gefunden und fanden vielfältige Allegorien und Bezüge zu aktuellen politischen und gesamtgesellschaftlichen Themen, die auf sehr humorvolle Weise über die #Loewin neu verhandelt wurden.
Warum nun ist dieses Sommertheater so interessant für eine katastrophensoziologische Betrachtung?
- „Des Kaisers neue Kleider“ – oder: die soziale Konstruktion von Lagebildern
Die Interpretation des Bildes wurde durch vertrauensvolle Institutionen legitimiert: Sowohl Polizei als auch warnende Behörde (in Gestalt der Berliner Feuerwehr via der Warn-App NINA) gaben der Bevölkerung das Interpretationsangebot „Löwin“ vor. Jeder, der sich das Video mit der Vorstellung ansah, dass es sich um eine fressende Löwin handeln würde, konnte diese auch darin erkennen – jedenfalls, solange man nicht Wildtierexpert*in war. Die Vorstellung, es hätte sich eine Löwin in den Vorortwäldern von Kleinmachnow verirrt, war doch zu verlockend, als dass man sich dieser nicht hingeben wollte. Unterstützt von Sondersendungen und Live-Schalten wurde das Bild aufrechterhalten und verfestigt. So wurde die Löwin mehrmals von den Polizist*innen selbst gesichtet und Tierhaare gefunden. Die drohende Gefahr wurde durch das Auftreten der Sicherheitskräfte selbst perpetuiert, die mit Maschinenpistolen, Protektoren und gepanzerten Fahrzeugen die Straßen und Grünanlagen durchkämmten. Erste Zweifel an dem offiziellen Interpretationsangebot drangen kaum durch. Erst, nachdem man keinerlei gesicherte Nachweise fand, ließ man die Deutung zu, dass es sich doch um ein Wildschwein handeln könne:
„Die Kammerherren, welche die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen nach dem Fußboden, gerade als ob sie die Schleppe aufhöben; sie gingen und thaten, wie wenn sie Etwas in der Luft hielten; sie wagten nicht, es sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten. So ging der Kaiser in Procession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: ‚Gott, wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich; welche Schleppe er am Kleide hat, wie schön das sitzt!‘ Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah, denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht, wie diese. ‘Aber er hat ja nichts an!‘ sagte endlich ein kleines Kind.“ (Hans Christian Andersen 1805-1875)
Das, was Hans Christian Andersen in diesem Märchen vor fast 200 Jahren schon verhandelte, ist des Katastrophenschützers täglich Brot: Die ersten Informationen direkt nach dem Eintreffen an der Schadensstelle, die Erkundung, ist wesentlich für die weitere Ordnung des Raumes, für die Entwicklung des Lagebildes, die Anforderung von Ressourcen, die zielgerichtete Bewältigung der Lage und bestimmt so die kommenden Stunden: „Ist der Zug erstmal aufgegleist, kann er kaum mehr gestoppt werden“, berichten bspw. erfahrene Einsatzkräfte. Dass Sprache Macht ist und Wirklichkeit konstruiert, ist mit Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ sowie feministischen, poststrukturalistischen oder postkolonialen Theorien in der Soziologie bekannt. So ist auch ein Lagebild, welches die Grundlage jeder Entscheidung und Handlung ist, sozial konstruiert; es ist abhängig von der Art und Validität der Information, der Kommunikation, dem Vertrauen in die Quelle, die diese Informationen übermittelt usw. Besonders gravierend zeigte sich dieser Umstand sicherlich bei den Starkregenereignissen 2021 in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, bei denen man auf lokaler wie übergeordneten Ebenen lange Zeit nicht realisierte, dass man es nicht nur mit einem lokalen Starkregenereignis zu tun hatte, sondern mit einer Flächenlage, die sämtliche bisher bekannte Schadensszenarien überstieg. Man bearbeitete also so, wie man die vorliegenden Daten zu interpretieren wusste – ein anderes, der Realität angemesseneres Bild entstand erst viel zu spät.
Die #Loewin zeigt sehr deutlich, wie schnell die Kombination aus Bildsprache, legitimer Sprecher*innenposition und sozialer Akzeptanz eine Lagebeschreibung verfestigt, die gerade aufgrund des krisenhaften Charakters in Form von Zeitdruck und der angenommenen drohenden Gefahr für Leib und Leben handlungsleitend wird: im besten Fall eine Überreaktion wie bei der #Loewin – im schlechten Fall eine Fehleinschätzung, die Menschenleben kostet.
- Wie verhalte ich mich, wenn ich eine #Loewin treffe – oder: Krisenkommunikation in unbekannten Lagen
Eine weitere wunderbare katastrophensoziologische Lektion zeigen die Reaktionen auf, die in der Phase der Unsicherheit kommuniziert wurden. Keiner der verantwortlichen Akteure und auch die Medien nicht hatten eine derartige Situation schon einmal erlebt oder durchgespielt. Ein konkreter Gefahrenabwehrplan oder Warnkonzept für ein derartiges Ereignis lag mit großer Sicherheit nicht vor. Es drohte Gefahr für die Bevölkerung, sodass entschieden wurde, entsprechende Warnungen über NINA und KatWarn von Seiten der Berliner Feuerwehr herauszugeben. Man richtete einen SAE-Stab ein, die Berliner Polizei unterstützte durch Amtshilfe und über verschiedene öffentliche und soziale Medien wurde – mehr oder weniger gezielt – Krisenkommunikation betrieben. Verschiedene Expert*innen wurden befragt und im Laufe des Tages Tipps mitgeteilt, wie die Bevölkerung sich zu verhalten habe, sollte sie sich tatsächlich in einer entsprechenden Gefahrenlage befinden. Die Bevölkerung wurde mit Live-Tickern auf dem Laufenden gehalten, der Ortsbürgermeister berief Pressekonferenzen ein, um über den Fortgang der Ereignisse zu berichten. Landespolitiker*innen avancierten in der Boulevardpresse zu Zoolog*innen. Die potenziell betroffenen Einwohner*innen tauschten sich z. B. in Chatgruppen darüber aus, wie sie das Ereignis einzuordnen haben, ob Tiere in Gefahr seien, ob man zur Arbeit kommen wolle oder doch zur Sicherheit zu Hause bleiben kann. Wer konnte, nahm eher das Auto als das Fahrrad, um zur Arbeit zu kommen.
Hier fand sich Vieles wieder, was sich insbesondere in der Pandemie an Krisenkommunikation etabliert hat: Die Möglichkeit, über entsprechende Nachrichtenticker live an den Entwicklungen teilzuhaben (in der Pandemie insbesondere bezogen auf die Inzidenzen), Anweisungen, wieviel Toilettenpapier höchstens zu besorgen sei, Live-Schalten zu Abstimmungen und Entscheidungen. Unbekannte Lagen oder Krisen, die große Bevölkerungsgruppen betreffen, werden spätestens seit dem Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie zunehmend öffentlich und live verhandelt, wenn sie denn ein entsprechendes mediales Skandalisierungspotenzial besitzen und – ganz im Sinne einer rapid-onset Katastrophe – möglichst in Raum und Zeit gebunden und beherrschbar sind. Was die Pandemie zweifelsohne in den Entscheidungen über einen Lockdown auch war. Die sich durch die sozialen Medien eröffnende Möglichkeit, dass jede*r zur Expert*in werden kann, wenn sie*er „vor Ort“ ist und entsprechende Fotos oder Videos veröffentlicht, ist zu einer großen Herausforderung für die Leitung von großen Lagen geworden. Es bedarf zusätzlicher Ressourcen, um valide Informationen von Fake-News oder auch Hetzkampagnen zu unterscheiden. Das soziale Netz ist zu einer eigenen Einsatzstelle in der Krisenkommunikation geworden. Neben den Versuchen, Krisenkommunikation von Seiten der Polizei oder des Kleinmachnower Bürgermeisters zu steuern, entstand im Netz, insbesondere auf Twitter unter dem Hashtag #Loewin eine Bewegung, die man gewissermaßen als „Kontra-Krisenkommunikation“ bezeichnen könnte und die auf humorvolle Weise die „Kommunikation der Krise“ anders und öffentlich verhandelte. Dies war hier jedoch in dieser Form nur so möglich, weil es sich um eine Situation handelte, in der zwar eine eher abstrakte Gefahr für Leib und Leben drohte, diese aber nicht unmittelbar bevorstand.
- Die #Loewin als Königin der Tiere – oder: Kohärenz in Katastrophen
Insbesondere die nicht persönlich betroffenen Menschen nutzten die Gelegenheit, die #Loewin zum Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse zu machen. Quasi jeder gesamtgesellschaftliche Konflikt konnte über die Metapher #Loewin auf humorvolle Weise verhandelt und thematisiert werden. Seien es Verschwörungsdiskurse aus dem Querdenkermilieu aus der Pandemie, Debatten um Transgender und Queerness, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, erstarkende Stimmen der AfD, sogenannte Clankriminalität oder das Versagen der Berliner Politik.
Was sich hier beobachten lässt, ist ein in der Katastrophensoziologie noch recht unbeachtetes Phänomen, die sogenannten disaster jokes, obwohl es einige ethnologische Forschung dazu gibt und die popular culture of disaster ebenfalls bereits als Forschungsfeld ausgemacht wurde. Neben der Annahme, dass Witze dazu dienen können, mit traumatischen Erfahrungen umzugehen, gibt es die These, dass gerade diese Art der „Internetwitze“ über Katastrophen dazu dienen, „to put disasters back where they are usually found, where we fell they belong and where we want them to stay – in the fictional, pleasurable domain of popular culture“.
Ein weiterer Effekt, der auch mit der #Loewin zu beobachten ist, ist die Möglichkeit der Schaffung von Kohärenz von als sehr widersprüchlich empfundenen medialen Berichterstattungen und gesamtgesellschaftlichen Konflikten. Die #Loewin schafft es, all diese Ambivalenzen unter einem Hashtag zu versammeln und zu vereinen. Zugleich gibt es die Möglichkeit, diese zu kommentieren (und ggf. auch zu transformieren), ohne dass es eine unmittelbare Autor*innenschaft bedingt, die in eine Diskussion eintreten muss. Relevante gesellschaftliche Themen können damit adressiert werden, aber ohne, dass sie zugleich ernsthaft politisch umkämpft werden müssten. Mediale, politische und argumentative Grenzen können überwunden und neu zusammengesetzt werden. Dies empfanden viele Nutzer*innen als sehr entlastend, dass die z. T. sehr tiefen gesellschaftlichen Gräben temporär überbrückt schienen.
Dass sich die #Loewin letztlich zu etwas Anderem entwickelte und sich als Wildschwein entpuppte, auch das ist ein bekanntes Phänomen der Katastrophe: Katastrophen sind soziale Prozesse, die zeitweilig sehr beschleunigt ablaufen oder auch verschiedene auch sich überlappende Phasen beinhalten. Das auslösende Ereignis wird im Verlauf immer weniger wichtig, andere Faktoren wie Entschädigungen, gesundheitliche oder psychische Auswirkungen rücken in den Vordergrund – oder andere Krisen und Katastrophen bestimmen die Tagesordnung und führen damit auch zu einer veränderten Bewertung des Geschehenen. Was im Außen aussah wie eine exotische #Loewin, ist eigentlich ein mehr oder weniger alltägliches Wildschwein. Alltagsprobleme oder gesellschaftliche Differenzen und Anfeindungen verschwinden nicht durch die #Loewin – wenn auch dies für einen kurzen Moment möglich schien.
Die Wildschweine dagegen bleiben.