Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite

Atanasova Polina (S0Se 2023)

Einleitung

Die Gesundheitsversorgung ist ein grundlegendes Menschenrecht, das jedem Individuum unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft gleichermaßen zugänglich sein sollte. Dennoch offenbart die Realität, dass die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Defiziten konfrontiert ist.          
Historisch gesehen hat die Medizin den männlichen Körper als universelles menschliches Modell verwendet.[1] Dabei wurden anatomische Abbildungen, Symptom-Beschreibungen, diagnostische Verfahren und Therapien ohne Berücksichtigung anderer Geschlechter entwickelt. Dies führte zu einer unangemessenen medizinischen Versorgung für Frauen*[2] und Minderheitsgruppen[3], die häufig vernachlässigt oder stigmatisiert wurden.         
Obwohl es Fortschritte bei der Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Reduzierung der Stigmatisierung gibt, sind Frauen* und LGBTQ*-Personen nach wie vor einem besonderen Maß an Unsichtbarkeit, Diskriminierung und Ungerechtigkeit ausgesetzt.

Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu schildern, denen Frauen* und LGBTQ*-Personen gegenüberstehen. Dabei liegt der Fokus auf den verschiedenen Faktoren und Erfahrungen von Frauen* und LSBTQ*-Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt.

1. Die medizinische Pathologisierung von Frauen*

Traditionelle Annahmen über Männlichkeit und Weiblichkeit haben im gesellschaftlichen Bewusstsein gewisse Asymmetrien in den Vorstellungen über beide Geschlechter gefestigt. Diese Geschlechterasymmetrien äußern sich hauptsächlich in stereotypen Geschlechterbildern, die sowohl negative Vorstellungen über das andere Geschlecht als auch positive Selbstbilder auf der Grundlage bestimmter Merkmale einschließen können. Solche stereotypen Vorstellungen über das Verhalten beider Geschlechter sind das Ergebnis historisch gewachsener sozialer Rollenverteilungen.[4] Historisch betrachtet wurde der männliche Körper als Norm angesehen, während der weibliche Körper als abweichend und pathologisch erklärt wurde.[5]    
Wie von Karin Nolte betont wird, bleibt diese Wahrnehmung auch in der Gegenwart hartnäckig bestehen:

„Bis heute prägen Geschlechterkonzeptionen der Medizin des 19. Jahrhunderts Wahrnehmungen von Weiblichkeit und Krankheit in unserer Gesellschaft, die nach wie vor auf der Vorstellung einer dichotomen Geschlechterordnung basieren.“

[6]

Die Pathologisierung von Frauen* in der Medizin hatte verschiedene Konsequenzen: Fehl- oder Überversorgung im Bereich der Medikalisierung durch Psychopharmaka; Vernachlässigung spezifischer Gesundheitsbedürfnisse; Stigmatisierung, sowie Unterrepräsentation von Frauen* in klinischen Studien.[7] In der Tat, obwohl geschlechtsspezifische Unterschiede in Symptomatik und Krankheitsverlauf nachgewiesen sind, werden klinische Studien häufig nur an männlichen* Probanden durchgeführt und Diagnosekriterien, Behandlungsmöglichkeiten sowie Medikamentendosierungen sind hauptsächlich auf Männer* ausgerichtet.[8] Weiterhin zeigen internationale Studien[9], dass Schmerzen bei Frauen* häufig unterschätzt oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn die Schmerzen nicht mit anderen Symptomen einhergehen.[10]   
Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der medizinischen Praxis werden nicht alle Körper gleichwertig behandelt. Besonders betroffen von dieser Ungleichbehandlung sind Frauen*, die als nicht weiß gelesen werden: bei ihnen überlagern sich sexistische und rassistische Vorurteile, was oft zu einer besonders schlechten medizinischen Versorgung führt.[11]  
Weitere Diskriminierungsrisiken aufgrund der sexuellen Identität betreffen vor allem nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Menschen. Dies kann auf mangelnde Sensibilität und Stereotypen seitens medizinischen Personals, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie Zugangsbarrieren zu speziellen medizinischen Dienstleistungen zurückgeführt werden.[12]

All diese Aspekte werden genauer erläutert, und es wird auf die spezifischen Erfahrungen von Frauen* und LGBTQ*-Menschen in Deutschland eingegangen. Zuvor ist es jedoch wichtig, kurz zu definieren, was unter geschlechtsspezifischer Medizin zu verstehen ist.

2.     Geschlechtsspezifische Medizin

Die geschlechtsspezifische Medizin (auch als Gendermedizin bekannt) untersucht die Auswirkungen von biologischen und soziokulturellen Geschlechteraspekten auf Prävention, Entstehung, Diagnose, Therapie und Forschung von Krankheiten. Ihr Hauptziel besteht darin, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu optimieren.[13]
Dieses Teilgebiet der Humanmedizin entstand in den 1970er Jahren als Reaktion auf die internationale Frauengesundheitsbewegung. Anfangs lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf den Gesundheitsproblemen von Frauen*, doch im Laufe der Zeit hat sich ein ausgewogenes Interesse an der Erforschung anderer Geschlechter etabliert.[14]       
Dank der geschlechtsspezifischen Medizin konnte ein stark ausgeprägter Geschlechterunterschied bezüglich des Gesundheitsgeschehens nachgewiesen werden, d. h., in der Morbidität (Krankheitshäufigkeit) und der Mortalität (Sterberate). In den Entstehungsprozessen von Krankheiten sowie den Krankheitsverläufen und im Gesundheitsverhalten scheinen Männer* und Frauen* sich signifikant zu unterscheiden.
Es muss jedoch beachtet werden, dass die Medizin in ihrer Definition von Gender[15] immer noch ein dichotomes, normiertes zweigeschlechtliches Verständnis nutzt: das Forschungsfeld konzentriert sich vorrangig auf die Binarität der Geschlechter Mann* und Frau*. Studien zu trans* und queeren Personen sind in diesem Bereich selten anzutreffen.[16]              

Es lässt sich also konstatieren, dass die geschlechtsspezifische Medizin eine bedeutsame und vielversprechende Disziplin darstellt, welche das Potenzial besitzt, die Gesundheitsversorgung erheblich zu optimieren. Indem geschlechtsspezifische Unterschiede in Betracht gezogen werden, können genauere Diagnosen und individualisierte Behandlungen ermöglicht werden, was zu verbesserten Ergebnissen für die Patienten führt. Des Weiteren trägt die geschlechtsspezifische Medizin dazu bei, gezieltere Präventionsstrategien zu fördern.
Dennoch ist es auch unbestreitbar, dass der geschlechtsspezifischen Medizin gewisse Herausforderungen gegenüberstehen. Eine nähere Erläuterung dieser Herausforderungen folgt im anschließenden Abschnitt.

3. Probleme und Barrieren der gesundheitlichen Versorgung  

In unserem alltäglichen Wissen wird die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen sowie die von Geburt an festgelegte Geschlechtszugehörigkeit (und größtenteils die damit verbundene Heterosexualität) in der Regel als selbstverständlich und natürlich akzeptiert und praktiziert.[17] Dennoch handelt es sich bei der Geschlechtskategorie um ein sozial strukturelles und sozial konstruiertes Phänomen, das historisch und gesellschaftlich geformt ist und in sozialen und alltäglichen Interaktionen sowie Handlungen reproduziert wird.            
Geschlecht klassifiziert Individuen in zwei unterschiedliche Gruppen, basierend sowohl auf biologischen Zuordnungen als auch auf gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen.
Demzufolge liegt das Problem dieser Ausrichtung an zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Normen in der Gesundheitsversorgung hauptsächlich darin, dass es spezifische Benachteiligungen aufgrund der geschlechtlichen und sexuellen Identität verursacht.[18]        
Wie bereits zuvor kritisch angemerkt wurde, werden Frauen* in medizinischen Studien oft nicht angemessen berücksichtigt, während nicht-binäre Personen, die sich außerhalb des traditionellen Geschlechterspektrums identifizieren, mit unzureichender Anerkennung und Sensibilisierung seitens Gesundheitsdienstleistern konfrontiert sind. Dies führt zu geschlechtsbezogenen Datenlücken, erschwertem Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, Schwierigkeiten bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen, psychischen Gesundheitsproblemen und sozialer Stigmatisierung.            
Diese Probleme verdeutlichen die Notwendigkeit einer geschlechtsbewussten und LGBTQ* inklusiven Herangehensweise in der Medizin, um eine gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung für Frauen* und LGBTQ*-Menschen sicherzustellen.

Im Folgenden werden wir uns in den kommenden beiden Abschnitten konkret mit Daten und Erfahrungen bezüglich der Gesundheitsversorgung von Frauen und LGBTQ*-Menschen in Deutschland auseinandersetzen.

3.1 Erfahrungen von Frauen*

Laut des RKI-Berichtes zur gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland[19] von 2020 sind Frauen* häufiger von psychischen Störungen – vor allem von Depression, Angststörungen und Essstörungen – betroffen als Männer*:

„Bei der Entstehung psychischer Störungen spielen biologische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle und werden als Gründe für bestehende Geschlechterunterschiede diskutiert. Aber es scheint auch Unterschiede in der ärztlichen Diagnosestellung zu geben: so wird bei gleicher Symptomatik bei Frauen häufiger eine psychische, bei Männern eine körperliche Erkrankung diagnostiziert.“

[20]

Forschungsergebnisse[21] belegen, dass Frauen* im Vergleich zu Männern* seltener Schmerzmittel verschrieben bekommen, wenn sie unter Schmerzen leiden, und stattdessen häufiger an Psycholog*innen überwiesen werden.[22]       
Hier lässt sich argumentieren, dass es sich bei den festgestellten gesundheitsspezifischen Unterschieden um naturgegebene Phänomene handelt, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch ist es wichtig zu beachten, dass viele der gesundheitlichen Probleme von Frauen* nicht unmittelbar mit ihren spezifischen biologischen Eigenschaften in Verbindung stehen. Vielmehr sind sie das Ergebnis oder die Folge anhaltender Diskriminierung oder Benachteiligung.[23]        
Es kann festgestellt werden, dass die geschlechtsspezifische Medizin in der Realität nicht immer das gewünschte Maß an Inklusivität aufweist. Studien weisen darauf hin, dass ärztliches Fachpersonal männliche* Beschwerden ernster nehmen. Dagegen werden bei dem weiblichen Geschlecht anscheinend häufiger psychisch bedingte Leiden vermutet und die Behandlung dementsprechend ausgerichtet.[24] 
Deutliche Geschlechterunterschiede zeigen sich auch im Bereich der Gesundheitsversorgung, z.B. bei der Einnahme von Arzneimitteln. Sie betreffen zum einen die Verstoffwechselung und Wirkung von Arzneimitteln, einschließlich der Nebenwirkungen. Zum anderen gibt es Unterschiede in der Inanspruchnahme: Frauen* wenden häufiger Arzneimittel an als Männer*, sowohl mit ärztlicher Verordnung als auch in Selbstmedikation.[25]   
Besonders ausführlich belegt sind Behandlungsunterschiede nach Geschlecht bei Herzinfarkten. Nach Berücksichtigung der vorhandenen Symptome und des kardialen Risikos wurden weibliche Patientinnen, die mit Brustschmerzen die Notaufnahme aufsuchten, im Vergleich zu männlichen Patienten seltener auf Herzkrankheiten getestet.[26]   
Zusätzlich erfuhren Frauen* mit Brustschmerzen in der Notaufnahme längere Wartezeiten im Vergleich zu Männern*. Diese Beobachtung wurde in vier Berliner Krankenhäusern bestätigt.[27] Des Weiteren ergab eine Studie, dass kardiologische Untersuchungen bei Frauen* deutlich häufiger fehlerhaft durchgeführt wurden als bei Männern*, insbesondere wenn diese von männlichen Ärzten vorgenommen wurden.[28]            
Armut und soziale Ungleichheit haben ebenso  zentrale Auswirkungen auf die Gesundheit: Immer noch bekommen Frauen* im Durchschnitt 21 % weniger Gehalt als Männer*.
Diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten haben einen deutlichen Einfluss auf das Gesundheitswesen und stellen Barrieren dar, die zu Unterschieden in den Zugangschancen von Männern* und Frauen* führen.[29]

3.2 Erfahrungen von LGBTQ*-Menschen

Eine andere von Diskriminierung im Gesundheitswesen betroffene Gruppe sind LGBTQ*-Menschen. Trotz gesellschaftlicher Fortschritte in Richtung Akzeptanz und Gleichstellung bestehen weiterhin pathologisierende und stigmatisierende Perspektiven auf nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Lebensweisen. LGBTQ*-Menschen sind nach wie vor einem erhöhten Risiko von Vorurteilen, Stereotypen und ungleicher Behandlung durch medizinisches Fachpersonal ausgesetzt. Diese Problematik wirkt sich nicht nur auf individuelle Gesundheitsergebnisse aus, sondern beeinträchtigt auch das Vertrauen und die Bereitschaft der LGBTQ-Gemeinschaft, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.[30]      
Insgesamt berichteten acht von zehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen (82%), mindestens einmal Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität an mindestens einem Ort erlebt zu haben. Bei jungen trans* und gender*diversen Menschen sind es gut neun von zehn (96%).[31] 
Die Erkenntnisse der Europäischen Union Agentur für Grundrechte zeigen, dass jeder fünfte Trans*Mensch im Gesundheitswesen Diskriminierung erfährt. Der Bericht enthüllt, dass Trans*Menschen oft mit einem Mangel an Fachwissen über Transgender-Anliegen seitens der Gesundheitsdienstleister konfrontiert werden, unangemessene Fragen gestellt bekommen, ihr Geschlecht wiederholt fehlerhaft interpretiert wird, sie nicht ernst genommen oder beschimpft werden und ihnen sogar die Behandlung verweigert wird.[32]   
Ein weiteres Beispiel in Hinblick auf die Verweigerung von gleichen Zugängen findet sich im Gesundheitsbereich, da der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Menschen mit einer HIV-Erkrankung deutlich erschwert ist. Ein konkretes Problem besteht darin, dass HIV-positive Menschen Schwierigkeiten bei der Terminvereinbarung in Arztpraxen haben.[33]     
Zwei Studien[34] zur Gesundheit von lesbischen Frauen liefern ebenfalls klare Hinweise darauf, dass es im deutschen Gesundheitssystem Barrieren gibt.         
Insgesamt hatten über 20% aller Befragten Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitssystem aufgrund ihrer lesbischen oder bisexuellen Lebensweise; ebenso viele gaben an, ihre soziosexuelle Identität aus Furcht vor Stigmatisierung und Ausgrenzung im medizinischen Bereich nicht offen gelegt zu haben: „Ich habe es nie öffentlich gemacht, um nicht schlechter behandelt zu werden.“[35]  
Oftmals wurden Frauen* fälschlicherweise als heterosexuell gelesen, sogar nachdem sie ihr Coming-out hatten, bis sie aktiv diese Annahme korrigierten. Die betroffenen Frauen* kritisierten die Verwendung nicht-einschließender Fragen, die ein „Zwang zum Selbst-Outing“ darstellten. Solche Fragen bezogen sich zum Beispiel auf Verhütung oder den letzten Geschlechtsverkehr, wobei nur heterosexueller Geschlechtsverkehr angenommen wurde.
Wenn sich Frauen nicht offenbarten, führte dies vor allem in der gynäkologischen Versorgung zu Verwirrung auf Seiten der ÄrztInnen und sogar zu fehlerhaften Differentialdiagnosen und Therapieempfehlungen.[36]
Aus den Erkenntnissen über die gesundheitliche Situation von LGBTQ*-Menschen wird ersichtlich, dass sozialer Ausschluss und Diskriminierung den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung behindern. Um das Ziel des universellen Zugangs zu erreichen, ist es unerlässlich, angemessene Ressourcen bereitzustellen, um diese Barrieren zu überwinden.

Fazit

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gesundheitsbranche und die Forschungsgemeinschaft weiterhin in die geschlechtsspezifische Medizin investieren und sie als integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung etablieren. Durch eine verstärkte Sensibilisierung, Bildung und Zusammenarbeit kann sichergestellt werden, dass geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen berücksichtigt werden und alle Patienten von den Vorteilen einer personalisierten und geschlechtsgerechten Medizin profitieren.

Letztendlich bietet die geschlechtsspezifische Medizin eine vielversprechende Perspektive für eine inklusivere, gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung. Es besteht daher ein dringender Bedarf an Maßnahmen, um diese Herausforderungen anzugehen und die Versorgung dieser spezifischen Minderheitsgruppen zu verbessern.


[1] Vgl. Schiebinger, Londa. 1993. Schöne Geister: Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 291; sowie vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018). Medizin: Gendermedizin im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Tradition. In: Kortendiek, B., Riegraf, B., Sabisch, K. (eds) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, vol 65. Springer VS, Wiesbaden.

[2] Durch die Verwendung des Symbols „*“ wird betont, dass die Kategorie Geschlecht konstruiert ist. Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck sind keine fest definierten Kategorien. Sie gehen über die binären Bezeichnungen weiblich und männlich* bzw. Frau* und Mann* hinaus und umfassen eine Vielfalt von Identitäten.

[3] Mit dem Begriff sind: ethnische Minderheiten, LGBTQ+-Personen und Menschen mit Behinderungen gemeint.

[4] Vgl. Khrystenko, O. (2016). Die Manifestierung von Geschlechterstereotypen in Metaphern der deutschen Jugendsprache. Linguistik Online75(1). S.84-85.

[5] Vgl. Nolte, K. (2020). „Medizin und Geschlecht“ – Medizinhistorische Perspektive. Schwerpunkt: Gender & Medizin. In: Dr. med. Mabuse 247 September/Oktober 2020, S. 39.

[6] Ebenda, S. 39.

[7] Vgl. Maschewsky-Schneider U. (2002). Gender Mainstreaming im Gesundheitswesen — die Herausforderung eines Zauberwortes. In: Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis 34(3). S. 493.

[8] Vgl. Bartig et al. (2021): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. S. 32.

[9] Verweis auf Chen et al. 2008; Hoffmann und Tarzian 2001; Pierik et al. 2017; Samulowitz et al. 2018

[10] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[11] Vgl. Süess, M. Medizin: Wer hat Angst vor der gesunden Frau? WOZ Die Wochenzeitung. https://www.woz.ch/2236/medizin/medizin-wer-hat-angst-vor-der-gesunden-frau/!GGDTEYEPQ0RZ

[12] Vgl. K. Oldemeier, Kerstin: Sexuelle und geschlechtliche Diversität aus salutogenetischer Perspektive: Erfahrungen von jungen LSBTQ*-Menschen in Deutschland, In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2-2017, S. 146.

[13] Vgl. Meinert, T. (2023): Geschlechtsspezifische Medizin. In: Deutscher Bundestag Nr. 09/23, S. 1.

[14] Vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018).

[15] Mit dem Begriff Gender ist das gesellschaftlich zugewiesene und sozial konstruierte Geschlecht gemeint.

[16] Vgl. Keim-Klärner, S. (2019). Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Kontext verschiedener Ungleichheitsdimensionen. In: Neue Ideen für mehr Gesundheit. Georg Thieme Verlag KG. S. 276.

[17] Verweis auf die Studie von Wetterer, 2004.

[18] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 56.; sowie Verweis auf die Studie von Pöge et al. 2020.

[19] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, aufrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/11_Zusammenfassung_Fazit.pdf?__blob=publicationFile.

[20] Ebenda, S. 377.

[21] Verweis auf Naamany et al. 2019; Samulowitz et al. 2018.

[22] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[23] Vgl. Riggers, M.: Gender Mainstreaming in Niedersachsen. In: Gesundheitswesen. 12. Tagung des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen am. 7. Dezember 2000 in Hannover, SS.4-5.

[24] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[25] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, S. 378.

[26] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chang et al. 2007.

[27] Verweis auf Jungehulsing et al. 2006.

[28] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chakkalakal et al. 2013.

[29] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[30] Verweis auf Oldemeier (2017).

[31] Ebenda, S.56.

[32] Vgl. Karsay, D. (2017, October 10). Gesundheitliche Diskriminierung von Menschen außerhalb des binären Geschlechtersystems | Heinrich-Böll-Stiftung. Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/de/2017/10/10/gesundheitliche-diskriminierung-von-menschen-ausserhalb-des-binaeren-geschlechtersystems.

[33] Vgl. Kalkum, Dorina; Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland anhand der sexuellen Identität: Ergebnisse einer quantitativen Betroffenenbefragung und qualitativer Interviews. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes. S. 88.

[34] Verweis auf Dennert 2005; Wolf 2004.

[35] Vgl. Dennert, G.; Wolf, G. Gesundheit lesbischer und bisexueller Frauen. Zugangsbarrieren im Versorgungssystem als gesundheitspolitische Herausforderung. In: Femina Politica 1 | 2009, S.50.; Zitate aus dem offenen Frageteil der Fragebogenerhebung. Sie werden hier z.T. gekürzt und in neuer Rechtschreibung wiedergegeben; Dennert 2005, 75-82.

[36] Ebenda.


Quelle: Atanasova Polinda, Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=399

Geschlechtssensible Medizin

Hintergrund und Notwendigkeit am Beispiel der Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

Lara Alexandra Bellu (SoSe 2022)

1. Begriffsklärungen und Hintergründe

Unter sex wird das biologische Geschlecht einer Person verstanden (Muehlenhard & Peterson, 2011). Damit zusammenhängend sind Geschlechtschromosomen, Keimanlagen, primäre und sekundäre Geschlechtsorgane (Muehlenhard & Peterson, 2011). Menschen, die sich der Binarität von weiblich/männlich zuordnen, werden als endogeschlechtlich bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Kann keine binäre Geschlechterzuordnung erfolgen, spricht man von Intergeschlechtlichkeit (Debus & Laumann, 2020). Dabei handelt es sich eigentlich um eine natürliche Variation (Hechler & Baar, 2020). Allerdings erleben intergeschlechtliche Menschen dennoch Diskriminierung, weil gesellschaftlich – entgegen des natürlichen biologischen Vorkommens – eine binäre Unterteilung in biologische Männer und Frauen konstruiert wurde (Hechler & Baar, 2020).

Als gender wird das soziale Geschlecht und die Geschlechtsidentität bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Das Konzept gender beinhaltet typische Merkmale, Verhaltensweisen und Erwartungen, die der binären Geschlechterkonstruktion von Frauen und Männern zugeschrieben werden (Pryzgoda & Chrisler, 2000). Das Konzept gender geht also davon aus, dass diese Unterschiede sozial konstruiert sind (Pryzgoda & Chrisler, 2000). Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht (meist interpretiert aufgrund der Geschlechtsorgane) übereinstimmt, bezeichnen sich als trans*, transgeschlechtlich, transgender oder transident (Debus & Laumann, 2020). Menschen, bei denen die Geschlechtsidentität mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, werden als cis-geschlechtlich bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Menschen, die sich nicht den binären Geschlechterrollen von Männern oder Frauen zuordnen, verstehen sich als non-binary, nicht-binär, genderqueer, agender oder auch trans* (Debus & Laumann, 2020).

Der Begriff Heteronormativität meint eine Kultur und Struktur, die Endogeschlechtlichkeit, eine binäre Geschlechtsidentität, cis-Geschlechtlichkeit und heterosexuelle Beziehungen als Norm begreift (Debus & Laumann, 2020). Menschen, die also nicht in dieses Schema passen, erleben in einer heteronormativen Gesellschaft Nachteile und Diskriminierung (Debus & Laumann, 2020).

Die geschlechtssensible Medizin (GSM) beschäftigt sich mit dem Einfluss von sex und gender auf das Gesundheitsbewusstsein, Krankheitssymptomatik und Therapie (Regitz-Zagrosek, 2018). Ziel ist es, die bestmögliche Diagnose und Therapie unter Berücksichtigung des Geschlechts zu finden (Latz & Welzel, 2021). Wichtig ist anzumerken, dass im Rahmen der GSM häufig der Begriff gender genutzt wird, obwohl eigentlich sex gemeint ist (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Zusätzlich beschäftigt sich die GSM aktuell lediglich mit den Unterschieden zwischen Frauen und Männern, Abweichungen der Heteronormativität werden also nicht berücksichtigt (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019).

Die GSM hat ihren Ursprung in der internationalen Frauenrechtsbewegung in den 1960er und 70er Jahren, die sich auf die körperliche und sexuelle Freiheit von Frauen konzentriert hat (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Anfang der 1980er Jahre wurde erstmals genauer beobachtet, dass Herzinfarkte sich bei Frauen und Männern mit unterschiedlichen Symptomen äußern – jedoch wurden standardmäßig nur die „männlichen“ Symptome gelehrt (Latz & Welzel, 2021). 2001 veröffentlichte das US-amerikanische Institute of Medicine einen Report, der erstmals Geschlechterunterschiede in der Medizin beleuchtete (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Erst dadurch kam die GSM tatsächlich ins Rollen (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Allerdings ist sogar heute – 20 Jahre später – die Lehre der GSM keine Verpflichtung an den Universitäten (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Zusätzlich fehlt die Implementierung in Forschung und Praxis, weil die Arbeit und Anerkennung in den entsprechenden Gremien (Fachgesellschaften, Ärztekammern, Forschungsgremien etc.) nur schleppend läuft (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019).

2. Zusammenhang zwischen gender, sex und Gesundheit

Die Relevanz der GSM wird deutlich, wenn biologische, psychosoziale und epigenetische Einflussfaktoren auf Gesundheit betrachtet werden.

Auf biologischer Ebene betrachtet tragen X-Chromosomen mehr als 1500 Gene mit regenerativen Funktionen, Y-Chromosomen hingegen nur ca. 100 Gene (Regitz-Zagrosek, 2018). Bei Menschen mit XX-Chromosomensatz ist das zweite X-Chromosom nur zum Teil inaktiv. Deshalb haben diese Menschen etwa Vorteile bei x-chromosomal vererbten Erkrankungen (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich beeinflusst der Geschlechtschromosomensatz die Ausschüttung von Geschlechtshormonen (Testosteron, Östrogen und Gestagen; Regitz-Zagrosek (2018)). Geschlechtshormone haben wiederum einen Einfluss auf das Immunsystem, die Körperzusammensetzung, das Herz-Kreislauf-System und andere Stoffwechselprozesse (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich ist inzwischen bekannt, dass sich die Organe von Männern und Frauen in ihrer Feinbauweise und Zellaktivität unterscheiden (Regitz-Zagrosek, 2018). Daraus wird klar, dass sich sowohl Krankheitssymptome als auch die Wirkung von Medikamenten geschlechtsspezifisch unterscheiden müssen. Therapien und Krankheitsverläufe des prototypischen 75kg schweren cis-Manns können also nicht für Menschen, die auf biologischer Ebene von dieser Norm abweichen, einfach übernommen werden (Weyrerer, 2021).  

Auch die sozial konstruierten Geschlechterrollen (gender) haben Einfluss auf Krankheit, Gesundheitsverhalten und Vorsorge. So ist zum Beispiel die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen (Brandt, 2019). Gleichzeitig nehmen Männer weniger Psychotherapie in Anspruch (Sonnenmoser, 2011). Insgesamt zeigen Männer häufiger schädliches Gesundheitsverhalten wie Rauchen, ungesunde Ernährung und weniger Bewegung (Regitz-Zagrosek, 2018). Bei ihnen ist die Lebenserwartung auch geringer als bei Frauen (Luy, 2011). Gleichzeitig sind Frauen dadurch bei Krankenhauseinweisungen im Durchschnitt älter als Männer und erhalten weniger häufig Rehabilitationsmaßnahmen (Regitz-Zagrosek, 2018). Deshalb haben sie eine höhere Gefahr chronisch in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt zu werden und eine Pflegebelastung für ihr Umfeld zu werden (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich unterscheidet sich die Stressbelastung bei Männern und Frauen. So handelt es sich bei Männern vor allem um chronischen arbeitsbedingten Stress, der zum Feierabend abfällt (Kautzky-Willer, 2014). Bei Frauen hingegen steigt dieser aufgrund der häufigen Doppelbelastung von Beruf und familiären Verpflichtungen (z.B.: Pflege von Angehörigen) nach Feierabend noch weiter an (Kautzky-Willer, 2014). Chronischer Stress ist wiederum mit einer Reihe von Erkrankungen wie depressiven Störungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ 2 assoziiert (Kautzky-Willer, 2014). Dieses Phänomen nennt sich Lebenserwartungs-Lebensqualitäts-Geschlechter-Paradoxon: Frauen leben zwar länger als Männer, haben aber weniger gesunde Jahre und empfinden ihre Lebensqualität als subjektiv geringer (Kautzky-Willer, 2014). Wird dabei um die psychosozialen Faktoren korrigiert, ist dieser Unterschied deutlich geringer (Kautzky-Willer, 2014).  Fernab dieser binären Betrachtung ist zu betonen, dass etwa inter* oder trans* Menschen aufgrund ihres depriviligierten Status und der damit einhergehenden Diskriminierung zusätzliche gesundheitliche Risiken haben, zum Beispiel ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen (Pöge et al., 2020).

Zuletzt ist die Ebene der Epigenetik zu betrachten. Epigenetik bezieht sich auf die Beeinflussung oder Beschädigung bei der Verpackung von Genen durch Umwelteinflüsse, wie beispielsweise Ernährung, Rauchen, Stress und Umwelttoxine (Regitz-Zagrosek, 2018). Auch hierbei spielen sex und gender eine unterschiedliche Rolle (Kautzky-Willer, 2014). So zeigen beispielsweise bereits die Plazenten von Embryonen aufgrund unterschiedlicher Geschlechtshormone unterschiedliche Bewältigungsstrategien und Wachstumsmechanismen auf Unter- oder Überernährung (Kautzky-Willer, 2014). Weiterführend werden diese Strategien mit Immunität, Transplant-Wirt-Reaktionen und Entzündungen assoziiert (Kautzky-Willer, 2014). Gender bzw. die Geschlechterrolle hingehen bedingt zum Beispiel die Exposition mit Umwelttoxinen und Stress. So könnte die höhere Inzidenz von depressiven Störungen bei Frauen auf den erhöhten mütterlichen Überschuss von Glukokortikoiden (z.B.: das Stresshormon Cortisol) zurückzuführen sein (Kautzky-Willer, 2014). Dieser beeinflusst nämlich insbesondere bei den weiblichen Nachkommen die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse und die dazugehörige Neurotransmitterausschüttung, welche sowohl mit Stimmung als auch mit Stressregulation assoziiert ist (Kautzky-Willer, 2014).

3. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

3.1 Symptomatik

Die Kernsymptome der ADHS sind (1) Aufmerksamkeitsstörungen (insbesondere vorzeitiges Abbrechen von fremdbestimmten Aufgaben, hohe Ablenkbarkeit, Nichtbeenden von Tätigkeiten), (2) Impulsivität auf emotionaler, kognitiver und motivationaler Ebene (z.B.: übereilte Entscheidungen, geringe Frustrationstoleranz, Unterbrechen von anderen) und (3) Hyperaktivität (mangelhaft regulierte, überschießende motorische Aktivität und Ruhelosigkeit; Petermann and Ruhl (2011)). Allerdings unterscheiden sich das ICD-10 und DSM-IV in ihrer Kombination von Symptomen zu verschiedenen Subtypen. So wird nach ICD-10 eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F 90.0) diagnostiziert, wenn die Symptome der Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität vorliegen (Petermann & Ruhl, 2011). Eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F 90.1) wird diagnostiziert, wenn zusätzlich noch Störungen des Sozialverhaltens vorliegen (Petermann & Ruhl, 2011). Das DSM-IV hingegen differenziert zwischen drei verschiedenen Typen (Petermann & Ruhl, 2011). Bei der (a) Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung vom Mischtyp liegen sowohl die Aufmerksamkeitsstörung als auch Impulsivität und Hyperaktivität vor. Bei dem (b) vorwiegend unaufmerksamen Typ liegt die Aufmerksamkeitsstörung im Vergleich zur Hyperaktivität und Impulsivität deutlich im Vordergrund. Die Symptomatik des (c) vorwiegend hyperaktiven Typs ist hingegen vorwiegend durch Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, Aufmerksamkeitsstörungen sind eher im Hintergrund (Petermann & Ruhl, 2011).

Abbildung 1: Klassifikation der ADHS in ICD-10 und DSM-IV (Petermann & Ruhl, 2011, S. 679)

Zusätzlich müssen nach ICD-10 und DSM-IV folgende Kriterien erfüllt sein: „Die Symptome müssen mindestens 6 Monate lang vorliegen, in einem mit dem Entwicklungsstand nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß, vor dem Alter von 7 Jahren auftreten und zu Beeinträchtigungen in zwei oder mehr Lebensbereichen führen. Es bestehen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen. Andere psychische Störungen, geistige Behinderung oder psychosoziale Problemen, die die Verhaltenssymptome besser erklären können, sind ausgeschlossen“ (Petermann & Ruhl, 2011, S. 678).

3.2  Diagnostik

Die Diagnostik der ADHS läuft multimodal ab, was insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Symptomausprägungen notwendig ist (Petermann & Ruhl, 2011). Die Diagnostik lässt sich in drei Stufen einteilen: Erstes Screening, orientierende und weiterführende Diagnostik (Petermann & Ruhl, 2011). Wichtig ist zu betonen, dass im Zuge des ersten Screenings nicht nur Testverfahren mit den potenziell Betroffenen selbst, sondern üblicherweise auch Beurteilungen von Eltern und Lehrkräften miteingeschlossen werden. Oftmals sind sogar Hinweise der Lehrkräfte der erste Schritt, um überhaupt das Screening einzuleiten (Petermann & Ruhl, 2011). Zeigen sich im Rahmen des ersten Screenings Hinweise auf eine ADHS, so wird weiterfolgend eine orientierende und weiterführende Diagnostik durchgeführt (Petermann & Ruhl, 2011). Dabei werden üblicherweise diagnostische Interviews und Tests (z.B.: Intelligenz- und Aufmerksamkeitstests) mit den Betroffenen selbst und den Eltern durchgeführt. Außerdem kommen auch hier Verhaltensbeobachtungen im Klassenraum, in der diagnostischen Situation und zu Hause zum Einsatz (Petermann & Ruhl, 2011).

4. Zusammenhang zwischen ADHS-Diagnostik, sex und gender

 Die Prävalenz der ADHS beläuft sich auf zwischen 2 und 7%, je nach verwendeten Diagnosekriterien und Altersgruppe (Bruchmüller et al., 2012; Nøvik et al., 2006). Auffällig dabei ist, dass das Geschlechterverhältnis teils stark unausgeglichen ist. So liegt es bei nicht klinischen Populationen bei 3:1 (Jungen vs. Mädchen), bei klinischen Populationen sogar bei zwischen 6 und 16:1 (Bruchmüller et al., 2012; Nøvik et al., 2006; Young et al., 2020). Daraus lässt sich also schließen, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen überhaupt in den diagnostischen und therapeutischen Prozess der ADHS eingebunden werden (Bruchmüller et al., 2012). Hier stellt sich nun die Frage: Kommt die ADHS tatsächlich häufiger bei Jungen vor oder wird es bei Mädchen schlichtweg weniger erkannt? Und falls ja, woran liegt das?

 Möglicherweise kann der Geschlechterunterschied in der ADHS-Prävalenz neurophysiologisch und endokrinologisch erklärt werden (Davies, 2014; Gawrilow, 2020). So wurden teilweise in Untersuchungen geringere Aktivierungen bei Jungen vs. Mädchen mit ADHS in frontalen, parietalen und cerebralen Hirnregionen gefunden (Davies, 2014). Diese werden unter anderem mit Exekutivfunktionen (z.B.: Inhibitionskontrolle) assoziiert, welche wiederum bei einer ADHS eingeschränkt sind (Gawrilow et al., 2011). Darüber hinaus spielt auch möglicherweise eine geringere Dopamin-Rezeptoren-Dichte bei Jungen eine Rolle (Gawrilow, 2020). Weiterführend wird auch diskutiert, ob das höhere Testosteronlevel durch einen XY-Chromosomensatz zu neurobiologischen Entwicklungen führt, welche die Entstehung einer ADHS begünstigen (Davies, 2014). Allerdings konnte bisher zu keinem Ansatz ein ausreichender wissenschaftlicher Konsens erreicht werden (Davies, 2014; Gawrilow, 2020).

Mehr erforscht und viel wahrscheinlicher ist dagegen, dass Mädchen andere Symptome und Komorbiditäten zeigen und weniger häufig bzw. falsch diagnostiziert werden (Fraticelli et al., 2022). Beispielsweise fassen Young et al. (2020) und Fraticelli et al. (2022) zusammen, dass Mädchen mit ADHS zwar auch hyperaktiv-impulsive Symptome aufweisen, jedoch stehen die Symptome der Unaufmerksamkeit und Desorganisation im Vordergrund. Bei Mädchen scheint also der unaufmerksame Typ häufiger vorzukommen, welcher oftmals als depressive oder Angststörung interpretiert wird (Fraticelli et al., 2022). Zusätzlich ist eine komorbide Angst- oder depressive Störung tatsächlich häufig bei Mädchen (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020). Das resultiert in eine noch stärker internalisierte Symptomatik, wodurch die ADHS leicht übersehen wird (Fraticelli et al., 2022). Mädchen zeigen also weniger offensichtliche oder sozial störende Verhaltensweisen. Dafür haben sie deutlichere Aufmerksamkeitsdefizite, sowie Probleme bei der Selbst- und Emotionsregulation (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020).

Außerdem scheint es eine Verzerrung bei den Diagnostizierenden selbst zu geben, die Mädchen grundsätzlich weniger häufig als Jungen diagnostizieren (Quinn & Madhoo, 2014). Hinweise darauf liefern eine Vielzahl an Studien (z.B.: Bruchmüller et al., 2012; Groenewald et al., 2009; Ohan & Visser, 2009; Sciutto et al., 2004). In einer Untersuchung von Bruchmüller et al. (2012) wurden insgesamt 1000 Psychiater*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen dazu aufgefordert, eine diagnostische Einschätzung für hypothetische Fallbeispiele abzugeben. Dabei erhielt der identische Fall häufiger eine ADHS-Diagnose, wenn dieser mit einem typischen Jungen-, statt Mädchennamen benannt wurde. Ähnliche Ergebnisse fanden auch Sciutto et al. (2004) mit einer Stichprobe von 199 Grundschullehrkräften, die ebenfalls hypothetische Fälle von Kindern mit ADHS vorgelegt bekamen. Dabei wurde bei den Fällen mit Jungennamen häufiger zu einem ersten ADHS-Screening geraten als bei den mit Mädchennamen. Insgesamt wurden die Fälle mit Symptomen des hyperaktiv-impulsiven Typs häufiger als auffällig eingestuft. Jedoch zeigte sich auch hier ein geschlechtsspezifischer Effekt: Bei den Fällen des hyperaktiv-impulsiven Typs mit Jungennamen wurde 1.5-mal häufiger zu einem ersten Screening geraten als bei den Mädchen.

Insgesamt betrachtet sind Mädchen also gar nicht per se weniger häufig von der ADHS betroffen. Es scheint eher so, dass Mädchen insgesamt unauffälliger sind, weil sie sich besser anpassen und ihre Symptome weniger externalisiert sind (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020). Zusätzlich scheint ein Bias bei Diagnostizierenden, sowie Lehrkräften und Eltern zu bestehen (Quinn & Madhoo, 2014). Das „typische AHDS-Kind“ ist demnach ein unruhiger, zappeliger Junge und weniger ein verträumtes, unaufmerksames Mädchen. In Anbetracht der Sozialisation und Geschlechterrollen von Jungen vs. Mädchen ist das allerdings nicht überraschend. So wird von Mädchen gesellschaftlich eher erwartet, sich freundlich, zuvorkommend und zurückhaltend zu verhalten (Godsil et al., 2016). Die daraus resultierende Anpassung, internalisierten Symptome und verhältnismäßige Unauffälligkeit von Mädchen mit ADHS erscheinen entsprechend wie logische Konsequenzen.

Problematisch dabei ist, dass Mädchen, die unter das diagnostische Radar fallen, keine oder nur unpassende Therapien erhalten (Young et al., 2020). Gleichzeitig ist die Ausprägung von ADHS Symptomen negativ mit der Lebensqualität in Adoleszenz und Erwachsenenalter assoziiert (Tischler et al., 2010). Zusätzlich haben Menschen mit ADHS ohnehin ein höheres Risiko, andere psychische oder somatische Erkrankungen zu entwickeln (Fraticelli et al., 2022; Tischler et al., 2010). Außerdem leiden sie häufiger unter einem negativen Selbstkonzept und Selbstwert (Young et al., 2020). Deshalb stellt eine ADHS-Diagnose für insbesondere erwachsene Betroffene eine Erleichterung dar, weil somit die lebenslangen Schwierigkeiten, Einschränkungen und Defizite erklärt werden können (von der Brelie, 2021). Nicht diagnostizierte Mädchen mit ADHS haben also ein höheres Risiko für vermeidbare gesundheitliche Einschränkungen und spätere Schwierigkeiten in essenziellen Lebensbereichen (z.B.: Ausbildung und Arbeit; Young et al. (2020)), welche durch eine adäquate Therapie zumindest gelindert werden könnten (Petermann & Ruhl, 2011). Insgesamt betrachtet braucht es also dringend mehr gendersensible Forschung im Bereich der ADHS, sowie die Implementierung der Erkenntnisse in die diagnostische Praxis.  Abschließend ist zu betonen, dass sich die Gendersensibilität in diesem Bereich ausschließlich auf die Binarität von Frauen vs. Männern (sowohl bei sex als auch gender) bezieht. Wünschenswert wäre also auch hier, dass die psychologische Forschung beginnt, außerhalb der Heteronormativität zu denken.

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Quelle: Lara Alexandra Bellu, Geschlechtssensible Medizin: Hintergrund und Notwendigkeit am Beispiel der Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 07.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=303