In der dritten Folge „Geraubte Kultur“ geht es darum, woher die Bücher für die Bibliothek des Instituts für Judaistik kamen.
Diese Folge widmet sich den Büchern des Instituts für Judaistik, welches 1963 an der Freien Universität Berlin gegründet wurde. Obwohl es sich hierbei um eine Nachkriegsgründung handelt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass auf verschiedenen Wegen NS-Raubgut in den Bibliothekskorpus gelangte. Provenienzforscher Stephan Kummer erzählt von den Anfängen des Fachbereichs, dem Aufbau der Institutsbibliothek und den Besonderheiten bei der Bestandsuntersuchung. Da es sich bei dem Provenienzforschungsprojekt um eine durch Drittmittel finanzierte und befristete Forschungsarbeit handelt, wird das Interview mit Dr. Uwe Hartmann ergänzt. Als Leiter des Fachbereichs Kulturgutverluste im 20. Jahrhundert in Europa beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste berichtet Dr. Hartmann von den Anfängen der zentralen Koordinierung von Provenienzforschung, den wesentlichen Aufgabenbereichen der Stiftung und den umfangreichen Fördermöglichkeiten. Am Ende dieser Folge erfahren wir von einer Restitution nach Polen und lernen, wie Provenienzforschung durch internationales Netzwerken Brücken bauen kann.
Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 3: Geraubte Kultur
Die Arbeitsstelle für Provenienzforschung war es gelungen, am 17. März 2023 zwei Bücher als Schenkung an die Jüdische Gemeinde zu Berlin (JGzB) zu übergeben. Nach den Novemberpogromen 1938 wurden die Gemeindebibliothek und ihre Außenstellen geschlossen. Die Bibliotheksbestände beschlagnahmten die Nationalsozialisten im Frühjahr 1939. Ein wesentlicher Teil des Bibliothekskorpus ging im Zuge des Krieges verloren. Somit kehren zwei Bücher 84 Jahre nach ihrer Beschlagnahmung zurück in den Besitz der JGzB.
Die beiden Bücher wurden antiquarisch von der Freien Universität Berlin (FU) erworben. Auf dem inneren Buchdeckel eines der beiden Bücher befindet sich das Exlibris der Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR). Die zentrale Aufgabe der JCR bestand zwischen 1947 und 1952 darin, in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands sog. herrenloses Kulturgut aus jüdischem Besitz zu sammeln und weiterzuverteilen. Aus uns unbekannten Gründen gelangte dieser Band auf dem antiquarischen Markt, wurde 1982 von der FU Berlin erworben und in den Geschützten Bestand des Instituts für Judaistik aufgenommen.
Buch: Kayserling, Meyer: Moses Mendelssohn – sein Leben und seine Werke. Verlag: Hermann Mendelssohn, Leipzig. (1862)
Auch der zweite Band hat verschiedene Wege genommen, ehe dieser 1980 ebenfalls antiquarisch erworben und in den Bestand aufgenommen wurde. Auf dem Titelblatt befindet sich der Stempel der JGzB, der wiederum ein oder zweimal überstempelt wurde. Es war zunächst nicht klar, ob dieser Provenienzhinweis mit dem Besitzmerkmal der Bibliothek des Berliner Deutsch-Israelitischen-Gemeindebundes (DIGB) überstempelt wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Buch bis zur Auflösung des DIGB im Jahr 1933 dort befand und im Anschluss in die Gemeindebibliothek eingearbeitet wurde. Ein dritter Stempel wurde genutzt, um diese beiden Stempel erneut zu überstempeln. Anhand dieses dritten Provenienzmerkmal wird deutlich, dass der Band im Antiquariat „ZOHAR“ in Tel Aviv gelandet ist. Dort hat es auch die FU Berlin erworben. Der vierte Stempel, der zu identifizieren war, zeigt, dass sich das Buch bis zu seinem Verkauf an und durch das Antiquariat „ZOHAR“ im Besitz des Kibbutz Oranim befand und Teil des Lehrbetriebs war.
Buch: Formstecher, Salomon: Die Religion des Geistes – Eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit. Verlag: Hermann, Frankfurt am Main. (1841)
Adolf Sultan wurde als Abraham Sultan am 2. Februar 1861 in Thorn/Westpreußen (heute Toruń/Polen) als zweites Kind von Wolff (1832 – 1897) und Johanna (1834 – 1898, geborene Barnass) Sultan geboren. Ihm folgten weitere fünf Geschwister – Laura, Louis, Georg, Gertrud und Curt. Seine älteste Schwester hieß Elise. Sein Vater gründete 1858 die W. Sultan Spirituosenfabrik, später Sultan & Co GmbH Destillation, in Mocker, ab 1869 expandierte die Sultan Spritfabrikation auch nach Thorn. Adolf Sultan wuchs in einer wohlsituierten jüdischen Familie auf.
1879 erlangte er die Hochschulreife und änderte zu diesem Zeitpunkt seinen Vornamen in Adolf . Er trat in die väterliche Firma ein und absolviert eine kaufmännische Lehre. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er den Betrieb.
1889 heiratete Adolf Sultan Margarethe Mirjam Victorius (1868 Graudenz/Westpreußen (heute Grudziądz/Polen) – 1902 Berlin), Tochter des Eisenfabrikanten Carl Victorius (1832 – 1906) und seiner Frau Anna, geborene Kadisch (gest. 1880).
Das Paar hatte drei Kinder: Anna Frieda, genannt Ännchen (1889 Thorn – 1899 Berlin) Clara Paula genannt Claire (1891 Thorn – 1943 KZ Auschwitz) und Herbert Siegfried Sultan (1894 Thorn – 1954 Heidelberg). 1901 zog die Familie von Thorn nach Berlin und die Belange der Firma wurden von dort aus geregelt. Margarethe, die gesundheitlich angeschlagen war, starb 1902 im Alter von nur 34 Jahren.
Zwei Jahre später heiratet Adolf Sultan die Witwe seines Schwagers Leo Victorius (1864 – 1902), Ida Rosa „Coba“ Victorius, geborene Lewino (1872 Worms – 1958 USA). Sie brachte drei Kinder mit in die Ehe: Jacob Curt Victorius (1895 Gaudenz – 1972 Greensboro/USA), Anna Victorius, genannt Anni (1897 Gaudenz – 1993 Alameda/USA) und Käte Victorius (1901 – 1986).
Die Familie erhielt in den Jahren 1905 und 1906 weiteren Zuwachs: Wolfgang Carl Sultan (1905 Berlin – 1936 Berlin) und Johanna Margarete, kurz Grete Sultan (1906 Berlin – 2005 New York).
Dank des beruflichen Erfolgs von Adolf Sultan lebt die Familie in wohlhabenden großbürgerlichen Verhältnissen. 1906 zieht die Großfamilie aus der Rankestraße 33, in die, von Adolf Sultan bei dem Architekten Richard Riemerschmid 1905 in Auftrag gegebene Villa in der Delbrückstraße 6 am Hubertussee in Berlin-Grunewald (die Villa wurde 1965 abgerissen).
Beide Eltern waren musikalisch begabt und haben die Begabung an ihre Kinder weitergegeben. Adolf Sultan erlernte bereits als Kind das Geigenspiel und spielt später auch Bratsche. Seine Frau Coba war vor allem literaturinteressiert und spielt Klavier. Die Kinder wuchsen in einem sehr musikalischen, intellektuell anregenden und aufgeschlossenen Elternhaus auf, in dem viele Künstler und Musiker der Zeit verkehrten.
1908 gibt Adolf Sultan die Geschäftsführung des Unternehmens an seinen Cousin Eugen Barnass ab. Dieser leitete die Firma Sultan bis zum endgültigen Verkauf im Jahre 1919. Der Familiensitz im Berliner Grunewald wurde 1922 verkauft und Adolf und Coba Sultan zogen in das rund 100 Kilometer von Berlin entfernte Kümmernitz/Havelberg. 1927 kehrten sie in ein kleineres Anwesen, in der Ernst-Ring-Straße 2-4 am Nikolassee, nach Berlin zurück. Der Name Adolf Sultan wird 1939 aus dem Grundbuch getilgt.
Mit der Machergreifung der Nationalsozialisten wurde das Leben der Familie Sultan zunehmend schwieriger. Die beiden Pianistinnen Anni und Grete wurden 1935 aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen – dies kam einem Berufsverbot gleich.
Anni verlies im Februar 1936 Deutschland und ging nach Japan. In Nishinomiya unterrichtete sie ab April 1937 am Kobe College.
Im November 1936 erschoss sich der gemeinsame Sohn von Adolf und Coba Sultan, Wolfgang Carl, nachdem er wegen „Rassenschande“ denunziert worden war. Er hatte sich mit der „arischen“ Krankenschwester Marianne Grosser verlobt, die ebenfalls Selbstmord beging.
Die Familie bemühte sich intensiv darum Deutschland verlassen zu können. Käte floh über die Schweiz nach Venezuela. Sohn Jacob Curt (Kurt) kam im April 1938 in New York an und fand eine Anstellung als Professor für Ökonomie and Business Administration am Guilford College in Greensboro/ North Carolina. Sohn Herbert Sultan emigrierte 1939 nach England, er kam als Einziger der Sultankinder 1947 nach Deutschland zurück und lehrte als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an der Universität Heidelberg. Der jüngsten Tochter, Grete, gelang im Mai 1941 die Ausreise über Lissabon in die USA. Die meisten der Sultan Kinder und Enkel hatten zu diesem Zeitpunkt bereits das Land verlassen.
Adolf und Coba erhielten ebenfalls 1941 ein Visum für die Schweiz, doch das Schicksal entschied anders für Adolf Sultan. Bereits gesundheitlich angeschlagene, verstarb er am 16. August 1941 in der Konstanzer Straße 59, der letzten Berliner Adresse des Ehepaars Sultan. Laut der Sterbeurkunde erlagt er einem Lungeninfarkt. Mit Hilfe von Freunden, gelang es seiner Frau Coba Sultan in die Schweiz auszureisen. 1946 ging sie von dort zu Grete und Jacob Curt in die USA. Im Mai im 1963 übersiedelte Anni von Japan nach Kalifornien.
Tochter Clara Paula (geschiedene Guttsmann) wurde am 28.09.1943, mit dem 43 Osttransport in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht und mit nur 52 Jahren ermordet. Ihre letzte Adresse in Berlin war die Barbarossastr. 35 in Berlin-Wilmersdorf. Ihr Vermögen ging durch „Einziehung“ auf das Deutsche Reich über. Ihrem geschiedenen Mann und den Söhnen Franz Peter (1915 – 1998) und Ulrich, später Allen (1918 – 1996) gelang die Flucht nach Großbritannien und später in die USA.
Auch einige Kinder von Adolf Sultans Schwestern war das Schicksal nicht gnädig, sie wurden im Holocaust in Riga ermordet – Frieda Berwin (1882 – 1941) Tochter von Adolf Sultans ältester Schwester Elise, Clara (1885 – 1941) und Gertrud Silbermann (1887 – 1941), Töchter seiner Schwester Laura.
Der materiellen Besitzes der Familie wurde für eine spätere Ausreise bzw. Weiterreise in hölzerne Kisten (Lifts) verpackt und nach Hamburg (Hafen) geschickt. Ob die umfangreiche Bibliothek von Adolf Sultan Teil dieser Ausreisekisten war, ist nicht mehr zu klären. Klar ist jedoch, die Lifts haben Hamburg nie verlassen. Der Besitz und etwaiges Vermögen der geflohenen Familienmitglieder, ging an das Deutschen Reich über.
Adolf Sultan war vermutlich ein warmherziger Mensch, der Kinder liebte. Eine Patchworkfamilie dieses Ausmaßes, war sicher auch für seine Zeit etwas Besonderes. Überliefert ist seine Liebe zur Musik und die vielen musikalischen Abende im Hause Sultan. Wie er den NS-Terror und die Angst um seine Familie erlebte oder was seine Vorstellung zu einem Leben außerhalb Deutschlands gewesen sind, kann nur vermutet werden.
Für die meisten überlebenden Familienmitglieder war Deutschland aufgrund der Erfahrungen des NS-Terrors ein Trauma, über das nicht oder kaum geredet wurde. Umso dankbarer sind wir, dass uns eine Erbin aus der Generation der Ur-Enkel über unsere Datenbank Looted Cultural Assets (LCA) kontaktiert hat. Dank ihr, konnten wir im März 2023 ein Buch an die Familie in den USA restituieren.
In dieser Folge „Wiederaufbau“ geht es darum, woher die Bücher für die Bibliothek des Botanischen Gartens kamen.
Ausgangspunkt dieser Folge ist die Zerstörung der Bibliothek des Botanischen Gartens Berlin bei einem Luftangriff am 1. März 1943. Nachdem ein Großteil der Sammlungen verbrannt war, begann der Wiederaufbau der Bibliothek noch während des Zweiten Weltkriegs. Provenienzforscherin Lisa Trzaska erläutert im Interview, wie durch solche Wiederaufbauprogramme in der NS-Zeit Raub- und Beutegut in Bibliotheken gelangte. Ergänzt wird sie von Bibliotheksleiter Dr. Norbert Kilian, der auf die Besonderheiten der Bibliothek des Botanischen Gartens hinweist. Historische Briefe veranschaulichen, woher ab 1943 die Bücher für den Wiederaufbau kamen: Aus dem besetzten Paris und aus geplünderten Bibliotheken Osteuropas. Zum Schluss kommen noch Peter Prölß vom Deutschen Technikmuseum und Coralie vom Hofe von der französischen Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignung (CIVS) zu Wort. Sie erzählen über eine besondere Restitution zweier Bücher nach Frankreich.
Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 2: Wiederaufbau
Unser erster Podcast ist da! 🎙️ Zum Auftakt des 10-jährigen Jubiläums der Arbeitsstelle Provenienzforschung der Universitätsbibliothek an der FU Berlin starten wir unsere Podcast-Reihe: Spuren in Tausenden Büchern. In der ersten Folge „Anfänge“ geht es darum, wie die Suche nach den geraubten Büchern begann und wie die Spuren aus den Büchern ins Internet kamen.
Von historischen Erinnerungen an die Suche nach geraubten Büchern kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führt diese erste Folge im Zickzack bis zum 10-jährigen Jubiläum der Arbeitsstelle Provenienzforschung im Jahr 2023. Auf dem Weg liegen unter anderem die Gründung der Freien Universität Berlin 1948, die Anfänge systematischer NS-Raubgutforschung in den 1990er Jahren und jede Menge Spuren in Büchern – die heute in einer modernen Datenbank (Looted Cultural Assets) verzeichnet werden.
Ringo Narewski, Leiter der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU, erzählt im Interview mit Lizaveta Wunderwald von Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Bei diesem Thema ergänzen ihn Dr. Andreas Brandtner, Leitender Direktor der Universitätsbibliothek der FU, sowie die Provenienzforscher Sebastian Finsterwalder und Peter Prölß von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und dem Deutschen Technikmuseum.
Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 1: Anfänge
Zahlreiche Events bieten das ganze Jahr 2023 einen Blick auf die junge Geschichte der Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU Berlin. Infos zum Auftakt unseres Jubiläums finden Sie in Kürze auf unserer Webseite und auf Twitter. https://twitter.com/raubgut_books
Nur wenige Monate nach der deutschen Besetzung Tschechiens, errichtete die Wehrmacht das „Protektorat Böhmen und Mähren“. Dabei wurde die älteste Universität Mitteleuropas 1939 in die Berliner Reichsverwaltung übernommen und zur Reichsuniversität unter dem Namen „Deutsche Karls-Universität in Prag“ erklärt.
Im Zuge der so genannten „Arisierung“ verdrängten die Nationalsozialistinnen jüdische Studierende und jüdisches Lehrpersonal aus der Karls-Universität Prag. Gleichzeitig kam es zu Plünderungen und Beschlagnahmungen zahlreicher Fakultätsbibliotheken zur Sicherstellung des sogenannten „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ durch die deutsche Wehrmacht. So wurde das Gebäude der Juristischen Fakultät vom SS-Hauptquartier besetzt und ein Großteil der Bibliotheksbestände beschlagnahmt und später nach Deutschland verbracht.
Das Zugangsbuch der Universitätsbibliothek aus dem Jahr 1963 weist als Lieferanten das wissenschaftliche Antiquariat Sauer & Keip auf. Das Exemplar enthält zwei Stempel der Juristischen Fakultät der Karls-Universität in Prag.
Die Beschlagnahmeaktion aus der Bibliothek der Juristischen Fakultät der Karls-Universität Prag steht im Zusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes während des 2. Weltkrieges. Dieses Buch gilt daher als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut aus den besetzten Territorien. Detaillierte Informationen der Bibliotheksverluste aus dieser Zeit sind nicht vorhanden.
Bewertung: NS-Beutegut
Das zurückgegebene Buch finden Sie in der Datenbank LCA: