Anonym (WiSe 2022/23)
1. Einleitung
Im Rahmen des Moduls “Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse“ wurden wir dazu angeregt, unser eigenes Studienfach aus einer postkolonialen Perspektive zu betrachten. In meinem Studienfach Biochemie wird solch eine Betrachtung in der Lehre nicht aufgegriffen, obwohl es definitiv Grund dafür gäbe. Zahlreiche Wissenschaftler*innen aus dem natur- und lebenswissenschaftlichen Gebiet waren an Verbrechen beteiligt: prominente Beispiele sind die Mitwirkungen an der Giftgasentwicklung und am Bau der Atombombe während des 20. Jahrhunderts. In früheren Kolonien begangen deutsche Wissenschaftler*innen grausame Verbrechen sogar selbst.
Aus mehreren Vorlesungen war mir der deutsche Wissenschaftler Robert Koch bekannt, damals noch als Begründer der medizinischen Mikrobiologie und Pionier in seinem Fachgebiet. Was immer unerwähnt blieb, waren die kolonialmedizinischen Verbrechen, die Koch beging. Nachdem ich durch einen Artikel auf diese aufmerksam geworden bin, habe ich mich intensiver mit der Kolonialmedizin auseinandergesetzt. Beginnend mit Koch – der wohl bekannteste Täter in der Geschichte der deutschen Kolonialmedizin, aber bei weitem nicht der Einzige – habe ich mich über die medizinischen Grausamkeiten, die von den Kolonialmächten in kolonialisierten Gebieten verübt wurden, informiert. Mich erstaunte, dass verhältnismäßig wenig Literatur zu diesem Thema existiert und wie wenig Beachtung diesem allgemein gegeben wird. Aber auch ich wusste vorher weder aus meinem Studium noch aus dem Privaten von den Gräueltaten. Daher möchte ich in diesem Essay auf die kolonialmedizinischen Verbrechen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingehen und einige der furchtbaren Taten am Beispiel von Robert Koch aufgreifen – Taten, die niemals in Vergessenheit geraten dürfen.
2. Robert Koch
Robert Koch (1843 – 1910) gilt als der Begründer der medizinischen Mikrobiologie. Seine Experimente lieferten erstmals den Beweis, dass bestimmte Mikroorganismen spezifische Krankheiten verursachen und übertragen können. So identifizierte Koch das Bakterium Bacillus anthracis als Milzbrand-Erreger und formulierte aufbauend auf dieser Erkenntnis die sogenannten Koch´schen Postulate, deren Kriterien noch heute das Fundament zum Nachweis eines Organismus als Krankheitserreger bilden. Als größte Errungenschaft Kochs gilt die Identifizierung des Mycobacterium tuberculosis als Erreger der Tuberkulose – die Krankheit, die zu der damaligen Zeit (um 1880) für ein Siebtel aller erfassten Todesfälle im Deutschen Reich verantwortlich war. Für die Entdeckung des Tuberkuloseerregers erhielt Koch 1905 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. [1]
Mit diesen Entdeckungen legte Koch den Grundstein für die Infektionslehre, sowie für die Entwicklung erfolgreicher Methoden zur Vermeidung und Heilung von Infektionskrankheiten. Für diese Errungenschaften wird Robert Koch heute bewundert und geehrt, was sich unter anderem in den vielen Denkmalen und Gedenktafeln – allein in Berlin gibt es vier – zeigt. Zahlreiche Straßen, Parks, Plätze, Schulen und andere Einrichtungen sind nach Koch benannt. [2] Zudem wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der Stadt Berlin verliehen. [3]
Was in Bezug auf Robert Koch fast nie thematisiert wird – ob bewusst oder aus Unwissenheit – sind die menschenverachtenden Verbrechen, die Koch in ehemaligen Kolonialstaaten beging.
1902 gab es erste Berichte über das Auftreten der Afrikanischen Trypanosomiasis (meist als Schlafkrankheit bezeichnet) aus der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heutiges Tansania, Burundi und Ruanda). Die Krankheit wird durch den Parasiten Trypanosoma ugandense ausgelöst und von der Tsetsefliege (Glossina palpalis) übertragen. [4] Die Erkrankung verläuft in der Regel in drei Phasen: Zu den ersten Symptomen zählen Fieber sowie Kopf- und Gliederschmerzen, im darauffolgenden Stadium wird das Nervensystem der Erkrankten angegriffen, wodurch es zu Verwirrung, Schlafstörungen und Krampfanfällen kommt. Im Endstadium leiden die Patient*innen unter schweren neurologischen Schäden, schweren Schlafstörungen und verfallen in einen komaähnlichen Dämmerzustand, welcher namensgebend für die Erkrankung ist. Unbehandelt verläuft die Krankheit tödlich. [5]
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich die Schlafkrankheit als Epidemie im Gebiet Deutsch-Ostafrikas aus. Ein Gegenmittel gab es noch nicht, folglich erlagen schätzungsweise eine Viertel Millionen Afrikaner*innen der Schlafkrankheit. Diese schwerwiegenden Auswirkungen nahmen die Kolonialherren als Gefährdung ihres Kolonisationsprozesses wahr. Neben den gesundheitlichen Risiken, die ihnen selbst drohten, fehlten ihnen nun vor allem die Arbeiter*innen, die sie zum Ausbau der Infrastruktur zwingen und ausbeuten konnten. [4]
So entstand in Europa ein zunehmend wirtschaftliches und politisches Interesse an der Erforschung der Schlafkrankheit, insbesondere an der Entwicklung von Medikamenten zur Prävention und Heilung. Die Forschung begann in den Laboren innerhalb Europas, aber schon bald entsendete die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes als Reaktion auf die zunehmende Ausbreitung der Epidemie eine Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit aus dem Deutschen Reich nach Deutsch-Ostafrika. Die 1906 beginnende Expedition wurde unter der Leitung Robert Kochs durchgeführt. [4]
Koch und seine Mitarbeiter*innen siedelten sich auf den Sese-Inseln, einer Inselgruppe im Victoriasee, an. Das Gebiet stand zwar unter britischer Herrschaft, bot Koch aber als zentraler Epidemieherd – innerhalb weniger Jahre starben hier fast zwei Drittel der Bewohner*innen an der Schlafkrankheit – ideale Bedingungen zur Forschung. Als die Expedition in Afrika begann, war der Parasit Trypanosoma ugandense bereits als Erreger identifiziert worden und weitgehenden Untersuchungen unterzogen worden, sodass Kochs Fokus primär auf der Suche nach einer Therapiemöglichkeit lag. [4]
Nach kurzer Zeit wurden in dem eingerichteten Forschungslager bereits jeden Tag über 1 000 Patient*innen untersucht und „behandelt“. Als Medikament diente Atoxyl, ein organisches Arsenpräparat. [4] Atoxyl wurde zuvor in Europa als mögliche Therapieform für die Schlafkrankheit im Labor untersucht. In Tierversuchen führte es zunächst zu einem Rückgang des Erregers im Blut und zu einer Minderung der Symptome. Bei einem Großteil der Versuchstiere tauchte der Parasit jedoch entweder nach dem Ende der Behandlung, aber auch bei einer durchgehenden Gabe von Atoxyl, wieder in der Blutbahn auf. Die Parasiten vermehrten sich weiter, die Symptome kehrten ebenso zurück, letztendlich erlagen die Tiere der Krankheit. Trotz der eher ernüchternden Ergebnisse hielten einige Forscher an Atoxyl fest und empfohlen es in bestimmten Dosen zur Behandlung an Menschen. In Deutschland war die Verabreichung von Atoxyl verboten – aus der früheren Fachliteratur war die Gefährlichkeit und hohe Giftigkeit des arsenhaltigen Mittels durchaus bekannt: Es führte zu Erblindungen und weiteren schweren Nebenwirkungen. [6]
Als Folge wurde die klinische Prüfung von Atoxyl von den Kolonialmächten nach Afrika verlegt. Die Kolonien selbst dienten als Laboratorien und die an der Schlafkrankheit erkrankte Afrikaner*innen wurden zu Objekten der pharmakologischen und therapeutischen Forschung. Robert Koch und andere Forscher nahmen diese menschenverachtenden Bedingungen billigend in Kauf, beziehungsweise unterstützten und befeuerten diese sogar noch. [4]
Robert Koch verabreichte Atoxyl in Deutsch-Ostafrika an Tausende von Erkrankten. Hierbei hielt er sich in keinster Weise an die wissenschaftlichen und ethischen Standards: Anstatt wie empfohlen die Dosis vorsichtig und allmählich anzupassen, verabreichte er jeweils eine Dosis von 0,5 g in kurzen Intervallen, obwohl er von der Toxizität des Mittels wusste. Nachdem nicht die gewünschten Effekte eintraten, erhöhte er die Dosis auf 1 Gramm. Dies tat er, ohne die Patient*innen zu informieren, aufzuklären und sogar entgegen ihren Willen. Als Behandlung ist dieses Vorgehen kaum zu bezeichnen, vielmehr führte Koch grausame Humanversuche durch. [4]
Die Gabe von Atoxyl führte bei den Patient*innen zu schweren Nebenwirkungen. Tausende erlitten irreversible Erblindungen, viele starben. Robert Koch wusste von dem Leid, aber verabreichte das Medikament trotzdem weiter, obwohl noch nicht einmal der Heilungseffekt nachgewiesen war. [4] In seinem „Schlußbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit“ schreibt Koch selbst:
„Nicht wenige Kranke entzogen sich sehr bald dieser stärkeren Behandlung, weil ihnen dieselbe zu schmerzhaft war und auch sonstige unangenehme Empfindungen verursachte, wie Übelkeit, Schwindelgefühl, kolikartige Schmerzen im Leibe. Da diese Beschwerden indessen nur vorübergehend waren, so wurde mit der starken Behandlung fortgefahren. Da stellte sich aber bei einigen Kranken ein Symptom ein, welches uns früher weder bei den unbehandelten Kranken noch bei denjenigen, welche nicht größere Dosen als 0,5 g erhalten hatten, jemals begegnet war. Es war dies eine Erblindung, welche sich in verhältnismäßig kurzer Zeit auf beiden Augen entwickelte. Anfangs hofften wir noch, daß dieses Symptom ebenso wie die anderen wieder vorübergehen würde, namentlich auch, da in Europa nach Atoxylbehandlung mehrfach vorübergehende Erblindung beobachtet ist. Leider trat aber bei unseren Kranken keine Besserung ein, und dieselben sind dauernd blind geblieben.“ [7]
Dieser Bericht zeigt einmal mehr, wie skrupellos, menschenverachtend und verbrecherisch Robert Koch handelte.
Im weiteren Verlauf beschreibt Koch zusätzlich ungeniert die Sinnlosigkeit der Dosis Erhöhungen:
„Es ist übrigens noch zu erwähnen, daß die Behandlung mit großen Atoxyldosen in keiner Weise bessere Resultate lieferte in Bezug auf das Befinden der Kranken als die Behandlung mit mittelgroßen Dosen.“ [7]
1907 reiste Robert Koch aus gesundheitlichen Gründen zurück nach Berlin. Damit hatte sein verbrecherisches Wirken aber keineswegs ein Ende, Koch hielt vielmehr stur an der Atoxyltherapie fest und forderte überdies weitere brutale Maßnahmen. So schlug er dem Reichsgesundheitsrat im Anschluss an seine Expedition im November 1907 vor, „dazu über[zu]gehen, die ganze Bevölkerung verseuchter Bezirke in gesunde Gegenden zu versetzen; die infizierten Individuen würden dann, da die Sterblichkeit ohne Behandlung eine absolute sei, ausnahmslos zugrunde gehen, damit werde dann die Seuche erlöschen […]“. [8] Als besser realisierbare Alternative forderte er zudem, alle Infizierten aus „verseuchten Orten […] herauszugreifen“ und in „Konzentrationslagern“ zu isolieren. [8]
Fatalerweise nahm der Reichsgesundheitsrat Kochs Vorschläge an und errichtete die geforderten Lager am Viktoriasee in Afrika. Tausende Erkrankte wurden interniert und erfolglos mit Atoxyl behandelt. In den bis 1911 bestehenden Lagern verloren mindestens 1 487 der 11 079 Internierten in Folge der Schlafkrankheit oder der Therapie ihr Leben. [4]
3. Darstellung Robert Kochs durch das RKI
Nach einer Betrachtung der schrecklichen Vorgehensweise Robert Kochs scheint es absurd, dass Koch, der für seine Forschung über Leichen ging, als Forschungspionier verehrt wurde und noch immer wird. Eine öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung seiner menschenverachtenden Verbrechen fand bisher nicht statt. Und das, obwohl der Name Robert Koch seit etwa drei Jahren allen Menschen in Deutschland bekannt sein sollte und uns allen regelmäßig durch mediale Berichterstattungen begegnet.
Robert Koch ist Namensgeber des in Berlin sitzenden Robert-Koch-Instituts (RKI), die biomedizinische Leitforschungseinrichtung der deutschen Bundesregierung. Seit dem Beginn der Coronapandemie Ende 2019 ist das RKI für die Erfassung und Beurteilung der aktuellen Pandemie- und Risikolage und für die Beratung und das Aussprechen von Empfehlungen für die Politik und Fachwelt verantwortlich. Somit fungiert das Institut gleichzeitig auch als unverzichtbare Informationsquelle für die deutsche Bevölkerung und ist seit dem Frühjahr 2020 omnipräsent in Deutschland. Einhergehend mit dieser Präsenz wird die Aufmerksamkeit auch auf den Namenspatronen Robert Koch gelenkt. Das Bild, das von Koch vermittelt wird, stellt diesen allerdings weitestgehend als medizinisches, bewundernswertes Vorbild dar.
Das RKI steht als ehemalige Wirkstätte Kochs und durch die Verwendung seines Namens in der Verantwortung, dessen Taten kritisch aufzuarbeiten. Ein Blick auf die Website des RKI zeigt jedoch, dass die kolonialen Praktiken Kochs fast keine Erwähnung finden. Nachdem zunächst Lobeshymnen über Kochs Errungenschaften zu lesen sind, wird seine Expedition nach Deutsch-Ostafrika wie folgt beschrieben:
„1906 und 1907 wurde eine Kommission unter Kochs Leitung nach Ostafrika entsandt, um Therapiemöglichkeiten gegen die Schlafkrankheit auszuloten. Durch den Einsatz von Atoxyl, einer arsenhaltigen Arznei, konnte Koch anfangs Erfolge bei der Behandlung von Schlafkranken erzielen. Doch der Parasit, der die Infektion verursacht, ließ sich im Blut der Kranken nur für eine kurze Zeit zurückdrängen. Daraufhin verdoppelte Koch die Atoxyl-Dosis – obwohl er um die Risiken des Mittels wusste. Bei vielen Betroffenen kam es zu Schmerzen und Koliken, manche erblindeten sogar. Trotzdem blieb Koch vom prinzipiellen Nutzen des Atoxyls überzeugt. Seine letzte Forschungsreise war das dunkelste Kapitel seiner Laufbahn.“ [9]
Diese Darstellung wirkt eindeutig glorifizierend. Es wird weder thematisiert, dass Koch das Medikament Atoxyl gegen den Willen der Patient*innen einsetzte, noch die hohe Anzahl an Todesfällen, die auf die erfolglose bzw. die Behandlung selbst zurückzuführen ist. Nicht benannt wird, dass Koch mit seinen von Rassismus geprägten Humanversuchen die einheimische Bevölkerung als „Versuchskaninchen“ missbrauchte. Auch die Errichtung von Krankenlagern und die zwangsweise Internierung von Tausenden Erkrankten bleibt unerwähnt. Stattdessen werden Kochs Verbrechen nur verallgemeinernd und verherrlichend als das „dunkelste Kapitel seiner Laufbahn“ [9] abgetan und ansonsten ausgeblendet.
Das RKI geht sogar so weit und zelebriert die verbrecherischen Expeditionen Kochs:
„Die Aufzählung der Reisen, die Koch zur Erforschung verschiedener Infektionskrankheiten durchführte, und die wichtigsten Kongresse, an denen er teilnahm, zeigen die Vielfältigkeit und die Mobilität des Forschers in einer Zeit eher mühseligen Reisens.“ [10]
In der Auflistung dieser Reisen, auf die sich der obenstehende Absatz bezieht, ist auch die Expedition nach Deutsch-Ostafrika gelistet. [10] Dies zeigt einmal mehr, dass von Seiten des RKI keine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Namensgeber stattfindet. Trotz des Wissens, dass Koch Menschen gequält hat, dient er dennoch als Leitfigur des Instituts.
Während am RKI in den letzten Jahren eine – noch lange nicht abgeschlossene – Aufarbeitung über die Beteiligung an menschenverachtenden medizinischen Humanversuchen während des Nationalsozialismus stattfand, geraten die kolonialmedizinischen Verbrechen in Vergessenheit. Beispielsweise wurden 2008 Forschungsergebnisse über das Mitwirken des RKI an Verbrechen während der NS-Zeit veröffentlicht, nachdem die Rolle des Instituts im Nationalsozialismus erstmals umfassend untersucht wurde. Die Ergebnisse waren erschreckend: viele bisher unbekannte Taten und Täter*innen kamen ans Licht. [11]
Das wirft die Frage auf, welche Taten aus Kolonialzeiten noch entdeckt oder veröffentlicht werden würden, wenn auch die Verbrechen dieser Zeit aufgearbeitet werden würden? Im Moment werden selbst die Verbrechen, die in wissenschaftlichen Publikationen dokumentiert wurden und hierdurch als eindeutig moralisch verwerflich und verbrecherisch zu identifizieren sind, nicht verhältnismäßig verurteilt. Es ist an der Zeit, dass das RKI Einsicht zeigt und tätig wird. Die Täter*innen dürfen nicht weiterhin geschützt und glorifiziert werden, sondern müssen als solche benannt und verurteilt werden. Und die zahlreichen Opfer dürfen unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten.
4. (Fehlende) Aufarbeitung der kolonialmedizinischen Verbrechen
Nicht nur dem RKI mangelt es an dem Willen, sich mit dem kolonialen Erbe, das sich hinter dem Namen Robert Koch verbirgt, auseinanderzusetzten. Auch sonst werden die kolonialmedizinischen Verbrechen, die von Koch – der wohl Deutschlands bekanntester, aber bei weitem nicht der einzige Kolonialmediziner war – und anderen Kolonialmedizinern begangen wurden, nur wenig thematisiert und sind meiner Wahrnehmung nach der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.
Erst im Jahr 1997, also 90 Jahre nachdem die Grausamkeiten von Koch in Deutsch-Ostafrika begangen wurden, wurden diese erstmalig in einer wissenschaftlichen Ausarbeitung rekonstruiert und aufgearbeitet. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse von Prof. Dr. Wolfgang Eckart in seinem Buch „Medizin und Kolonialimperialismus – Deutschland 1884 bis 1945“. Der ehemalige Medizinhistoriker und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg befasste sich in diesem Buch umfassend mit der deutschen Kolonialmedizin, so unter anderem auch mit Robert Koch. [12]
Seit mehreren Jahren setzen sich einige Initiativen, wie beispielsweise die „Kritische Medizin München“, für die Aufarbeitung der kolonialmedizinischen Verbrechen ein. [13] Eine große gesellschaftliche Debatte mit Konsequenzen blieb bisher aber noch aus. In der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung über den Kolonialismus und seine Folgen hat der Bereich der Medizin noch immer keinen wirklichen Raum gefunden.
Während es in den letzten Jahren einige Erfolge in der Umbenennung von kolonialen Straßennamen gab, [13] erhielt die Petition, die die Umbenennung des Robert-Koch-Instituts fordert, bisher lediglich 1 343 Unterschriften (Stand 11.01.2023). [14] Gleichzeitig wird über das RKI seit drei Jahren täglich in den Medien berichtet. Auch die im Spiegel veröffentlichte Forderung nach einer Umbenennung des RKI durch den Historiker und Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer blieb ohne Konsequenzen. [15]
5. Fazit
Während ich mich mit dem Thema der Kolonialmedizin auseinandergesetzt habe, wurde mir bewusst, dass die kolonialmedizinischen Verbrechen, die durch deutsche Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen begangen wurden, fast keine Berücksichtigung in unser Erinnerungskultur finden. Die führenden Einrichtungen der medizinischen Forschung sind nicht dazu bereit, die Verbrechen selbst aufzuarbeiten. Zudem fehlt auch in der Lehre an Universitäten die Aufklärung über die Schattenseiten von Wissenschaftler*innen. Anstatt nur von den Errungenschaften zu berichten, sollten auch die Abgründe der Wissenschaft kritisch beleuchtet, anstatt totgeschweigen zu werden. Die Verbrechen können nicht mehr rückgängig gemacht werden, aber sie dürfen keinesfalls in Vergessenheit geraten. Eine kritische Aufarbeitung ist das Mindeste, das passieren muss. Wir müssen aus der grausamen Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft lernen.
Rassistische und menschenverachtende Praktiken in der Medizin wurden keineswegs nur in der Vergangenheit durchgeführt. Auch heute sind Gesundheitssysteme und die pharmakologische und medizinische Forschung von kolonialen Kontinuitäten und rassistischen Denkweisen geprägt. Diese wurden in den letzten Jahren unter anderem durch die Coronapandemie sichtbar gemacht. Bei der Verteilung der COVID-19 Impfstoffe lag nicht die Gesundheit der Menschen im Vordergrund, sondern wieder einmal der ökonomische Gewinn. Machtvolle Konzerne und „westliche“ Staaten blockieren stur die Aussetzung der Impfstoffpatente. Und während bei uns überschüssige Impfdosen weggeschmissen werden, wird einem Großteil der Weltbevölkerung kein Zugang zu den lebensrettenden Impfstoffen gewährt. [16] Dass koloniale Denkmuster und Robert Kochs Gedanke, Menschen aufgrund ihrer Herkunft für Versuche instrumentalisieren zu können, noch heute ein riesiges Problem darstellen, zeigte sich zusätzlich im April 2020 in erschreckender Weise in der Forderung zweier Ärzte, mögliche neue Coronaimpfstoffe in Afrika zu testen. [17]
6. Literatur- und Quellenverzeichnis
[1] | Madigan, Martinko, J. M., Brock, T. D., & Thomm, M. (2009). Brock Mikrobiologie / Michael T. Madigan ; John M. Martinko. Dt. Bearb. von Michael Thomm. (11., aktualisierte Aufl., [1. dt. überarb. u. erw. Ausg.]). Pearson Studium, 15-17. |
[2] | Robert Koch. https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Koch (09.01.2023) |
[3] | Abgeordnetenhaus Berlin. Robert Koch. https://www.parlament-berlin.de/Das-Haus/Berliner-Ehrenbuerger/robert-koch (09.01.2023) |
[4] | Eckart, W. U. (1997). Medizin und Kolonialimperialismus: Deutschland 1884-1945. Schonigh, 340-349. |
[5] | Ärzte ohne Grenzen. Schlafkrankheit. https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/krankheiten/schlafkrankheit (10.01.2023) |
[6] | Boyce R. (1907). THE TREATMENT OF SLEEPING SICKNESS AND OTHER TRYPANOSOMIASES BY THE ATOXYL AND MERCURY METHOD. British medical journal, 2(2437), 624–625. https://doi.org/10.1136/bmj.2.2437.624 |
[7] | Koch, R. (1907). Schlußbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit. Dtsch Med Wochenschr.; 33(46): 1889-1895 DOI:10.1055/s-0029-1189093 https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/5330/1206-1216.pdf?sequence=1&isAllowed=y (10.01.2023) |
[8] | Koch, R. (1907). Mitteilung über den Verlauf und die Ergebnisse der vom Reiche zur Erforschung der Schlafkrankheit nach Ostafrika entsandten Expedition. Koch, Werke, Bd 2,2, 930-940. |
[9] | RKI. (2018). Robert Koch: Der Mitbegründer der Mirkobiologie. https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Geschichte/robert_koch_node.html (10.01.2023) |
[10] | RKI. (2018). Lebenslauf, Reisen und Kongresse Robert Kochs in tabellarischer Form. https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Geschichte/Robert_Koch_Lebenslauf.html (10.01.2023) |
[11] | Hacker, J. (2008). Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus: Stellungnahme zu den Forschungsergebnissen. https://www.rki.de/DE/Content/Service/Presse/Pressetermine/presse_rki_ns_Stellungnahme.html (10.01.2023) |
[12] | Amberger, J. (2020). Robert Koch und die Verbrechen von Ärzten in Afrika. https://www.deutschlandfunk.de/menschenexperimente-robert-koch-und-die-verbrechen-von-100.html (11.01.2023) |
[13] | Kritische Medizin München. https://kritischemedizinmuenchen.de/die-verbrechen-der-kolonialen-medizin/ (11.01.2023) |
[14] | Bezirksamt Mitte. Koloniale Straßennamen und ihre Umbenennung im Bezirk Mitte. https://www.berlin.de/kunst-und-kultur-mitte/geschichte/erinnerungskultur/strassenbenennungen/artikel.1066742.php (11.01.2023) |
[15] | Zimmerer, J. (2020). Der berühmte Forscher und die Menschenexperimente. https://www.spiegel.de/geschichte/robert-koch-der-beruehmte-forscher-und-die-menschenexperimente-in-afrika-a-769a5772-5d02-4367-8de0-928320063b0a (11.01.2023) |
[16] | Ärzteblatt. (2022). Coronapandemie macht koloniale Strukturen sichtbar. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132782/Coronapandemie-macht-koloniale-Strukturen-sichtbar (11.01.2023) |
[17] | „Rassistisch!“ – WHO verurteilt Forderung nach Impfstoff-Tests in Afrika. (2020). https://www.swp.de/panorama/who-verurteilt-forderung-nach-impfstoff-tests-in-afrika-als-_rassistisch_-45283843.html (11.01.2023) |
Quelle: Anonym, Kolonialmedizinische Verbrechen am Beispiel von Robert Koch, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 18.04.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=337