Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama

Constanze Luise Selegrad (SoSe 2022)

1. Einleitung

Diese Hausarbeit schließt an eine Gruppenarbeit zum Thema „Rassismus“ im Seminar „Gender, Diversity und Gender Mainstreaming“ an.

Um die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, gibt es viele unterschiedliche Möglichkeiten, eine der effektivsten und auch gesamtgesellschaftlichsten ist und bleibt jedoch die Schule. Deswegen soll im Folgenden betrachtet werden, wie im Bundesland Baden-Württemberg Kolonialismus am Gymnasium behandelt wird und, ob in dem Bildungsplan Raum für Verbesserung besteht.

Dazu soll zuerst der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt werden, und dann der Weg zum Aufstand und Genozid der Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Südwestafrika des Deutschen Reiches nachgezeichnet werden. Dies soll als Beispiel für die Grausamkeit des Deutschen Reiches als Kolonialmacht dienen und verdeutlichen, warum es wichtig ist, sich heute mit diesem Teil der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Anschließend daran werden erst die relevanten Punkte des Bildungsplanes von Baden-Württemberg vorgestellt und auch Punkte zur besseren Einarbeitung der kolonialen Erinnerung in den Bildungsplan aufgeführt. Außerdem werde ich meine eigenen Erfahrungen im Schulsystem in Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte nachzeichnen. Zum Schluss werden die resultierenden Schlussfolgerungen aufgeführt.

2. Kolonialismus

2.1 Begriffseingrenzungen

Zu Beginn soll der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt und definiert werden. Dieser Begriff wird von Trutz von Trotha wie folgt definiert

„Kolonialismus ist ein Prozeß überregionaler Herrschaftsbildung und Herrschaftsausübung. Auf der Grundlage von kriegerischer Gewalt oder der Drohung mit ihr wird ein Herrschaftsverhältnis von einem Staat oder einer ihm direkt verbundenen, organisierten Gruppe von Menschen über eine Gesellschaft errichtet, die in einem Land beheimatet ist, das typischerweise von dem Territorium des imperialen, besitznehmenden Staates durch einen Ozean getrennt ist, sich mindestens in seiner sozio-kulturellen Ordnung von der Gesellschaft des imperialen Staates in wesentlichen Merkmalen unterscheidet und eine eigene Geschichte besitzt. Das Herrschaftsverhältnis ist territorial bestimmt. Die unterworfene Gesellschaft verliert nach außen ihre politisch-diplomatische und, mehr oder minder vollständig, ihre völkerrechtliche Selbständigkeit und gerät in direkte formelle Abhängigkeit von der Kolonialmacht oder ihren Repräsentanten. Die Ziele der kolonialistischen Herrschaft sind in ausgeprägter Einseitigkeit an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen und der Kultur der Kolonialmacht orientiert.“ (Trotha, 2004, p. 50).

2.2     Deutsche Kolonialgeschichte

Die von Bismarck geprägte Außenpolitik des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert führte dazu, dass Deutschland erst 1884 anfing zu kolonialisieren. In diesem Jahr änderte Bismarck seine Meinung zum Thema Kolonisation (Gründer, 2018, p. 55). Er verfolgte allerdings immer eine Politik, die eine offene Auseinandersetzung mit anderen europäischen Ländern, vor allem Großbritannien, vermied (Gründer, 2018, pp. 92–93). Denn die guten Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten hatten für ihn eine höhere Priorität als die Kolonien (Gründer, 2018, p. 103).

Mit der Ablösung Bismarcks als Reichskanzler durch Graf Leo von Caprivi änderte sich auch die Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs was die Kolonialpolitik betraf. Denn Caprivi wollte die in Südafrika unter „Schutzverträgen“ stehenden Gebiete in „Kolonialgebiete“ umwandeln (Gründer, 2018, p. 121).

Die in diesen Gebieten lebenden Nama-Stämme widersetzten sich von Beginn an gegen die neuen Verträge, da durch diese ihr bisheriges Nomadenleben nicht mehr möglich wäre (Gründer, 2018, p. 121). Im Gegensatz dazu widersetzten sich die Herero zu Beginn nicht gegen die „deutsche Schutzherrschaft“, da sie sich von dieser Schutz vor den Expansionsideen der Nama versprachen (Gründer, 2018, pp. 121–122). Eben diese bereits bestehenden Konfliktlinien zwischen den Herero und Nama wurden vom deutschen Kaiserreich ausgenutzt, um eine „deutsche Oberherrschaft“ schaffen zu können. Außerdem nutzten sie die Stellung der Stammeshäuptlinge, indem sie diesen eine Rente versprachen im Gegenzug für die Gebietsverluste der Stämme und Einflussverluste der Häuptlinge (Gründer, 2018, pp. 122–123). Während das Ziel der Regierung in Deutschland noch eine „Schutzherrschaft“ war, forderten die Siedler*innen [1] vor Ort längst eine „Siedlerkolonie“ (Böcker, 2020, p. 50). Die eskalierende Brutalität sowie die ausbeuterischen Geschäftspraktiken der weißen Siedler*innen gegenüber den Herero und Nama, als auch die Morddrohungen gegen den Oberhäuptling der Herero, Samuel Maharero, werden als die Auslöser für den Aufstand der Herero und Nama gewertet (Gründer, 2018, p. 129).

Der Aufstand begann am 12.01.1904 (Böcker, 2020, p. 51). Im Januar 1904 führten die Herero einen Überraschungsschlag gegen eine Stationsbesatzung, außerdem zerstörten sie Eisenbahnlinien und Telegraphenverbindungen. Die Herero waren bis Juni 1904 erfolgreich, bei Waterberg wurde ein Großteil der Herero-Gruppen eingekesselt, es folgte ein Vernichtungsschlag. Diejenigen, die überlebten, wurden in ein Dürregebiet zurückgedrängt, wo sie dem Wetter und Wassermangel zum Opfer fielen (Gründer, 2018, p. 130).

Nach der Niederlage der Herero widersetzten sich auch die Nama ab Oktober 1904 den deutschen Truppen. Allerdings hatten die Nama nach dem Tod von Hendrik Witbooi keinen gemeinsamen Anführer mehr. So konnten manche Stammesanführer dazu bewegt werden, die Waffen niederzulegen, andere widersetzten sich weiter, bis sie bis 1906 besiegt wurden (Gründer, 2018, p. 131). Am 31.03.1907 wurde der Kriegszustand in Südwestafrika offiziell als für beendet erklärt, manche Stämme hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht am Aufstand beteiligt (Gründer, 2018, p. 131).

Durch die vom Kaiserreich verfolgte Vernichtungsstrategie überlebten von den Herero etwa 25% den Aufstand, bei den Nama waren es in etwa 50%. (Gründer, 2018, p. 131). Die Stammesverbände waren nach dem Aufstand de facto kein Machtfaktor mehr (Gründer, 2018, p. 133). Das Stammesvermögen wurde aufgelöst, für den Besitz von Vieh und Land wurde nicht nur eine Obergrenze eingeführt, es wurde auch eine Genehmigung der Kolonialmacht benötigt. Dies, und der Arbeitsvertragszwang und die Passpflicht, schufen ein System der Abhängigkeit, Überwachung und Kontrolle (Gründer, 2018, pp. 133–134). Außerdem wurden Konzentrationslager für die Herero und Nama geschaffen, die 1908 nur wegen des Arbeitskräftemangels aufgelöst wurden (Böcker, 2020, p. 51). Es wurde versucht, die Herero und Nama davon abzuhalten, Lesen und Schreiben zu lernen und ihre eigenständigen Identitäten aufzulösen, um eine „einheitliche Arbeiter*innenklasse“ zu schaffen (Gründer, 2018, p. 137). 

Heute fällt der Massenmord an den Herero und Nama unter die von der UN gegebene Definition von Genozid (Böcker, 2020, p. 51). Seit 1999 versuchen Vertretungen der Herero vor verschiedenen Gerichtshöfen Klage auf Schadensersatz zu erheben, diese sind bis jetzt allerdings immer wieder gescheitert (Böcker, 2020, p. 52). Die deutsche Politik versucht beständig den Fokus nicht auf den Genozid zu legen, sondern auf die Geldmittel, die Namibia von Deutschland seit der Unabhängigkeitserklärung erhält. Diese Gelder gingen allerdings nicht and die Opfer des Völkermordes (Böcker, 2020, p. 52). Am 14.08.2004 entschuldigte sich die Bundesministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich bei der Gedenkfeier für die Schlacht von Waterberg (Lutz and Brumlik, 2005, p. 23). Bis heute folgte allerdings noch keine Entschuldigung des Regierungs- oder Staatsoberhauptes von Deutschland. In Afrika wird der Aufstand der Herero und Nama heute als Freiheitskrieg interpretiert (Gründer, 2018, p. 132).

3. Koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen

Um herausarbeiten zu können, inwieweit und in welcher Form koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen existiert, wird der Bildungsplan Baden-Württembergs von 2016 der Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und Ethik an Gymnasien untersucht. Es soll herausgearbeitet werden, an welchen Stellen im Bildungsplan auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands besser eingegangen werden kann. Anschließend werde ich darauf eingehen, wie das Thema kolonialer Erinnerung in meiner Schulzeit behandelt wurde.

3.1 Baden-Württemberg

Im Fach Geschichte wird in der 7. Bis 8. Klasse das Konzept des Imperialismus am Beispiel Afrikas eingeführt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Allerdings ist hier weder vorgeschrieben, auf die Lebensrealität in den damaligen Kolonien einzugehen, noch das Deutsche Reich im Speziellen als Kolonialmacht.

In der 9. und 10. Klasse liegt der Fokus beim Thema Imperialismus auf dem Vergleich ehemaliger Imperial-Mächte mit einem Fokus auf Russland, China, dem osmanischen Reich und der Türkei (Bildungspläne Baden-Württemberg). Die Entwicklung der ehemaligen Kolonien, und wie diese bis heute vom Kolonialismus geprägt sind, wird hier nicht thematisiert. Um in Deutschland das Verständnis der Kolonialgeschichte des Landes zu stärken, könnte das Deutsche Reich unter diesem Punkt ebenfalls als Imperiale Macht betrachtet werden, mit einem Fokus auf bis heute andauernden Folgen des Kolonialismus in den ehemaligen deutschen Kolonien.

Im zweiten Halbjahr der 12. Klasse steht die Behandlung postkolonialer Räume auf dem Bildungsplan. Ein Unterpunkt sind antikoloniale Bewegungen, die sich nach 1918 ereigneten, unter anderem mit dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach dem ersten Weltkrieg (Bildungspläne Baden-Württemberg). Deutschland verpflichtete sich mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1918 allerdings alle Kolonien aufzugeben, deswegen können antikoloniale Bewegungen oder Widerstand gegen das Deutsche Reich in den Kolonien mit diesem Zeitrahmen nicht betrachtet werden. Wird allerdings auch die Zeit vor 1918 betrachtet, ist dies ein guter Rahmen, um den Genozid an den Herero und Nama in Schulen zu thematisieren, der vom Deutschen Reich verübt wurde. Den Schüler*innen soll ebenfalls die Kompetenz vermittelt werden, Dekolonialisierungsprozesse beschreiben und aktuelle Probleme auf den Kolonialismus zurückführen zu können (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann erweitert werden, indem die Rolle Europas in der Kolonisation und Dekolonisation in den Fokus gerückt wird, damit Europa stärker in die Verantwortung gezogen werden kann.

Im Fach Gemeinschaftskunde wird in der Mittelstufe im Bereich Internationale Beziehungen die Bewältigung heutiger Konflikte thematisiert, zum Beispiel unter dem Aspekt des Ziels der universalen Umsetzung der Menschenrechte (Bildungspläne Baden-Württemberg). Wird neben der Konfliktbewältigung auch die Konfliktursache bearbeitet, können auch an dieser Stelle die Folgen des Kolonialismus thematisiert werden, da viele heutige Konflikte auf die Kolonialzeit zurückzuführen sind. So zum Beispiel Grenzkonflikte, die erst durch Grenzziehungen von Europa auf anderen Kontinenten entstanden.

In der Oberstufe wird in Gemeinschaftskunde die Außenpolitik Deutschlands behandelt mit der UN und der NATO als Schwerpunkt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann um die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia erweitert werden, indem zum Beispiel die Gelder thematisiert werden, die von Deutschland nach Namibia fließen, oder die in Deutschland geführte Debatte um eine offizielle Entschuldigung der Bundesrepublik an die Herero und Nama. Auch die bisher stattgefundenen Rückführungen von Gebeinen kann an dieser Stelle eingearbeitet werden.

In der Oberstufe wird auch gesellschaftlicher Wandel behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Derzeitig ändern sich viele Aspekte der Gesellschaft in Deutschland, einer dieser Aspekte ist die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich als Kolonialmacht und welche Verantwortungen Deutschland heute aus dieser Geschichte übernehmen soll oder muss. So kann zum Beispiel die Kontroverse um die ethnologische Ausstellung des Humboldt Forum und die dort zu besichtigende Raubkunst diskutiert werden.

Im Fach Ethik wird das Konzept der Freiheit unter naturalistischen und anthropologischen Blickwinkeln in der Oberstufe behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieses Gebiet kann über die Fragen, wie Menschen Freiheit definieren und welchen Stellenwert Freiheit für einzelne Individuen hat, hinweg erweitert werden, dahin zu fragen, was es bedeutet, dass manchen Menschen während der Kolonialisierung nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihr Menschsein abgesprochen wurde und wie verhindert werden kann, dass dies wieder passiert.

3.2 Persönliche Erfahrungen

In der Schule belegte ich Geschichte in der Oberstufe als Leistungskurs und schrieb auch eine Abiturprüfung in diesem Fach. Allerdings konnte ich mich nicht daran erinnern, je das Thema Kolonialismus, geschweige denn den Genozid der Herero und Nama, im Geschichtsunterricht behandelt zu haben. Mein Wissen zu diesem Thema hatte ich mir außerhalb des Rahmens des Schulsystems angeeignet.

In dem Kursbuch für Geschichte, das wir zur Vorbereitung für das Abitur in der Schule nutzten, beschränkt sich die Erwähnung der deutschen Kolonialgeschichte auf einen Absatz mit neun Sätzen (vgl. Berg, 2010, p.209). Hier wird betont, dass das Deutsche Reich später als andere europäische Länder zu Kolonialmacht wurde. Auch werden Bismarcks wirtschaftliche Interessen an den Kolonien erwähnt (Berg, 2010, p. 209). Über die Grausamkeiten, die während der deutschen Kolonialbesetzung stattfand oder dem Genozid, wird kein Wort verloren.

Neben dem Absatz zur Kolonialpolitik bietet das Buch allerdings einen Verweis für LEMO („Lebendiges Museum Online“), der dort verlinkte Beitrag führt zu einem Text über die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches. In diesem Text wird der Aufstand der Herero und Nama zumindest erwähnt, vor allem werden die Opferzahlen der Herero, Nama und auch die der Siedler*innen aufgezählt. Allerdings wird es nicht als Genozid beschrieben (Asmuss, 2011), obwohl es offiziell von der UN als Genozid eingestuft ist.

3.3  Schlussfolgerung

Der Bildungsplan von Baden-Württemberg bietet genug Ansatzstellen, um sich in der Schule mehr mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und die daraus resultierenden Folgen für die Gegenwart auseinanderzusetzen. Allerdings muss dies explizit in den Bildungsplan festgeschrieben werden, damit es auch in den Schulen umgesetzt wird. Darüber hinaus müssen auch die für den Schulunterricht zugelassenen Schulbücher dahingehend überarbeitet werden, dass der Kolonialismus einen angemessenen Stellenwert erhält und nicht weiterhin in einem Absatz abgehandelt werden kann. 

4. Fazit

Die Schule ist ein Ort, in dem viele junge Menschen den ersten Kontakt zu dem Thema Kolonialismus erhalten. Deswegen ist es wichtig, dass in diesem Rahmen grundlegendes Wissen und ein Gefühl der Verantwortung vermittelt werden kann, um gesamtgesellschaftlich ein besseres Bewusstsein für diesen Teil der deutschen Geschichte zu schaffen. Der Bildungsplan Baden-Württembergs hat bereits die nötigen Voraussetzungen, um diese Grundlagen zu vermitteln, allerdings muss die Umsetzung noch verbessert werden.

Es gilt allerdings weiterhin in allen Lebensbereichen nach neuen Wegen der Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu suchen.

Reference list

Asmuss, B. (2011) Kolonialpolitik. Available at: https://​www.dhm.de​/​lemo/​kapitel/​kaiserreich/​aussenpolitik/​kolonien.

Berg, R. (ed.) (2010) Kursbuch Geschichte. Berlin: Cornelsen.

Bildungspläne Baden-Württemberg (no date). Available at: https://​www.bildungsplaene-bw.de​ (Accessed: 8 August 2022).

Böcker, J. (2020) ‘Juristische, politische und ethische Dimensionen der Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama’, Sicherheit & Frieden, 38(1), pp. 50–54. doi: 10.5771/0175-274X-2020-1-50

Gründer, H. (2018) Geschichte der deutschen Kolonien // Geschichte der Deutschen Kolonien. 7th edn. (Uni-Taschenbücher, Nr. 1332 // 1332). Paderborn: Ferdinand Schöningh; Schöningh.

Lutz, H. and Brumlik, M. (eds.) (2005) Kolonialismus und Erinnerungskultur: Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft. Münster: Waxmann (Niederlande-Studien, Bd. 40).

Trotha, T. von (2004) ‘Was war Kolonialismus? Einige zusammenfassenden Befunge zur Soziologie und Geschichte des Kolonialismus und der Kolonialherrschaft’, Saeculum, 55(1), pp. 49–96. doi: 10.7788/saeculum.2004.55.1.49


[1] In diesem Text wird mithilfe des Gendersternchen gegendert, um auch Geschlechtsformen, die nicht männlich oder weiblich sind, miteinzubeziehen.


Quelle: Constanze Luise Selegrad, Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/10/27/erinnerung-an-die-deutsche-kolonialgeschichte-im-bildungsplan-baden-wurttembergs-mit-fokus-auf-den-volkermord-der-herero-und-nama/

Rassismuskritische Bildung und Aufarbeitung der Kolonialgeschichte an deutschen Schulen

Aktuelle Bestandsaufnahme und Herausforderungen für die Zukunft

Solva Bergmann (SoSe 2021)

Hätte ich vor circa zwei Jahren ehemalige Kolonialmächte aufzählen sollen, wären mir bestimmt Länder wie Frankreich, Spanien und Portugal eingefallen, schließlich habe ich das zumindest aus dem schulischen Geschichtsunterricht mitgenommen: die großen Kolonialmächte, die zahlreiche Länder auf dem afrikanischen und amerikanischen Kontinent besetzten, dessen Bevölkerungen unterdrückten und sie zu ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen ausbeuteten. Allerdings erinnere ich mich kaum an eine aktualisierende Auseinandersetzung zu dem Thema, der Kolonialismus wurde folglich als abgeschlossenes Kapitel der „westlichen“ Geschichte behandelt. Doch welche Rolle spielte Deutschland eigentlich in der Kolonialzeit? Da ich mich im Rahmen des Geschichtsunterrichts nie fundiert mit den Gräueltaten des deutschen Kolonialreichs befasst habe, war mir lediglich bekannt, dass Deutschland selbst Kolonien besaß, diese jedoch im Vergleich zu den anderen Kolonialmächten „vernachlässigbar“ erschienen.

Die intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgte bei mir persönlich erst circa ein Jahr nach meinem Schulabschluss, genauer gesagt kurz nach dem grausamen Mord an George Floyd am 25. Mai 2020. Im Kontext der dadurch ausgelösten Protestbewegungen und Debatten rund um die Themen Polizeigewalt und struktureller Rassismus habe ich erstmalig von dem Genozid an den Herero und Nama gehört. Mindestens so schockiert wie ich über das Ereignis selbst war, war ich überrascht über die Tatsache, dass ich erst jetzt mit dieser dunklen Schattenseite der Geschichte meines eigenen Heimatlandes konfrontiert wurde. Nach dem Austausch mit verschiedenen Freund*innen wurde deutlich, dass das kein individuelles Problem von Desinteresse an bestimmten historischen Ereignissen war, sondern eher von strukturellen Aufklärungslücken an deutschen Schulen zeugt. Aber aus welchen Gründen wird ein solch gesellschaftlich relevantes Thema, gerade anlässlich aktueller Ereignisse wie die späte Anerkennung des Völkermords als solchen, im Lehrplan so unterrepräsentiert? Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung eines postkolonialen Bewusstseins? Diese und weitere Fragen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Um sich der Beantwortung dieser Fragen zu widmen, ist es notwendig, vorab festzustellen, aus welcher Perspektive die Geschichte des Kolonialismus erzählt wird. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie berichtet in dem TED-Talk „The danger of a single story” wie sie als Kind hauptsächlich britische und amerikanische Kinderbücher las und sich nicht mit den Protagonist*innen identifizieren konnte. Darüber hinaus wurde sie durch die ausländischen Autor*innen sogar in dem Maße geprägt, dass sie in ihren ersten selbstgeschriebenen Geschichten ausschließlich weißnormierte Vorstellungswelten wiedergab. Dies verdeutlicht den ausgeprägten Einfluss, den u.a. Bildungs-ressourcen auf unsere eigene Wahrnehmung haben. Adichie weist hierbei auf den Zusammenhang mit strukturellen Machtverhältnissen hin:

„Wie sie erzählt werden, wer sie erzählt, wann sie erzählt werden, wie viele Geschichten erzählt werden, wird wirklich durch Macht bestimmt. Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen.“

Adichie, 2009

Adichie zufolge sind einige wenige Personen in der machtvollen Position, über das Schicksal vieler marginalisierter Personen hinweg zu bestimmen. Im Kontext mit der Aufklärungsarbeit zu Rassismus und Kolonialismus stellt sich folglich die Frage, wer hier die Geschichte erzählt und somit die Deutungshoheit über unser historisches Bewusstsein besitzt.

Aus meinen eigenen Erfahrungen im Geschichtsunterricht erinnere ich mich in der Retrospektive an einige fragwürdige Erzählperspektiven, die sogar teilweise zur Legitimation der kolonialen Taten europäischer Großmächte führen. Prägend dabei ist z.B. die Heroisierung von Christoph Kolumbus als „Entdecker Amerikas“, wodurch die gewaltsame Eroberung des amerikanischen Kontinents und die Ausbeutung dessen indigener Bevölkerung auf eine erschreckend verharmlosende Weise ausgeblendet werden. Eine faire Geschichtserzählung würde allen betroffenen Akteur*innen eine Stimme geben, insbesondere den Kolonisierten, die aufgrund einer asymmetrischen Machtverteilung nie die notwendigen Mittel besaßen, um sich erfolgreich gegen die Kolonisation zur Wehr zu setzen. Ein prägnantes Beispiel, das die vorherrschende Erzählperspektive bestätigt, ist das Kinderlied „Ein Mann, der sich Kolumbus nannt“, das u.a. auf dem YouTube-Kanal „Sing mit mir: Kinderlieder“ veröffentlicht wurde. Der folgende Strophenausschnitt schildert die Situation kurz nach der Ankunft Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent.

Das Volk an Land stand stumm und zag,

[…]
Da sagt Kolumbus: „Guten Tag!

[…]
Ist hier vielleicht Amerika?“

Da schrien alle Wilden: „Ja!“

Sing mit mir- Kinderlieder, 2015

Bereits die herabwürdigende und diffamierende Bezeichnung der einheimischen Bevölkerung als die „Wilden“ deutet auf ein kolonialisierungsverherrlichendes Narrativ hin. In keiner Zeile des Lieds lässt sich auch nur die Andeutung auf die tatsächlich stattgefundene gewaltsame Übernahme der Kolonisatoren finden.

Der YouTube-Kanal „Cut“ dagegen veröffentlichte 2015 eine Videoaufnahme, in der indigene Personen vor der Kamera zeigen, was „Christoph Kolumbus“ in ihnen emotional auslöst. Diese Perspektive komplementiert das bestehende dominante Narrativ, indem nicht nur der Blickwinkel der sowieso schon machtvollen Personen beleuchtet wird.

Äquivalent zu der fehlenden Aufklärung über die Kolonisierung des amerikanischen Kontinents charakterisiert sich das in der Schule angeeignete Wissen über die deutsche Kolonialgeschichte als sehr eindimensional und lückenhaft.

Ein Beleg für die Existenz kolonialer Kontinuitäten ist die fehlende Aufarbeitung über den Genozid an den Herero und Nama, der von Historiker*innen als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird (vgl. Conrad, 2008). Die Kolonie Deutsch-Südwestafrika auf dem heutigen Gebiet des Staates Namibia war seit 1884 die erste Kolonie des Deutschen Kaiserreichs. Das Gebiet war sehr trocken, weshalb die Bevölkerung hauptsächlich von der Viehzucht lebte. Die Bevölkerungszahl lag bei circa 200.000 Einwohner*innen, während sich davon etwa 80.000 zu dem Volk der Herero und 20 000 zu den Nama zählten (vgl. Opfer-Klingerl, 2012).

In den 1890er Jahren entstanden zunehmend Probleme aufgrund der grundsätzlichen Gewaltstruktur der kolonialen Situation. Infolge einer schweren Rinderpest und einer langen Dürreperiode geriet besonders das Nomadenvolk der Herero in existenzielle Schwierigkeiten.

1904 erhoben sich die Herero gegen die Kolonialherrschaft, nachdem sie zunehmend rassistisch motivierte gewaltsame Übergriffe ertragen mussten und die deutschen Siedler*innen immer größere Gebiete für sich beanspruchten (vgl. Ullrich, 1994). Am 11. August 1904 spitzte sich der Konflikt zu, als der neu eingesetzte Generalleutnant Lothar von Trotha und etwa 2000 deutsche Soldaten der „Schutztruppe“ die Herero mit unsagbarer Brutalität in der Schlacht am Waterberg angriffen und überwältigten (vgl. segu Geschichte, o. J.).  Die überlebenden Herero flohen in der Nacht in die wasserarme Omaheke-Halbwüste. Im Oktober 1904 erließ von Trotha den sogenannten „Vernichtungsbefehl“, durch den die Herero offiziell nicht länger auf dem deutschen „Schutzgebiet“ geduldet werden sollten und dessen totale Vernichtung angeordnet wurde (vgl. bpb, 2014).

„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu Ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“  

von Throtha, 1904 zitiert nach Gewald, 1994

Den Herero wurden in der Folge die Rückwege zu Wasserquellen von der „Schutztruppe“ abgeschnitten, weshalb viele von ihnen in der Wüste verdursteten. Andere Überlebende wurden zur Zwangsarbeit deportiert und starben in den Internierungslagern (vgl. Schaller, 2004). Auch Teile einer anderen Bevölkerungsgruppe, der Nama, lehnten sich gegen die Kolonialherrschaft auf und erlitten ein ähnlich grausames Schicksal. Nach Schätzungen zufolge verloren etwa mindestens 60 000 Herero und 10 000 Nama durch den Völkermord ihr Leben (vgl. bpb, 2014). Neben der Massenermordung wurden menschliche Schädel von Militärärzt*innen nach Deutschland geschickt, um rassistische Theorien zu belegen und koloniale Herrschaftsansprüche zu legitimieren (vgl. Kimmerle, 2018).

Zu dem Massenverbrechen gab es bis vor kurzer Zeit seitens der Bundesrepublik Deutschland keine angemessene Aufarbeitung, erst im Mai dieses Jahres, weit mehr als 100 Jahre später, wurde der Völkermord als solcher anerkannt. Gründe für die so verspätete Aufarbeitung sind einerseits das südafrikanische Apartheidsregime, das in Namibia bis 1990 gegolten hat. Für die Nachfahren der Opfer ist es also erst seit der Unabhängigkeit Namibias 1990 möglich, sich öffentlich zum Ausdruck zu bringen (vgl. Brehl, 2021). Zudem ist aber auch in den ehemaligen Kolonialstaaten das generelle Bewusstsein für vergangene koloniale Verbrechen erst sehr spät aufgekommen, nachdem lange Zeit Gewalttaten an der indigenen Bevölkerung als Kollateralschaden der Besiedlung behandelt wurden.

Doch vor allem seit dem 100. Jahrestag des Genozids fordern immer mehr Nachfolger*innen der Herero und Nama eine offizielle Anerkennung des Genozids, eine Entschuldigung und entsprechend angemessene Entschädigungsleistungen (vgl. Kimmerle, 2018).

Nachdem erste Erfolge aufgezeichnet werden konnten, als z.B. geraubte menschliche Gebeine an Namibia zurückgegeben wurden, warteten die Nachfahren lange vergeblich nach einer respekt- und würdevollen offiziellen Entschuldigung. So beschreibt es auch der Berliner Herero-Aktivist Israel Kaunatjike:

„Wir wollen unsere […] Würde noch mal herstellen. Anerkennung, Würde, Menschenwürde, das ist für uns das Wichtigste überhaupt. Es geht nicht nur um Geld, materiell, es geht um Respekt, von Menschen, 100.000 Menschen, die damals umgekommen sind.“

Kaunatjike, 2018 zitiert nach Baschek, 2018

Doch warum weigerte sich die Bundesrepublik so lange, den Genozid rechtlich offiziell anzuerkennen? Die Betonung liegt hier vor allem auf rechtlich, denn historisch-politisch wurde die Einschätzung als Völkermord seitens der Bundesregierung infolge einer parlamentarischen Anfrage der Linken bestätigt (vgl. Bundesregierung, 2016). Der Hauptgrund für den zurückhaltenden Umgang und die fehlende Aufarbeitung liegt wohl in der Angst, dass die verbleibenden Herero und Nama rechtliche Ansprüche auf Entschädigungszahlungen erheben könnten.

Daher gab es seit 2015 zwischen der deutschen und namibischen Regierung langwierige Verhandlungsgespräche über mögliche Entschädigungsleistungen. Zwar waren in der Delegation aus Namibia auch Vertreter*innen der Herero und Nama, die allerdings von der dortigen Regierung ausgewählt wurden (vgl. bpb, 2021). Der Hintergrund dabei ist, dass die Herero und Nama auch in Namibia bis heute noch als Minderheiten gelten und ihre Sonderanerkennung als Opfer des Völkermords von der Seite der namibischen Regierung aus wenig bis gar nicht gewürdigt wird (vgl. Brehl, 2021). Ebenso problematisch ist daher das Argument der Bundesregierung, dass Namibia von Deutschland das höchste Entwicklungsgeld pro Kopf bekomme, mit welchem die zusätzlichen Entschädigungsleistungen obsolet erscheinen. Doch Vertreter*innen der Herero und Nama kritisierten, dass jenes Geld nicht bei ihnen ankomme und dass sie bis heute in einer finanziell prekären Notlage leben müssen. Erwähnenswert an dieser Stelle ist, dass das Farmland der Herero und Nama nach dem Genozid enteignet und an deutsche Siedler*innen verkauft wurde. Auch heute ist über die Hälfte des kommerziellen Farmlands unter dem Besitz von weißen deutschen Siedler*innen (vgl. Kimmerle, 2018).

Nach über fünfjährigen Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen, teilte Außenminister Heiko Maas mit:

„Als Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde, wollen wir Namibia und die Nachkommen der Opfer mit einem substanziellen Programm in Höhe von 1,1 Mrd. Euro zum Wiederaufbau und zur Entwicklung unterstützen. […] Rechtliche Ansprüche auf Entschädigung lassen sich daraus nicht ableiten.“

Maas, 2021

Es bleibt nun abzuwarten, ob bei den betroffenen Personen auch tatsächlich etwas von den versprochenen Projekten und Geldleistungen ankommt.

Mit der offiziellen Anerkennung des Genozids seitens der deutschen Bundesregierung sollte es konsequenterweise auch keinen logischen Grund mehr geben, die deutschen Kolonialverbrechen und dessen Fortwirkungen in die landesweiten Lehrpläne einzuschließen.

Die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin bell hooks schreibt, dass Bildung ein Heilungsprozess ist und mit „Ermächtigung, Befreiung, Transzendenz, Erneuerung des Lebens“ (hooks, 2003, S. 43) zu tun hat. Gleichzeitig kritisiert sie den derzeitigen Status quo im Unterricht, der die bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht aufbricht, sondern sie noch tiefer verfestigt. Jedoch sollte nach hooks die Priorisierung auf der Entwicklung einer herrschafts- und hierarchiefreien Lernmethodik liegen, wodurch „der Raum des Klassenzimmers zu einem Ort des Widerstands gegen Dominanz- und Herrschaftsstrukturen wird“ (Kazeem & Schaffer, 2012, S. 181). Übertragen auf die vorliegende Problematik heißt das, dass nur mit dem Wissen um die Entstehung des Rassismus in der deutschen Kolonialzeit der heute immer noch vorliegende, teils internalisierte Rassismus, erkannt und bekämpft werden kann.

Aktuell wird die Kolonialgeschichte an deutschen Schulen zwar oft behandelt, allerdings aber meistens lediglich im Zusammenhang mit dem Imperialismus (vgl. Lueg, 2021). Maßgeblich wäre vor allem eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Machtgefälle zwischen den Kolonialmächten und den Kolonisierten und der Frage, inwiefern die Kolonialherrschaft die Entstehung von Rassismus bedingt. Dabei reproduziert bereits die Art und Weise, wie die koloniale Gewalt beispielsweise in Lehrbüchern dargestellt wird, oft schon selbst koloniale Diskurse. Den Angehörigen der Herero und Nama wird häufig eine Opferrolle zugeschrieben und ihre Lebenssituation stark vernachlässigt. Neben einer fehlenden Distanzierung von kolonialem Vokabular wie „Häuptling“ oder „Eingeborene“ wird auch die Vielfalt des afrikanischen Kontinents mittels der Rede von „den Afrikanern“ diffamiert.

Die Kölnerin Abigail Fugah startete daher eine Petition zur Überarbeitung der Lehrbücher und Lehrpläne in Nordrhein-Westfalen und begründet dies wie folgt:

 „Wenn schwarze Kinder alt genug sind, Rassismus zu erfahren, dann sind weiße Kinder auch alt genug, um etwas darüber zu lernen.“

Fugah, 2020 zitiert nach Hilfe, 2020

Da Bildung im Kompetenzbereich der Bundesländer liegt, variieren dementsprechend auch die jeweiligen Geschichtslehrpläne. In Niedersachsen z.B. ist lediglich die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen des Imperialismus festgeschrieben, wohingegen in Bayern auch die „Auswirkungen auf die betroffenen Völker an einem Beispiel“ thematisiert werden sollen. Selbst innerhalb eines Bundeslandes herrschen je nach Schulform hochgradige Unterschiede. In Sachsen-Anhalt wird in der neuesten Geschichtsbuchausgabe für die gymnasiale Oberstufe der aktuelle Diskurs über die Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama aufgegriffen, in dem Buch für die Realschüler*innen lässt sich dagegen kein einziger Satz zur Kolonialzeit finden (vgl. Kniestedt, 2020). Inwiefern dann das Thema behandelt wird, liegt folglich in der Verantwortung der einzelnen Lehrpersonen. Ob und wie sich die Lehrkräfte Zeit nehmen, Kolonialismus und dessen Auswirkungen in ihrem Unterricht zu behandeln, ist auch von ihrer eigenen rassismuskritischen Einstellung abhängig (vgl. Kniestedt, 2020). Vorschläge für eine differenziertere Behandlung der Kolonialgeschichte beinhalten neben der Fortbildung für Lehrer*innen Lernkooperationen, die die Interessensvertretung von marginalisierten und rassismuskritischen Gruppen berücksichtigen würde.

Denn nur mit dem Bewusstsein um unsere koloniale Vergangenheit, können wir heute rassistische Strukturen in uns und unserer Gesellschaft überhaupt erkennen. Deswegen sollten wir eine postkoloniale Perspektivenerweiterung in allen Schulen anvisieren, sodass zukünftige Generationen bereits so früh wie möglich für rassismuskritische Themen sensibilisiert werden. Auf diese Weise kann auch zu einer diskriminierungsfreieren Gesellschaft beigetragen werden, in der Schwarze Menschen, bzw. People of Color nicht mehr Opfer von rassistischen Gewalttaten werden müssen.

Literaturverzeichnis

Adichie, C. N. (TED, Hrsg.). (2009, 16. Oktober). The danger of a single story. Zugriff am 23.09.2021. Verfügbar unter: https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story/transcript

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Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity) als Thema des Rahmenlehrplans Berliner Schulen

Werden queere Kinder immer noch unsichtbar gemacht und Identitäten abseits heteronormativer Rollenbilder marginalisiert?

Carolin Brede (SoSe 2021)

Als ein übergreifendes Unterrichtsthema für die Schule, wurde im neuen Rahmenlehrplan Berlin-Brandenburg von 2015 im Teil B: Fachübergreifende Kompetenzentwicklung „Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity)“ ausgewiesen. Dies ist eine Errungenschaft, denn dadurch wird Diversity Education landesweit als Thema des Unterrichts implementiert. Es macht die bildungspolitischen Bemühungen deutlich, das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in die schulische Bildung aufzunehmen (vgl. Riegel 2017, 69). Als Basis wird die Schule als Ort der „Wertschätzung sozialer, geschlechtlicher, sexueller, altersbezogener, körperlicher, geistiger, ethnischer, sprachlicher, religiöser und kultureller Vielfalt“ vorausgesetzt (SenBJF 2015a, 25).

Weiterführend heißt es:

Wenn alle am Bildungsprozess Beteiligten, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, als Individuen Achtung und Anerkennung erfahren, entfalten sie angstfrei ihr Bildungspotential und ihre Kreativität. So tragen sie zu einem von Respekt, Akzeptanz und Offenheit geprägten sozialen Miteinander bei. Eine Reflexion der eigenen Haltung und das Wahrnehmen von Vielfalt sind hierbei von Bedeutung.

SenBJF 2015a, 25

Überdies werden konkret zu erwerbende Kompetenzziele formuliert, die fächerübergreifend erarbeitet werden sollen. Ein Kompetenzziel ist, dass „[…] Kinder und Jugendliche[ ] eine Haltung [entwickeln], die es ihnen ermöglicht, Vielfalt als selbstverständlich und als Bereicherung wahrzunehmen. Sie erwerben die Fähigkeit, sich eigene, tatsächliche und zugeschriebene Merkmale bewusstzumachen, die eigene Lebenssituation und Lebensweise zu reflektieren und einen Perspektivwechsel im Hinblick auf die Lebenssituationen anderer vorzunehmen.“ (ebd.). Noch darüber hinaus sollen „[…] gesellschaftliche Vorstellungen von Normalität und Abweichungen sowie bestehende Hierarchien und Machtverhältnisse reflektiert [werden]“ (ebd.).

Ob in den vergangenen sechs Jahren seit Veröffentlichung des neuen Rahmenlehrplans eine Implementierung der im Curriculum für die gesamte Schulzeit formulierten Ziele im Bereich Diversity stattgefunden hat, soll im kommenden Essay erörtert werden. Hierbei wird sich auf die Repräsentation und Berücksichtigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in der Schule beschränkt, wobei dies einen intersektionalen Blick nicht ablösen soll, jedoch die Analyse für den Umfang dieser Arbeit vereinfacht. Selbstverständlich sei hier betont, dass diese soziale Dimension nicht wichtiger ist als etwa die Behandlung des Themas Ability, rassismuskritische Darstellungen oder religiöse Vielfalt, um nur einige andere zu nennen.

Die Identitätsbildung ist Bestandteil kindlicher Entwicklungsaufgaben, begleitet ein Individuum über das gesamte Leben, ist nie gänzlich abgeschlossen und fluid. Die Auseinandersetzung mit individuellen sozialen Kategorien und Ausprägungen von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung spielt spätestens zu Beginn der Pubertät eine große Rolle, wobei auch bereits Kindergartenkinder klare Vorstellungen „adäquaten“ (oder vielmehr erwünschten) Geschlechterverhaltens haben. So erschien zuletzt eine Dokumentation des ZDF über Sexismus in Deutschland (1), im Kontext derer Kindergartenkinder im Interview klassische Rollenklischees den binären Geschlechtskategorien zuordneten. Hierbei wurde von den Interviewenden nur danach gefragt, was typisch für einen Mann und typisch für eine Frau sei. Zu kritisieren ist, dass selbst im Kontext einer vermeintlich der Aufklärung bestehender Sexismen gewidmeten Dokumentation, sexistische cisgeschlechtliche Bezugnahme auf Geschlecht stattfindet und trans* Identitäten durch Suggestivfragen unsichtbar gemacht werden und trans* Personen generell in der Dokumentation keinen Raum finden. Damit ist diese Reportage des öffentlich- rechtlichen Rundfunks ein Paradebeispiel für die Bearbeitung des Themas Geschlechtergerechtigkeit und Pluralität im öffentlichen, breit geführten Diskurs. Auch in der Institution Schule werden trans* und queere Identitäten immer noch unsichtbar gemacht, wie nachfolgend deutlich wird.

An einer Berliner Regelgrundschule habe ich kürzlich über sechs Monate als Vertretungslehrerin gewirkt, mit Kolleg*innen zusammengearbeitet und auch im Rahmen diverser Praktika im Unterricht verschiedener Lehrkräfte hospitiert. In keinem dieser Kontexte wurde konsequent gegendert oder Diversity sichtbar mitgedacht. Wenn überhaupt wurde es mitgemeint. Die mangelnde Sichtbarkeit von Vielfalt in Unterrichtsmaterialien, Unterrichtssprache und Themen stellt diese wohlwollend formulierte Vermutung jedoch in Frage.

„Andersartigkeit“, sich in seiner Identität abseits der Norm fühlen, wird im Grundschulkontext erstmals thematisch im vorfachlichen Unterricht aufgegriffen – meist bezogen auf heterogene äußere Eigenschaften. So behandeln diverse Bilderbücher und Erzählungen das Thema der „Andersartigkeit“ auf eine verniedlichende, dekontextualisierende Art. Hierbei wird sich in vielen Fällen der Abstraktion der Thematik der „Andersartigkeit“ in der kindlichen Realität bedient, indem menschliche Konflikte/ Emotionen auf vermenschlichte Tiere, welche als Protagonist*innen handeln, projiziert werden. Beispielhaft zu nennen sei an dieser Stelle das Buch Elmar – welches bei Amazon als „der Kinderbuchklassiker zum Thema ´anders sein´ und Toleranz“ – beworben wird. Der bunt karierte Elefant fühlt sich zunächst wegen seiner „Andersartigkeit“ ausgegrenzt, lernt sich dann jedoch im Laufe der Geschichte selbst wertschätzen. Nicht unproblematisch ist in der Geschichte, dass Elmar seine Wertschätzung erfährt, indem er anderen Tieren weiterhilft und ihnen gutmütig Ratschläge in kniffligen Lebenslagen gibt. Seine „Andersartigkeit“ wird also mit einem Mehrwert für die Gesellschaft „aufgewogen“.

Ein weiterer weihnachtlicher Klassiker ist die Geschichte von Rudolph dem kleinen Rentier. Auch Rudolph unterscheidet sich nicht im inneren Empfinden von den anderen, sondern in der äußeren Erscheinung. Hierbei löst sich die Ausgrenzung aus der Peergroup auf, als er am Weihnachtsabend durch sein besonderes Aussehen (die leuchtende Nase) der Gruppe helfen kann, den Schlitten durch den Schneesturm zu lenken. Plötzlich wird er gefeiert.

Beiden Geschichten gemein ist die Thematisierung von Ausgrenzung und Othering einzelner Akteur*innen, die nicht dem stereotypischen Bild einer Gruppe entsprechen. Andersartigkeit wird also in einem problematisierenden Kontext verortet, bei welchem sich als Moral der Geschichte die Konflikthaftigkeit in der speziellen Bedeutung/ einem Mehrwert der „Andersartigkeit“ für die ansonsten homogen scheinende Peergroup auflöst. Damit wird das Thema Diversität aus der eigenen Lebenswelt herausgehoben und vereinfacht bzw. in konstruierten Geschichten aufgelöst, wobei die Gleichwertigkeit der Individualität nicht deutlich wird, indem die „Andersartigkeit“ als eine Abweichung von einer einheitlichen Norm abgegrenzt wird.

Dies sind nur einige Beispiele für populäre Kindergeschichten zum Thema Vielfalt. Jedoch gibt es mittlerweile auch gelungenere Werke, in denen identitäre Vielfalt in einer Geschichte entweder als Normalität dargestellt wird und diverse Eigenschaften unkommentiert repräsentiert werden (z.B. „Julian feiert die Liebe“) oder Unterschiede und Gemeinsamkeiten gleichwertig dargestellt werden (z.B. „Ich bin anders als du – Ich bin wie du“, „Du gehörst dazu – Das große Buch der Familien“). Leider haben diversitäre Kinderbücher noch nicht in alle Klassenzimmer Einzug gefunden, da Lehrkräfte die Literaturauswahl in der Grundschule selbst treffen und es keinen verbindlichen Kanon gibt (SenBJF 2015c, 32).

Nicht nur im Deutschunterricht und dessen Literaturauswahl wird deutlich, dass identitäre Vielfalt im Schulalltag eine marginalisierte Rolle spielt. Auch in Lehrwerken werden Normen reproduziert und dadurch sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit abseits heteronormativer Vorstellungen vernachlässigt und als „besonderes Anderes“ inszeniert (vgl. Riegel 2017, 69).

Dabei sitzen in jeder Schulklasse basierend auf Befragungen zur Selbstbezeichnung von Jugendlichen durchschnittlich ein bis zwei Lernende, die nicht heterosexuell sind (vgl. Lehrerfreund 2010). Darüber hinaus bezeichnen sich 12% der Millenials als transgender oder gender nonconforming (GLAAD 2017).

Eine gleichstellungsorientierte Schulbuchanalyse von Melanie Bittner ergab 2011, dass Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität Schulbücher dominieren und andere Lebensweisen dadurch als „Abweichung“ bagatellisiert werden. Die Nutzung anderer Materialien neben den vom Fachbereich vorgeschriebenen Büchern liegt im Ermessen der einzelnen Lehrkräfte, setzt jedoch eine Sensibilität und Reflexion diesbezüglich voraus.

Betrachtet man die Repräsentation marginalisierter Geschlechtsidentitäten sowie sexueller Identitäten, so ist auffällig, dass diese im Schulleben vorrangig in Form von Abwertungen auftreten. 2012 gaben bei einer amerikanischen Befragung zu Schwierigkeiten in ihrem Leben 21% der befragten LGBT*Q Jugendlichen an, gravierende Schwierigkeiten im Bereich Schulprobleme und Mobbing zu haben. Unter heterosexuellen, cisgeschlechtlich identifizierten Jugendlichen wurde dieses Problem signifikant seltener genannt. Diese haben eher Probleme im Bereich Leistung und Karriere sowie Finanzen (vgl. HRC Youth Servey Report 2012, 2).

Deutsche Jugendliche beschrieben 2017 in der „Coming-out-Studie“, dass sexuelle Orientierung – wenn überhaupt – meist nur im Kontext von Ethik, Biologie oder Sexualaufklärung zur Sprache kam (vgl. Krell 2019, 180).

Dabei ist im oben zitierten Rahmenlehrplan zum Thema Diversity verankert, dass dieses als Querschnittsthema behandelt werden soll. So werden die Fächer Deutsch, Ethik, Biologie und Sachunterricht (Klasse 1-4) als Fächer mit persönlichen Zugängen zum Thema ausgewiesen. In der Grundschule soll die Behandlung in der 5./6. Klasse im Kontext von Kin- der- und Menschenrechten Gegenstand sein. Sogar für die Fächer Kunst, Musik und Sport werden Anknüpfungspunkte für den Unterricht vorgeschlagen (vgl. SenBJFa 2015, 25).

Im Kontext dessen ist es erschreckend, dass Jugendliche angeben, zum Teil gar nicht im Unterricht über das Thema sexuelle Orientierung zu sprechen. LSBTIQ* Jugendliche wünschen sich laut Befragung gerade die möglichst frühe Berücksichtigung und Repräsentation bereits im Grundschulalter. Etwa durch bildliche Darstellungen von queeren Lebensentwürfen (vgl. Krell 2019, 182). Dies bietet sich sowohl in Unterrichtsmaterialien aller Fächer an, insbesondere jedoch bei den Themen des Sachunterrichts der Klassen 1-4.

So heißt es im RLP: „Der Sachunterricht trägt zur Identitätsentwicklung bei, dazu gehört, sich und andere Menschen in großer Vielfalt und Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und zu respektieren.“ (SenBJFb, 3). Das Themenfeld „Kind“ bietet sich für die Reflexion vielfältiger Identitäten und Lebensweisen an. Da die oftmals unbewusste bzw. unreflektierte Selbstverortung im Rahmen sozialer Erwartungen schon vor der Pubertät anfängt, sollte auch nicht erst im Sexualunterricht und den Gesellschaftswissenschaften der Klassen 5 und 6 Vielfalt explizit thematisch werden.

Die Thematisierung geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung erfolgt oftmals mit einer Überbetonung, dass Homosexualität oder Transidentität nichts Schlimmes seien (vgl. Klocke 2016; zit. nach Krell 2019, 181). Dies ist insofern problematisch, als dass es durch Betonung der gewünschten Anerkennung der als „Anders“ inszenierten Lebensweisen zu einer ungewollten Sonderstellung kommen kann, wenn eigentlich nur eine Förderung der Akzeptanz intendiert ist. Riegel nennt diesen Prozess „Verbesonderung“ (2017, 70). Eine identitätsstiftende Darstellung queerer Lebensweisen erfolgt demgegenüber nicht häufig (vgl. Krell/ Oldemeier 2016).

Auch in der Unterrichtskommunikation werden binäre Geschlechtergedanken reproduziert. So hospitierte ich im Laufe meiner Ausbildung als Lehrkraft an sechs Berliner Regelgrundschulen. An ausnahmslos keiner der Schulen wurde konsequent gegendert. Es wurde nach wie vor von „Schüler*innen und Schülern“ gesprochen, wie bereits zu meiner eigenen Grundschulzeit. Dies ist zwar ein Fortschritt in Sachen Repräsentation gegenüber dem generischen Maskulin, jedoch ist es im Kontext der rechtlichen Anerkennung weiterer Geschlechtsidentitäten („divers“) in Deutschland verwunderlich, dass eine gerechte Sprache in der Universität Einkehr erhalten hat und das ehemalige „Studentenwerk“ nun „Studierendenwerk“ heißt, nach der vermeintlich geschlechtersensiblen Lehramtsausbildung in der Ausbildung und Lernbegleitung der Kinder unserer Gesellschaft diese Errungenschaften aber wieder unsichtbar gemacht werden. Auch in Unterrichtsmaterialien und Büchern hat diese Sensibilität gegenüber diversen Geschlechtsidentitäten oftmals noch keinen Einzug gefunden.

Besonders erschreckend sind die Auszüge aus der unterrichtlichen Realität an Berliner Grundschulen vor dem Hintergrund, dass es im Kerncurriculum heißt: „Die Lehr- und Lernmaterialien sowie der Sprachgebrauch spiegeln die vielfältigen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler wider.“ (SenBJF 2015a, 25). Selbst in dieser Veröffentlichung der Senatsverwaltung wird abstruser Weise binär gegendert.

Über die Sprache und bildliche Repräsentation hinaus sind auch räumliche Schulbereiche binär ausgerichtet. So etwa die Toiletten oder Umkleidekabinen im Sportunterricht, wodurch gerade Kinder in der Grundschule, die in ihrer Genderidentität womöglich noch unsicher sind, dazu gezwungen werden, sich binären Ordnungen unterzuordnen und ihre Identitäten vermeintlich „unsichtbar“ gemacht werden (vgl. Krell 2019, 178).

Alles in allem bleibt es sicher eine Herausforderung, queere Lebensweisen und Realitäten in der Grundschule ausreichend sichtbar zu machen, wenn viele Schulbuchverlage konservative Klischees reproduzieren und man als Lehrkraft sich zur Nutzung eines Schulbuches verpflichtet, was die Schulleitung/ der Fachbereich aussucht und im Klassensatz anschafft.

Demgegenüber trägt jede Lehrkraft eine Verantwortung, sich im Kollegium für Themen der Diversität und Vielfalt einzusetzen und auf Missstände aufmerksam zu machen und den eigenen Unterricht entlang dem Prinzip der Gleichstellung aller Individuen zu gestalten. Die Nutzung eigener und zusammengesuchter Materialien ist fast immer möglich und die Reflexion vorgegebenen Unterrichtsmaterials ist eine Voraussetzung für die Vorbereitung eines zeitgemäßen Unterrichts.

Auch die im Unterricht verwendete geschlechtergerechte und sensible Sprache liegt in der Verantwortung der Leitung des Unterrichts.

Dies setzt eine Wissensbasis und eine klare Haltung der Lehrenden voraus, die wohl nur dadurch erzielt werden kann, dass die Lehrkräfte sich privat zu den Themen weiterbilden, oder verpflichtende Module in der Lehramtsausbildung eingeführt werden, die Gender und sexuelle Identität/ Feminismus/ Intersektionalität usw. als Thema unabhängig von der studierten Fächerkombination behandeln.

Institutionellen Schwierigkeiten wie der Trennung der Toiletten in „Jungstoiletten“ und „Mädchentoiletten“ sowie anderen binären Geschlechtertrennungen sollte in Schulversammlungen begegnet werden und alternative Lösungen in Erwägung gezogen werden.

Darüber hinaus sollten Lehrkräfte die Verantwortung für die Thematisierung queerer Lebensweisen in ihren Fächern übernehmen. Der Rahmenlehrplan weist Diversity als Querschnittsthema aus, weshalb alle Akteur*innen der Schule sich dem Thema annehmen sollten und zu jeder Zeit queeren Themen Raum einräumen sollten sowie auch bei der Behandlung anderer Themen und in ihrer Sprache queere Perspektiven mitdenken sollten. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Lehrkräfte sich in ihrer Haltung und Performanz von einer Kultur des „(heteronormativen) Othering“, welche eine Überlegenheit der Mehrheitsgesellschaft impliziert, hin zu einer tatsächlichen Normalisierung von Vielfalt bewegen sollte, damit die Sonderstellung marginalisierter Gruppen aufgehoben wird und jegliche Form des eigenen Lebensentwurfes als gleichwertig wahrgenommen wird. Vielfalt sollte somit nicht nur als Unterrichtsthema verstanden, sondern als Reflexionsfolie über jegliches schulische Handeln gelegt werden. Entgegen des hier der Einfachheit gerichteten Fokus auf sexuelle Identität und Genderidentität sollte in der Schule die Verschränkung (Intersektionalität) von verschiedenen Machtverhältnissen und die damit verbundenen Überlagerungen und Mehrfachzugehörigkeiten beim Thematisieren von Identität stärkere Berücksichtigung finden.

Nur so kann Schule einen Beitrag dazu leisten, dem Anspruch von Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, der in der Menschenrechtskonvention, im Grundgesetz sowie im Schulgesetz formuliert ist, gerecht zu werden.


(1) 1Wie sexistisch ist Deutschland? – Frauenbild, Klischees und #metoo, 18.08.2021; abrufbar über: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/wie-sexistisch-ist-deutschland–frauenbild-klischees– und-metoo-1-100.html


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Riegel, C.: Queere Familien in pädagogischen Kontexten – zwischen Ignoranz und Othering (2017). In: Hartmann, J.; Messerschmidt; A., Thon, C. (Hrsg.): Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogische Kritik der Heteronormativität. Opladen ; Berlin ; Toronto: Verlag Barbara Budrich, 69-94

SenBJF (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg) (Hg.) (2015a): Rahmenlehrplan. Teil B.

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„Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht

Marcus Schäfer (SoSe 2020)


Als ich neulich in einem Seminar für lateinamerikanische Geschichte saß, in dem viele Aspekte dieses spannenden Kulturkreises behandelt wurden, teilweise auch unter feministischen Vorzeichen, da versuchte ich mich zu erinnern, ob ich während meiner Schulzeit jemals etwas anderes gelernt hatte als europäische und vor allem deutsche Geschichte. In diesen Erzählungen behandelten wir meist weiße Männer, die vermeintlich große politische Dinge taten. Das war zweifellos bedeutsam, aber sollte es da nicht noch mehr geben? Das folgende Essay wird sich mit diesem Gegenstand fehlender Diversität im Geschichtsunterricht tiefergehend befassen und danach fragen, wie eine Darstellung und Perspektivierung von Geschichte mit Bezug zu Gender und Diversity im Unterricht aussehen könnte. Und was genau könnte mit solch einer Neujustierung eigentlich erreicht werden? Welche Umstände stehen dieser Neujustierung oder De- und Rekonstruktion des Bildungssystems möglicherweise im Weg? Fest steht, dass in diesem so elementaren Sektor trotz einer sichtbaren und kaum bestreitbaren Werte- sowie Normenverschiebung innerhalb der Gesellschaft definitiv Nachholbedarf besteht. Und nicht nur dort, auch bzgl. anderer Thematiken, wie ich sie dieses Semester kennenlernen durfte, seien es Self-Awareness, Vielfalt, Heteronormativität, Rassismus, Intersektionalität, Mechanismen der Diskriminierung im Allgemeinen, Feminismus und andere Gender & Diversity-Faktoren sieht es trotz sicherlich vorhandener Fortschritte in den letzten Jahrzehnten noch einigermaßen düster aus und bedarf es vielschichtiger Reformbestrebungen. Und dies ist keine einfache Aufgabe, wie die Professorin für Sozialpädagogik Christine Riegel feststellt:

„ Der Umgang mit sozialen Differenzen und sozialer Ungleichheit stellt eine gesellschaftliche und auch pädagogische Aufgabe und Herausforderung dar.“[1]

Eine intersektionale Perspektive wäre für ein solches Bildungsangebot, wie es auch für das deutsche Bildungswesen insgesamt notwendig ist, unabdingbar: „Intersektionalität stellt eine Analyseperspektive dar, um hegemoniale und selbstverständliche Grenzziehungen und Kategorisierungen, Normierungen und Normalisierungen zu hinterfragen.“[2] Eine Neuperspektivierung muss als Kernelement moderner, zeitgemäßer Bildung gelten. Das Hinterfragen der eigenen Position und Denkmuster muss hier unbedingt miteinbezogen und als Kernkompetenz gelehrt werden. Die Historikerin Christiane Kohser-Spohn betont im Zuge didaktischer Überlegungen, dass bspw. Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte im Geschichtsunterricht unbedingt gelehrt werden sollte. Sie stellt aber auch fest, dass, obwohl diesbezüglich bereits eine breitgefächerte Einsicht vorhanden ist, kaum vernünftige Konzepte vorliegen, diese Einsicht in eine gute Praxis umzusetzen, welche dem Themenkomplex würdig wäre. So beschränken sich derartige Versuche oftmals damit, in Schulbüchern hier und dort ein zusätzliches Kapitel anzuhängen, welches „Aspekte im Leben der Frau“ erwähnt.[3] Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Vadim Oswalt nennt diesen frühen Ansatz „additiv-kompensatorisch“ – das Hinzufügen eines „ergänzenden“ aber schlussendlich auch isoliert dastehenden „Frauenthemas“. Die eingangs genannte Einsicht, Geschlechtergeschichte in den Geschichtsunterricht miteinzubeziehen, ist natürlich vernünftig, dennoch erscheint ein Ansatz wie der gerade genannte doch recht plump und kontraproduktiv. Bärbel Kuhn, Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Siegen, spricht sich für eine Vertiefung bzgl. eines geschlechtergerechten Geschichtsunterrichts durch die Nutzung oder „Integration autobiografischer Quellen“ aus, da durch deren Nutzung Individuen betrachtet werden und keineswegs lediglich anonyme Beispielpersonen und „statische Lebenswelten“. Stattdessen würden Schüler*innen Menschen kennenlernen, welche „[…] mit ihren Erfahrungen, ihren Leiden, ihren Gegensätzen, ihren Normen und Wertevorstellungen, ihrer Weltauffassung und ihrer subjektiven Darlegung von Ereignissen […]“ einen tiefen Eindruck hinterlassen könnten und gerade so zum Nach- und/oder Umdenken bewegen könnten. Sie sollen nicht nur ein Alltagsleben zeigen, sondern eben die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Einzelperson aufzeigen, und auch, wie ein solches Individuum möglicherweise geschichtliche Prozesse empfunden hat. Des Weiteren sei die Behandlung des Entstehens und Fortbestehens von „Klischees und Stereotypen“ hier möglich, betont Kuhn.[4] Solch ein „persönlicher“ und diverser Unterricht würde der Schülerin oder dem Schüler eben auch mehr Identifikationspotenzial bieten und ein erweitertes Spektrum an Lebensformen aufzeigen (und somit auch der so lebenswichtigen Orientierung von Jugendlichen dienen, die ja oftmals nicht wirklich gegeben ist), als das schlichte Abhandeln von Politik- und Zeitgeschichte und dem eindimensionalen Auswendiglernen von Daten und Namen: „Ein Unterricht, der dem Menschsein und den menschlichen Erfahrungen eine zentrale Rolle zuspricht, antwortet mit Leichtigkeit auf die Frage: „Was hat das alles mit mir zu tun?“[5] Die hier zitierten Ausführungen beziehen sich zwar „nur“ auf die Beziehung von Mann und Frau, dennoch können sie auf alle möglichen Personenkreise bezogen werden und somit Homosexuelle, Transgender-Personen, andere Nationalitäten, u.a. miteinbeziehen. Ich habe in meinem 3. Semester an der Freien Universität ein Seminar zu Migration im 19. und 20. Jahrhundert belegt, in welchem multiperspektivisch nach diversen Migrationserfahrungen in verschiedensten Nationen und Kulturen gefragt wurde, welche sich nicht nur auf Deutschland bezog. Solch ein Geschichtsunterricht sollte Standard an wirklich jeder Schule sein, um Verständnis für andere Lebenslagen zu entwickeln. Dann würden vielleicht auch in Deutschland einmal weniger Flüchtlingsheime brennen. Gerade das Fach der Geschichtswissenschaft kann ein „Vermittler der Heterogenität“ sein, wie es Oswalt ausdrückt: „Nur wer die Verschiedenheit sozialer und kultureller Lebensbedingungen und Wertvorstellungen als einen Normalfall menschlicher Gesellschaften begreift, kann ein reflektiertes historisches Denken entwickeln.“[6] Somit sind es wohl gerade die Geschichtswissenschaften, die sich perfekt dazu eignen (könnten), Schüler*innen u. a. ein tiefergehendes Verständnis von Gender und Diversity zu vermitteln.

Der Problematik eines allzu homogenen Geschichtsunterrichts könnte auch mithilfe von Projektwochen begegnet werden: Ich plädiere für eine ein- oder mehrwöchige Projektwoche pro Schuljahr, in welcher Informationsangebote zu verschiedenen Kontinenten, Ländern und Bevölkerungsteilen angeboten werden, die sonst eher seltener im Fokus stehen, so eben Asien, Afrika oder auch Südamerika und hier eben nicht in der uns allen bekannten einseitigen Darstellung. Hier sollte sich umfassend mit möglicherweise dem Individuum noch „fremden“ oder vielmehr unbekannten Kulturen beschäftigt werden, vor allem natürlich mit ihren Geschichten und auch Leidenswegen, so beispielsweise mit Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialismus. Aber nicht ausschließlich. Denn ein Kontinent oder Land definiert sich nicht ausschließlich durch ihre Unterdrücker oder Kolonialismus. Was definiert das Selbstbild einer Kultur? Ihre Traditionen, Strukturen, Religion, Musik, Film, Literatur und so vieles mehr. Es könnte also auch abseits von Klischees eine reichhaltige Geschichte erzählt werden. Und diese Betrachtung muss differenziert geschehen. Warum nicht einmal einen kubanischen Film zur sozialistischen Revolution schauen und den historischen Hintergrund analysieren? Oder wie wäre es mit Straßentouren, in denen geschichtsträchtige Orte besucht werden, deren Besuch äußerst pädagogisch sind? Die „Berliner Spurensuche“ bietet Straßenführungen im Wedding an („Kolonialer Wedding“), in denen diverse Straßen abgeklappert werden und die historischen Hintergründe einiger Straßennamen mit kolonialem Hintergrund erklärt werden. Dort erfahren wir, was der Kolonialismus eigentlich war und was Deutschland hiermit zu tun hatte (und hat!). Der regelmäßige Besuch solcher Veranstaltungen sollte ein Pflichtprogramm werden. Und auch der Austausch mit Korrespondenten oder Besuchern aus dem jeweiligen Land könnte sinnvoll sein. Von Menschen, die von ihrer Welt und ihrem Leben erzählen. Gerade durch eine multiperspektivische und diverse Betrachtung von Geschichte, Kulturen, Gesellschaften, Geschlechtern, Lebenswegen, Lebensmodellen, etc. kann auch eine Inklusion geschaffen werden, die einer Ausgrenzung vorbeugen kann. Deutschland ist ein Einwanderungsland und dies nicht erst seit gestern. Warum sollte beispielsweise nicht auch türkische oder griechische Geschichte behandelt werden? Und wenn schon über weltbewegende Individuen gesprochen werden muss, warum nur über Winston Churchill, Richard Löwenherz und Napoleon Bonaparte reden, wenn es auch weltbewegende Frauen, wie Indira Ghandi, Isabella I. oder Ulrike Meinhof gab und gibt? Diese aber nur als Beispiel.

Auf der Gegenseite steht natürlich die Frage nach dem Zeit- und Kostenfaktor. Hier müsste verstärkt in ein veraltetes und gegenwärtig sowieso relativ marodes Bildungssystem investiert werden, welches dringend einer Generalüberholung bedarf. Hierbei wünscht man sich die Offenheit und das Verantwortungsbewusstsein der verantwortlichen staatlichen Institutionen, eben solche neuen Projekte in Angriff zu nehmen. Des Weiteren lassen sich bei genauerer Betrachtung immer wieder auch Ungleichgewichte in unserem klassifizierten Bildungssystem finden; zwar gibt es bereits in einigen Bundesländern zahlreiche Gesamtschulen, welche das veraltete dreigliedrige Schulsystem – Hauptschule, Realschule & Gymnasium – obsolet gemacht haben, sodass alle den gleichen Stoff lernen, dennoch ist diese Dreigliederung weiterhin fester Bestandteil des reformbedürftigen deutschen Bildungssystems. Zwar sterben Hauptschulen laut einem Artikel der Süddeutsche Zeitung teilweise aus bzw. gehen in Gesamtschulen oder im Verbund mit Realschulen in sog. Regional- oder Sekundarschulen auf, die aber – genau wie Realschulen – eher praxisorientiert sind, wodurch gerade dort solche Konzepte eher hinten anstehen.[7] Als ich nun in meinem Lateinamerika-Seminar saß, wurde mir als ehemaligem Realschüler bewusst, dass eine Bildung, wie sie hier besprochen wird, immer noch eher für bildungsbürgerliche Schichten erreichbar ist, dem entgegengesetzt stehen Personen aus dem „unteren“ Bildungssektor, welche mit Gender & Diversity keinerlei Kontakt und möglicherweise auch privat keine Motivation oder Gelegenheit haben, dieser Thematik nachzugehen. Also ist es wohl nur richtig, zu beanstanden, dass bei einer Reform des Schul- und Bildungssystems alle Schulformen gleichmäßig behandelt werden müssen. Haupt- und Realschüler beispielsweise sollten diese essentiellen Theorien ebenfalls nähergebracht werden und nicht nur, wie man Vogelhäuschen zimmert oder Schrauben sortiert. Die Fragmentierung des deutschen Bildungssystems muss also generell neu bewertet und überdacht werden, damit die Vorteile modernisierter Bildungsinhalte auch jeden Menschen erreichen, und eben nicht nur bildungsbürgerliche Schichten hiervon profitieren. Des Weiteren darf auch ein ideologischer Faktor nicht ausgeblendet werden: In einer Zeit, in der eine Partei wie AFD versucht, Minderheiten und marginalisierte Gruppen zu diskreditieren und rückständige Meinungen, Werte und Normen in der Mitte der Gesellschaft zu integrieren, ist es einerseits natürlich ein Indiz dafür, dass in einer angeblich sehr aufgeklärten bundesdeutschen Gesellschaft noch einiges an Nachholbedarf besteht. Andererseits wird klar, dass es bei angestrebten Reformen, wie sie dieses Bildungssystem nötig hätte, auch darum gehen muss, hearts and minds der Menschen für einen modernisierten und somit zeitgemäßen Unterricht zu gewinnen. Und hier besteht eine grundlegende Schwierigkeit, da derzeit eben auch ein stark reaktionärer und rückwärtsgewandter Wind weht, der in die entgegengesetzte Richtung bläst. Auch Riegel sieht hier ein Problem:

„Auch wenn es inzwischen ein gewisses Bewusstsein für eine Vielfalt an Lebensformen, für heterogene Lebenslagen sowie für gesellschaftliche Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnisse gibt, erweist sich der Umgang damit als höchst ambivalent und umstritten – und bleibt allzu oft in vorherrschenden Macht- und Normalitätsverhältnissen gefangen.“[8]

Solch eine Ablehnung oder doch zumindest Reserviertheit sei in den Geschichtswissenschaften keine Seltenheit. Erst vor wenigen Tagen wurde ich von einem Historiker am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität darauf hingewiesen, dass es gerade in den Geschichtswissenschaften wohl eine bisher eher ablehnende Haltung gegenüber der Anwendung einer geschlechtergerechten Sprache gäbe – Gründe hierfür konnte er mir leider keine geben. Als er die Frage ins Plenum warf, wer denn bereits in seiner Schulzeit mit dem Gendern in Berührung gekommen sei, war die Antwort negativ, sprich: Es war einfach kein Thema, welches auf den meisten Gymnasien aktiv behandelt wurde, was im Jahr 2020 schon einigermaßen schockierend ist. Da passt es wohl, wenn Kohser-Spohn meint, dass Geschlechtergeschichte als solche (auch im Bildungssektor) mit Argwohn betrachtet werden würde: „Nevertheless, innovations brought by gender history are considered with reserve.“[9]

Die Vorteile einer Vertiefung des Gender & Diversity – Komplexes liegt ganz klar auf der Hand: Durch entsprechende Bildungsangebote könnte bereits frühzeitig Verständnis für andere Flecken dieser Erde und Situationen diverser Charaktere mit intersektionalen Erlebnissen und Erfahrungen geschaffen werden. Bzgl. des geschichtswissenschaftlichen Studiums an der Freien Universität Berlin wird bereits versucht, den in vorigen Generationen noch sehr populären Eurozentrismus abzulegen, neue Perspektiven einzunehmen und andere Fragen zu stellen. In vielen Schulen sieht es meist noch nicht ganz so positiv aus. Und dieser Eurozentrismus kommt somit einer Degradierung anderer Kontinente und Länder gleich, als ob diese einer näheren Untersuchung die Zeit nicht wert wären. Was natürlich falsch ist. Durch die Beschäftigung mit möglicherweise „fremden“ oder noch unbekannten Kulturen werden Distanzen abgebaut, eine Nähe zur jeweiligen Thematik hergestellt. Kinder und Jugendliche würden so besser verstehen, Verständnis entwickeln, Ängste und Vorurteile abbauen, die eh völlig unsinnig sind, und somit bereits früh zu weltoffeneren Menschen werden. So zumindest meine Hoffnung. Weiterhin würden die Projektideen Kinder und Jugendliche zur Selbstständigkeit erziehen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Sie müssen ihre Interessen selbstständig kommunizieren und sich mit einer Kultur beschäftigen, welche ihnen in diesem oder jenem Moment interessant erscheint. Wenn sich die Person mit dieser anderen Kultur auseinandersetzt, und diese besser versteht, wird sie gleichzeitig auch offener dafür, andere Interessen und Befindlichkeiten zu verstehen und zu respektieren.

Der Vermittlung bspw. der Erkenntnisse der Geschlechterforschung auch im Geschichtsunterricht muss generell größerer Raum zugestanden werden. Dies befürwortet auch der Geschichtsdidaktiker und Historiker Martin Lücke, der die „Genderkompetenz als Teilkompetenz des historischen Lernens“ im gleichnamigen Kapitel behandelt:

„Das von der Geschlechterforschung produzierte Wissen über die sozialen und kulturellen Ungleichheiten der Geschlechter und die damit verbundene Erkenntnis einer Geschlechter-Ungerechtigkeit dient der Forschung jedoch nicht als bloßer Selbstzweck, sondern soll für die Behebung dieser Missstände in der Gegenwart nutzbar gemacht werden.“[10]

Dieses Zitat bringt es ziemlich akkurat auf den Punkt. Somit ist es im Sinne einer aufgeklärten Gesellschaft und im Zuge des Gender Mainstreaming auch alles andere als falsch, Genderkompetenz im geschichtswissenschaftlichen Kontext tiefergehend zu behandeln. Beispiel: In Tagen, in denen wir über die Ungleichbehandlung der Geschlechter und toxische Männlichkeit sprechen, in denen diese Probleme immer noch gegenwärtig sind, ist es mehr als angebracht, diese Problemfelder historisch zu dekonstruieren, ihr Zustandekommen und die Hintergründe zu untersuchen, und eben auch, wohin dies alles führen kann. Nur wer die Vergangenheit erforscht, kann die Gegenwart verstehen und eine bessere Zukunft designen. Zwar gibt es bereits vernünftige Ansätze, wie sie bereits in der schönen Toolbox[11]der Freien Universität zu finden sind, doch wird der Forschungsgegenstand vor allem im außeruniversitären Bildungsbereich noch verhältnismäßig stiefmütterlich behandelt, so zumindest mein bisheriger Eindruck. Dennoch ist davon auszugehen, dass die heterogenen Betrachtungsweisen von Gender & Diversity einen zunehmend breiteren Raum im Bildungssektor zugeschrieben bekommen werden, wie es auch Oswalt für möglich hält, denn die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Betrachtung und Bewertung der Geschichte sind erheblich:

„Aus dem starken Einfluss der Gegenwart auf die Wahrnehmung der Vergangenheit wird deutlich, dass jeder wie auch immer geartete gesellschaftliche Veränderungsprozess auch einen profunden Einfluss auf alle Formen geschichtlichen Denkens haben muss. Die Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität muss insofern profunde Auswirkungen auf alle Aspekte historischer Deutung haben.“[12]

Diesem Zitat ist eigentlich nichts weiter hinzuzufügen, außer, dass zu hoffen bleibt, dass die zunehmend heterogene und diverse Betrachtung von Geschichte sich auch tatsächlich bald im Geschichtsunterricht und der Pädagogik im Allgemeinen niederschlagen wird.

Folgende Arbeiten bzgl. der Thematik könnten sich perspektivisch auf eine grundständigere Ebene der Pädagogik zubewegen und hierbei nicht unbedingt die Lerninhalte behandeln, sondern den Zugang zu diesen, welcher nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht. Wie Bernd Wagner feststellt, besteht beispielsweise noch ein starker Handlungsbedarf bzgl. einer „individuellen Lernberatung für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern“.[13]

Literaturverzeichnis

Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166.

Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236.

Oswald, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192.

Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198.

Toolbox. Gender und Diversity in der Lehre. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 07. Juli 2020).

Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


[1] Vgl. Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198, hier: S. 183.

[2] Vgl. ebd., S. 189.

[3] Vgl. Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166, hier: S. 161.

[4] Vgl. ebd., S. 163.

[5] Vgl. ebd., S. 164.

[6] Vgl. Oswalt, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192, hier: S. 175.

[7] Vgl. Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

[8] Vgl. Riegel 2014, S. 183.

[9] Vgl. Kohser-Spohn 2005, S. 157.

[10] Vgl. Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236, hier: S. 226.

[11] Vgl. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 02. Juli 2020).

[12] Vgl. Oswalt 2009, S.  171.

[13] Vgl. Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


Quelle: Marcus Schäfer: „Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/was-hat-das-alles-mit-mir-zu-tun-plaedoyer-fuer-einen-diversen-geschichtsunterricht/