Das Spannungsfeld des Menstruationsdiskurses

Lea Nitsch (WiSe 2024/25)

Einleitung

Jeden Tag menstruieren mehr als 300 Millionen Menschen weltweit (1) und obwohl etwa die Hälfte der Weltbevölkerung diesen biologischen Prozess erlebt, werden damit regelmäßig Scham, Stigmatisierung und Tabus verknüpft. Diese negative Wahrnehmung, die in der Gesellschaft vorherrschend ist, wird als „period shaming“ oder „menstrual shaming“ beschrieben. Übersetzt bedeutet dies „Perioden-Beschämung“ oder „Menstruations-Beschämung“.

„period shaming“ sowie „menstrual shaming“ manifestiert sich in verschiedenen Formen, von Schweigen und kulturellen Tabus bis hin zu offener Diskriminierung, unzureichender Aufklärung und mangelndem Zugang zu Gesundheitsdiensten. Die Auswirkungen sind tiefgreifend und können nicht zuletzt zu gesundheitlichen Komplikationen führen. Menstruierende Menschen sehen sich zum Beispiel gezwungen ihre Periode zu verstecken oder Fakten über ihre Menstruation zu verschleiern, womit negative Auswirkungen auf das körperliche, emotionale und soziale Wohlbefinden verknüpft sind (2).

In dem Diskurs über Menstruation spielt der Aspekt Gender eine wichtige Rolle, da Menstruation traditionell als ein biologisches Merkmal von Frauen wahrgenommen wurde und größtenteils auch weiterhin so wahrgenommen wird. Die Konsequenz ist eine vermeintliche Verknüpfung zwischen dem Konzept von Menstruation und Weiblichkeit (3). Gesellschaftlich wird die Menstruation weitgehend als „weibliches Thema“ angesehen, was oft zur Tabuisierung führt. Allerdings greift diese Perspektive zu kurz, da nicht alle Frauen menstruieren, beispielsweise aufgrund von diversen medizinischen oder hormonellen Faktoren und nicht alle Menschen, die menstruieren, sich als Frauen identifizieren. Menstruierende Menschen können ebenfalls zum Beispiel trans* Männer, nicht-binäre oder genderqueere Personen sein. Das Stigma rund um die Menstruation spiegelt und verstärkt bestehende patriarchale Strukturen, indem es menstruierende Menschen als „unrein“ oder „schwach“ darstellt. Solche Einstellungen tragen zur systematischen Benachteiligung von Frauen und anderen menstruierenden Menschen bei (4).

Die Verknüpfung von Menstruation und Gender zeigt, wie eng biologische Prozesse mit sozialen und kulturellen Strukturen verflochten sind und wie wichtig es ist, diese Verbindungen kritisch zu hinterfragen, um mehr Gleichberechtigung und Inklusion zu schaffen. Besonders deutlich zeigt sich die Verbindung von Menstruation und Gender ebenfalls in der Art und Weise, wie menstruierende Menschen weltweit Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialen Ressourcen erhalten oder daran gehindert werden.

Diese Hausarbeit soll die Verbindung von Geschlechterrollen, Menstruation und Gesundheit genauer beleuchten. Eine geschichtliche Einordnung der Wahrnehmung der Menstruation soll zunächst ein Verständnis für das Spannungsfeld heute geben. Dieses soll daraufhin erörtert werden, indem auf Mythen und das Stigma über Menstruation eingegangen wird. Weiterhin wird Repräsentationsmangel von trans* und non-binären Menschen, die menstruieren eingeordnet. Folglich soll der Einfluss auf die Gesundheit aufgezeigt werden und ein Ausblick auf mögliche Veränderungen dieser gegeben werden. Des Weiteren wird eine persönliche Selbstreflexion zum Thema der Hausarbeit vorgenommen.

Geschichtliche Einordnung

Ein Blick auf die geschichtliche Wahrnehmung der Menstruation zeigt schnell auf, wo sich der Ursprung heutiger Vorurteile befindet. Im alten Ägypten wurde Menstruationsblut in medizinischen Rezepturen verwendet, während bei indigenen Völkern Nordamerikas menstruierende Menschen als spirituell stark galten. In den griechisch-römischen Kulturen fanden jedoch bereits negative Zuschreibungen statt. Aristoteles sah Menstruationsblut als „unreines“ Nebenprodukt des Körpers. In den patriarchalen Weltreligionen wurde dieser Unreinheitsgedanke als Legitimation weiter ausgeführt und stellt die Grundlage dar, um Frauen systematisch zu unterdrücken und auszuschließen, besonders während ihrer Periode (5).

In Europa verstärkte sich im Mittelalter die Pathologisierung der Menstruation, wobei menstruierende Menschen als „krankhaft“ oder gefährlich während dieser galten. Erst mit der Aufklärung begann eine wissenschaftlichere Betrachtung, wobei die Medizin die Menstruation jedoch weiterhin problematisierte und sie in Zusammenhang mit Schwäche gebracht wurde. Im 20. Jahrhundert brachte die industrielle Produktion von Hygieneartikeln (z. B. die Einführung von Tampons in den 1930er-Jahren) eine praktische Erleichterung und eine erste Welle des öffentlichen Diskurses (6). Feministische Bewegungen ab den 1960er-Jahren kämpften für eine Enttabuisierung und körperliche Selbstbestimmung. Dieser Prozess dauert immer noch an.

Mythen über die Menstruation

Die Vorurteile und Mythen, die dazu führen, dass die Menstruation weitestgehend pathologisiert wird und schambehaftet ist, sind vielfältig. Einige Mythen scheinen jedoch besonders herauszustechen, wodurch ihre Entkräftung umso wichtiger ist. Oftmals sind die Übergänge zwischen einzelnen Mythen nicht klar abgrenzbar. Im folgenden Abschnitt werden einige Mythen aufgegriffen, ohne jedoch einem Anspruch an Vollständigkeit zu genügen, da es unzählige Mythen über die Menstruation gibt.

Eines der verbreitetsten Mythen ist jenes der „irrationalen Frau“, welches davon ausgeht, dass (hier ausschließlich und derogativ gemeint) Frauen aufgrund ihrer biologischen Grundvoraussetzung emotionaler sind und folglich eine geringere Kontrolle über ihr selbst haben und weniger Vernunft besitzen (7). Der mögliche Kontrollverlust, der hiermit beschrieben wird, ist Grundlage dafür Frauen z.B. als keine verlässlichen Personen für Führungspositionen einzustufen.

Ein medizinscher Faktor, der dieses Bild weiterhin prägt ist die Diagnose des prämenstruellen Syndroms (PMS) (8). Sally Kingbeschreibt in ihrem Artikel “Premenstrual Syndrome (PMS) and the Myth of the Irrational Female“ (7), dass die Zuschreibung psychologischer Symptome der Menstruation und medizinische Klassifizierung dieser weit über die Beschreibung der eigentlichen physischen Symptome hinaus geht. Sie zeigt auf, dass die Darstellung der Menstruation und ihre Pathologisierung auf einer sexistischen historischen Blickweise auf die Menstruation basiert. King weist darauf hin, dass nur eine Minderheit der menstruierenden Personen schwere zyklische Symptome erlebt, die medizinische Unterstützung erfordern. Das explizite Anerkennen und Entkräften des Mythos der „irrationalen Frau“ und seines Einflusses auf die klinische Beschreibung und Behandlung von PMS ist laut King ein wichtiger Schritt, um diejenigen besser zu unterstützen, die tatsächlich zyklische Symptome erleben (7). Dabei soll vermieden werden, ungewollt oder gewollt zu suggerieren, dass der Menstruationszyklus selbst eine Form von Krankheit darstellt oder eine „biologische“ Rechtfertigung für Geschlechterungleichheit bietet. Sie erwähnt ebenfalls die Wichtigkeit der richtigen sprachlichen Beschreibung. Dazu gehört für sie Forschungsergebnisse aus neutraler Perspektive zu betrachten und vor allem „Frauen“ oder „menstruierende Personen“ als Beschreibung zu vermeiden, wenn eigentlich „Personen mit PMS“ gemeint sind, damit die Grenze zwischen dem Krankheitsbild PMS und der Menstruation selbst nicht verschwimmt. Damit kann dem Vorurteil und Mythos der „pathologisch emotionalen Frau“ entgegengearbeitet werden.

Der Mythos, dass die Menstruation schädlich und ungesund für das vaginale Mikrobiom sei, ist ebenfalls weit verbreitet und trägt dazu bei unbegründeten Ängsten über den eigenen Körper hervorzurufen. Diese Pathologisierung des natürlichen Zyklus wird als gesellschaftliches Machtinstrument benutzt und führt zu Fehleinschätzungen über den Gesundheitszustand des eigenen Körpers und fördert die Schambehaftung der Menstruation selbst  (9).

Repräsentationsmangel von trans* und non-binären Menschen im Menstruationsdiskurs

Menschen, die menstruieren und nicht in die binäre Kategorie „Frau“ passen, erleben oft eine doppelte Marginalisierung. Sie werden mit den gleichen Tabus konfrontiert wie cis Frauen, aber zusätzlich auch mit der Herausforderung, dass ihre Menstruation nicht in die gesellschaftlichen genderbasierten Erwartungen passen. Dies kann zu einer verstärkten Isolation und einem Gefühl der Unsichtbarkeit führen.

Um einen nicht-pathologisierenden Diskurs über Körper und Erfahrungen von trans* Personen und nicht binären Personen zu fördern, ist es essenziell, Perspektiven dieser Personengruppe im Menstruationsdiskurs einzubeziehen. Die Menstruation ist dabei nicht nur ein körperliches Phänomen, sondern auch eng mit gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Vorstellungen von Weiblichkeit verwoben (3).

Die Vorstellung von Weiblichkeit ist durch sichtbare und unsichtbare Normen geprägt, die den weiblichen Körper und seine Funktionen definieren. Trans* Personen und nicht-binäre Menschen, die menstruieren, stehen vor der Herausforderung, ihre Identität gegen gesellschaftlich geprägte Vorstellungen vom weiblichen Körper zu behaupten. Traditionell wurde die Menstruation ausschließlich als Funktion des von der Gesellschaft als weiblich definierten Körpers verstanden. Für trans* und nicht-binäre Personen kann diese biologische Funktion jedoch zu einem gesellschaftlichen Marker für Geschlechts- oder Geschlechteridentität werden (10). So weisen Comics aus einer Studie von Sarah E. Frank (10) auf das Unwohlsein, welches trans* und nicht binäre Personen, die Menstruieren, im Umgang mit Menstruationsprodukten empfinden können. Das Abwerfen von Menstruationsprodukten etwa in der Männertoilette löst in diesem Beispiel Nervosität aus.

Werbungen für Menstruationsprodukte reproduzieren beispielsweise auch diskriminierende Sichtweisen auf die Menstruation. Eine australische Firma hat 2019 die erste Werbung veröffentlicht, in der das Menstruationsblut auf den Menstruationsprodukten nicht blau oder anderweitig gefärbt ist, sondern in der realer roter Farbe dargestellt wird (6). Dennoch wird hier weiterhin von ausschließlich Frauen und nicht von allen menstruierenden Menschen gesprochen. Damit ist das Ziel einer inklusiveren Sprache in Diskussionen rund um die Menstruation sowie geschlechtsneutrale Periodenprodukte noch lange nicht erreicht (11).

Einfluss auf Gesundheit

„period shaming“ hat einen relevanten Einfluss auf die Gesundheit menstruierender Menschen. Die Menstruation und die damit verbundene Schambehaftung führt dazu, dass Frauen und andere menstruierende Menschen sich zum Beispiel sozial isolieren, auf Sport verzichten und sogar nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen. Dies hat zum Teil tiefgreifende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen (1).

Eine Umfrage von ActionAid zum Welt-Menstruationshygienetag 2023 ergab, dass 39 % der Frauen und anderer menstruierender Menschen im Vereinigten Königreich während ihrer Periode auf Sport oder Bewegung verzichteten oder sie ausließen. In der Altersspanne 18-24 Jahre betrug dieser Anteil sogar 48 % (12).

Der stigmatisierte Status der Menstruation hat also schädliche Folgen für die Gesundheit, insbesondere das Selbstwertgefühl, das Körperbild, die Selbstpräsentation und die sexuelle Gesundheit von Mädchen und Frauen und anderen menstruierenden Personen (4). Die gesellschaftlichen Erwartungen an menstruierende Menschen und die damit verbundenen Tabus können lebensgefährliche Auswirkungen haben (13).

Ohne die nötige Unterstützung, Information und Orientierung kann die Periode, besonders die erste, eine äußerst isolierende und einsame Erfahrung sein – eine, die oft von Stigmatisierung begleitet wird. Menstruation wird als etwas Schmutziges oder Beschämendes betrachtet, das versteckt werden sollte. Dies wird deutlich bei der Betrachtung von Euphemismen, mit denen wir die Periode beschreiben, ohne das Wort „Blut“ zu verwenden, wie etwa zum Beispiel „die Zeit des Monats“ oder auch „die Erdbeerwoche“.

Der stigmatisierte Status der Menstruation hat also schädliche Folgen für die Gesundheit, insbesondere das Selbstwertgefühl, das Körperbild, die Selbstpräsentation und die sexuelle Gesundheit von Mädchen und Frauen und anderen menstruierenden Personen (4). Die gesellschaftlichen Erwartungen an menstruierende Menschen und die damit verbundenen Tabus können lebensgefährliche Auswirkungen haben (13).

Menstrual health – wo wollen wir eigentlich hin?

Menstrual health, also Menstruationsgesundheit ist ein Zustand des vollständigen physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechlichkeit im Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus  (14).

Das umfassende Konzept der Menstruationsgesundheit beinhaltet, dass menstruierende Personen Zugang zu angemessenen Behandlungen für menstruationsbedingte Symptome und Krankheiten sowie zu Hygieneprodukten und angemessener Pflege während der Periode haben sollten. Aufklärung und Information über Menstruation in einem Umfeld, das frei von Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung ist, vervollständigen die Agenda. (15)

Alle menstruierenden Menschen sollten Zugang zu präzisen, altersgerechten Informationen über den Menstruationszyklus, Menstruation und die damit verbundenen Veränderungen im Leben haben, sowie zu Selbstpflege- und Hygienepraktiken. Sie sollten in der Lage sein, ihre Körper während der Menstruation so zu pflegen, dass ihre Vorlieben, Hygiene, Komfort, Privatsphäre und Sicherheit unterstützt werden. Dies umfasst den Zugang zu effektiven und erschwinglichen Menstruationsmaterialien sowie zu unterstützenden Einrichtungen wie Wasser-, Sanitär- und Hygienediensten. Ebenso sollten sie rechtzeitig eine Diagnose, Behandlung und Pflege bei menstruationsbedingten Beschwerden erhalten, einschließlich Schmerzlinderung und Selbstpflegestrategien. Menschen sollten ein positives, respektvolles Umfeld erleben, das frei von Stigmatisierung und psychischer Belastung ist, und die Ressourcen haben, um ihren Körper selbstbewusst zu pflegen und informierte Entscheidungen zu treffen. Zudem sollte ihnen die Freiheit gegeben sein, während aller Phasen ihres Menstruationszyklus selbst zu entscheiden, ob und wie sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen – ohne Ausgrenzung, Einschränkungen, Diskriminierung, Zwang oder Gewalt  (14).

Historisch entstandene Vorstellungen und Dichotomien, welche auf veralteten biologischen und medizinischen Erkenntnissen basieren, sollten kritisch hinterfragt werden. Um eine inklusive und menschliche Herangehensweise an die Menstruation zu ermöglichen sollte Gesundheit als multidimensionaler Prozess verstanden werden, indem Klassifikationssysteme nicht binär, sondern auf den Menschen bezogen arbeiten (16).

Reflexion

Mit Menstruation verbinde ich zunächst Anstrengung und Schmerzen. Gleichzeitig verbinde ich damit ein sehr vertrautes und friedliches Gefühl. Während meiner Schulzeit hätte ich diesen Satz nicht so formuliert. Dank einer offenen Herangehensweise zuhause war ich zwar gut informiert über verschieden Phasen des Zyklus, Menstruationsprodukte und mögliche Symptome, jedoch fand lange gar kein öffentlicher Diskurs in meinem sozialen Umfeld über das Thema Menstruation statt. Damit war die Menstruation zunächst ein geheimnisvolles und gefährliches Thema. Ab dem Zeitpunkt, ab dem im Sportunterricht Schulschwimmen stattfand, waren einige meiner Mitmenschen vom Unterricht entschuldigt aufgrund der Menstruation. Dies führte bei mir zu der Überzeugung, dass Sport und menstruieren nicht zeitgleich möglich wären. Zunehmend wurde die Menstruation problematisiert. Blut wurde als „eklig“ beschrieben und alle Veränderungen in der Stimmung der menstruierenden Menschen wurden damit in Verbindung gebracht. Außerdem war es kompliziert, Menstruationsprodukte mit sich zu führen ohne, dass sie von anderen bemerkt wurden, um nicht ausgelacht zu werden. Die Vorstellung, dass es an öffentlichen Orten Menstruationsprodukte zur freien Verfügung geben könnte, war zu diesem Zeitpunkt fast absurd. Am schwierigsten war insgesamt jedoch die Konnotation der ersten Menstruation und dem „Frau“ werden. Da ich mich mit dem Begriff „Frau“ ohnehin nicht wohl gefühlt habe, war es für mich sehr schwer verständlich, wieso ich damit zu einer „Frau“ wurde und inwiefern die Menstruation und die damit einhergehende Fruchtbarkeit das Wertvollste und am Frau-Sein bedeutete.

Heute kann ich diese Erfahrungen kritisch betrachten. Mehr Wissen, Austausch und Sensibilisierung auch durch eigene körperliche Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich Menstruation und vermeintliche Weiblichkeit nicht mehr miteinander verknüpfe. Es ist jedoch weiterhin in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten nicht selbstverständlich, offen über das Thema Menstruation reden zu können. Immer wieder begegne ich Situationen, wo ein Informationsdefizit vorliegt, oder mir bestimmte Attribute, wie etwa „zu emotional“ aufgrund meiner Menstruation angerechnet werden. Hierbei versuche ich mit Offenheit und Aufklärung entgegenzuwirken.

Fazit

Das Thema Menstruation ist nach wie vor von gesellschaftlichen Tabus, Stigmatisierung und Missverständnissen geprägt. Diese Haltung beeinflusst nicht nur die Wahrnehmung des eigenen Körpers, sondern führt auch zu erheblichen psychischen und physischen Belastungen für menstruierende Personen. Der Diskurs über die Menstruation sollte vom Status Quo der Pathologisierung und Scham in Richtung einer offenen, inklusiven und respektvollen Auseinandersetzung verändert werden. Die enge Verknüpfung von Menstruation und sozialen, kulturellen und politischen Dynamiken, die von Geschlechterrollen und Ungleichheiten geprägt sind, bringt die Verantwortung den Menstruationsdiskurs inklusiver und offener zu gestalten. Mythen über die Menstruation sind geschichtlich verankert und vielfältig, ihnen entgegenzuwirken ist weiterhin eine Aufgabe, der sich menstruierende Menschen täglich stellen müssen. Um die gesundheitlichen Voraussetzungen für menstruierende Menschen zu verbessern, muss es einen offenen Diskurs und ein Ende des „period shaming“ geben. Eine gendergerechte Herangehensweise trägt dazu bei, Barrieren abzubauen, Stigmata zu reduzieren und allen Menschen ein gesundes und würdevolles Leben zu ermöglichen. „Menstrual health“ ist folglich eine Zielvorstellung, welche gesamtgesellschaftlich erreicht werden sollte.

Literaturverzeichnis

1. Arif N. From shame to solidarity: how we can reverse harmful narratives on period stigma. BMJ. 2024;384:q152.

2. McHugh MC. Menstrual Shame: Exploring the Role of ‘Menstrual Moaning’. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 409-22.

3. Frank SE, Dellaria J. Navigating the Binary: A Visual Narrative of Trans and Genderqueer Menstruation. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 69-76.

4.  Johnston-Robledo I, Chrisler JC. The Menstrual Mark: Menstruation as Social Stigma. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 181-99.

5.  Germerott I. Blut und Scham: Wie die Menstruation zum Tabuthema wurde: National Geographic; 2023 [Available from: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2023/03/blut-und-scham-wie-die-menstruation-zum-tabuthema-wurde-religion-patriarchat-wissenschaft-medizin.

6. Deutschlandfunk. Der Rest ist Geschichte [Internet]; 2024 25.07.2024. Podcast. Available from: https://www.deutschlandfunk.de/menstruation-geschichte-periode-hysterie-102.html

7.  King S. Premenstrual Syndrome (PMS) and the Myth of the Irrational Female. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 287-302.

8. Manual M. Prämenstruelles Syndrom (PMS): MSD Manual;  [Available from: https://www.msdmanuals.com/de/profi/gynäkologie-und-geburtshilfe/menstruationsstörungen/prämenstruelles-syndrom-pms?query=prämenstruelles%20syndrom%20(pms)#Symptome-und-Beschwerden_v1062694_de.

9. Sommer M, Chrisler JC, Yong PJ, Carneiro MM, Koistinen IS, Brown N. Menstruation myths. Nature Human Behaviour. 2024;8(11):2086-9.

10. Frank SE. Queering Menstruation: Trans and Non-Binary Identity and Body Politics. Sociological Inquiry. 2020;90(2):371-404.

11. Neve M. War on period shaming goes mainstream. Eureka street. 2019;29(17):25-7.

12. Pycroft H. Cost of living: UK period poverty has risen from 12% to 21% in a year: Actionaid; 2023 [Available from: https://www.actionaid.org.uk/blog/2023/05/26/cost-living-uk-period-poverty-risen.

13. Gottlieb A. Menstrual Taboos: Moving Beyond the Curse. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts TA, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore2020. p. 143-62.

14. Hennegan J, Winkler IT, Bobel C, Keiser D, Hampton J, Larsson G, et al. Menstrual health: a definition for policy, practice, and research. Sex Reprod Health Matters. 2021;29(1):1911618.

15. Carneiro MM. The hidden tales menstruation may tell: time to break the silent spell. Women & Health. 2022;62(4):273-5.

16. Sharon G. Lifting the Curse of Menstruation : A Feminist Appraisal of the Influence of Menstruation on Women’s Lives. New York: Routledge; 2015.


Quelle: Lea Nitsch, Das Spannungsfeld des Menstruationsdiskurses in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=494

Gender und sexuelle Dysfunktion

Zusammenhang und Auswirkung

Anonym (WiSe 2024/25)

Einleitung

Viele Menschen leiden unter einer sogenannten „sexuellen Dysfunktion“. Dabei wird aufgrund von körperlichen oder psychischen Ursachen das Ausleben der eigenen Sexualität erschwert oder verhindert und es entsteht bei den Betroffenen Leidensdruck. [1]

In der Forschung gibt es bereits einiges an Wissen über sexuelle Dysfunktionen bei Cis-Männern und auch bei Cis-Frauen wurden bereits große Fortschritte erzielt.[2] Bei marginalisierten Gruppen wie Transgender Personen und Non-Binären, sowie Genderqueeren Personen sind leider noch deutliche Lücken in der Forschung zu bemängeln. [3] [4]

Die eigene Sexualität gesund ausleben zu können ist dabei nachgewiesen eine Voraussetzung für viele Menschen, ein gesundes und glückliches Leben führen zu können. Wenig überraschend ist folglich, dass Depressionen eine mögliche Folge von unbehandelten sexuellen Funktionsstörungen sein können.[5]

Sexuelle Dysfunktion kann je nach körperlichen und psychischen Voraussetzungen unterschiedlich bei den Geschlechtern auftreten.[6] [7] In diesem Essay soll auf den Zusammenhang zwischen sexueller Dysfunktion und Gender eingegangen werden. Die binäre Aufteilung in Mann und Frau wird dabei nicht allen Betroffenen von sexuellen Dysfunktionen gerecht. Marginalisierten Gruppen, wie Transpersonen oder on-Binären und Genderqueeren Personen, werden von dieser binären Aufteilung außenvor gelassen.

In vielen der verwendeten Quellen ist von „Mann“ und „Frau“ die Rede und es wird meist nicht genauer definiert, wer gemeint und wer nicht mit einbezogen wird. In den entsprechenden Teilen des Essays werde ich von daher diese Formulierung übernehmen, da es schwierig ist, mit Sicherheit zu sagen, dass beispielsweise ausschließlich Cis-Männer und Cis-Frauen gemeint sind, wenn dies nicht deutlich ausgedrückt wurde. In den Teilen des Essays in denen ich meine Meinung wiedergebe werde ich versuchen, möglichst präzise und angemessene inklusive Sprache zu verwenden.

Im Fazit werde ich meine eigene Meinung wiedergeben und in der Reflexion meinen eigenen Arbeits- und Lernprozess reflektieren. Dementsprechend werde ich teilweise aus der Ich-Perspektive schreiben. Ich habe mich dazu entschieden dem Fazit auch einen Reflexionsteil anzufügen, da ich es interessant fand, wie sich meine eigene Sichtweise beim Schreiben des Essays verändert hat.

Was ist eine sexuelle Funktionsstörung bzw. eine sexuelle Dysfunktion?

Bei einer sexuellen Dysfunktion wird das Ausleben einer sexuellen Beziehung bei der betroffenen Person erschwert oder verhindert.[8] 43% der Frauen und 30% der Männer leider unter sexuellen Problemen. Bei 12% von ihnen werden die diagnostischen Kriterien erfüllt, um eine Störung zu diagnostizieren.[9]

Die ICD-11 unterscheidet bei der sexuellen Dysfunktion zwischen vier Sub-Kategorien. Die Dysfunktion verminderten sexuellen Verlangens, die Dysfunktion der sexuellen Erregung, die Dysfunktionen des Orgasmus, sowie die Dysfunktionen der Ejakulation. Diese Sub-Kategorien haben weitere Sub-Kategorien in welchen teilweise zwischen Männern und Frauen unterschieden wird.[10]

Während in der ICD-10 noch zwischen organischer und nicht-organischer sexueller Dysfunktion unterschieden wurde, wird in der ICD-11 beides in einem Kapitel zusammengeführt.[11]

Physische und psychische Umstände können eine sexuelle Funktionsstörung verursachen. Aus dieser können weitere psychische Probleme wie Depressionen folgen. Allgemein kann das psychische Wohlbefinden die sexuelle Funktion eines Menschen beeinflussen. Depressionen, Ängste, Wut, Schuldgefühle und Trauma sind einige der psychischen Faktoren, welche einen negativen Einfluss auf das sexuelle Wohlbefinden einer Person haben können.[12] 

Depression und sexuelle Dysfunktion

Depressionen und sexuelle Dysfunktion kommen häufig Hand in Hand und zeichnen sich durch ihre relativ häufige Verbreitung aus. Eine sexuelle Dysfunktion kann unter anderem Symptom und Ursache einer Depression sein. Die Zusammenhänge zwischen den beiden Erkrankungen sind durch viele Studien untersucht und belegt.[13]

Während ungefähr ein Drittel der nicht medikamentös behandelten depressiven Patienten von einer negativen Auswirkung ihrer Depression auf ihre Sexualität sprechen, sind es bei der Gesamtzahl der depressiven Patienten über die Hälfte bis hin zu 90% der Betroffenen, welche über eine Beeinträchtigung ihrer Sexualität berichten. Bedingt wird dies unter anderem durch die oftmals medikamentöse Behandlung von Depressionen. Diese Antidepressiva haben vielfach Nebenwirkungen, welche die sexuelle Gesundheit der Patienten beeinflusst. Schwindendes Interesse an sexueller Aktivität ist dabei die häufigste Nebenwirkung. Bei als männlich eingeordneten Personen sind Depressionen einer der größten möglichen Ursachen für Erektionsstörungen.[14]

Folglich ist es wichtig bei einem betroffenen Patienten nicht nur die Depression zu behandeln, sondern wenn vorhanden auch die sexuelle Dysfunktion. Um die Lebensqualität von Individuen mit Depressionen oder sexuellen Dysfunktionen zu verbessern ist es zudem sinnvoll, regelmäßig zu überprüfen, ob sich eine sexuelle Dysfunktion oder eine Depression, wenn das jeweils andere vorhanden ist, bildet, um dann zeitnah eingreifen zu können.[15]

Anzumerken ist allerdings, dass eine Depression nicht unbedingt lustmindernd wirken muss. Bei einigen depressiven, als männlich eingeordneten Personen, kommt es zu erhöhter sexueller Aktivität. Dies könnte eine Art Copingstrategie sein, um mit der Depression umzugehen. In vielen Fällen lassen die sexuellen Probleme nach dem Rückgang der Depression nach.[16]

Sexuelle Dysfunktion bei Männern

Sexuelle Dysfunktionen treten bei Männern häufig auf. Es ist allerdings schwierig genau zu bestimmen wie verbreitet sie auftreten, da unterschiedliche Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Bei einer Auswahl von Studien über die erektile Funktion bei Männer nach einer Prostataentfernung, konnten über 20 unterschiedliche Definitionen für eine erektile Dysfunktion festgestellt werden. Als Folge lag der Anteil von adäquater erektiler Funktion bei den Beteiligten zwischen 25 und 78%.[17]

Die wohl verbreiteteste sexuelle Dysfunktion bei Männern ist die frühzeitige Ejakulation. Dabei haben die Betroffenen wenig bis keine Kontrolle über den Zeitpunkt ihrer Ejakulation und kommen aus eigener Sicht zu früh zum Höhepunkt. Ungefähr 30% der Männer leider darunter. Es ist schwierig die frühzeitige Ejakulation genau zu definieren, da es unmöglich ist genau festzulegen ab wann eine frühzeitige Ejakulation zeitlich vorliegt.[18]

Mangelnde sexuelle Lust, Unfähigkeit zur Ejakulation und die Unfähigkeit einen Orgasmus zu erreichen sind weitere mögliche sexuelle Funktionsstörungen bei Männern.[19]

Sexuelle Dysfunktion bei Frauen

Es konnte in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr Wissen über sexuelle Dysfunktionen bei Frauen erlangt werden. Bei Frauen fallen unter anderem Libidostörung, Erregungs- und Orgasmusstörungen, Lubrikationsstörungen, sowie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr unter die Kategorie der sexuellen Dysfunktion. Der „National Health and Social Life Survey“ zufolge haben 43% der Frauen in der Altersgruppe der 18–59-Jährigen mit einer sexuellen Dysfunktion zu kämpfen. Insgesamt schätzt man mit einer Verbreitung von zwischen 22 und 49%.[20]

Bestimmte sexuelle Funktionsstörungen nehmen im Alter zu. So ist die sexuelle Appetenz Störung in Europa bei Frauen im Alter deutlich verbreiteter. Bei dieser fehlt es den betroffenen unter anderem an sexuellem Interesse. Voraussetzung um den Mangel an sexuellem Interesse als Störung einzuordnen ist, dass die Person dadurch einen Leidensdruck verspürt. Zudem lässt sich die Diagnose in unterschiedliche Kriterien unterteilen. Dabei wird eingeordnet, ob die Störung dauerhaft vorhanden oder erworben ist, ob sie generalisiert oder situationsabhängig auftritt und ob es eine organische oder psychische Ursache gibt.[21]

Die möglichen Ursachen für die entstehen einer sexuellen Funktionsstörung bei Frauen sind vielfältig. Hormone spielen im menschlichen Körper eine vielfältige Rolle und beeinflussen unter anderem die Sexualität. Die Menopause kann bei betroffenen zum Beispiel durch den veränderten Hormonhaushalt die Entstehung einer sexuellen Funktionsstörung begünstigen.[22]

Gesundheitliche und psychosoziale Faktoren können auch verantwortlich für das Entstehen einer sexuellen Dysfunktion sein. Chronische Erkrankungen und Medikamente können zum Beispiel die sexuelle Gesundheit verschlechtern. Frauen, die zum Beispiel eine negative Wahrnehmung ihrer Sexualität internalisiert haben, haben ein hohes Risiko eine sexuelle Funktionsstörung zu entwickeln. Ängste sind ein weiterer Faktor. Während sich bei Männern eher Ängste bezüglich der sexuellen Performance bestehen, haben Frauen oft eher Ängste im Bereich der Selbstwahrnehmung ihrer körperlichen sexuellen Attraktivität.[23]

Transgender Personen

Individuen mit einer Geschlechtsdysphorie identifizieren sich nicht mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht und empfinden folglich einen Leidensdruck. Umgangssprachlich ist hierbei oft von Transgeschlechtlichkeit oder Transidentität die Rede.[24] 

Die Geschlechtsdysphorie macht es für Trans Personen oft schwierig ihre Sexualität auszuleben. Ein hohes Risiko sexuelle Gewalt zu erleben, sowie teilweise internalisierte Transphobie stellen weitere Hürden für Trans Personen dar, ihre sexuelle Gesundheit zu verbessern.[25]

Während in der Vergangenheit die Sexualität von Transmenschen wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat, gab es in letzter Zeit diesbezüglich einen Wandel. Mit steigendem Bewusstsein für die Wichtigkeit eines gesunden Sexuallebens für die Gesundheit von vielen Individuen, ist auch das Bewusstsein für die Wichtigkeit eines gesunden Sexuallebens bei Transmenschen gewachsen.[26]

Studien über die sexuelle Funktion bei Trans Personen haben sich bisher häufig auf die sexuelle Funktion nach der geschlechtsangleichenden Operation und Hormontherapie bezogen. Eine systematische Auswertung von 28 Studien kam zu dem Ergebnis, dass 63%% der Transfrauen nach einer Hormontherapie und einer Geschlechtsangleichenden Operation eine deutliche Verbesserung ihrer sexuellen Funktionsfähigkeit wahrnehmen. Folge Studien verweisen zudem auf höhere sexuelle Aktivität, höhere Zufriedenheit mit dem Orgasmus und geringere Schmerzen nach der geschlechtsangleichenden Operation bei Transfrauen. Es kam allerdings auch zu einer Verringerung des sexuellen Verlangens bei vielen der Betroffenen, wobei die Häufigkeit von einer Störung des sexuellen Verlangens bei Transfrauen etwa der von Cisgender Frauen entsprach.[27]

Der Forschungsstand bei Transmännern ist diesbezüglich noch schwächer als bei den Transfrauen. Hormontherapie und eine Geschlechtsangleichende Operation führten aber auch bei Transmännern zu verbesserter sexueller Gesundheit. Die Behandlung führte hier in vielen Fällen zu verbesserten sexuellen Gesundheit und einem Anstieg in sexuellen Bedürfnissen, sowie vermehrter sexueller Aktivität.[28]

Auch wenn die Hormontherapie und die geschlechtsangleichende Operation als Mittel die sexuelle Gesundheit vieler Trans Personen verbessert, gibt es in einigen Fällen auch nach diesen Eingriffen bei einigen der Betroffenen weiterhin sexuelle Dysfunktionen. In Bezug auf sexuelle Dysfunktionen nach der Behandlung fehlt es an groß angelegten Studien, um aufzuzeigen wie verbreitet diese sind.[29]

So bleibt es für viele Transpersonen weiterhin schwierig eine sexuelle Beziehung einzugehen und sexuellen Kontakt zu suchen.[30]

Non-Binäre und Genderqueere Personen

Während es bei Transpersonen oft um die Einordnung in männlich und weiblich geht, gibt es auch Personen, die sich weder dem männlichen oder weiblichen Spektrum zuordnen. Während ein Teil dieser Personen sich auf dem Spektrum von männlich und weiblich zwischen diesen einordnen, gibt es andere, die sich als völlig außerhalb dieses Spektrums liegend sehen. Diese Menschen bezeichnen sich meist als Non-Binär und/oder Genderqueer.[31]

Eine niederländische Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass 4,6% der Personen die nach ihrer Geburt als männlich eingestuft wurden und 3,2% der Personen die nach ihrer Geburt als weiblich eingestuft wurden, Unsicherheiten bezüglich ihres Geschlechts verspüren.[32]

Trotz der Einordnung der WHO von sexueller Gesundheit als wichtigen Teilaspekt für die Lebensqualität eines Individuums, gibt es einen deutlichen Mangel an quantitativen Studien bezüglich der sexuellen Gesundheit bei Non-Binären und Genderqueeren Personen.[33]

Eine Online-Umfrage aus dem Jahr 2020 versucht die sexuelle Gesundheit von Non-Binären und Genderqueeren Personen mit denen von binären Transpersonen und Cisgender Personen zu vergleichen.[34] In vielen Hinsichten überschneiden sich die Probleme der Non-Binären und Genderqueeren Personen mit denen der binären Transgender Personen.[35] Sexuelles Selbstbewusstsein in Bezug auf den eigenen Körper wurde in binären Transpersonen und Non-Binären und Genderqueeren Personen niedriger gemessen als bei Cisgender Personen. Dies deckt sich auf mit den Ergebnissen anderer Forschung.  In Bezug auf die transspezifischen Körperwahrnehmung schnitt die Gruppe der von Non-Binären und Genderqueeren Personen schlechter ab als die binäre Transpersonen Gruppe.[36]

Fazit

Es wird deutlich, dass sexuelle Dysfunktionen für alle Gender ein Problem darstellen. Während es beispielsweise zwischen Cis-Frauen und Cis-Männern entsprechend ihrer körperlichen Voraussetzungen und gesellschaftlicher Normen teilweise unterschiedliche sexuelle Dysfunktionen auftreten, gibt es doch auch deutliche Überschneidungen. Depressionen als verbreitete Folge und Ursache sexueller Dysfunktion bei allen betroffenen Gruppen zeigt deutlich die Wichtigkeit für alle Gruppen das Thema mit Ernsthaftigkeit anzugehen.

Der Fakt, dass die ICD-11 lediglich zwischen Mann und Frau unterscheidet, macht ein weiteres Mal deutlich, dass Transpersonen und Non-Binäre, sowie Genderqueere Personen nicht ausreichend inkludiert werden. Das organische und nicht organische Ursachen für sexuelle Dysfunktionen zusammengelegt werden, ist grundsätzlich eine positive Entwicklung, da das Thema nun ganzheitlicher betrachtet werden kann.

Es ist davon auszugehen, dass wenn in der ICD-11 oder anderen Quellen zwischen Mann und Frau unterschieden wird, von Cis-Männern und Cis-Frauen die Rede ist. Diese Unterteilung bleibt unzureichend, da sie nicht ausreichend für Menschen aufkommt, welche sich nicht mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Da es für diese Menschen umso schwieriger sein kann ihre Sexualität auszuleben, können sexuelle Dysfunktionen ein umso größeres Problem darstellen.

Deutlich wurde mir auch, dass sich die sexuelle Gesundheit in vielen Fällen verbessern lässt und nicht immer von Dauer sein muss. Die Verbesserung der sexuellen Gesundheit bei Transpersonen durch geschlechtsangleichende Operationen und eine Hormontherapie unterstreicht wie viel Auswirkung medizinische Unterstützung für diese Gruppen haben kann. Leider gibt es noch zu viele Lücken in der Forschung, obwohl ja ein durchaus nennenswerter Teil der Gesellschaft Unsicherheiten bezüglich des eigenen Geschlechts verspürt. Unabhängig davon hat jede dieser Personen das Recht auf ein gesundes Sexualleben und wir als Gesellschaft sollten unser Bestes geben, um jeder Person ein solches zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, benötigt es einen gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Inklusion und verstärkte Bemühungen auch zugunsten kleinerer Gruppen zu forschen.

Reflexion

Beim Schreiben dieses Essays kam ich zum Nachdenken über einige Themen, mit denen ich sonst wenig konfrontiert werde. Die Bedeutung eines gesunden Sexuallebens war mir zwar bereits teilweise bewusst, allerdings wurde mir verdeutlicht, wie sehr dieses Thema nahezu alle Gruppen betrifft, unabhängig von Geschlecht oder hohem Alter.

Zudem hat sich mir verdeutlicht, dass neben den organischen Ursachen für sexuelle Dysfunktionen, die psychischen Ursachen eine enorme Rolle spielen können und das gesellschaftliche Umfeld, dass wir schaffen, einen großen Einfluss auf das psychische Empfinden von allen Menschen unserer Gesellschaft hat.

Besonders hinterfragt habe ich beim Schreiben des Essays die oft verwendete Trennung zwischen „Mann“ und „Frau“. Auch eine Non-Binäre Person, menstruiert unter Umständen, aber identifiziert sich vielleicht nicht als Frau. Diese Person ist dann trotzdem von den hormonellen Folgen der Menstruation betroffen und möglicherweise auf Hilfe angewiesen. Sucht sie nun beispielsweise Online nach Hilfe, wird sie wahrscheinlich der Unterteilung von Mann und Frau begegnen und sich nicht inkludiert fühlen. Auch wenn einige für einen Teil der Gesellschaft an der Einteilung von Mann und Frau festhalten wollen, sollte es zumindest neben den Kategorien Mann und Frau auch Kategorien für beispielsweise Transpersonen, Non- Binäre Personen und Genderqueere Personen geben. Eine Anpassung des Kapitels der sexuellen Dysfunktion in der ICD-11um diese Gruppen zu inkludieren könnte ein Anfang darstellen diese Situation zu verbessern.

Quellen:

Berner, M., Psychopharmakaassoziierte sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung, in: Nervenarzt, Col. 88, 2017-05. S. 459-465.

Briken, Peer; Matthiesen, Silja; Pietras, Laura; et al., Prävalenzschätzungen sexueller Dysfunktion anhand der neuen ICD-11-Leitlinien, in: Deutsches Ärzteblatt, 39/2020, https://www.aerzteblatt.de/archiv/215853/, Stand: 06.02.2025.

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html, Stand: 06.02.2025.

Conn, Allison; Hodges, Kelly R., Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2023, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-frauen/sexuelle-funktion-und-funktionsst%C3%B6rung-bei-frauen/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-frauen?ruleredirectid=740autoredirectid=23359, Stand: 08.02.2025.

Hartmann, Uwe, Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen: Aspekte eines vielschichtigen Zusammenhangs, in: Psychiatrische Praxis, Vol.34, 2007-09, S. 314-317.

Jimbo, Masaya, Überblick über die Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2024, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-m%C3%A4nnern/sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern, Stand: 05.02.2025.

Kennis, Mathilde; Duecker, Felix; T’Sjoen, Guy, et al., Mental and sexual well-being in non.binary and genderqueer individuals, in: International Journal of transgender health, Vol.23, 2022, S.442-457.

Kerckhof, Mauro E.; Kreukels, Baudewijntje P.C.; Nieder, Timo O.; et al., Prevalence of Sexual Dysfunctions in Transgender Persons: Results from the ENIGI Follow-Up Study, in: Journal of sexual medicine, Vol 16, 2019-12, S. 2018-2029.

Korda, J. B., Weibliche sexuelle Dysfunktion, in: Gynäkologe Berlin, Vol. 41, 2008-12, S.1005-1019.

Minhas, Suks; Mulhall, John P., Male sexual dysfunction: a clinical guide, Oxford 2017.


[1] Jimbo, Masaya, Überblick über die Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2024, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-m%C3%A4nnern/sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern, Stand: 05.02.2025.

[2] Korda, J. B., Weibliche sexuelle Dysfunktion, in: Gynäkologe Berlin, Vol. 41, 2008-12, S.1006.

[3] Kerckhof, Mauro E.; Kreukels, Baudewijntje P.C.; Nieder, Timo O.; et al., Prevalence of Sexual Dysfunctions in Transgender Persons: Results from the ENIGI Follow-Up Study, in: Journal of sexual medicine, Vol 16, 2019-12, S. 2019.

[4] Kennis, Mathilde; Duecker, Felix; T’Sjoen, Guy, et al., Mental and sexual well-being in non.binary and genderqueer individuals, in: International Journal of transgender health, Vol.23, 2022, S.442f.

[5] Hartmann, Uwe, Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen: Aspekte eines vielschichtigen Zusammenhangs, in: Psychiatrische Praxis, Vol.34, 2007-09, S. 314.

[6] Jimbo 2024.

[7] Conn, Allison; Hodges, Kelly R., Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2023, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-frauen/sexuelle-funktion-und-funktionsst%C3%B6rung-bei-frauen/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-frauen?ruleredirectid=740autoredirectid=23359, Stand: 08.02.2025.

[8] Jimbo 2024.

[9] Berner, M., Psychopharmakaassoziierte sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung, in: Nervenarzt, Col. 88, 2017-05. S. 459.

[10] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html, Stand:06.02.2025.

[11] Briken, Peer; Matthiesen, Silja; Pietras, Laura; et al., Prävalenzschätzungen sexueller Dysfunktion anhand der neuen ICD-11-Leitlinien, in: Deutsches Ärzteblatt, 39/2020, https://www.aerzteblatt.de/archiv/215853/, Stand: 06.02.2025.

[12] Jimbo 2024.

[13] Hartmann 2007, S.314.

[14] Hartmann 2007, S.314f.

[15] Hartmann 2007, S.316.

[16] Hartmann 2007, S.316.

[17] Minhas, Suks; Mulhall, John P., Male sexual dysfunction: a clinical guide, Oxford 2017, S. 1.

[18] Minhas, Mulhall, 2017, S.2f.

[19] Jimbo 2024.

[20] Korda 2008, S. 1006.

[21] Korda 2008, S. 1007.

[22] Korda 2008, S. 1008f.

[23] Korda 2008, S. 1009f.

[24] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2018.

[25] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[26] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[27] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[28] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[29] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[30] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2029.

[31] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al., S.442.

[32] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 442f.

[33] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 443.

[34] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 444.

[35] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 454.

[36] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 452.


Quelle: Anonym, Gender und sexuelle Dysfunktion: Zusammenhang und Auswirkung in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=486

Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite

Atanasova Polina (S0Se 2023)

Einleitung

Die Gesundheitsversorgung ist ein grundlegendes Menschenrecht, das jedem Individuum unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft gleichermaßen zugänglich sein sollte. Dennoch offenbart die Realität, dass die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Defiziten konfrontiert ist.          
Historisch gesehen hat die Medizin den männlichen Körper als universelles menschliches Modell verwendet.[1] Dabei wurden anatomische Abbildungen, Symptom-Beschreibungen, diagnostische Verfahren und Therapien ohne Berücksichtigung anderer Geschlechter entwickelt. Dies führte zu einer unangemessenen medizinischen Versorgung für Frauen*[2] und Minderheitsgruppen[3], die häufig vernachlässigt oder stigmatisiert wurden.         
Obwohl es Fortschritte bei der Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Reduzierung der Stigmatisierung gibt, sind Frauen* und LGBTQ*-Personen nach wie vor einem besonderen Maß an Unsichtbarkeit, Diskriminierung und Ungerechtigkeit ausgesetzt.

Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu schildern, denen Frauen* und LGBTQ*-Personen gegenüberstehen. Dabei liegt der Fokus auf den verschiedenen Faktoren und Erfahrungen von Frauen* und LSBTQ*-Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt.

1. Die medizinische Pathologisierung von Frauen*

Traditionelle Annahmen über Männlichkeit und Weiblichkeit haben im gesellschaftlichen Bewusstsein gewisse Asymmetrien in den Vorstellungen über beide Geschlechter gefestigt. Diese Geschlechterasymmetrien äußern sich hauptsächlich in stereotypen Geschlechterbildern, die sowohl negative Vorstellungen über das andere Geschlecht als auch positive Selbstbilder auf der Grundlage bestimmter Merkmale einschließen können. Solche stereotypen Vorstellungen über das Verhalten beider Geschlechter sind das Ergebnis historisch gewachsener sozialer Rollenverteilungen.[4] Historisch betrachtet wurde der männliche Körper als Norm angesehen, während der weibliche Körper als abweichend und pathologisch erklärt wurde.[5]    
Wie von Karin Nolte betont wird, bleibt diese Wahrnehmung auch in der Gegenwart hartnäckig bestehen:

„Bis heute prägen Geschlechterkonzeptionen der Medizin des 19. Jahrhunderts Wahrnehmungen von Weiblichkeit und Krankheit in unserer Gesellschaft, die nach wie vor auf der Vorstellung einer dichotomen Geschlechterordnung basieren.“

[6]

Die Pathologisierung von Frauen* in der Medizin hatte verschiedene Konsequenzen: Fehl- oder Überversorgung im Bereich der Medikalisierung durch Psychopharmaka; Vernachlässigung spezifischer Gesundheitsbedürfnisse; Stigmatisierung, sowie Unterrepräsentation von Frauen* in klinischen Studien.[7] In der Tat, obwohl geschlechtsspezifische Unterschiede in Symptomatik und Krankheitsverlauf nachgewiesen sind, werden klinische Studien häufig nur an männlichen* Probanden durchgeführt und Diagnosekriterien, Behandlungsmöglichkeiten sowie Medikamentendosierungen sind hauptsächlich auf Männer* ausgerichtet.[8] Weiterhin zeigen internationale Studien[9], dass Schmerzen bei Frauen* häufig unterschätzt oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn die Schmerzen nicht mit anderen Symptomen einhergehen.[10]   
Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der medizinischen Praxis werden nicht alle Körper gleichwertig behandelt. Besonders betroffen von dieser Ungleichbehandlung sind Frauen*, die als nicht weiß gelesen werden: bei ihnen überlagern sich sexistische und rassistische Vorurteile, was oft zu einer besonders schlechten medizinischen Versorgung führt.[11]  
Weitere Diskriminierungsrisiken aufgrund der sexuellen Identität betreffen vor allem nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Menschen. Dies kann auf mangelnde Sensibilität und Stereotypen seitens medizinischen Personals, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie Zugangsbarrieren zu speziellen medizinischen Dienstleistungen zurückgeführt werden.[12]

All diese Aspekte werden genauer erläutert, und es wird auf die spezifischen Erfahrungen von Frauen* und LGBTQ*-Menschen in Deutschland eingegangen. Zuvor ist es jedoch wichtig, kurz zu definieren, was unter geschlechtsspezifischer Medizin zu verstehen ist.

2.     Geschlechtsspezifische Medizin

Die geschlechtsspezifische Medizin (auch als Gendermedizin bekannt) untersucht die Auswirkungen von biologischen und soziokulturellen Geschlechteraspekten auf Prävention, Entstehung, Diagnose, Therapie und Forschung von Krankheiten. Ihr Hauptziel besteht darin, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu optimieren.[13]
Dieses Teilgebiet der Humanmedizin entstand in den 1970er Jahren als Reaktion auf die internationale Frauengesundheitsbewegung. Anfangs lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf den Gesundheitsproblemen von Frauen*, doch im Laufe der Zeit hat sich ein ausgewogenes Interesse an der Erforschung anderer Geschlechter etabliert.[14]       
Dank der geschlechtsspezifischen Medizin konnte ein stark ausgeprägter Geschlechterunterschied bezüglich des Gesundheitsgeschehens nachgewiesen werden, d. h., in der Morbidität (Krankheitshäufigkeit) und der Mortalität (Sterberate). In den Entstehungsprozessen von Krankheiten sowie den Krankheitsverläufen und im Gesundheitsverhalten scheinen Männer* und Frauen* sich signifikant zu unterscheiden.
Es muss jedoch beachtet werden, dass die Medizin in ihrer Definition von Gender[15] immer noch ein dichotomes, normiertes zweigeschlechtliches Verständnis nutzt: das Forschungsfeld konzentriert sich vorrangig auf die Binarität der Geschlechter Mann* und Frau*. Studien zu trans* und queeren Personen sind in diesem Bereich selten anzutreffen.[16]              

Es lässt sich also konstatieren, dass die geschlechtsspezifische Medizin eine bedeutsame und vielversprechende Disziplin darstellt, welche das Potenzial besitzt, die Gesundheitsversorgung erheblich zu optimieren. Indem geschlechtsspezifische Unterschiede in Betracht gezogen werden, können genauere Diagnosen und individualisierte Behandlungen ermöglicht werden, was zu verbesserten Ergebnissen für die Patienten führt. Des Weiteren trägt die geschlechtsspezifische Medizin dazu bei, gezieltere Präventionsstrategien zu fördern.
Dennoch ist es auch unbestreitbar, dass der geschlechtsspezifischen Medizin gewisse Herausforderungen gegenüberstehen. Eine nähere Erläuterung dieser Herausforderungen folgt im anschließenden Abschnitt.

3. Probleme und Barrieren der gesundheitlichen Versorgung  

In unserem alltäglichen Wissen wird die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen sowie die von Geburt an festgelegte Geschlechtszugehörigkeit (und größtenteils die damit verbundene Heterosexualität) in der Regel als selbstverständlich und natürlich akzeptiert und praktiziert.[17] Dennoch handelt es sich bei der Geschlechtskategorie um ein sozial strukturelles und sozial konstruiertes Phänomen, das historisch und gesellschaftlich geformt ist und in sozialen und alltäglichen Interaktionen sowie Handlungen reproduziert wird.            
Geschlecht klassifiziert Individuen in zwei unterschiedliche Gruppen, basierend sowohl auf biologischen Zuordnungen als auch auf gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen.
Demzufolge liegt das Problem dieser Ausrichtung an zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Normen in der Gesundheitsversorgung hauptsächlich darin, dass es spezifische Benachteiligungen aufgrund der geschlechtlichen und sexuellen Identität verursacht.[18]        
Wie bereits zuvor kritisch angemerkt wurde, werden Frauen* in medizinischen Studien oft nicht angemessen berücksichtigt, während nicht-binäre Personen, die sich außerhalb des traditionellen Geschlechterspektrums identifizieren, mit unzureichender Anerkennung und Sensibilisierung seitens Gesundheitsdienstleistern konfrontiert sind. Dies führt zu geschlechtsbezogenen Datenlücken, erschwertem Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, Schwierigkeiten bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen, psychischen Gesundheitsproblemen und sozialer Stigmatisierung.            
Diese Probleme verdeutlichen die Notwendigkeit einer geschlechtsbewussten und LGBTQ* inklusiven Herangehensweise in der Medizin, um eine gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung für Frauen* und LGBTQ*-Menschen sicherzustellen.

Im Folgenden werden wir uns in den kommenden beiden Abschnitten konkret mit Daten und Erfahrungen bezüglich der Gesundheitsversorgung von Frauen und LGBTQ*-Menschen in Deutschland auseinandersetzen.

3.1 Erfahrungen von Frauen*

Laut des RKI-Berichtes zur gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland[19] von 2020 sind Frauen* häufiger von psychischen Störungen – vor allem von Depression, Angststörungen und Essstörungen – betroffen als Männer*:

„Bei der Entstehung psychischer Störungen spielen biologische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle und werden als Gründe für bestehende Geschlechterunterschiede diskutiert. Aber es scheint auch Unterschiede in der ärztlichen Diagnosestellung zu geben: so wird bei gleicher Symptomatik bei Frauen häufiger eine psychische, bei Männern eine körperliche Erkrankung diagnostiziert.“

[20]

Forschungsergebnisse[21] belegen, dass Frauen* im Vergleich zu Männern* seltener Schmerzmittel verschrieben bekommen, wenn sie unter Schmerzen leiden, und stattdessen häufiger an Psycholog*innen überwiesen werden.[22]       
Hier lässt sich argumentieren, dass es sich bei den festgestellten gesundheitsspezifischen Unterschieden um naturgegebene Phänomene handelt, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch ist es wichtig zu beachten, dass viele der gesundheitlichen Probleme von Frauen* nicht unmittelbar mit ihren spezifischen biologischen Eigenschaften in Verbindung stehen. Vielmehr sind sie das Ergebnis oder die Folge anhaltender Diskriminierung oder Benachteiligung.[23]        
Es kann festgestellt werden, dass die geschlechtsspezifische Medizin in der Realität nicht immer das gewünschte Maß an Inklusivität aufweist. Studien weisen darauf hin, dass ärztliches Fachpersonal männliche* Beschwerden ernster nehmen. Dagegen werden bei dem weiblichen Geschlecht anscheinend häufiger psychisch bedingte Leiden vermutet und die Behandlung dementsprechend ausgerichtet.[24] 
Deutliche Geschlechterunterschiede zeigen sich auch im Bereich der Gesundheitsversorgung, z.B. bei der Einnahme von Arzneimitteln. Sie betreffen zum einen die Verstoffwechselung und Wirkung von Arzneimitteln, einschließlich der Nebenwirkungen. Zum anderen gibt es Unterschiede in der Inanspruchnahme: Frauen* wenden häufiger Arzneimittel an als Männer*, sowohl mit ärztlicher Verordnung als auch in Selbstmedikation.[25]   
Besonders ausführlich belegt sind Behandlungsunterschiede nach Geschlecht bei Herzinfarkten. Nach Berücksichtigung der vorhandenen Symptome und des kardialen Risikos wurden weibliche Patientinnen, die mit Brustschmerzen die Notaufnahme aufsuchten, im Vergleich zu männlichen Patienten seltener auf Herzkrankheiten getestet.[26]   
Zusätzlich erfuhren Frauen* mit Brustschmerzen in der Notaufnahme längere Wartezeiten im Vergleich zu Männern*. Diese Beobachtung wurde in vier Berliner Krankenhäusern bestätigt.[27] Des Weiteren ergab eine Studie, dass kardiologische Untersuchungen bei Frauen* deutlich häufiger fehlerhaft durchgeführt wurden als bei Männern*, insbesondere wenn diese von männlichen Ärzten vorgenommen wurden.[28]            
Armut und soziale Ungleichheit haben ebenso  zentrale Auswirkungen auf die Gesundheit: Immer noch bekommen Frauen* im Durchschnitt 21 % weniger Gehalt als Männer*.
Diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten haben einen deutlichen Einfluss auf das Gesundheitswesen und stellen Barrieren dar, die zu Unterschieden in den Zugangschancen von Männern* und Frauen* führen.[29]

3.2 Erfahrungen von LGBTQ*-Menschen

Eine andere von Diskriminierung im Gesundheitswesen betroffene Gruppe sind LGBTQ*-Menschen. Trotz gesellschaftlicher Fortschritte in Richtung Akzeptanz und Gleichstellung bestehen weiterhin pathologisierende und stigmatisierende Perspektiven auf nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Lebensweisen. LGBTQ*-Menschen sind nach wie vor einem erhöhten Risiko von Vorurteilen, Stereotypen und ungleicher Behandlung durch medizinisches Fachpersonal ausgesetzt. Diese Problematik wirkt sich nicht nur auf individuelle Gesundheitsergebnisse aus, sondern beeinträchtigt auch das Vertrauen und die Bereitschaft der LGBTQ-Gemeinschaft, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.[30]      
Insgesamt berichteten acht von zehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen (82%), mindestens einmal Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität an mindestens einem Ort erlebt zu haben. Bei jungen trans* und gender*diversen Menschen sind es gut neun von zehn (96%).[31] 
Die Erkenntnisse der Europäischen Union Agentur für Grundrechte zeigen, dass jeder fünfte Trans*Mensch im Gesundheitswesen Diskriminierung erfährt. Der Bericht enthüllt, dass Trans*Menschen oft mit einem Mangel an Fachwissen über Transgender-Anliegen seitens der Gesundheitsdienstleister konfrontiert werden, unangemessene Fragen gestellt bekommen, ihr Geschlecht wiederholt fehlerhaft interpretiert wird, sie nicht ernst genommen oder beschimpft werden und ihnen sogar die Behandlung verweigert wird.[32]   
Ein weiteres Beispiel in Hinblick auf die Verweigerung von gleichen Zugängen findet sich im Gesundheitsbereich, da der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Menschen mit einer HIV-Erkrankung deutlich erschwert ist. Ein konkretes Problem besteht darin, dass HIV-positive Menschen Schwierigkeiten bei der Terminvereinbarung in Arztpraxen haben.[33]     
Zwei Studien[34] zur Gesundheit von lesbischen Frauen liefern ebenfalls klare Hinweise darauf, dass es im deutschen Gesundheitssystem Barrieren gibt.         
Insgesamt hatten über 20% aller Befragten Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitssystem aufgrund ihrer lesbischen oder bisexuellen Lebensweise; ebenso viele gaben an, ihre soziosexuelle Identität aus Furcht vor Stigmatisierung und Ausgrenzung im medizinischen Bereich nicht offen gelegt zu haben: „Ich habe es nie öffentlich gemacht, um nicht schlechter behandelt zu werden.“[35]  
Oftmals wurden Frauen* fälschlicherweise als heterosexuell gelesen, sogar nachdem sie ihr Coming-out hatten, bis sie aktiv diese Annahme korrigierten. Die betroffenen Frauen* kritisierten die Verwendung nicht-einschließender Fragen, die ein „Zwang zum Selbst-Outing“ darstellten. Solche Fragen bezogen sich zum Beispiel auf Verhütung oder den letzten Geschlechtsverkehr, wobei nur heterosexueller Geschlechtsverkehr angenommen wurde.
Wenn sich Frauen nicht offenbarten, führte dies vor allem in der gynäkologischen Versorgung zu Verwirrung auf Seiten der ÄrztInnen und sogar zu fehlerhaften Differentialdiagnosen und Therapieempfehlungen.[36]
Aus den Erkenntnissen über die gesundheitliche Situation von LGBTQ*-Menschen wird ersichtlich, dass sozialer Ausschluss und Diskriminierung den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung behindern. Um das Ziel des universellen Zugangs zu erreichen, ist es unerlässlich, angemessene Ressourcen bereitzustellen, um diese Barrieren zu überwinden.

Fazit

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gesundheitsbranche und die Forschungsgemeinschaft weiterhin in die geschlechtsspezifische Medizin investieren und sie als integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung etablieren. Durch eine verstärkte Sensibilisierung, Bildung und Zusammenarbeit kann sichergestellt werden, dass geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen berücksichtigt werden und alle Patienten von den Vorteilen einer personalisierten und geschlechtsgerechten Medizin profitieren.

Letztendlich bietet die geschlechtsspezifische Medizin eine vielversprechende Perspektive für eine inklusivere, gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung. Es besteht daher ein dringender Bedarf an Maßnahmen, um diese Herausforderungen anzugehen und die Versorgung dieser spezifischen Minderheitsgruppen zu verbessern.


[1] Vgl. Schiebinger, Londa. 1993. Schöne Geister: Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 291; sowie vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018). Medizin: Gendermedizin im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Tradition. In: Kortendiek, B., Riegraf, B., Sabisch, K. (eds) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, vol 65. Springer VS, Wiesbaden.

[2] Durch die Verwendung des Symbols „*“ wird betont, dass die Kategorie Geschlecht konstruiert ist. Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck sind keine fest definierten Kategorien. Sie gehen über die binären Bezeichnungen weiblich und männlich* bzw. Frau* und Mann* hinaus und umfassen eine Vielfalt von Identitäten.

[3] Mit dem Begriff sind: ethnische Minderheiten, LGBTQ+-Personen und Menschen mit Behinderungen gemeint.

[4] Vgl. Khrystenko, O. (2016). Die Manifestierung von Geschlechterstereotypen in Metaphern der deutschen Jugendsprache. Linguistik Online75(1). S.84-85.

[5] Vgl. Nolte, K. (2020). „Medizin und Geschlecht“ – Medizinhistorische Perspektive. Schwerpunkt: Gender & Medizin. In: Dr. med. Mabuse 247 September/Oktober 2020, S. 39.

[6] Ebenda, S. 39.

[7] Vgl. Maschewsky-Schneider U. (2002). Gender Mainstreaming im Gesundheitswesen — die Herausforderung eines Zauberwortes. In: Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis 34(3). S. 493.

[8] Vgl. Bartig et al. (2021): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. S. 32.

[9] Verweis auf Chen et al. 2008; Hoffmann und Tarzian 2001; Pierik et al. 2017; Samulowitz et al. 2018

[10] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[11] Vgl. Süess, M. Medizin: Wer hat Angst vor der gesunden Frau? WOZ Die Wochenzeitung. https://www.woz.ch/2236/medizin/medizin-wer-hat-angst-vor-der-gesunden-frau/!GGDTEYEPQ0RZ

[12] Vgl. K. Oldemeier, Kerstin: Sexuelle und geschlechtliche Diversität aus salutogenetischer Perspektive: Erfahrungen von jungen LSBTQ*-Menschen in Deutschland, In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2-2017, S. 146.

[13] Vgl. Meinert, T. (2023): Geschlechtsspezifische Medizin. In: Deutscher Bundestag Nr. 09/23, S. 1.

[14] Vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018).

[15] Mit dem Begriff Gender ist das gesellschaftlich zugewiesene und sozial konstruierte Geschlecht gemeint.

[16] Vgl. Keim-Klärner, S. (2019). Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Kontext verschiedener Ungleichheitsdimensionen. In: Neue Ideen für mehr Gesundheit. Georg Thieme Verlag KG. S. 276.

[17] Verweis auf die Studie von Wetterer, 2004.

[18] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 56.; sowie Verweis auf die Studie von Pöge et al. 2020.

[19] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, aufrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/11_Zusammenfassung_Fazit.pdf?__blob=publicationFile.

[20] Ebenda, S. 377.

[21] Verweis auf Naamany et al. 2019; Samulowitz et al. 2018.

[22] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[23] Vgl. Riggers, M.: Gender Mainstreaming in Niedersachsen. In: Gesundheitswesen. 12. Tagung des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen am. 7. Dezember 2000 in Hannover, SS.4-5.

[24] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[25] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, S. 378.

[26] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chang et al. 2007.

[27] Verweis auf Jungehulsing et al. 2006.

[28] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chakkalakal et al. 2013.

[29] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[30] Verweis auf Oldemeier (2017).

[31] Ebenda, S.56.

[32] Vgl. Karsay, D. (2017, October 10). Gesundheitliche Diskriminierung von Menschen außerhalb des binären Geschlechtersystems | Heinrich-Böll-Stiftung. Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/de/2017/10/10/gesundheitliche-diskriminierung-von-menschen-ausserhalb-des-binaeren-geschlechtersystems.

[33] Vgl. Kalkum, Dorina; Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland anhand der sexuellen Identität: Ergebnisse einer quantitativen Betroffenenbefragung und qualitativer Interviews. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes. S. 88.

[34] Verweis auf Dennert 2005; Wolf 2004.

[35] Vgl. Dennert, G.; Wolf, G. Gesundheit lesbischer und bisexueller Frauen. Zugangsbarrieren im Versorgungssystem als gesundheitspolitische Herausforderung. In: Femina Politica 1 | 2009, S.50.; Zitate aus dem offenen Frageteil der Fragebogenerhebung. Sie werden hier z.T. gekürzt und in neuer Rechtschreibung wiedergegeben; Dennert 2005, 75-82.

[36] Ebenda.


Quelle: Atanasova Polinda, Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=399

Geschlechtssensible Medizin

Hintergrund und Notwendigkeit am Beispiel der Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

Lara Alexandra Bellu (SoSe 2022)

1. Begriffsklärungen und Hintergründe

Unter sex wird das biologische Geschlecht einer Person verstanden (Muehlenhard & Peterson, 2011). Damit zusammenhängend sind Geschlechtschromosomen, Keimanlagen, primäre und sekundäre Geschlechtsorgane (Muehlenhard & Peterson, 2011). Menschen, die sich der Binarität von weiblich/männlich zuordnen, werden als endogeschlechtlich bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Kann keine binäre Geschlechterzuordnung erfolgen, spricht man von Intergeschlechtlichkeit (Debus & Laumann, 2020). Dabei handelt es sich eigentlich um eine natürliche Variation (Hechler & Baar, 2020). Allerdings erleben intergeschlechtliche Menschen dennoch Diskriminierung, weil gesellschaftlich – entgegen des natürlichen biologischen Vorkommens – eine binäre Unterteilung in biologische Männer und Frauen konstruiert wurde (Hechler & Baar, 2020).

Als gender wird das soziale Geschlecht und die Geschlechtsidentität bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Das Konzept gender beinhaltet typische Merkmale, Verhaltensweisen und Erwartungen, die der binären Geschlechterkonstruktion von Frauen und Männern zugeschrieben werden (Pryzgoda & Chrisler, 2000). Das Konzept gender geht also davon aus, dass diese Unterschiede sozial konstruiert sind (Pryzgoda & Chrisler, 2000). Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht (meist interpretiert aufgrund der Geschlechtsorgane) übereinstimmt, bezeichnen sich als trans*, transgeschlechtlich, transgender oder transident (Debus & Laumann, 2020). Menschen, bei denen die Geschlechtsidentität mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, werden als cis-geschlechtlich bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Menschen, die sich nicht den binären Geschlechterrollen von Männern oder Frauen zuordnen, verstehen sich als non-binary, nicht-binär, genderqueer, agender oder auch trans* (Debus & Laumann, 2020).

Der Begriff Heteronormativität meint eine Kultur und Struktur, die Endogeschlechtlichkeit, eine binäre Geschlechtsidentität, cis-Geschlechtlichkeit und heterosexuelle Beziehungen als Norm begreift (Debus & Laumann, 2020). Menschen, die also nicht in dieses Schema passen, erleben in einer heteronormativen Gesellschaft Nachteile und Diskriminierung (Debus & Laumann, 2020).

Die geschlechtssensible Medizin (GSM) beschäftigt sich mit dem Einfluss von sex und gender auf das Gesundheitsbewusstsein, Krankheitssymptomatik und Therapie (Regitz-Zagrosek, 2018). Ziel ist es, die bestmögliche Diagnose und Therapie unter Berücksichtigung des Geschlechts zu finden (Latz & Welzel, 2021). Wichtig ist anzumerken, dass im Rahmen der GSM häufig der Begriff gender genutzt wird, obwohl eigentlich sex gemeint ist (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Zusätzlich beschäftigt sich die GSM aktuell lediglich mit den Unterschieden zwischen Frauen und Männern, Abweichungen der Heteronormativität werden also nicht berücksichtigt (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019).

Die GSM hat ihren Ursprung in der internationalen Frauenrechtsbewegung in den 1960er und 70er Jahren, die sich auf die körperliche und sexuelle Freiheit von Frauen konzentriert hat (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Anfang der 1980er Jahre wurde erstmals genauer beobachtet, dass Herzinfarkte sich bei Frauen und Männern mit unterschiedlichen Symptomen äußern – jedoch wurden standardmäßig nur die „männlichen“ Symptome gelehrt (Latz & Welzel, 2021). 2001 veröffentlichte das US-amerikanische Institute of Medicine einen Report, der erstmals Geschlechterunterschiede in der Medizin beleuchtete (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Erst dadurch kam die GSM tatsächlich ins Rollen (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Allerdings ist sogar heute – 20 Jahre später – die Lehre der GSM keine Verpflichtung an den Universitäten (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Zusätzlich fehlt die Implementierung in Forschung und Praxis, weil die Arbeit und Anerkennung in den entsprechenden Gremien (Fachgesellschaften, Ärztekammern, Forschungsgremien etc.) nur schleppend läuft (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019).

2. Zusammenhang zwischen gender, sex und Gesundheit

Die Relevanz der GSM wird deutlich, wenn biologische, psychosoziale und epigenetische Einflussfaktoren auf Gesundheit betrachtet werden.

Auf biologischer Ebene betrachtet tragen X-Chromosomen mehr als 1500 Gene mit regenerativen Funktionen, Y-Chromosomen hingegen nur ca. 100 Gene (Regitz-Zagrosek, 2018). Bei Menschen mit XX-Chromosomensatz ist das zweite X-Chromosom nur zum Teil inaktiv. Deshalb haben diese Menschen etwa Vorteile bei x-chromosomal vererbten Erkrankungen (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich beeinflusst der Geschlechtschromosomensatz die Ausschüttung von Geschlechtshormonen (Testosteron, Östrogen und Gestagen; Regitz-Zagrosek (2018)). Geschlechtshormone haben wiederum einen Einfluss auf das Immunsystem, die Körperzusammensetzung, das Herz-Kreislauf-System und andere Stoffwechselprozesse (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich ist inzwischen bekannt, dass sich die Organe von Männern und Frauen in ihrer Feinbauweise und Zellaktivität unterscheiden (Regitz-Zagrosek, 2018). Daraus wird klar, dass sich sowohl Krankheitssymptome als auch die Wirkung von Medikamenten geschlechtsspezifisch unterscheiden müssen. Therapien und Krankheitsverläufe des prototypischen 75kg schweren cis-Manns können also nicht für Menschen, die auf biologischer Ebene von dieser Norm abweichen, einfach übernommen werden (Weyrerer, 2021).  

Auch die sozial konstruierten Geschlechterrollen (gender) haben Einfluss auf Krankheit, Gesundheitsverhalten und Vorsorge. So ist zum Beispiel die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen (Brandt, 2019). Gleichzeitig nehmen Männer weniger Psychotherapie in Anspruch (Sonnenmoser, 2011). Insgesamt zeigen Männer häufiger schädliches Gesundheitsverhalten wie Rauchen, ungesunde Ernährung und weniger Bewegung (Regitz-Zagrosek, 2018). Bei ihnen ist die Lebenserwartung auch geringer als bei Frauen (Luy, 2011). Gleichzeitig sind Frauen dadurch bei Krankenhauseinweisungen im Durchschnitt älter als Männer und erhalten weniger häufig Rehabilitationsmaßnahmen (Regitz-Zagrosek, 2018). Deshalb haben sie eine höhere Gefahr chronisch in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt zu werden und eine Pflegebelastung für ihr Umfeld zu werden (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich unterscheidet sich die Stressbelastung bei Männern und Frauen. So handelt es sich bei Männern vor allem um chronischen arbeitsbedingten Stress, der zum Feierabend abfällt (Kautzky-Willer, 2014). Bei Frauen hingegen steigt dieser aufgrund der häufigen Doppelbelastung von Beruf und familiären Verpflichtungen (z.B.: Pflege von Angehörigen) nach Feierabend noch weiter an (Kautzky-Willer, 2014). Chronischer Stress ist wiederum mit einer Reihe von Erkrankungen wie depressiven Störungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ 2 assoziiert (Kautzky-Willer, 2014). Dieses Phänomen nennt sich Lebenserwartungs-Lebensqualitäts-Geschlechter-Paradoxon: Frauen leben zwar länger als Männer, haben aber weniger gesunde Jahre und empfinden ihre Lebensqualität als subjektiv geringer (Kautzky-Willer, 2014). Wird dabei um die psychosozialen Faktoren korrigiert, ist dieser Unterschied deutlich geringer (Kautzky-Willer, 2014).  Fernab dieser binären Betrachtung ist zu betonen, dass etwa inter* oder trans* Menschen aufgrund ihres depriviligierten Status und der damit einhergehenden Diskriminierung zusätzliche gesundheitliche Risiken haben, zum Beispiel ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen (Pöge et al., 2020).

Zuletzt ist die Ebene der Epigenetik zu betrachten. Epigenetik bezieht sich auf die Beeinflussung oder Beschädigung bei der Verpackung von Genen durch Umwelteinflüsse, wie beispielsweise Ernährung, Rauchen, Stress und Umwelttoxine (Regitz-Zagrosek, 2018). Auch hierbei spielen sex und gender eine unterschiedliche Rolle (Kautzky-Willer, 2014). So zeigen beispielsweise bereits die Plazenten von Embryonen aufgrund unterschiedlicher Geschlechtshormone unterschiedliche Bewältigungsstrategien und Wachstumsmechanismen auf Unter- oder Überernährung (Kautzky-Willer, 2014). Weiterführend werden diese Strategien mit Immunität, Transplant-Wirt-Reaktionen und Entzündungen assoziiert (Kautzky-Willer, 2014). Gender bzw. die Geschlechterrolle hingehen bedingt zum Beispiel die Exposition mit Umwelttoxinen und Stress. So könnte die höhere Inzidenz von depressiven Störungen bei Frauen auf den erhöhten mütterlichen Überschuss von Glukokortikoiden (z.B.: das Stresshormon Cortisol) zurückzuführen sein (Kautzky-Willer, 2014). Dieser beeinflusst nämlich insbesondere bei den weiblichen Nachkommen die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse und die dazugehörige Neurotransmitterausschüttung, welche sowohl mit Stimmung als auch mit Stressregulation assoziiert ist (Kautzky-Willer, 2014).

3. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

3.1 Symptomatik

Die Kernsymptome der ADHS sind (1) Aufmerksamkeitsstörungen (insbesondere vorzeitiges Abbrechen von fremdbestimmten Aufgaben, hohe Ablenkbarkeit, Nichtbeenden von Tätigkeiten), (2) Impulsivität auf emotionaler, kognitiver und motivationaler Ebene (z.B.: übereilte Entscheidungen, geringe Frustrationstoleranz, Unterbrechen von anderen) und (3) Hyperaktivität (mangelhaft regulierte, überschießende motorische Aktivität und Ruhelosigkeit; Petermann and Ruhl (2011)). Allerdings unterscheiden sich das ICD-10 und DSM-IV in ihrer Kombination von Symptomen zu verschiedenen Subtypen. So wird nach ICD-10 eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F 90.0) diagnostiziert, wenn die Symptome der Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität vorliegen (Petermann & Ruhl, 2011). Eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F 90.1) wird diagnostiziert, wenn zusätzlich noch Störungen des Sozialverhaltens vorliegen (Petermann & Ruhl, 2011). Das DSM-IV hingegen differenziert zwischen drei verschiedenen Typen (Petermann & Ruhl, 2011). Bei der (a) Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung vom Mischtyp liegen sowohl die Aufmerksamkeitsstörung als auch Impulsivität und Hyperaktivität vor. Bei dem (b) vorwiegend unaufmerksamen Typ liegt die Aufmerksamkeitsstörung im Vergleich zur Hyperaktivität und Impulsivität deutlich im Vordergrund. Die Symptomatik des (c) vorwiegend hyperaktiven Typs ist hingegen vorwiegend durch Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, Aufmerksamkeitsstörungen sind eher im Hintergrund (Petermann & Ruhl, 2011).

Abbildung 1: Klassifikation der ADHS in ICD-10 und DSM-IV (Petermann & Ruhl, 2011, S. 679)

Zusätzlich müssen nach ICD-10 und DSM-IV folgende Kriterien erfüllt sein: „Die Symptome müssen mindestens 6 Monate lang vorliegen, in einem mit dem Entwicklungsstand nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß, vor dem Alter von 7 Jahren auftreten und zu Beeinträchtigungen in zwei oder mehr Lebensbereichen führen. Es bestehen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen. Andere psychische Störungen, geistige Behinderung oder psychosoziale Problemen, die die Verhaltenssymptome besser erklären können, sind ausgeschlossen“ (Petermann & Ruhl, 2011, S. 678).

3.2  Diagnostik

Die Diagnostik der ADHS läuft multimodal ab, was insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Symptomausprägungen notwendig ist (Petermann & Ruhl, 2011). Die Diagnostik lässt sich in drei Stufen einteilen: Erstes Screening, orientierende und weiterführende Diagnostik (Petermann & Ruhl, 2011). Wichtig ist zu betonen, dass im Zuge des ersten Screenings nicht nur Testverfahren mit den potenziell Betroffenen selbst, sondern üblicherweise auch Beurteilungen von Eltern und Lehrkräften miteingeschlossen werden. Oftmals sind sogar Hinweise der Lehrkräfte der erste Schritt, um überhaupt das Screening einzuleiten (Petermann & Ruhl, 2011). Zeigen sich im Rahmen des ersten Screenings Hinweise auf eine ADHS, so wird weiterfolgend eine orientierende und weiterführende Diagnostik durchgeführt (Petermann & Ruhl, 2011). Dabei werden üblicherweise diagnostische Interviews und Tests (z.B.: Intelligenz- und Aufmerksamkeitstests) mit den Betroffenen selbst und den Eltern durchgeführt. Außerdem kommen auch hier Verhaltensbeobachtungen im Klassenraum, in der diagnostischen Situation und zu Hause zum Einsatz (Petermann & Ruhl, 2011).

4. Zusammenhang zwischen ADHS-Diagnostik, sex und gender

 Die Prävalenz der ADHS beläuft sich auf zwischen 2 und 7%, je nach verwendeten Diagnosekriterien und Altersgruppe (Bruchmüller et al., 2012; Nøvik et al., 2006). Auffällig dabei ist, dass das Geschlechterverhältnis teils stark unausgeglichen ist. So liegt es bei nicht klinischen Populationen bei 3:1 (Jungen vs. Mädchen), bei klinischen Populationen sogar bei zwischen 6 und 16:1 (Bruchmüller et al., 2012; Nøvik et al., 2006; Young et al., 2020). Daraus lässt sich also schließen, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen überhaupt in den diagnostischen und therapeutischen Prozess der ADHS eingebunden werden (Bruchmüller et al., 2012). Hier stellt sich nun die Frage: Kommt die ADHS tatsächlich häufiger bei Jungen vor oder wird es bei Mädchen schlichtweg weniger erkannt? Und falls ja, woran liegt das?

 Möglicherweise kann der Geschlechterunterschied in der ADHS-Prävalenz neurophysiologisch und endokrinologisch erklärt werden (Davies, 2014; Gawrilow, 2020). So wurden teilweise in Untersuchungen geringere Aktivierungen bei Jungen vs. Mädchen mit ADHS in frontalen, parietalen und cerebralen Hirnregionen gefunden (Davies, 2014). Diese werden unter anderem mit Exekutivfunktionen (z.B.: Inhibitionskontrolle) assoziiert, welche wiederum bei einer ADHS eingeschränkt sind (Gawrilow et al., 2011). Darüber hinaus spielt auch möglicherweise eine geringere Dopamin-Rezeptoren-Dichte bei Jungen eine Rolle (Gawrilow, 2020). Weiterführend wird auch diskutiert, ob das höhere Testosteronlevel durch einen XY-Chromosomensatz zu neurobiologischen Entwicklungen führt, welche die Entstehung einer ADHS begünstigen (Davies, 2014). Allerdings konnte bisher zu keinem Ansatz ein ausreichender wissenschaftlicher Konsens erreicht werden (Davies, 2014; Gawrilow, 2020).

Mehr erforscht und viel wahrscheinlicher ist dagegen, dass Mädchen andere Symptome und Komorbiditäten zeigen und weniger häufig bzw. falsch diagnostiziert werden (Fraticelli et al., 2022). Beispielsweise fassen Young et al. (2020) und Fraticelli et al. (2022) zusammen, dass Mädchen mit ADHS zwar auch hyperaktiv-impulsive Symptome aufweisen, jedoch stehen die Symptome der Unaufmerksamkeit und Desorganisation im Vordergrund. Bei Mädchen scheint also der unaufmerksame Typ häufiger vorzukommen, welcher oftmals als depressive oder Angststörung interpretiert wird (Fraticelli et al., 2022). Zusätzlich ist eine komorbide Angst- oder depressive Störung tatsächlich häufig bei Mädchen (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020). Das resultiert in eine noch stärker internalisierte Symptomatik, wodurch die ADHS leicht übersehen wird (Fraticelli et al., 2022). Mädchen zeigen also weniger offensichtliche oder sozial störende Verhaltensweisen. Dafür haben sie deutlichere Aufmerksamkeitsdefizite, sowie Probleme bei der Selbst- und Emotionsregulation (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020).

Außerdem scheint es eine Verzerrung bei den Diagnostizierenden selbst zu geben, die Mädchen grundsätzlich weniger häufig als Jungen diagnostizieren (Quinn & Madhoo, 2014). Hinweise darauf liefern eine Vielzahl an Studien (z.B.: Bruchmüller et al., 2012; Groenewald et al., 2009; Ohan & Visser, 2009; Sciutto et al., 2004). In einer Untersuchung von Bruchmüller et al. (2012) wurden insgesamt 1000 Psychiater*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen dazu aufgefordert, eine diagnostische Einschätzung für hypothetische Fallbeispiele abzugeben. Dabei erhielt der identische Fall häufiger eine ADHS-Diagnose, wenn dieser mit einem typischen Jungen-, statt Mädchennamen benannt wurde. Ähnliche Ergebnisse fanden auch Sciutto et al. (2004) mit einer Stichprobe von 199 Grundschullehrkräften, die ebenfalls hypothetische Fälle von Kindern mit ADHS vorgelegt bekamen. Dabei wurde bei den Fällen mit Jungennamen häufiger zu einem ersten ADHS-Screening geraten als bei den mit Mädchennamen. Insgesamt wurden die Fälle mit Symptomen des hyperaktiv-impulsiven Typs häufiger als auffällig eingestuft. Jedoch zeigte sich auch hier ein geschlechtsspezifischer Effekt: Bei den Fällen des hyperaktiv-impulsiven Typs mit Jungennamen wurde 1.5-mal häufiger zu einem ersten Screening geraten als bei den Mädchen.

Insgesamt betrachtet sind Mädchen also gar nicht per se weniger häufig von der ADHS betroffen. Es scheint eher so, dass Mädchen insgesamt unauffälliger sind, weil sie sich besser anpassen und ihre Symptome weniger externalisiert sind (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020). Zusätzlich scheint ein Bias bei Diagnostizierenden, sowie Lehrkräften und Eltern zu bestehen (Quinn & Madhoo, 2014). Das „typische AHDS-Kind“ ist demnach ein unruhiger, zappeliger Junge und weniger ein verträumtes, unaufmerksames Mädchen. In Anbetracht der Sozialisation und Geschlechterrollen von Jungen vs. Mädchen ist das allerdings nicht überraschend. So wird von Mädchen gesellschaftlich eher erwartet, sich freundlich, zuvorkommend und zurückhaltend zu verhalten (Godsil et al., 2016). Die daraus resultierende Anpassung, internalisierten Symptome und verhältnismäßige Unauffälligkeit von Mädchen mit ADHS erscheinen entsprechend wie logische Konsequenzen.

Problematisch dabei ist, dass Mädchen, die unter das diagnostische Radar fallen, keine oder nur unpassende Therapien erhalten (Young et al., 2020). Gleichzeitig ist die Ausprägung von ADHS Symptomen negativ mit der Lebensqualität in Adoleszenz und Erwachsenenalter assoziiert (Tischler et al., 2010). Zusätzlich haben Menschen mit ADHS ohnehin ein höheres Risiko, andere psychische oder somatische Erkrankungen zu entwickeln (Fraticelli et al., 2022; Tischler et al., 2010). Außerdem leiden sie häufiger unter einem negativen Selbstkonzept und Selbstwert (Young et al., 2020). Deshalb stellt eine ADHS-Diagnose für insbesondere erwachsene Betroffene eine Erleichterung dar, weil somit die lebenslangen Schwierigkeiten, Einschränkungen und Defizite erklärt werden können (von der Brelie, 2021). Nicht diagnostizierte Mädchen mit ADHS haben also ein höheres Risiko für vermeidbare gesundheitliche Einschränkungen und spätere Schwierigkeiten in essenziellen Lebensbereichen (z.B.: Ausbildung und Arbeit; Young et al. (2020)), welche durch eine adäquate Therapie zumindest gelindert werden könnten (Petermann & Ruhl, 2011). Insgesamt betrachtet braucht es also dringend mehr gendersensible Forschung im Bereich der ADHS, sowie die Implementierung der Erkenntnisse in die diagnostische Praxis.  Abschließend ist zu betonen, dass sich die Gendersensibilität in diesem Bereich ausschließlich auf die Binarität von Frauen vs. Männern (sowohl bei sex als auch gender) bezieht. Wünschenswert wäre also auch hier, dass die psychologische Forschung beginnt, außerhalb der Heteronormativität zu denken.

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Quelle: Lara Alexandra Bellu, Geschlechtssensible Medizin: Hintergrund und Notwendigkeit am Beispiel der Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 07.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=303