Wissen ohne Preisschild: Das brasilianische Modell für Diamond-Zeitschriften

Ein Gastbeitrag von Rômulo Lima

Lateinamerika gilt seit Jahrzehnten im Bereich Open Access als Vorreiter. Das Diamond-Open-Access-Modell (DOA-Modell) für wissenschaftliche Zeitschriften ist in der Region sehr weit verbreitet. Bei diesem Modell zahlen weder Autor*innen noch Leser*innen Gebühren. Bosman et al. (2021a) heben in einer weltweiten Studie zu Diamond Journals hervor, dass 95% aller lateinamerikanischen Open-Access-Zeitschriften dieses Modell adoptieren. Insbesondere Brasilien sticht in diesem Zusammenhang hervor. In diesem Blogbeitrag zeige ich, warum in Brasilien trotz begrenzter wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ressourcen viele Diamond-Zeitschriften zu finden sind. Außerdem lege ich dar, wie die brasilianische wissenschaftliche Gemeinschaft (darunter vor allem universitäre Institute) die Zeitschriften herausgibt und wie sie damit eine zentrale Rolle für die Verbreitung wissenschaftlichen Wissens im Land übernimmt.

Quelle: pxhere (freigegeben unter CC0)

Brasilien weist trotz begrenzter wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ressourcen eine vergleichsweise hohe Zahl an Diamond-Zeitschriften auf: Im DOAJ sind über 90% der verzeichneten Open-Access-Zeitschriften in Brasilien sowohl für Autor:innen als auch für Leser*innen gebührenfrei; in Deutschland liegt dieser Anteil bei lediglich etwa 63%. OpenAlex bezeichnet ca. 32% der in Brasilien zwischen 2020 und 2025 veröffentlichten Open-Access-Zeitschriftenartikeln als Diamond. Für Deutschland liegt dieser Wert bei 5%. Diese erhebliche Differenz deutet auf grundlegende Unterschiede in der Organisation des wissenschaftlichen Publizierens hin.

Rômulo Lima war im September 2025 Praktikant im Open Research Office Berlin. Seine Abschlussarbeit als Bibliotheksreferendar legte er am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin im Juni 2025 unter dem Titel „Diamond-Open-Access-Zeitschriften in Deutschland und Brasilien: Finanzierungsmodelle, Publikationsprofile und Anreize für wissenschaftsgeleitetes Publizieren“ vor.

Zitiervorschlag für diesen Text: 
Lima, Rômulo. (2025, Oktober 15). Wissen ohne Preisschild: Das brasilianische Modell für Diamond-Zeitschriften. Open Research Office Berlin. https://doi.org/10.59350/jb0qv-vt858

Im Rahmen meiner Abschlussarbeit als Bibliotheksreferendar konnte ich 2.879 aktive wissenschaftliche Diamond-Zeitschriften in Brasilien ermitteln. Durch eine Befragung mit 284 Editors wurden organisatorische und finanzielle Aspekte dieser Zeitschriften untersucht. Die Ergebnisse bestätigen in vielerlei Hinsicht den allgemeinen Eindruck, der in der Literatur gezeichnet wird. Es handelt sich um ein Modell, das primär von der wissenschaftlichen Gemeinschaft verwaltet wird. Überwiegend geben universitäre Institute die Zeitschriften heraus, die damit eine zentrale Rolle für die Verbreitung wissenschaftlichen Wissens im Land spielen.

Licht und Schatten des brasilianischen Diamond-Modells

Die brasilianischen Diamond-Zeitschriften beruhen in ihrer Funktionsweise auf drei zentralen Säulen. Die erste Säule ist die Unterstützung durch Forschungseinrichtungen, insbesondere Universitäten, meistens in Form von geteilten Infrastrukturen und Personal (etwa für IT-Support, Website-Hosting, Redaktionsmanagementsysteme oder Indexierung). Die zweite Säule besteht in der Finanzierung mittels externer Mittel durch öffentliche Fördereinrichtungen, wenngleich diese allem Anschein nach in Umfang und Reichweite unzureichend sind. Die dritte Säule ist ein erhebliches Maß an freiwilliger Arbeit geleistet von Wissenschaftler*innen, die eigentlich für Forschung und Lehre entlohnt werden. In Sachen finanzieller Nachhaltigkeit erklärte die Mehrheit der für die Studie befragten Editors, dass ihre Zeitschriften stabil sind. Die Antworten zeigen allerdings auch, dass die Betriebskosten der brasilianischen Diamond-Zeitschriften im Durchschnitt sehr niedrig sind: Mehr als die Hälfte der Editors, die für die Befragung die Gesamtkosten ihre Zeitschriften nennen konnten, operieren mit weniger als 8.000 EUR im Jahr, während ca. ein Drittel der Redaktionen alle Kosten durch Sachleistungen abdeckt und kein eigenes Budget besitzt. Auch in Deutschland operiert ein großer Anteil der Diamond-Zeitschriften mit geringen Mitteln: 61,53 % gaben in der Erhebung von Bosman et al. 2021b an, weniger als 10.000 EUR pro Jahr inklusive Sachleistungen zu benötigen, während fast ein Drittel der Herausgeber*innen jährliche Kosten von weniger als 1.000 EUR nannte. In dieser Hinsicht stimmen brasilianische und deutsche Diamond-Zeitschriften mit den internationalen Trends überein: Laut der weltweiten Studie von Bosman et al. (2021a) liegen die jährliche Kosten von 70 % der Diamond-Zeitschriften unter 10.000 EUR/Dollar.

Befragung mit Editors brasilianischer DOA-Zeitschriften: Wie hoch waren die Gesamtkosten für den Unterhalt der Zeitschrift 2024 ungefähr? (N= 284). Urheber: Rômulo Lima, freigegeben unter CC BY 4.0.

Die geringe Menge an Ressourcen, über die brasilianische Diamond-Zeitschriften verfügen, geht mit einem hohen Maß an ehrenamtlicher Arbeit zur Aufrechterhaltung des Betriebs einher. Dies ist auch ein Befund, der sich weltweit beobachten lässt: „60% of OA diamond journals [worldwide] depend on volunteers to carry out their work, with 86% reporting either a high or medium reliance on them“ (Bosman et al. 2021a). Für Deutschland gelten sehr ähnliche Zahlen (Bosman et al. (2021b).

Die Ressourcenknappheit in Diamond-Zeitschriften ist also keine Besonderheit des brasilianischen DOA-Modells. Eine bislang unbeantwortete Frage betrifft jedoch den scheinbaren Widerspruch zwischen der großen Zahl an Diamond-Zeitschriften in Brasilien und den zum Teil prekären Bedingungen ihrer Herausgabe. Wenn die Finanzierung solcher Zeitschriften ausreichend wäre, würde eine derartige Dominanz des Modells im Land nicht überraschen. Doch tatsächlich leidet das brasilianische DOA-Modell unter denselben strukturellen Problemen wie in Ländern, in denen Diamond-Zeitschriften eine deutlich geringere Bedeutung im nationalen Wissenschaftsbetrieb haben.

Auf Basis der Literatur und der erhobenen Daten lässt sich eine Hypothese zu diesem Phänomen formulieren. Der geringe Internationalisierungsgrad der brasilianischen Forschung (Santin et al. 2016) zeigt sich etwa in der vergleichsweise geringen Zahl an Diamond-Zeitschriften in anderen Sprachen als Portugiesisch. Dies bestätigt, dass sich das Diamond-Modell in erster Linie an inländische Wissenschaftler*innen richtet. Dadurch verringert sich das kommerzielle Potenzial solcher Zeitschriften und damit auch das Interesse internationaler Verlage mit Sitz vornehmlich in Europa und Nordamerika. Hinzu kommt, dass die geringe internationale Sichtbarkeit der brasilianischen Forschung dazu führt, dass brasilianische Zeitschriften in internationalen Zitationsindizes wenig vertreten sind (Brasil 2021). Von solchen Zitationsindizes ausgeschlossen, werden diese Zeitschriften für das kommerzielle Modell wissenschaftlicher Kommunikation schlicht verzichtbar (Salatino 2020).

Zudem verfügen potenzielle Abonnent*innen im Land (z. B. Universitätsbibliotheken) über geringe Mittel für kostenpflichtige Zeitschriften. Dieser Mangel an Erwerbungsressourcen, insbesondere im Hinblick auf internationale Preisstandards, hemmt sowohl das Interesse ausländischer kommerzieller Verlage am brasilianischen Markt als auch die Verbreitung nationaler Titel als kommerzielle Produkte. Das begrenzte Potential für die Profitgenerierung mit wissenschaftlichen Zeitschriften ermöglichte es dem Diamond-Modell, sich an Forschungseinrichtungen als die einzige mögliche Lösung für die wissenschaftliche Kommunikation zu etablieren und sich im Laufe der Jahre durch institutionelle und öffentliche Förderungen zu verfestigen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Diamond-Modell aus miteinander verflochtenen wirtschaftlichen und sprachlich-kulturellen Gründen das einzig realisierbare Modell für wissenschaftliche Kommunikation im großen Maßstab in Brasilien darstellt.

Diamond-OA-Finanzierung in Deutschland: Die brasilianische Einbettung von redaktioneller Arbeit als Inspiration

Auch wenn der Anteil von Diamond-Zeitschriften in Brasilien und Deutschland stark variiert, wird in beiden Ländern der Wunsch nach stabilen Finanzierungsmodellen formuliert, wie Interviews von Taubert et al. (2024) mit deutschen Editors von Diamond-Zeitschriften zeigen.

In Deutschland gibt es bereits Bausteine zur Förderung von Diamond-OA. Eine strukturierte und dauerhafte Finanzierung für den operativen Betrieb von Diamond-Zeitschriften muss jedoch noch aufgebaut werden. Es lässt sich behaupten, dass die bestehenden Diamond-Konsortien als Inkubatorinnen für neue Zeitschriften oder als Brücke von einem APC- oder Subskriptionsmodell hin zu einem Diamond-Modell eine wichtige Funktion erfüllen können. Diese konsortialen Modelle sind allerdings befristete Projekte mit begrenzten Laufzeiten und gelten nach aktuellen Standards nicht als nachhaltige Lösung.

In diesem Zusammenhang spricht vieles dafür, dass es keine Aufgabe wissenschaftlicher Bibliotheken sein sollte, aus altruistischen Gründen über die Finanzierung von Diamond-Zeitschriften durch Konsortien zu entscheiden. Diese Idee folgt der Position von Tautz et al. (2025), wonach „die Publikation von wissenschaftlichen Arbeiten und Daten auf dem gleichen Finanzierungsprinzip wie die Förderung wissenschaftlicher Forschung durch öffentliche Mittel erfolgen“ sollte. Entsprechend sollten wissenschaftsgeleitete Open-Access-Zeitschriften ohne Autorengebühren im Interesse des Gemeinwohls als dauerhafte öffentliche Aufgabe gefördert werden. Eine Herausforderung besteht darin, zu verhindern, dass große kommerzielle Verlage eine dauerhafte öffentliche Finanzierung als neues Geschäftsmodell nutzen, um ihre Marktdominanz zu bewahren.

Die Integration redaktioneller Arbeit in die Leistungsbewertung wissenschaftlicher Tätigkeiten stellt einen weiteren interessanten Aspekt der brasilianischen Erfahrung dar und kann auch als Vorbild etwa für Deutschland dienen. In Brasilien umfassen Auswahlverfahren für akademische Stellen und Stipendien Kriterien, die über die reine Publikationsleistung hinausgehen. Dabei kann die Mitwirkung an akademischen Aktivitäten wie der Betreuung von Abschlussarbeiten, der Teilnahme an Prüfungskommissionen oder auch an der Herausgabe wissenschaftlicher Zeitschriften bei der Bewertung positiv und nach quantitativ messbaren Kriterien berücksichtigt werden. Zur Frage nach den konkreten Vorteilen der Tätigkeit als Editor einer DOA-Zeitschrift haben im Durchschnitt etwa 30 % der Befragten meiner Studie eine der Antworten gewählt, die messbare Punktzahlen in Auswahlprozessen im Wissenschaftsbetrieb explizit nennen. Aber auch wenn Editors keine direkten Vorteile daraus ziehen, erhöht die redaktionelle Tätigkeit die akademische Reputation und wird offenbar als integraler Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit angesehen.

Befragung mit Editors brasilianischer DOA-Zeitschriften: Inwiefern trägt Ihre Tätigkeit als Herausgeber*in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu Ihrer beruflichen und wissenschaftlichen Entwicklung bei? (717 Nennungen, Mehrfachauswahl möglich). Urheber: Rômulo Lima, freigegeben unter CC BY 4.0.

Fazit

Trotz Defiziten zeichnen sich brasilianische Diamond-Zeitschriften vor allem durch institutionelle Anbindung, persönliches Engagement von Wissenschaftler*innen und die Einhaltung anerkannter Qualitätsstandards aus. Der Fokus liegt insbesondere auf dem gesellschaftlichen Nutzen von Wissenschaft sowie auf offenem Zugang. Die Herausgabe von wissenschaftlichen Zeitschriften wird demnach als Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit gesehen. Redaktionelle Tätigkeiten sollten im Land allerdings noch viel besser honoriert werden. Dieser Aspekt ist zentral für das DOA-Modell und sollte in Deutschland und Europa als wichtiges Thema angesehen werden, wie die Debatte um Fair Open Access zeigt.

Ressourcenmangel und Abhängigkeit von ehrenamtlichem Engagement sind sowohl in Brasilien als auch in Deutschland deutlich zu beobachten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie vorhandene finanzielle Mittel in einem vergleichsweise wohlhabenden Land wie Deutschland langfristig und gemeinwohlorientierter eingesetzt werden können. Denn sowohl Gemeinnützigkeit als auch Community-Kontrolle sollten integrale Bestandteile eines nachhaltigen wissenschaftlichen Publikationssystems sein.

Im Einklang mit Initiativen wie CoARA und DORA, wie es in Brasilien bereits teilweise der Fall ist, wäre auch in Deutschland eine stärkere Einbindung redaktioneller Tätigkeiten in Evaluationssysteme vorteilhaft. Zum einen würde redaktionelle Arbeit offiziell als Teil des akademischen Betriebs anerkannt, in die vertraglich geregelte Arbeitszeit integriert, finanziell gewürdigt und qualifiziert. Zum anderen würde sie das Tätigkeitsspektrum von Forschenden erweitern, was besonders in frühen Karrierephasen von Vorteil sein kann.

Literatur

Bosman, J., Frantsvåg, J. E., Kramer, B., Langlais, P.-C., & Proudman, V. (2021a). OA Diamond Journals Study. Part 1: Findings. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.4558704

Bosman, J., Frantsvåg, J. E., & Kramer, B. (2021b). OA Diamond Journals Study. Dataset. https://doi.org/10.5281/zenodo.4553103

Brasil, A. (2021): Beyond the Web of Science: an overview of Brazilian papers indexed by regional relevant databases. In: W. Glänzel, S. Heeffer, P.-S. Chi und R. Rousseau (Hg.): 18th International Conference of the International Society for Scientometrics and Informetrics – Proceedings. 18th International Conference of the International Society for Scientometrics and Informetrics. Leuven, Belgien, July 12-15, S. 193–204. https://www.issi-society.org/publications/issi-conference- proceedings/proceedings-of-issi-2021/ (zuletzt geprüft am 15.09.2025).

Salatino, M. (2020). Open Access in Dispute in Latin America: Toward the Construction of Counter-Hegemonic Structures of Knowledge. In: Martens, C., Venegas, C., Sharupi Tapuy, E.F.S. (eds) Digital Activism, Community Media, and Sustainable Communication in Latin America. Palgrave Macmillan, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-030-45394-7_6

Santin, D. M.; Vanz, S. A. de S.; Stumpf, I. R. C. (2016) Internacionalização da produção científica brasileira: políticas, estratégias e medidas de avaliação. Revista Brasileira de Pós-Graduação, [S. l.], v. 13, n. 30. https://doi.org/10.21713/2358-2332.2016.v13.923

Taubert, N., Sterzik, L. & Bruns, A. Mapping the German Diamond Open Access Journal Landscape. Minerva 62, 193–227 (2024). https://doi.org/10.1007/s11024-023-09519-7

Tautz, D., Holzer, A., Schmidt, K. M., Buchner, J., Grötschel, M. & Jurburg, S. (2025). Ein neues Verfahren zur direkten Finanzierung und Evaluation wissenschaftlicher Zeitschriften. Diskussion Nr. 38, Halle (Saale): Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. https://doi.org/10.26164/leopoldina_03_01261

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Captcha
Refresh
Hilfe
Hinweis / Hint
Das Captcha kann Kleinbuchstaben, Ziffern und die Sonderzeichzeichen »?!#%&« enthalten.
The captcha could contain lower case, numeric characters and special characters as »!#%&«.