Global-mediale Verantwortung und Aufarbeitung rassistischer Darstellungen in Disney-Klassikern

Tilde Funk (SoSe 2023)

1. Einleitung

Als Kind bin ich mit einigen Disneyklassikern aufgewachsen, besonders gerne haben meine Geschwister und ich Das Dschungelbuch (Wolfgang Reitherman, USA 1967) und Aristocats (Wolfgang Reitherman, USA 1970) gesehen – so häufig, bis wir alle Lieder auswendig mitsingen konnten. Mittlerweile studiere ich im 7. Semester Filmwissenschaft an der FU und habe mich im Rahmen meines Studiums mit weiteren Disneyklassikern auseinandergesetzt, die ich in meiner Kindheit nicht gesehen habe.

Das im letzten Sommersemester angebotene ABV-Modul zu „Gender und Diversity: Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse“ hat mich einerseits stärker bezüglich kolonialer Geschichte und Kontinuität sensibilisiert, als auch Selbstreflektion angeregt. Von meinem jetzigen Standpunkt aus ergibt sich eine reflektiertere Sichtweise auf die filmischen Darstellungen in Disneyklassikern, die es im Folgenden zu analysieren gilt. Nachdem ich die global-mediale Verantwortung des Konzerns Disney umrahme, wird es um eine Auseinandersetzung mit stereotypen Darstellungsformen rassistischer Art anhand von ausgewählten Beispielen gehen, welche auf den filmischen Umgang mit Kolonialismus überleiten. Vor einem abschließenden Ausblick ist es für ein umfassendes Fazit wichtig, sich mit Strategien zur Aufarbeitung rund um das Thema auseinanderzusetzen und zu klären, inwiefern Disney seine eigenen Filme selbstreflektiv in einen problembewussten Kontext stellt.

Vor Beginn meiner Analyse möchte ich eine Triggerwarnung aussprechen, da ich mehrere rassistische und sexistische Inhalte, die in den Filmen Disney’s verankert sind, benennen werde.

2. Global-mediale Verantwortung des Konzerns Disney

»When you take on a Disney animated feature, you know you’re going to be affecting entire generations of human minds.«[1]

Dieses Zitat der Drehbuchautorin Linda Woolverton, welche für The Walt Disney Company arbeitete, verdeutliche die gesellschaftliche Verantwortung und einflussreiche Position des Unternehmens auf globaler Ebene[2], dessen Einnahmen 2022 über 80 Milliarden US-Dollar betrug[3]. Hervorzuheben ist der seit 2019 angebotene Streaming-Dienst Disney+, der über 100 Millionen User:innen verzeichnen kann und in den nächsten Jahren wohl zum größten globalen Streaming-Anbieter heranwachsen mag[4]. Durch eine solche Position auf dem Weltmarkt ergibt sich meiner Auffassung nach eine gewisse mediale Verantwortung, beispielsweise bezogen darauf, welche Inhalte welchem Zielpublikum gezeigt werden. Mir ist es wichtig zu betonen, dass ein Unternehmen dieser Art sich stets selbst reflektieren und darüber hinaus eigenes Fehlverhalten aufarbeiten sollte. Als einige Faktoren für die global-mediale Verantwortung Disneys fasse ich inhaltliche Sorgfalt in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen, Selbstreflektion und Aufarbeitung zusammen. 

3. Stereotype Darstellungsformen rassistischer Art

Im Seminar haben wir zum antiasiatischen Rassismus in Deutschland einen Artikel von Kimiko Suda, Sabrina J. Mayer und Christoph Nguyen besprochen und diskutiert, der in der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurde. Insbesondere wurde betont, dass jene Form von Rassismus kaum historisch aufgearbeitet ist[5]. Bei der Sichtung einiger Disney-Klassiker sind mir mehrfach antiasiatisch-rassistische Darstellungen aufgefallen, die in ihrer filmischen Umsetzung von stereotypen Diskriminierungsmustern geprägt sind. Bei Susi & Strolch (Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, Hamilton Luske, USA 1955) zeichnen sich zwei Siamkatzen durch ihr hinterhältiges und manipulatives Verhalten aus. Diese negative Konnotation wird auf sprachlicher Ebene durch ein von ihnen gesungenes Lied verstärkt und mit ihrer kulturellen Identität in Verbindung gebracht, um ein rassistisches Bild zu kreieren: „Wir sind Siamesen und zwar echte, wir behandeln andere wie Knechte.“. Diese Formulierung lässt sich nur in der deutschen Synchronfassung, nicht in der US-amerikanischen Originalversion finden, jedoch zieht sich in letzterer eine lispelnde Betonung in Kombination mit Grammatikfehlern als rassistisches Stereotyp durch die Performance. Zu diesem Stereotyp lässt sich das identische Aussehen der Katzen, sowie die geschlitzte Form der Augen, große Schneidezähne und gelbes Fell hinzufügen[6]. Auf mich wirken die Katzen in ihren synchronen Bewegungen und Blicken unheimlich, sowohl beim ersten Sehen des Filmes in meiner Kindheit, als auch bei einer erneuten, aktuellen Sichtung. Auch in Aristocats  lässt sich eine ähnliche antiasiatisch-rassistische Darstellung finden. Die audiovisuelle Portraitierung der Figur wirkt wie eine Karikatur; sie gibt, mit stark geschlitzten Augen, Hasenzähnen und einer heraushängenden Zunge versehen, unverständliche und zusammenhangslose Laute von sich, während die anderen Figuren um sie herum im Kollektiv ein Lied singen. Dazu spielt sie mit Essstäbchen auf einer Klaviatur. Die dem Aussehen einer Siamkatze entsprechende Figur wird als Chinese Cat vorgestellt; nebenbei ist zu erwähnen, dass die Siamkatze ihren Ursprung ursprünglich im heutigen Thailand hat. In Aristocats handelt es sich bei der einzigen als asiatisch portraitierten Figur um eine rassistische, vermutlich zu humoristischen Zwecken, ins Lächerliche gezogene Darstellung.

Neben diesen genannten antiasiatisch-rassistischen filmischen Darstellungen lassen sich in den Disneyklassikern zahlreiche andere Formen rassistischer Kennzeichnungen finden. Auch Jahrzehnte später, in den 1990er-Jahren, vermittelt beispielsweise Aladdin (John Musker, Ron Clements, USA 1992) insbesondere durch zahlreiche brutale Figuren eine unsensible und unauthentische Darstellung der arabischen Kultur, die rassistische Vorurteile festige[7]. Wie ich zu Beginn erläuterte, war Das Dschungelbuch früher einer meiner Lieblingsfilme. Dass er von rassistischen Strukturen durchzogen ist, habe ich erst nach der aktuellen Sichtung für dieses Essay erkannt, nachdem ich ergänzend recherchiert habe. Im politischen Kontext des Entstehungszeitraumes Ende der 1960er-Jahre in den USA kann die Darstellung der Affenfiguren im Film als eine ins Lächerliche gezogene Karikatur der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufgefasst werden[8]. Speziell das Oberhaupt der Affenbande, King Louie, welcher das Lied „Ich wäre so gern wie du“ singst, wird hervorgehoben. Inhaltlich sind die Versionen der Liedtexte im Englischen und Deutschen fast identisch. King Louie wird gegenüber Mogli, dem menschlichen Protagonisten, herabgestuft und scheint sich gleichzeitig zu wünschen, jenem ebenbürtig zu sein. Im Englischen hat seine Synchronstimme einen afroamerikanischen Akzent – an dieser Stelle der Hinweis, dass der Synchronsprecher Louis Prima nicht afroamerikanischer Herkunft war. Disney lässt auf diese Art und Weise der audiovisuellen Darbietung, die durch Gesten primitiv erscheinenden Affen mit afroamerikanischen Menschen assoziieren. King Louie betont im sich schnell in einen Ohrwurm entwickelnden Lied mehrfach den Wunsch, zivilisierter zu sein und bestärkt somit das rassistische Stereotyp einmal mehr, unzivilisiertes Verhalten und fehlende Kompetenz mit schwarzen Menschen zu verknüpfen. In Dumbo (Ben Sharpsteen, USA 1941) hingegen singen schwarze Arbeiter „Wenn andere ins Bett gehen, schuften wir uns ab, bis wir sterben“, jedoch nicht etwa sich über die Umstände beschwerend, sondern in einem fröhlichen Tonfall mit heiterer Melodie, was als eindeutige Verharmlosung von Sklavenarbeit verstanden werden kann und auf koloniale Strukturen verweist. Interessant ist an dieser Stelle, dass die deutsche Synchronisation inhaltlich dramatischer erscheint; im Englischen heißt es hingegen: „When we get our pay, we throw our money all away.“ – hier wird den arbeitenden schwarzen Menschen ein kompetenter Umgang mit Geld abgesprochen. 

4. Umgang mit Kolonialismus

Ebenfalls zeigt sich ein filmisches Aufgreifen von Kolonialismus zum Beispiel in Pocahontas (Mike Gabriel, Eric Goldberg, USA 1995) und Peter Pan (Hamilton Luske, Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, USA 1953). Während in Pocahontas die Synchronstimmen von Native Americans im Original gesprochen wurden, wurde hingegen der Inhalt der Erzählung in historischer Sicht faktisch falsch wiedergegeben und idealisiert, was für Kritik sorgte und zum Vorwurf der Geschichtsverfälschung führte[9]. Die Konfliktparteien, kolonialistisches Gedankengut durchzusetzen versuchende Engländer und amerikanische Ureinwohner, werden deutlich gegenübergestellt und bekämpfen sich innerhalb der Handlung gegenseitig, sodass das Konzept des Kolonialismus negativ konnotiert wird. Meiner Auffassung nach tritt jedoch die idealisierte Liebeserzählung von Pocahontas und John Smith zu sehr in den Vordergrund, sodass die koloniale Geschichte Amerikas heruntergebrochen wird. Ein stereotypes rassistisches Klischee der Ureinwohner wird visuell aufgegriffen, indem ihre Haut rötlich animiert ist. Auffällig und ebenfalls problematisch ist, dass die Protagonistin Pocahontas in etwas hellerer Haut dargestellt wird und wie viele weibliche Disney-Figuren sexualisiert wird. In Peter Pan werden in der Handlung ebenfalls Indigene durch eine rote Hautfarbe und die Bezeichnung als „Rothäute“ rassifiziert. Ein weiteres Beispiel für die koloniale Darstellung einer Figur lässt sich in Tarzan (Kevin Lima, Chris Buck, USA 1999) finden. Der Kolonialismus findet sich in der Inszenierung der menschlichen Figur Tarzans insofern wieder, als dass jener am Ende der Erzählung Anführer der Affengruppe wird, die ihn großgezogen hat. Er hat von ihnen profitiert und sie dennoch in Gefahr gebracht, da er den Forscher Mr. Porter, seine Tochter, spätere Geliebte Tarzans, Jane und den Jäger Clayton zu den Affen geführt hat, wobei bei letzterem das kolonialistische Gedankengut am deutlichsten wird und in einem Kampf mit den Affen mündet. Offensichtlich durch die Tatsache, dass es sich um britische Figuren handelt, und wenn wir die Affen ähnlich wie schon im Dschungelbuch als „colonized natives“[10] verstehen, ergibt sich der koloniale Kontext. Dadurch, dass Jane, ihr Vater und Tarzan bei den Affen bleiben und insbesondere letzterer zum Anführer der Gruppe wird, ergibt sich eine koloniale Kontinuität im vermeintlichen Happy End, da der inszenierte Bösewicht Clayton gestorben ist. Jene Kontinuität ergibt sich im Ausblick auch dadurch, dass mögliche Kinder von Tarzan und Jane die Führungsposition innerhalb der Affengruppe mit größter Wahrscheinlichkeit einnehmen würden. Dadurch, dass die Erzählung lokal-geographisch und temporal nicht genau umrahmt wird[11], sich jedoch eindeutig aus einer westlichen Perspektive heraus entwickelt – und im bekannten Stil Disneys zum wiederholten Male mit Tierfiguren statt menschlichen, verschiedenen Kulturen zugehörigen, Figuren gearbeitet wird, mag der Vorwurf dieser kolonialen Darstellung entkräftigt werden, obgleich er so offensichtlich scheint.

5. Aufarbeitung

Nach einer analytischen Umrahmung der verschiedenen rassistischen Darstellungsformen von Figuren, die Stereotype bekräftigen und dahingehend zur Verfestigung von rassistischen Vorurteilen führen können, stellt sich die Frage, inwiefern jene zutiefst falsche und diskriminierende Formen vom Konzern Disney aufarbeitet werden. Wenn Menschen mit rassistischem filmischem Material aufgewachsen sind, sollten sie darüber informiert werden, denn als Kinder werden wir von den uns emotional affizierenden Filmen auf eine gewisse Art und Weise geprägt und können Informationen über beispielsweise Weltanschauungen diesen Formaten entnehmen, was insbesondere dann gefährlich ist, wenn unbewusst rassistische Bilder verinnerlicht werden und somit theoretisch weiter projiziert werden können.

Seit 2019 wird auf der Streaming-Plattform Disney+ vor bestimmten Filmen, wie unter anderem Aristocats, Das Dschungelbuch, Dumbo und Peter Pan, ein warnender Hinweis vor Beginn des Vorspanns eingeblendet, der auf rassistische Darstellungen verweist und jene als falsch einstuft. Im Englischen lautet dieser:

„This programme includes negative depictions and/or mistreatment of people or cultures. These stereotypes were wrong then and are wrong now. Rather than remove this content, we want to acknowledge its harmful impact, learn from it and spark conversation to create a more inclusive future together. Disney is committed to creating stories with inspirational and aspirational themes that reflect the rich diversity of the human experience around the globe. To learn more about how stories have impacted society visit: www.Disney.com/StoriesMatter”.

Seit Januar 2021 haben Kinderprofile, für alle User:innen unter 12 Jahren, keinen Zugriff mehr auf all die Filme, die mit einer solchen Warnung ausgestattet sind. Es lässt sich diskutieren, ob die Filme komplett aus dem Sortiment genommen werden oder nur mit warnenden Hinweisen versehen werden sollten. Meiner Auffassung nach war die Entscheidung, jene Filme für Kinderprofile zu sperren, vernünftig und notwendig. Kinder werden so davor geschützt, rassistische Darstellungen und diskriminierende Werte unbewusst aufzunehmen und anschließend selbst zu reproduzieren. Zusätzlich werden sie davor geschützt, selbst Diskriminierungserfahrungen beim Sichten der Filme zu durchleben. Die Filme mit Warnungen zu versehen und für Jugendliche und Erwachsene weiterhin zur Verfügung zu stellen empfinde ich als richtig und äußerst wichtig, um die historische Aufarbeitung weiter in Gang zu setzen, Fehler klar zu benennen und den Zuschauer:innen eine Selbstreflektion im Sehprozess zu ermöglichen. Außerdem ist es wichtig, eine Art der Triggerwarnung zu geben, damit von Diskriminierungsmustern betroffene Personen selbst entscheiden können, ob sie das Material sichten wollen oder sich bewusst vor einer Konfrontation schützen wollen.

Meinem Eindruck nach bemüht sich Disney, rassistische Darstellungen als falsch zu benennen und genau zu erklären, beispielsweise wird auf der verlinkten Internetseite genaueres zu Peter Pan verfasst:

­„The film portrays Native people in a stereotypical manner that reflects neither the diversity of Native peoples nor their authentic cultural traditions. It shows them speaking in an unintelligible language and repeatedly refers to them as „redskins,“ an offensive term. Peter and the Lost Boys engage in dancing, wearing headdresses and other exaggerated tropes, a form of mockery and appropriation of Native peoples‘ culture and imagery”.

Das Unternehmen Disney sensibilisiert für sein eigenes Fehlverhalten, indem es selbstreflektierend seine Diskriminierungsmechanismen aufarbeitet und inhaltlich transparent in den neuen Produktionen darauf achtet, diversen Repräsentationen von Minderheiten Raum zu geben, die strukturell nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft entsprechen und ein Identifikationspotenzial mit sich tragen. Zwei recht aktuelle Animationsfilmbeispiele, die ich positiv hervorheben möchte sind Vaiana (Ron Clements, John Musker, USA 2016), welcher 2017 für den Oscar als bester Animationsfilm nominiert wurde, und Raya und der letzte Drache (Don Hall, Carlos López Estrada, USA 2021). In beiden Filmen steht eine weibliche, Protagonistin of Colour im Vordergrund, die selbstbewusst Abendteuer erlebt, ohne auf männliche Nebenfiguren angewiesen zu sein. Das großer Wert auf Diversität gelegt wird, zeigt sich nicht nur in den animierten Figuren, sondern auch in der Besetzung der Sprechrollen. So spricht beispielsweise die gebürtige Hawaiianerin Auliʻi Cravalho die Figur der Vaiana. Der nach ihrer Figur benannte Film wurde auch auf Tahitianisch, einer polynesischen Sprache, synchronisiert, da der filmische Handlungsort auf einer polynesischen Insel lokalisiert ist. Die Regisseure haben in der Vorproduktion kulturell, historisch und mythologisch direkt vor Ort intensiv recherchiert, um einen authentischen Film zu produzieren[12]; im Gegensatz zu ihrer Arbeit für Aladdin, haben sie ihren Horizont umfassend erweitert.

6. Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Unternehmen Disney seit seiner Entstehung zahlreiche Filme veröffentlicht hat, die rassistische Stereotype audiovisuell darstellen. Viele aus dem vergangenen Jahrhundert stammende Klassiker beinhalten solche Formen der Diskriminierung bestimmter Gruppen, genauer gesagt, Minderheiten in einer weiß-positionierten Mehrheitsgesellschaft. Die technischen Möglichkeiten der Animationen bieten einerseits Chancen als auch Probleme: aktuelle Projekte zeigen die detaillierte Repräsentation von Minderheiten mit Identifikationspotenzial für das Publikum, andererseits wurden in der Vergangenheit vorwiegend Tierfiguren zu rassistischen Zwecken instrumentalisiert, um beispielsweise bestimmte Bevölkerungsgruppen, bestimmte Kulturen, deutlich voneinander abzugrenzen und kolonialen Strukturen Raum zu geben. Früher habe ich nie verstanden, warum in Das Dschungelbuch Mogli am Ende nicht mit seinen tierischen  Freunden aus dem Dschungel sein Leben verbringen kann, sondern ins Menschendorf zieht. Heute verstehe ich, dass aufgrund der sich durch den gesamten Film so deutlich durchziehenden rassistischen Strukturen von den Produzierenden des Konzerns genau das gewollt zu sein scheint – nämlich klare Grenzen zwischen aufgrund ihrer kulturellen Identität als verschieden angesehenen Individuen zu ziehen. Derartige Darstellungen zu vermitteln ist für eine Gesellschaft mit allen ihren Mitglieder:innen äußerst gefährlich und im Nachhinein schockiert es mich, dass ich durch das Singen von Liedern aus diesem Film unbewusst rassistische Inhalte reproduziert habe. Meinen eigenen Kindern werde ich diese Filme mit rassistischem Inhalt nicht zeigen, für eine historische Einordnung sind sie jedoch für Erwachsene wichtig.

Ich wünsche mir, dass Disney noch umfassender kontinuierlich an der Aufarbeitung derartiger Inhalte arbeitet und weiterhin neue Erzählungen produziert, die viel Wert auf Diversität legen – gerade weil die Filme global einen solchen Erfolg verzeichnen, ist es wichtig, sich als mediales Unternehmen bewusst zu sein und immer wieder daran zu erinnern, in welcher Verantwortung man selbst steht.

7. Literaturverzeichnis

Anon (2001). The Return of the Empire: Representations of Race, Ethnicity and Culture in Disney’s Tarzan and The Jungle Book, and in the Burroughs and Kipling.

Byrne, Eleanor & McQuillan, Martin (1999). Deconstructing Disney. London: Pluto Press.

Cußler, Jonas (2018). Disney und Rassismus-Vorwürfe. TELEVIZION.

Giroux, Henry & Pollock, Grace (2010). The mouse that roared. Disney and the end of  innocence. Lanham: Rowman & Littlefield.

Kilpatrick, Jacquelyn (1999). Celluloid Indians. Native Americans and film. Lincoln: University of Nebraska Press.

Internetquellen

https://www.statista.com/topics/1824/disney/#topicOverview. (Letzter Zugriff am 2.12.2023).

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316771/antiasiatischer   rassismus-in-deutschland/. (Letzter Zugriff am 2.12.2023).

https://storiesmatter.thewaltdisneycompany.com. (Letzter Zugriff am 3.12.2023).

https://www.deutschlandfunkkultur.de/disney-animationsfilm-vaiana-die-prinzessin-die-diewelt-100.html. (Letzter Zugriff am 3.12.2023).

Filmographie

Aladdin (John Musker, Ron Clements, USA 1992).

Aristocats (Wolfgang Reitherman, USA 1970).

Das Dschungelbuch (Wolfgang Reitherman, USA 1967).

Dumbo (Ben Sharpsteen, USA 1941).

Peter Pan (Hamilton Luske, Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, USA 1953).

Pocahontas (Mike Gabriel, Eric Goldberg, USA 1995).

Raya und der letzte Drache (Don Hall, Carlos López Estrada, USA 2021).

Susi & Strolch (Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, Hamilton Luske, USA 1955).

Tarzan (Kevin Lima, Chris Buck, USA 1999).

Vaiana (Ron Clements, John Musker, USA 2016).


[1] Kilpatrick, Jacquelyn (1999). Celluloid Indians. Native Americans and film. Lincoln: University of Nebraska Press. S. 154.

[2] Vgl.: Cußler, Jonas (2018). Disney und Rassismus-Vorwürfe. TELEVIZION. S.31.

[3] Vgl.: https://www.statista.com/topics/1824/disney/#topicOverview. (Letzter Zugriff am 2.12.2023).

[4] Vgl.: ebd.

[5] Vgl.: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316771/antiasiatischer-rassismus-in-deutschland/. (Letzter Zugriff am 2.12.2023).

[6] Vgl.: Byrne, Eleanor & McQuillan, Martin (1999). Deconstructing Disney. London: Pluto Press.

[7] Vgl.: Cußler, Jonas (2018). Disney und Rassismus-Vorwürfe. TELEVIZION. S.32.

[8] Vgl.: ebd.

[9] Vgl.: ebd. / Vgl.: Giroux, Henry & Pollock, Grace (2010). The mouse that roared. Disney and the end of innocence. Lanham: Rowman & Littlefield.

[10] Anon (2001). The Return of the Empire: Representations of Race, Ethnicity and Culture in Disney’s Tarzan and The Jungle Book, and in the Burroughs and Kipling, S, 7.

[11] Vgl.: ebd., S.12.

[12] Vgl.: https://www.deutschlandfunkkultur.de/disney-animationsfilm-vaiana-die-prinzessin-die-die-welt-100.html. (Letzter Zugriff am 3.12.2023).


Quelle: Tilde Funk, Global-mediale Verantwortung und Aufarbeitung rassistischer Darstellungen in Disney-Klassikern, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 23.01.2024, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=434

Die Kolonialzeit, Unabhängigkeitsbewegung und die Formung des heutigen Pakistans

Abb. 1: Collage zur Kolonialgeschichte von Pakistan

Munaam Baig (SoSe 2023)

Einleitung

Ich komme aus Karachi, einer Stadt in Pakistan. In Gesprächen fällt mir oft auf, dass viele Leute gar nicht wissen, dass Pakistan existiert und noch lange nicht, wo es geographisch liegt. Einige machen die Verbindung, dass es ein Teil von Indien ist oder in der Nähe von Indien liegt. Andere kennen Pakistan nur aus den Nachrichten über Überflutungen, Dürren und Hunger. Verglichen mit den großartigen Assoziationen von Reichtum und Innovationen mit den westlichen Ländern, fällt auf, wie negativ die Assoziationen mit Pakistan ausfallen. Ich bin sehr früh nach Berlin gezogen, womit ich in Berlin aufgewachsen bin. Meine enge Familie lebt jedoch weiterhin in Pakistan und auch meine Eltern haben mich mit Ihrer Kultur aufgezogen und geprägt. Die ständigen Besuche nach Pakistan haben mir gezeigt, wie einfach Vorurteile geschaffen werden können, was durch die westliche Perspektive bewusst oder unbewusst übermittelt wird, da selbst ich diesen Vorurteilen geglaubt hatte. Rassistische Äußerungen werden nicht direkt und öffentlich gemacht, jedoch existieren diese Muster weiterhin unbewusst und zeigen sich auf verschiedenste Weisen.

In diesem Essay wird versucht herauszufinden, wodurch das heutige Bild Pakistans beeinflusst wurde bzw. wird. Die Kolonialgeschichte, von der frühen Präsenz europäischer Mächte bis hin zur Entstehung von einer unabhängigen Nation, wird hierbei unter die Lupe genommen und analysiert. Die daraus folgende Leitfrage lautet: Kolonialismus und Unabhängigkeit: Wie prägt die Vergangenheit Pakistans die heutige globale Stellung?

Um der Beantwortung der Leitfrage näher zu kommen, wird die Kolonialgeschichte Pakistans kurz zusammengefasst und wichtige Prozesse genannt, die schließlich zur Unabhängigkeit und Teilung des Landes geführt haben. Daraufhin wird auf die sozialen, politischen und kulturellen Aspekte eingegangen, die drastisch durch den kolonialen Einfluss transformiert wurden und bis heute in vielen Dynamiken eine Rolle spielen. Außerdem wird darauf eingegangen, wie diese Erfahrungen die heutige Perzeption Pakistans geformt haben, wie dies global präsentiert wird und inwiefern die Kolonialvergangenheit für die heutigen Defizite verantwortlich ist.

Kolonialgeschichte Pakistans

Die Kolonialgeschichte Pakistans besteht aus mehreren Epochen und startet mit der Kolonisation von Indien. In diesem Essay fokussieren wir uns auf drei Epochen, die besonders wichtig sind, um den späteren Zusammenhang besser verstehen zu können.

Ostindien-Kompanie

Bevor die britische Kolonialherrschaft begann, gab es drei ausschlaggebende Epochen zuvor.  In der frühe Kolonialherrschaft 16. Jahrhundert bis ca. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in Indien Handelspräsenz von verschiedenen europäischen Ländern wie Portugal, den Niederlanden und Großbritannien. Zu dieser Zeit etablierte die britischen Ostindien-Kompanie Handelsstützpunkte in Indien, wodurch die politische und wirtschaftliche Dominanz der Kolonialmächte in einigen Gebieten begann. Die britische Ostindien-Kompanie regierte von 1757-1858. Durch gewalttätige Auseinandersetzungen stieg die Macht der Ostindien-Kompanie. Die britische Kontrolle nahm immer größere Teile Indiens ein. Praktiken wie wirtschaftliche Ausbeutung, Landbesteuerung und soziale Veränderungen nahmen zu. Im Jahr 1857 kam es zu einem Aufstand der Einheimischen, dieser wurde jedoch durch die Ostindien-Kompanie niedergeschlagen. Im Jahre 1858 endete die Herrschaft der britischen Ostindien-Kompanie und es kam zu einer direkten Übernahme durch die britische Krone (WENDE, 2010, S. 112).

Britische Kolonialherrschaft: 1858-1947

Die Übernahme verlief ohne große Probleme, da die größten Teile Indiens schon unter britischer Macht standen. In der Collage (siehe VII) sind oben rechts jeweils indische Bedienstete und Polizisten zu sehen, wie sie für die britischen Familien, die in Indien stationiert waren, arbeiteten. Es waren Jobs wie Bedienstete, Haushaltshilfen, Babysitter, Putzfrauen und Polizisten zum Schutz. Positionen der Befehlshaber wurden ausschließlich von weißen britischen Männern geführt, um die bestehende Hierarchie in der kolonialen Gesellschaft deutlich zu machen.

„Kolonialismus konnte nur damit legitimiert werden, dass die Unterworfenen als ungebildet und barbarisch in Bezug auf die eigenen Ideale und Werte dargestellt wurden, und sich damit rechtfertigte, sie mittels der Kolonisierung auf diese Ideale und Werte hin umzuerziehen. Der Kolonialismus konnte sich nur während dieser »Erziehungszeit« als notwendig ansehen, wodurch die Kolonialherren möglichst lange das Erreichen des »Erziehungsziels« herauszögern mussten, um ihre Legitimationsgrundlage zu erhalten.“ (BROECK, 2012, S. 105). Die Kontrolle über Indien sorgte für eine tiefgreifende Transformation der politischen Strukturen, der Wirtschaft und der sozialen Normen. Diese Ära hatte nicht nur Auswirkungen auf Indien als Ganzes, sondern ebnete auch den Weg zur späteren Gründung des unabhängigen Staates Pakistan im Jahr 1947. Die britische Kolonialherrschaft brachte starke wirtschaftliche Ausbeutung mit sich. Die indische Wirtschaft wurde auf die Bedürfnisse der Kolonialmacht ausgerichtet und zugeschnitten, was zu einer Deindustrialisierung und einer starken Abhängigkeit von landwirtschaftlichen Produkten führte. Die Einführung der Eisenbahn diente nur britischen Interessen und führte zu einer gewissen Modernisierung, die jedoch auf Kosten der einheimischen Bevölkerung ging, da diese nicht beachtet wurden. Diese führte zu mehreren Hungerskatastrophen, die in den Jahren 1876–1878 und 1899–1900 zahllosen Opfer kosteten. Allein 1877, ein Jahr nachdem Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien wurde, starben dort aufgrund der Vernachlässigung der einheimischen Bevölkerung fünf Millionen Menschen den Hungertod (WENDE, 2010, S. 121).

Neben der direkten Administration von Regionen arbeiteten die Briten mit großen und kleineren indischen Führern, die die Briten als eine Oberhoheit ansahen, um in Ihren Gebieten einige Freiheiten zu bekommen. Die britische Kolonialmacht hat dafür gesorgt, dass die indischen Führer keine Verhältnisse untereinander hatten, um diese besser kontrollieren zu können und um eine mögliche Kooperation gegen die Kolonialherren auszuschließen (BOSE/JALAL, 2011, S. 54). Indien war der große überseeische Machtblock, bestehend aus dem Gebiet des direkt verwalteten Britisch-Indien und zahlreichen indischen Fürstentümern, die indirekt durch Großbritannien beherrscht wurden (WENDE, 2010, S. 17). “Power may have been exercised through indirect means, but it was not in any more than a formal sense limited in its potential to stamp out resistance.” (BOSE/Jalal, 2011, S. 55). Die britische Kolonialmacht hat ihre Macht nicht offen gezeigt, jedoch war die indirekte Methode stark genug, um jede Art von Widerstand zu zerdrücken. Widerstand wurde mit extremer Brutalität bekämpft (SIEBER, 2012, S. 104). Die Kolonialherren hatten nicht nur vor aktivem Widerstand Angst, denn dieser konnte meist als Barbarei brandmarken und mit Militärtechnik niederschlagen. Besonders ängstigten sie jedoch die angepassten Kolonisierte: Hybride Subjekte, die immer ähnlicher wurden, sowohl im Denken als auch im Verhalten, und trotzdem weiterhin Spuren der anderen Herkunft in sich trugen. Dies verwirrte die Kolonialherren, da eine Gleichheit und Differenz Ihnen entgegen stand, “as a subject of a difference that is almost the same, but not quite” – “almost the same but not white” (BHABHA, 1994, S. 86, 89).

Entgegen der Bemühungen trug die britische Herrschaft paradoxerweise selbst zur Entwicklung von Nationalismus und Identität bei. Die Erkenntnis der gemeinsamen Unterdrückung durch die Kolonialmacht führte zur Bildung eines gemeinsamen indischen Bewusstseins. Gleichzeitig wurde jedoch auch die Idee der gespaltenen Identität gefördert, was später zur Teilung des Landes führte (WENDE, 2010, S. 121).

Teilung und Unabhängigkeit: 1947

Der wachsende Widerstand gegen die britische Vorherrschaft führte zur Entstehung von Organisationen, mit dem Ziel der Unabhängigkeit durch Verhandlungen, die die Interessen der einheimischen Bevölkerung repräsentierten. Die wichtigste Figur der Unabhängigkeit Pakistans war Muhammad Ali Jinnah, der links oben in der Collage vor der pakistanischen Flagge zu sehen ist (siehe VII). Jinnah wurde am 25. Dezember 1876 in Karachi geboren und studierte Recht in Großbritannien. Er begann seine politische Karriere als Mitglied des Indischen Nationalkongresses, der zu dieser Zeit auf eine gemeinsame Unabhängigkeit von Großbritannien hinarbeitete.  Gandhi war ein indischer Anwalt, antikolonialer Nationalist und politischer Ethiker, der gewaltlosen Widerstand einsetzte, um die erfolgreiche Kampagne für die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Herrschaft anzuführen. In der Collage (siehe VII) sieht man Jinnah und Gandhi zusammen lächelnd, mittig vom Bild. Beide hatten große Wertschätzung füreinander und arbeiteten als Team für die Befreiung ihres Landes Indien im Indischen Nationalkongress. Später trat Jinnah aus dem Kongress aus und schloss sich der All India Muslim League an, da er zunehmend besorgt über die Interessen der muslimischen Minderheit in Indien war. In der Collage (siehe VII) unten links ist die All India Muslim League zu sehen. Jinnah war ein eloquenter Befürworter der muslimischen Identität und betonte die Notwendigkeit eines eigenen Staates für die muslimische Bevölkerung. Er argumentierte, dass Muslime in einer hindu-dominierten Mehrheit in Indien in ihrer Kultur, Religion und politischen Vertretung gefährdet wären. Er führte die Muslim League in Richtung der Forderung nach einem unabhängigen muslimischen Staat. Jinnah war einer der Hauptgründer der Lahore-Resolution von 1940, die die Schaffung eines eigenständigen muslimischen Staates forderte. Unterdessen verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften in verschiedenen Regionen Indiens stark.

Zu Beginn des Jahres 1947 bestand Londons Hauptpriorität darin, Indien so schnell wie möglich zu verlassen, bevor die antikoloniale Politik noch radikaler wurde als ohnehin schon und die kommunale Gewalt noch gefährlichere Ausmaße annahm. Im ganzen Land gab es Berichte über Bauern-, Arbeiter- und Jugendunruhen, die sich zum Aufstand erhoben. Nach den Unruhen in Bengalen und Bihar Ende 1946 verschlechterte sich die kommunale Situation im Punjab ab Januar 1947 stetig. Diese unzähligen Konflikte entlang der Klassen- und Gemeinschaftsgrenzen bildeten die Grundlage für eine Verständigung zwischen dem Oberkommando des Kongresses und London. Schließlich verkündetet der britische Premierminister Clement Attlee am 20. Februar 1947, dass die Briten Indien bis zum 30. Juni 1948 verlassen würden (BOSE/JALAL, 2011, S. 150).

Jetzt musste das britische Parlament nur noch die notwendigen Gesetze verabschieden, um die Macht auf zwei neue Gebiete zu übertragen, was im Juli ordnungsgemäß geschah. Der Kongress und die Briten stellten Jinnah am Ende vor die Wahl: Entweder ein ungeteiltes Indien ohne Garantie für den muslimischen Machtanteil im gesamtindischen Zentrum, oder ein souveränes Pakistan, das aus den mehrheitlich muslimischen Bezirken bestehen solle (BOSE/JALAL, 2011, S. 153). Für Jinnah war Pakistan das Mittel, um den Muslimen im gesamtindischen Zentrum einen gerechten Machtanteil zu sichern. Bestätigende Beweise dafür, dass der Quaid-e-Azam den Islam nie als Religion zur Beherrschung des Staates Pakistan vorsah, finden sich in seiner Ansprache an die allererste Sitzung der verfassungsgebenden Versammlung Pakistans am 11. August 1947: “You are free to go to your temples, you are free to go to your mosques or to any other place of worship in this state of Pakistan. . .. You may belong to any religion or caste or creed – that has nothing to do with the business of the State. . .. We are starting with this fundamental principle that we are all citizens and equal citizens of one State.” (Why JI – Jinnah Institute) (BOSE/JALAL, 2011, S. 160). Jinnah spielte eine wichtige Schlüsselrolle in den Verhandlungen mit der britischen Regierung und den indischen politischen Führern, die zur Teilung des Subkontinents führten. Am 14. August 1947 wurde Pakistan als unabhängiger Staat für Muslime gegründet. Jinnah wurde der erste General Gouverneur Pakistans.

Postkoloniale Auswirkungen der Kolonialen Mächte

In dem geschichtlichen Abschnitt wurden einige Auswirkungen der Kolonialen Mächte schon genannt. In diesem Abschnitt sollen diese Aspekte nochmals eingeteilt und tiefer in den postkolonialen Kontext gesetzt werden, um die heutige Situation besser verstehen zu können.

Die konstante Ausbeutung des Landes sorgte dafür, das im Jahr 1947, zum Zeitpunkt der Entlassung in die Unabhängigkeit, Indien und Pakistan zu den ärmsten Ländern der Welt zählten. Mehr als 50% der ländlichen Bevölkerung waren nicht in der Lage, sich ausreichend zu ernähren, da eine dem freien Markt ausgesetzte Landwirtschaft nicht mehr genügend Grundnahrungsmittel produzierte. Das britische Königreich verlass die ehemaligen Kolonien in einem sehr ungünstigen Zustand. Einer dysfunktionalen Wirtschaft, ohne dass in dem Land ausreichende Grundlagen für eine eigene Industrialisierung geschaffen wurden (WENDE, 2010, S. 121). Die ersten Jahre nach der Unabhängigkeit waren sehr harte Jahre, die weiterhin viele Menschenleben kosteten.

Die Bedürfnisse der einheimischen Bürger wurden außen vorgelassen, da das Mutterland höchste Priorität hatte. Der Umsatz, der auf dem globalen Markt durch indische Produkte erzielt wurde, wurde zur Finanzierung der Kolonialen Mächte und Kolonialer Infrastruktur genutzt und ebenfalls an das Mutterland geschickt, um dieses weiter ausbauen zu können und prächtiger gestalten zu können. Selbst in der postkolonialen Ära sind die Spuren der Kolonialzeit weiterhin bestehend: „Koloniale Muster von Unterwerfung und Unterdrückung existieren auch nach dem Kolonialismus fort.“ (KASTNER, 2012, S. 94). Die heutige Infrastruktur der Eisenbahn spiegelt die damalige Intention weiterhin wider. Die einseitigen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen der Kolonialmacht in den Ausbau des Streckennetzes zu investieren, war nie für den möglichen Nutzung der Einheimischen vorgesehen (Vgl. Ian J. Kerr, 2007). Die für die Wirtschaft damals relevanten Gebiete besitzen eine Bahn Anbindung, während weniger relevante Orte außen vorgelassen werden und durch Vernachlässigung weiterhin strukturell schwach sind.

Die europäische Moderne, die Freiheit und Demokratie befürwortet, ist unmittelbar bedingt durch Eroberung, Verwüstung, genozidaler Vernichtung, Verschleppung, kultureller Auslöschung und kolonialer Ausbeutung von Menschen und Ressourcen anderer Völker (BROECK, 2012, S. 169, 170). Diese Vergangenheit sorgt weiterhin dafür, dass ehemalige Kolonien bis heute strukturelle Defizite aufweisen und aus ihrem Teufelskreis der Verschuldung und Abhängigkeit nicht entkommen können.

Wohingegen Indien inzwischen wirtschaftlich wächst und eine große Präsenz im globalen Diskurs hat, als größte Demokratie der Welt, kann von Pakistan nicht das gleiche behauptet werden. Aufgrund von Korruption und der ständigen Änderung der Regierungsform ist eine positive Entwicklung weiterhin nicht möglich.

Pakistan Heute

Die Pakistanische Flagge repräsentiert mit der dunkelgrünen Farbe, dem Mond und Stern die 90% muslimische Bevölkerung, die weiße Fläche der Flagge repräsentiert die 10% Minderheit, die sich aus anderen religiösen Gruppen zusammensetzt, wie in der Collage zu sehen ist (siehe VII). Die Idee für Pakistan war es, einen Staat zu schaffen, in dem sich Minderheiten ohne sorgen wohlfühlen können.

In dem heutigen globalen Diskurs bleibt Pakistan weiterhin, wie zu den Zeiten seiner Gründung, ein armes Land. Seit seiner Gründung leidet Pakistan an politischer Instabilität. Jinnah starb am 11. September 1948. Die Präsidenten*innen die danach gewählt wurden, waren entweder korrupt oder wurden durch Attentate ermordet. Bis jetzt hat in der Geschichte Pakistans noch kein*e Präsident*in die volle Amtszeit beendet. Viele dieser Ereignisse sind auf die Kolonialvergangenheit zurückzuführen, die dafür sorgt, dass ehemalige Kolonien nicht die Ressourcen besitzen, um an dem Weltmarkt teilzunehmen. Dieses Bild der Unsicherheit und fehlenden Entwicklung wird durch die Wiedergabe in der westlichen Welt weiterhin reproduziert. In der postkolonialen Theorie wird dieses Phänomen des Fortlebens kolonialer Muster nach dem Kolonialismus als Teil einer »Kolonialität« angesehen (KASTNER, 2012, S. 94). Kolonialität wird als Prozess der von Dekolonisierung und nation building hinaus als „Maschine“ gesehen, die im Rahmen der globalen Netzwerk-Gesellschaft soziale Ungleichheit reproduziert (D. MIGNOLO, 2001, S. 426). Die Ungleichheiten, die während der Kolonialzeit entstanden, werden in der westlichen Perspektive weiterhin bewusst und unbewusst reproduziert.

Schlussfolgerung

Die mehr als drei Jahrhunderte, während denen Großbritannien die Herrschaft über ein riesiges Kolonialreich hatte, haben unsere heutige globale Welt vielfach geprägt. Viele Staaten sind in ihren Grenzen und in ihrer demographischen Struktur die Resultate britischer Kolonialherrschaft. Indien und Pakistan sind zwei der vielen Staaten.  Viele Konflikte, die bis heute noch existieren, sind oftmals Hinterlassenschaften britischer Kolonialherrschaft. Während einige Länder sich inzwischen trotz ihrer kolonialen Vergangenheiten weiter entwickeln konnten, ist dies nicht der Fall für Pakistan, ein Land das erst 75 Jahre alt ist. Gegründet, damit Minderheiten eine Stimme bekommen und ein Ort geschaffen wird, an dem sie ohne Angst leben können. All die Bürger*innen, Politiker*innen und Anwält*innen wie Muhammad Ali Jinnah, die für die Unabhängigkeit und Freiheit der Einheimischen gekämpft haben. All die Opfer, die erbracht wurden, die zahlreichen Konflikte und Aufstände von Menschen, die nur menschlich behandelt werden wollten. Nicht nur in Indien und Pakistan, sondern auf der ganzen Welt: Diese Menschen inspirieren und prägen alle zukünftigen Generationen, für ihre Rechte zu kämpfen. Auch wenn diese Stimmen nicht gleich viel gehört werden bedeutet das nicht, dass diese Stimmen nicht existieren. Sie existieren und werden weiterhin gehört, von Leuten, die bis heute für ihre Freiheit kämpfen.

Muhammad Ali Jinnah bleibt eine faszinierende Persönlichkeit, die die Entstehung Pakistans geprägt hat. Er hat sein ganzes Leben und seinen Einsatz Pakistan gewidmet. Seine Vision und sein Einsatz für unterdrückte Minderheiten haben eine dauerhafte Wirkung auf die Geschichte und Identität des Landes hinterlassen. Sein Vermächtnis als „Quaid-e-Azam“ lebt in der pakistanischen Geschichte und Kultur weiter. Er wird oft als Symbol für Führung, Entschlossenheit und die Vision eines starken und unabhängigen Pakistans betrachtet.

Jede Art von Widerstand, ob aktiv oder passiv, ist eine wahre Inspiration, die zeitlos ist und uns immer daran erinnert, dass man seine Hoffnung niemals aufgeben sollte. Der Weg mag hart und ermüdend sein, jedoch ist jede Art von Anstrengung es wert, dass man sich für die Freiheit der Unterdrückten einsetzt.

Literaturverzeichnis

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BRUNNER, M. P. (2021): Schooling the Subcontinent: State, Space and Society, and the Dynamics of Education in Colonial South Asia. London u. a.: Routledge. 534 S.

FISCHER-TINE, H. (2022): Kolonialismus zwischen Modernisierung und Traditionalisierung. Die britische Herrschaft in Indien. (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/indische-unabhaengigkeit-2022/510895/kolonialismus-zwischen-modernisierung-und-traditionalisierung/) (zuletzt aufgerufen 20.08.2023)

GILMARTIN, D. (1998): Imagining Pakistan: Colonialism, Nationalism, and the Long View of History. In: The Journal of Asian Studies Vol. 57, No. 4. Durham, North Carolina. Duke University Press. 1068-1095 S.

JALAL, A. (1985): The Sole Spokesman: Jinnah, the Muslim League, and the Demand for Pakistan. Cambridge. Cambridge University Press. 336 S.

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MIGNOLO, W. D. (2021): The Politics of Decolonial Investigations (On Decoloniality). Durham, North Carolina. Duke University Press. 736 S.

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WENDE, P., (2010): Vom Inselstaat zum Weltreich: Anmerkungen zum Aufstieg und zur Struktur des Britischen Empire. In: Zeitschrift für Weltgeschichte Interdisziplinäre Perspektiven Jahrgang 11, Heft 2 (Herbst 2010) ZWG 11|2 herausgegeben von Hans-Heinrich Nolte Für den Verein für Geschichte des Weltsystems

Bild Quellen

https://www.constitutionofindia.net/blog/our-independence-movement-constitution/ (zuletzt aufgerufen: 02.08.2023)

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https://thediplomat.com/2020/04/covid-19-and-indias-addiction-to-colonial-era-laws/ (zuletzt aufgerufen: 03.0.2023)


Quelle: Munaam Baig, Die Kolonialzeit, Unabhängigkeitsbewegung und die Formung des heutigen Pakistans, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 05.12.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=405

Kolonialmedizinische Verbrechen am Beispiel von Robert Koch

Anonym (WiSe 2022/23)

1.  Einleitung

Im Rahmen des Moduls “Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse“ wurden wir dazu angeregt, unser eigenes Studienfach aus einer postkolonialen Perspektive zu betrachten. In meinem Studienfach Biochemie wird solch eine Betrachtung in der Lehre nicht aufgegriffen, obwohl es definitiv Grund dafür gäbe. Zahlreiche Wissenschaftler*innen aus dem natur- und lebenswissenschaftlichen Gebiet waren an Verbrechen beteiligt: prominente Beispiele sind die Mitwirkungen an der Giftgasentwicklung und am Bau der Atombombe während des 20. Jahrhunderts. In früheren Kolonien begangen deutsche Wissenschaftler*innen grausame Verbrechen sogar selbst.

Aus mehreren Vorlesungen war mir der deutsche Wissenschaftler Robert Koch bekannt, damals noch als Begründer der medizinischen Mikrobiologie und Pionier in seinem Fachgebiet. Was immer unerwähnt blieb, waren die kolonialmedizinischen Verbrechen, die Koch beging. Nachdem ich durch einen Artikel auf diese aufmerksam geworden bin, habe ich mich intensiver mit der Kolonialmedizin auseinandergesetzt. Beginnend mit Koch – der wohl bekannteste Täter in der Geschichte der deutschen Kolonialmedizin, aber bei weitem nicht der Einzige – habe ich mich über die medizinischen Grausamkeiten, die von den Kolonialmächten in kolonialisierten Gebieten verübt wurden, informiert. Mich erstaunte, dass verhältnismäßig wenig Literatur zu diesem Thema existiert und wie wenig Beachtung diesem allgemein gegeben wird. Aber auch ich wusste vorher weder aus meinem Studium noch aus dem Privaten von den Gräueltaten. Daher möchte ich in diesem Essay auf die kolonialmedizinischen Verbrechen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingehen und einige der furchtbaren Taten am Beispiel von Robert Koch aufgreifen – Taten, die niemals in Vergessenheit geraten dürfen.

2.   Robert Koch

Robert Koch (1843 – 1910) gilt als der Begründer der medizinischen Mikrobiologie. Seine Experimente lieferten erstmals den Beweis, dass bestimmte Mikroorganismen spezifische Krankheiten verursachen und übertragen können. So identifizierte Koch das Bakterium Bacillus anthracis als Milzbrand-Erreger und formulierte aufbauend auf dieser Erkenntnis die sogenannten Koch´schen Postulate, deren Kriterien noch heute das Fundament zum Nachweis eines Organismus als Krankheitserreger bilden. Als größte Errungenschaft Kochs gilt die Identifizierung des Mycobacterium tuberculosis als Erreger der Tuberkulose – die Krankheit, die zu der damaligen Zeit (um 1880) für ein Siebtel aller erfassten Todesfälle im Deutschen Reich verantwortlich war. Für die Entdeckung des Tuberkuloseerregers erhielt Koch 1905 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. [1]

Mit diesen Entdeckungen legte Koch den Grundstein für die Infektionslehre, sowie für die Entwicklung erfolgreicher Methoden zur Vermeidung und Heilung von Infektionskrankheiten. Für diese Errungenschaften wird Robert Koch heute bewundert und geehrt, was sich unter anderem in den vielen Denkmalen und Gedenktafeln – allein in Berlin gibt es vier – zeigt. Zahlreiche Straßen, Parks, Plätze, Schulen und andere Einrichtungen sind nach Koch benannt. [2] Zudem wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der Stadt Berlin verliehen. [3]

Was in Bezug auf Robert Koch fast nie thematisiert wird – ob bewusst oder aus Unwissenheit – sind die menschenverachtenden Verbrechen, die Koch in ehemaligen Kolonialstaaten beging.

1902 gab es erste Berichte über das Auftreten der Afrikanischen Trypanosomiasis (meist als Schlafkrankheit bezeichnet) aus der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heutiges Tansania, Burundi und Ruanda). Die Krankheit wird durch den Parasiten Trypanosoma ugandense ausgelöst und von der Tsetsefliege (Glossina palpalis) übertragen. [4] Die Erkrankung verläuft in der Regel in drei Phasen: Zu den ersten Symptomen zählen Fieber sowie Kopf- und Gliederschmerzen, im darauffolgenden Stadium wird das Nervensystem der Erkrankten angegriffen, wodurch es zu Verwirrung, Schlafstörungen und Krampfanfällen kommt. Im Endstadium leiden die Patient*innen unter schweren neurologischen Schäden, schweren Schlafstörungen und verfallen in einen komaähnlichen Dämmerzustand, welcher namensgebend für die Erkrankung ist. Unbehandelt verläuft die Krankheit tödlich. [5]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich die Schlafkrankheit als Epidemie im Gebiet Deutsch-Ostafrikas aus. Ein Gegenmittel gab es noch nicht, folglich erlagen schätzungsweise eine Viertel Millionen Afrikaner*innen der Schlafkrankheit. Diese schwerwiegenden Auswirkungen nahmen die Kolonialherren als Gefährdung ihres Kolonisationsprozesses wahr. Neben den gesundheitlichen Risiken, die ihnen selbst drohten, fehlten ihnen nun vor allem die Arbeiter*innen, die sie zum Ausbau der Infrastruktur zwingen und ausbeuten konnten. [4]

So entstand in Europa ein zunehmend wirtschaftliches und politisches Interesse an der Erforschung der Schlafkrankheit, insbesondere an der Entwicklung von Medikamenten zur Prävention und Heilung. Die Forschung begann in den Laboren innerhalb Europas, aber schon bald entsendete die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes als Reaktion auf die zunehmende Ausbreitung der Epidemie eine Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit aus dem Deutschen Reich nach Deutsch-Ostafrika. Die 1906 beginnende Expedition wurde unter der Leitung Robert Kochs durchgeführt. [4]

Koch und seine Mitarbeiter*innen siedelten sich auf den Sese-Inseln, einer Inselgruppe im Victoriasee, an. Das Gebiet stand zwar unter britischer Herrschaft, bot Koch aber als zentraler Epidemieherd – innerhalb weniger Jahre starben hier fast zwei Drittel der Bewohner*innen an der Schlafkrankheit – ideale Bedingungen zur Forschung. Als die Expedition in Afrika begann, war der Parasit Trypanosoma ugandense bereits als Erreger identifiziert worden und weitgehenden Untersuchungen unterzogen worden, sodass Kochs Fokus primär auf der Suche nach einer Therapiemöglichkeit lag. [4]

Nach kurzer Zeit wurden in dem eingerichteten Forschungslager bereits jeden Tag über 1 000 Patient*innen untersucht und „behandelt“. Als Medikament diente Atoxyl, ein organisches Arsenpräparat. [4] Atoxyl wurde zuvor in Europa als mögliche Therapieform für die Schlafkrankheit im Labor untersucht. In Tierversuchen führte es zunächst zu einem Rückgang des Erregers im Blut und zu einer Minderung der Symptome. Bei einem Großteil der Versuchstiere tauchte der Parasit jedoch entweder nach dem Ende der Behandlung, aber auch bei einer durchgehenden Gabe von Atoxyl, wieder in der Blutbahn auf. Die Parasiten vermehrten sich weiter, die Symptome kehrten ebenso zurück, letztendlich erlagen die Tiere der Krankheit. Trotz der eher ernüchternden Ergebnisse hielten einige Forscher an Atoxyl fest und empfohlen es in bestimmten Dosen zur Behandlung an Menschen. In Deutschland war die Verabreichung von Atoxyl verboten – aus der früheren Fachliteratur war die Gefährlichkeit und hohe Giftigkeit des arsenhaltigen Mittels durchaus bekannt: Es führte zu Erblindungen und weiteren schweren Nebenwirkungen. [6]

Als Folge wurde die klinische Prüfung von Atoxyl von den Kolonialmächten nach Afrika verlegt. Die Kolonien selbst dienten als Laboratorien und die an der Schlafkrankheit erkrankte Afrikaner*innen wurden zu Objekten der pharmakologischen und therapeutischen Forschung. Robert Koch und andere Forscher nahmen diese menschenverachtenden Bedingungen billigend in Kauf, beziehungsweise unterstützten und befeuerten diese sogar noch. [4]

Robert Koch verabreichte Atoxyl in Deutsch-Ostafrika an Tausende von Erkrankten. Hierbei hielt er sich in keinster Weise an die wissenschaftlichen und ethischen Standards: Anstatt wie empfohlen die Dosis vorsichtig und allmählich anzupassen, verabreichte er jeweils eine Dosis von 0,5 g in kurzen Intervallen, obwohl er von der Toxizität des Mittels wusste. Nachdem nicht die gewünschten Effekte eintraten, erhöhte er die Dosis auf 1 Gramm. Dies tat er, ohne die Patient*innen zu informieren, aufzuklären und sogar entgegen ihren Willen. Als Behandlung ist dieses Vorgehen kaum zu bezeichnen, vielmehr führte Koch grausame Humanversuche durch. [4]

Die Gabe von Atoxyl führte bei den Patient*innen zu schweren Nebenwirkungen. Tausende erlitten irreversible Erblindungen, viele starben. Robert Koch wusste von dem Leid, aber verabreichte das Medikament trotzdem weiter, obwohl noch nicht einmal der Heilungseffekt nachgewiesen war. [4] In seinem „Schlußbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit“ schreibt Koch selbst:

„Nicht wenige Kranke entzogen sich sehr bald dieser stärkeren Behandlung, weil ihnen dieselbe zu schmerzhaft war und auch sonstige unangenehme Empfindungen verursachte, wie Übelkeit, Schwindelgefühl, kolikartige Schmerzen im Leibe. Da diese Beschwerden indessen nur vorübergehend waren, so wurde mit der starken Behandlung fortgefahren. Da stellte sich aber bei einigen Kranken ein Symptom ein, welches uns früher weder bei den unbehandelten Kranken noch bei denjenigen, welche nicht größere Dosen als 0,5 g erhalten hatten, jemals begegnet war. Es war dies eine Erblindung, welche sich in verhältnismäßig kurzer Zeit auf beiden Augen entwickelte. Anfangs hofften wir noch, daß dieses Symptom ebenso wie die anderen wieder vorübergehen würde, namentlich auch, da in Europa nach Atoxylbehandlung mehrfach vorübergehende Erblindung beobachtet ist. Leider trat aber bei unseren Kranken keine Besserung ein, und dieselben sind dauernd blind geblieben.“ [7]

Dieser Bericht zeigt einmal mehr, wie skrupellos, menschenverachtend und verbrecherisch Robert Koch handelte.

Im weiteren Verlauf beschreibt Koch zusätzlich ungeniert die Sinnlosigkeit der Dosis Erhöhungen:

„Es ist übrigens noch zu erwähnen, daß die Behandlung mit großen Atoxyldosen in keiner Weise bessere Resultate lieferte in Bezug auf das Befinden der Kranken als die Behandlung mit mittelgroßen Dosen.“ [7]

1907 reiste Robert Koch aus gesundheitlichen Gründen zurück nach Berlin. Damit hatte sein verbrecherisches Wirken aber keineswegs ein Ende, Koch hielt vielmehr stur an der Atoxyltherapie fest und forderte überdies weitere brutale Maßnahmen. So schlug er dem Reichsgesundheitsrat im Anschluss an seine Expedition im November 1907 vor, „dazu über[zu]gehen, die ganze Bevölkerung verseuchter Bezirke in gesunde Gegenden zu versetzen; die infizierten Individuen würden dann, da die Sterblichkeit ohne Behandlung eine absolute sei, ausnahmslos zugrunde gehen, damit werde dann die Seuche erlöschen […]“. [8] Als besser realisierbare Alternative forderte er zudem, alle Infizierten aus „verseuchten Orten […] herauszugreifen“ und in „Konzentrationslagern“ zu isolieren. [8]

Fatalerweise nahm der Reichsgesundheitsrat Kochs Vorschläge an und errichtete die geforderten Lager am Viktoriasee in Afrika. Tausende Erkrankte wurden interniert und erfolglos mit Atoxyl behandelt. In den bis 1911 bestehenden Lagern verloren mindestens 1 487 der 11 079 Internierten in Folge der Schlafkrankheit oder der Therapie ihr Leben. [4]

3.   Darstellung Robert Kochs durch das RKI

Nach einer Betrachtung der schrecklichen Vorgehensweise Robert Kochs scheint es absurd, dass Koch, der für seine Forschung über Leichen ging, als Forschungspionier verehrt wurde und noch immer wird. Eine öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung seiner menschenverachtenden Verbrechen fand bisher nicht statt. Und das, obwohl der Name Robert Koch seit etwa drei Jahren allen Menschen in Deutschland bekannt sein sollte und uns allen regelmäßig durch mediale Berichterstattungen begegnet.

Robert Koch ist Namensgeber des in Berlin sitzenden Robert-Koch-Instituts (RKI), die biomedizinische Leitforschungseinrichtung der deutschen Bundesregierung. Seit dem Beginn der Coronapandemie Ende 2019 ist das RKI für die Erfassung und Beurteilung der aktuellen Pandemie- und Risikolage und für die Beratung und das Aussprechen von Empfehlungen für die Politik und Fachwelt verantwortlich. Somit fungiert das Institut gleichzeitig auch als unverzichtbare Informationsquelle für die deutsche Bevölkerung und ist seit dem Frühjahr 2020 omnipräsent in Deutschland. Einhergehend mit dieser Präsenz wird die Aufmerksamkeit auch auf den Namenspatronen Robert Koch gelenkt. Das Bild, das von Koch vermittelt wird, stellt diesen allerdings weitestgehend als medizinisches, bewundernswertes Vorbild dar.

Das RKI steht als ehemalige Wirkstätte Kochs und durch die Verwendung seines Namens in der Verantwortung, dessen Taten kritisch aufzuarbeiten. Ein Blick auf die Website des RKI zeigt jedoch, dass die kolonialen Praktiken Kochs fast keine Erwähnung finden. Nachdem zunächst Lobeshymnen über Kochs Errungenschaften zu lesen sind, wird seine Expedition nach Deutsch-Ostafrika wie folgt beschrieben:

„1906 und 1907 wurde eine Kommission unter Kochs Leitung nach Ostafrika entsandt, um Therapiemöglichkeiten gegen die Schlafkrankheit auszuloten. Durch den Einsatz von Atoxyl, einer arsenhaltigen Arznei, konnte Koch anfangs Erfolge bei der Behandlung von Schlafkranken erzielen. Doch der Parasit, der die Infektion verursacht, ließ sich im Blut der Kranken nur für eine kurze Zeit zurückdrängen. Daraufhin verdoppelte Koch die Atoxyl-Dosis – obwohl er um die Risiken des Mittels wusste. Bei vielen Betroffenen kam es zu Schmerzen und Koliken, manche erblindeten sogar. Trotzdem blieb Koch vom prinzipiellen Nutzen des Atoxyls überzeugt. Seine letzte Forschungsreise war das dunkelste Kapitel seiner Laufbahn.“ [9]

Diese Darstellung wirkt eindeutig glorifizierend. Es wird weder thematisiert, dass Koch das Medikament Atoxyl gegen den Willen der Patient*innen einsetzte, noch die hohe Anzahl an Todesfällen, die auf die erfolglose bzw. die Behandlung selbst zurückzuführen ist. Nicht benannt wird, dass Koch mit seinen von Rassismus geprägten Humanversuchen die einheimische Bevölkerung als „Versuchskaninchen“ missbrauchte. Auch die Errichtung von Krankenlagern und die zwangsweise Internierung von Tausenden Erkrankten bleibt unerwähnt. Stattdessen werden Kochs Verbrechen nur verallgemeinernd und verherrlichend als das „dunkelste Kapitel seiner Laufbahn“ [9] abgetan und ansonsten ausgeblendet.

Das RKI geht sogar so weit und zelebriert die verbrecherischen Expeditionen Kochs:

„Die Aufzählung der Reisen, die Koch zur Erforschung verschiedener Infektionskrankheiten durchführte, und die wichtigsten Kongresse, an denen er teilnahm, zeigen die Vielfältigkeit und die Mobilität des Forschers in einer Zeit eher mühseligen Reisens.“ [10] 

In der Auflistung dieser Reisen, auf die sich der obenstehende Absatz bezieht, ist auch die Expedition nach Deutsch-Ostafrika gelistet. [10] Dies zeigt einmal mehr, dass von Seiten des RKI keine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Namensgeber stattfindet. Trotz des Wissens, dass Koch Menschen gequält hat, dient er dennoch als Leitfigur des Instituts.

Während am RKI in den letzten Jahren eine – noch lange nicht abgeschlossene – Aufarbeitung über die Beteiligung an menschenverachtenden medizinischen Humanversuchen während des Nationalsozialismus stattfand, geraten die kolonialmedizinischen Verbrechen in Vergessenheit. Beispielsweise wurden 2008 Forschungsergebnisse über das Mitwirken des RKI an Verbrechen während der NS-Zeit veröffentlicht, nachdem die Rolle des Instituts im Nationalsozialismus erstmals umfassend untersucht wurde. Die Ergebnisse waren erschreckend:  viele bisher unbekannte Taten und Täter*innen kamen ans Licht. [11]

Das wirft die Frage auf, welche Taten aus Kolonialzeiten noch entdeckt oder veröffentlicht werden würden, wenn auch die Verbrechen dieser Zeit aufgearbeitet werden würden? Im Moment werden selbst die Verbrechen, die in wissenschaftlichen Publikationen dokumentiert wurden und hierdurch als eindeutig moralisch verwerflich und verbrecherisch zu identifizieren sind, nicht verhältnismäßig verurteilt. Es ist an der Zeit, dass das RKI Einsicht zeigt und tätig wird. Die Täter*innen dürfen nicht weiterhin geschützt und glorifiziert werden, sondern müssen als solche benannt und verurteilt werden. Und die zahlreichen Opfer dürfen unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten.

4.   (Fehlende) Aufarbeitung der kolonialmedizinischen Verbrechen

Nicht nur dem RKI mangelt es an dem Willen, sich mit dem kolonialen Erbe, das sich hinter dem Namen Robert Koch verbirgt, auseinanderzusetzten. Auch sonst werden die kolonialmedizinischen Verbrechen, die von Koch – der wohl Deutschlands bekanntester, aber bei weitem nicht der einzige Kolonialmediziner war – und anderen Kolonialmedizinern begangen wurden, nur wenig thematisiert und sind meiner Wahrnehmung nach der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.

Erst im Jahr 1997, also 90 Jahre nachdem die Grausamkeiten von Koch in Deutsch-Ostafrika begangen wurden, wurden diese erstmalig in einer wissenschaftlichen Ausarbeitung rekonstruiert und aufgearbeitet. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse von Prof. Dr. Wolfgang Eckart in seinem Buch „Medizin und Kolonialimperialismus – Deutschland 1884 bis 1945“. Der ehemalige Medizinhistoriker und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg befasste sich in diesem Buch umfassend mit der deutschen Kolonialmedizin, so unter anderem auch mit Robert Koch. [12]

Seit mehreren Jahren setzen sich einige Initiativen, wie beispielsweise die „Kritische Medizin München“, für die Aufarbeitung der kolonialmedizinischen Verbrechen ein. [13] Eine große gesellschaftliche Debatte mit Konsequenzen blieb bisher aber noch aus. In der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung über den Kolonialismus und seine Folgen hat der Bereich der Medizin noch immer keinen wirklichen Raum gefunden.

Während es in den letzten Jahren einige Erfolge in der Umbenennung von kolonialen Straßennamen gab, [13] erhielt die Petition, die die Umbenennung des Robert-Koch-Instituts fordert, bisher lediglich 1 343 Unterschriften (Stand 11.01.2023). [14] Gleichzeitig wird über das RKI seit drei Jahren täglich in den Medien berichtet. Auch die im Spiegel veröffentlichte Forderung nach einer Umbenennung des RKI durch den Historiker und Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer blieb ohne Konsequenzen. [15]

5.    Fazit

Während ich mich mit dem Thema der Kolonialmedizin auseinandergesetzt habe, wurde mir bewusst, dass die kolonialmedizinischen Verbrechen, die durch deutsche Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen begangen wurden, fast keine Berücksichtigung in unser Erinnerungskultur finden. Die führenden Einrichtungen der medizinischen Forschung sind nicht dazu bereit, die Verbrechen selbst aufzuarbeiten. Zudem fehlt auch in der Lehre an Universitäten die Aufklärung über die Schattenseiten von Wissenschaftler*innen. Anstatt nur von den Errungenschaften zu berichten, sollten auch die Abgründe der Wissenschaft kritisch beleuchtet, anstatt totgeschweigen zu werden. Die Verbrechen können nicht mehr rückgängig gemacht werden, aber sie dürfen keinesfalls in Vergessenheit geraten. Eine kritische Aufarbeitung ist das Mindeste, das passieren muss. Wir müssen aus der grausamen Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft lernen.

Rassistische und menschenverachtende Praktiken in der Medizin wurden keineswegs nur in der Vergangenheit durchgeführt. Auch heute sind Gesundheitssysteme und die pharmakologische und medizinische Forschung von kolonialen Kontinuitäten und rassistischen Denkweisen geprägt. Diese wurden in den letzten Jahren unter anderem durch die Coronapandemie sichtbar gemacht. Bei der Verteilung der COVID-19 Impfstoffe lag nicht die Gesundheit der Menschen im Vordergrund, sondern wieder einmal der ökonomische Gewinn. Machtvolle Konzerne und „westliche“ Staaten blockieren stur die Aussetzung der Impfstoffpatente. Und während bei uns überschüssige Impfdosen weggeschmissen werden, wird einem Großteil der Weltbevölkerung kein Zugang zu den lebensrettenden Impfstoffen gewährt. [16] Dass koloniale Denkmuster und Robert Kochs Gedanke, Menschen aufgrund ihrer Herkunft für Versuche instrumentalisieren zu können, noch heute ein riesiges Problem darstellen, zeigte sich zusätzlich im April 2020 in erschreckender Weise in der Forderung zweier Ärzte, mögliche neue Coronaimpfstoffe in Afrika zu testen. [17]

6.   Literatur- und Quellenverzeichnis

[1]Madigan, Martinko, J. M., Brock, T. D., & Thomm, M. (2009). Brock Mikrobiologie / Michael T. Madigan ; John M. Martinko. Dt. Bearb. von Michael Thomm. (11., aktualisierte Aufl., [1. dt. überarb. u. erw. Ausg.]). Pearson Studium, 15-17.  
[2]Robert Koch. https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Koch  (09.01.2023)  
[3]Abgeordnetenhaus Berlin. Robert Koch. https://www.parlament-berlin.de/Das-Haus/Berliner-Ehrenbuerger/robert-koch   (09.01.2023)
[4]Eckart, W. U. (1997). Medizin und Kolonialimperialismus: Deutschland 1884-1945. Schonigh, 340-349.  
[5]Ärzte ohne Grenzen. Schlafkrankheit. https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/krankheiten/schlafkrankheit (10.01.2023)  
[6]Boyce R. (1907). THE TREATMENT OF SLEEPING SICKNESS AND OTHER TRYPANOSOMIASES BY THE ATOXYL AND MERCURY METHOD. British medical journal, 2(2437), 624–625. https://doi.org/10.1136/bmj.2.2437.624
[7]Koch, R. (1907). Schlußbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit. Dtsch Med Wochenschr.; 33(46): 1889-1895
DOI:10.1055/s-0029-1189093
https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/5330/1206-1216.pdf?sequence=1&isAllowed=y (10.01.2023)  
[8]Koch, R. (1907). Mitteilung über den Verlauf und die Ergebnisse der vom Reiche zur Erforschung der Schlafkrankheit nach Ostafrika entsandten Expedition. Koch, Werke, Bd 2,2, 930-940.  
[9]RKI. (2018). Robert Koch: Der Mitbegründer der Mirkobiologie. https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Geschichte/robert_koch_node.html (10.01.2023)  
[10]RKI. (2018). Lebenslauf, Reisen und Kongresse Robert Kochs in tabellarischer Form. https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Geschichte/Robert_Koch_Lebenslauf.html (10.01.2023)  
[11]Hacker, J. (2008). Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus: Stellungnahme zu den Forschungsergebnissen. https://www.rki.de/DE/Content/Service/Presse/Pressetermine/presse_rki_ns_Stellungnahme.html (10.01.2023)  
[12]Amberger, J. (2020). Robert Koch und die Verbrechen von Ärzten in Afrika. https://www.deutschlandfunk.de/menschenexperimente-robert-koch-und-die-verbrechen-von-100.html (11.01.2023)  
[13]Kritische Medizin München. https://kritischemedizinmuenchen.de/die-verbrechen-der-kolonialen-medizin/ (11.01.2023)  
[14]Bezirksamt Mitte. Koloniale Straßennamen und ihre Umbenennung im Bezirk Mitte. https://www.berlin.de/kunst-und-kultur-mitte/geschichte/erinnerungskultur/strassenbenennungen/artikel.1066742.php (11.01.2023)  
[15]Zimmerer, J. (2020). Der berühmte Forscher und die Menschenexperimente.  https://www.spiegel.de/geschichte/robert-koch-der-beruehmte-forscher-und-die-menschenexperimente-in-afrika-a-769a5772-5d02-4367-8de0-928320063b0a (11.01.2023)  
[16]Ärzteblatt. (2022). Coronapandemie macht koloniale Strukturen sichtbar. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132782/Coronapandemie-macht-koloniale-Strukturen-sichtbar (11.01.2023)  
[17]„Rassistisch!“ – WHO verurteilt Forderung nach Impfstoff-Tests in Afrika. (2020). https://www.swp.de/panorama/who-verurteilt-forderung-nach-impfstoff-tests-in-afrika-als-_rassistisch_-45283843.html (11.01.2023)

Quelle: Anonym, Kolonialmedizinische Verbrechen am Beispiel von Robert Koch, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 18.04.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=337

Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama

Constanze Luise Selegrad (SoSe 2022)

1. Einleitung

Diese Hausarbeit schließt an eine Gruppenarbeit zum Thema „Rassismus“ im Seminar „Gender, Diversity und Gender Mainstreaming“ an.

Um die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, gibt es viele unterschiedliche Möglichkeiten, eine der effektivsten und auch gesamtgesellschaftlichsten ist und bleibt jedoch die Schule. Deswegen soll im Folgenden betrachtet werden, wie im Bundesland Baden-Württemberg Kolonialismus am Gymnasium behandelt wird und, ob in dem Bildungsplan Raum für Verbesserung besteht.

Dazu soll zuerst der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt werden, und dann der Weg zum Aufstand und Genozid der Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Südwestafrika des Deutschen Reiches nachgezeichnet werden. Dies soll als Beispiel für die Grausamkeit des Deutschen Reiches als Kolonialmacht dienen und verdeutlichen, warum es wichtig ist, sich heute mit diesem Teil der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Anschließend daran werden erst die relevanten Punkte des Bildungsplanes von Baden-Württemberg vorgestellt und auch Punkte zur besseren Einarbeitung der kolonialen Erinnerung in den Bildungsplan aufgeführt. Außerdem werde ich meine eigenen Erfahrungen im Schulsystem in Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte nachzeichnen. Zum Schluss werden die resultierenden Schlussfolgerungen aufgeführt.

2. Kolonialismus

2.1 Begriffseingrenzungen

Zu Beginn soll der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt und definiert werden. Dieser Begriff wird von Trutz von Trotha wie folgt definiert

„Kolonialismus ist ein Prozeß überregionaler Herrschaftsbildung und Herrschaftsausübung. Auf der Grundlage von kriegerischer Gewalt oder der Drohung mit ihr wird ein Herrschaftsverhältnis von einem Staat oder einer ihm direkt verbundenen, organisierten Gruppe von Menschen über eine Gesellschaft errichtet, die in einem Land beheimatet ist, das typischerweise von dem Territorium des imperialen, besitznehmenden Staates durch einen Ozean getrennt ist, sich mindestens in seiner sozio-kulturellen Ordnung von der Gesellschaft des imperialen Staates in wesentlichen Merkmalen unterscheidet und eine eigene Geschichte besitzt. Das Herrschaftsverhältnis ist territorial bestimmt. Die unterworfene Gesellschaft verliert nach außen ihre politisch-diplomatische und, mehr oder minder vollständig, ihre völkerrechtliche Selbständigkeit und gerät in direkte formelle Abhängigkeit von der Kolonialmacht oder ihren Repräsentanten. Die Ziele der kolonialistischen Herrschaft sind in ausgeprägter Einseitigkeit an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen und der Kultur der Kolonialmacht orientiert.“ (Trotha, 2004, p. 50).

2.2     Deutsche Kolonialgeschichte

Die von Bismarck geprägte Außenpolitik des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert führte dazu, dass Deutschland erst 1884 anfing zu kolonialisieren. In diesem Jahr änderte Bismarck seine Meinung zum Thema Kolonisation (Gründer, 2018, p. 55). Er verfolgte allerdings immer eine Politik, die eine offene Auseinandersetzung mit anderen europäischen Ländern, vor allem Großbritannien, vermied (Gründer, 2018, pp. 92–93). Denn die guten Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten hatten für ihn eine höhere Priorität als die Kolonien (Gründer, 2018, p. 103).

Mit der Ablösung Bismarcks als Reichskanzler durch Graf Leo von Caprivi änderte sich auch die Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs was die Kolonialpolitik betraf. Denn Caprivi wollte die in Südafrika unter „Schutzverträgen“ stehenden Gebiete in „Kolonialgebiete“ umwandeln (Gründer, 2018, p. 121).

Die in diesen Gebieten lebenden Nama-Stämme widersetzten sich von Beginn an gegen die neuen Verträge, da durch diese ihr bisheriges Nomadenleben nicht mehr möglich wäre (Gründer, 2018, p. 121). Im Gegensatz dazu widersetzten sich die Herero zu Beginn nicht gegen die „deutsche Schutzherrschaft“, da sie sich von dieser Schutz vor den Expansionsideen der Nama versprachen (Gründer, 2018, pp. 121–122). Eben diese bereits bestehenden Konfliktlinien zwischen den Herero und Nama wurden vom deutschen Kaiserreich ausgenutzt, um eine „deutsche Oberherrschaft“ schaffen zu können. Außerdem nutzten sie die Stellung der Stammeshäuptlinge, indem sie diesen eine Rente versprachen im Gegenzug für die Gebietsverluste der Stämme und Einflussverluste der Häuptlinge (Gründer, 2018, pp. 122–123). Während das Ziel der Regierung in Deutschland noch eine „Schutzherrschaft“ war, forderten die Siedler*innen [1] vor Ort längst eine „Siedlerkolonie“ (Böcker, 2020, p. 50). Die eskalierende Brutalität sowie die ausbeuterischen Geschäftspraktiken der weißen Siedler*innen gegenüber den Herero und Nama, als auch die Morddrohungen gegen den Oberhäuptling der Herero, Samuel Maharero, werden als die Auslöser für den Aufstand der Herero und Nama gewertet (Gründer, 2018, p. 129).

Der Aufstand begann am 12.01.1904 (Böcker, 2020, p. 51). Im Januar 1904 führten die Herero einen Überraschungsschlag gegen eine Stationsbesatzung, außerdem zerstörten sie Eisenbahnlinien und Telegraphenverbindungen. Die Herero waren bis Juni 1904 erfolgreich, bei Waterberg wurde ein Großteil der Herero-Gruppen eingekesselt, es folgte ein Vernichtungsschlag. Diejenigen, die überlebten, wurden in ein Dürregebiet zurückgedrängt, wo sie dem Wetter und Wassermangel zum Opfer fielen (Gründer, 2018, p. 130).

Nach der Niederlage der Herero widersetzten sich auch die Nama ab Oktober 1904 den deutschen Truppen. Allerdings hatten die Nama nach dem Tod von Hendrik Witbooi keinen gemeinsamen Anführer mehr. So konnten manche Stammesanführer dazu bewegt werden, die Waffen niederzulegen, andere widersetzten sich weiter, bis sie bis 1906 besiegt wurden (Gründer, 2018, p. 131). Am 31.03.1907 wurde der Kriegszustand in Südwestafrika offiziell als für beendet erklärt, manche Stämme hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht am Aufstand beteiligt (Gründer, 2018, p. 131).

Durch die vom Kaiserreich verfolgte Vernichtungsstrategie überlebten von den Herero etwa 25% den Aufstand, bei den Nama waren es in etwa 50%. (Gründer, 2018, p. 131). Die Stammesverbände waren nach dem Aufstand de facto kein Machtfaktor mehr (Gründer, 2018, p. 133). Das Stammesvermögen wurde aufgelöst, für den Besitz von Vieh und Land wurde nicht nur eine Obergrenze eingeführt, es wurde auch eine Genehmigung der Kolonialmacht benötigt. Dies, und der Arbeitsvertragszwang und die Passpflicht, schufen ein System der Abhängigkeit, Überwachung und Kontrolle (Gründer, 2018, pp. 133–134). Außerdem wurden Konzentrationslager für die Herero und Nama geschaffen, die 1908 nur wegen des Arbeitskräftemangels aufgelöst wurden (Böcker, 2020, p. 51). Es wurde versucht, die Herero und Nama davon abzuhalten, Lesen und Schreiben zu lernen und ihre eigenständigen Identitäten aufzulösen, um eine „einheitliche Arbeiter*innenklasse“ zu schaffen (Gründer, 2018, p. 137). 

Heute fällt der Massenmord an den Herero und Nama unter die von der UN gegebene Definition von Genozid (Böcker, 2020, p. 51). Seit 1999 versuchen Vertretungen der Herero vor verschiedenen Gerichtshöfen Klage auf Schadensersatz zu erheben, diese sind bis jetzt allerdings immer wieder gescheitert (Böcker, 2020, p. 52). Die deutsche Politik versucht beständig den Fokus nicht auf den Genozid zu legen, sondern auf die Geldmittel, die Namibia von Deutschland seit der Unabhängigkeitserklärung erhält. Diese Gelder gingen allerdings nicht and die Opfer des Völkermordes (Böcker, 2020, p. 52). Am 14.08.2004 entschuldigte sich die Bundesministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich bei der Gedenkfeier für die Schlacht von Waterberg (Lutz and Brumlik, 2005, p. 23). Bis heute folgte allerdings noch keine Entschuldigung des Regierungs- oder Staatsoberhauptes von Deutschland. In Afrika wird der Aufstand der Herero und Nama heute als Freiheitskrieg interpretiert (Gründer, 2018, p. 132).

3. Koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen

Um herausarbeiten zu können, inwieweit und in welcher Form koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen existiert, wird der Bildungsplan Baden-Württembergs von 2016 der Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und Ethik an Gymnasien untersucht. Es soll herausgearbeitet werden, an welchen Stellen im Bildungsplan auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands besser eingegangen werden kann. Anschließend werde ich darauf eingehen, wie das Thema kolonialer Erinnerung in meiner Schulzeit behandelt wurde.

3.1 Baden-Württemberg

Im Fach Geschichte wird in der 7. Bis 8. Klasse das Konzept des Imperialismus am Beispiel Afrikas eingeführt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Allerdings ist hier weder vorgeschrieben, auf die Lebensrealität in den damaligen Kolonien einzugehen, noch das Deutsche Reich im Speziellen als Kolonialmacht.

In der 9. und 10. Klasse liegt der Fokus beim Thema Imperialismus auf dem Vergleich ehemaliger Imperial-Mächte mit einem Fokus auf Russland, China, dem osmanischen Reich und der Türkei (Bildungspläne Baden-Württemberg). Die Entwicklung der ehemaligen Kolonien, und wie diese bis heute vom Kolonialismus geprägt sind, wird hier nicht thematisiert. Um in Deutschland das Verständnis der Kolonialgeschichte des Landes zu stärken, könnte das Deutsche Reich unter diesem Punkt ebenfalls als Imperiale Macht betrachtet werden, mit einem Fokus auf bis heute andauernden Folgen des Kolonialismus in den ehemaligen deutschen Kolonien.

Im zweiten Halbjahr der 12. Klasse steht die Behandlung postkolonialer Räume auf dem Bildungsplan. Ein Unterpunkt sind antikoloniale Bewegungen, die sich nach 1918 ereigneten, unter anderem mit dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach dem ersten Weltkrieg (Bildungspläne Baden-Württemberg). Deutschland verpflichtete sich mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1918 allerdings alle Kolonien aufzugeben, deswegen können antikoloniale Bewegungen oder Widerstand gegen das Deutsche Reich in den Kolonien mit diesem Zeitrahmen nicht betrachtet werden. Wird allerdings auch die Zeit vor 1918 betrachtet, ist dies ein guter Rahmen, um den Genozid an den Herero und Nama in Schulen zu thematisieren, der vom Deutschen Reich verübt wurde. Den Schüler*innen soll ebenfalls die Kompetenz vermittelt werden, Dekolonialisierungsprozesse beschreiben und aktuelle Probleme auf den Kolonialismus zurückführen zu können (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann erweitert werden, indem die Rolle Europas in der Kolonisation und Dekolonisation in den Fokus gerückt wird, damit Europa stärker in die Verantwortung gezogen werden kann.

Im Fach Gemeinschaftskunde wird in der Mittelstufe im Bereich Internationale Beziehungen die Bewältigung heutiger Konflikte thematisiert, zum Beispiel unter dem Aspekt des Ziels der universalen Umsetzung der Menschenrechte (Bildungspläne Baden-Württemberg). Wird neben der Konfliktbewältigung auch die Konfliktursache bearbeitet, können auch an dieser Stelle die Folgen des Kolonialismus thematisiert werden, da viele heutige Konflikte auf die Kolonialzeit zurückzuführen sind. So zum Beispiel Grenzkonflikte, die erst durch Grenzziehungen von Europa auf anderen Kontinenten entstanden.

In der Oberstufe wird in Gemeinschaftskunde die Außenpolitik Deutschlands behandelt mit der UN und der NATO als Schwerpunkt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann um die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia erweitert werden, indem zum Beispiel die Gelder thematisiert werden, die von Deutschland nach Namibia fließen, oder die in Deutschland geführte Debatte um eine offizielle Entschuldigung der Bundesrepublik an die Herero und Nama. Auch die bisher stattgefundenen Rückführungen von Gebeinen kann an dieser Stelle eingearbeitet werden.

In der Oberstufe wird auch gesellschaftlicher Wandel behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Derzeitig ändern sich viele Aspekte der Gesellschaft in Deutschland, einer dieser Aspekte ist die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich als Kolonialmacht und welche Verantwortungen Deutschland heute aus dieser Geschichte übernehmen soll oder muss. So kann zum Beispiel die Kontroverse um die ethnologische Ausstellung des Humboldt Forum und die dort zu besichtigende Raubkunst diskutiert werden.

Im Fach Ethik wird das Konzept der Freiheit unter naturalistischen und anthropologischen Blickwinkeln in der Oberstufe behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieses Gebiet kann über die Fragen, wie Menschen Freiheit definieren und welchen Stellenwert Freiheit für einzelne Individuen hat, hinweg erweitert werden, dahin zu fragen, was es bedeutet, dass manchen Menschen während der Kolonialisierung nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihr Menschsein abgesprochen wurde und wie verhindert werden kann, dass dies wieder passiert.

3.2 Persönliche Erfahrungen

In der Schule belegte ich Geschichte in der Oberstufe als Leistungskurs und schrieb auch eine Abiturprüfung in diesem Fach. Allerdings konnte ich mich nicht daran erinnern, je das Thema Kolonialismus, geschweige denn den Genozid der Herero und Nama, im Geschichtsunterricht behandelt zu haben. Mein Wissen zu diesem Thema hatte ich mir außerhalb des Rahmens des Schulsystems angeeignet.

In dem Kursbuch für Geschichte, das wir zur Vorbereitung für das Abitur in der Schule nutzten, beschränkt sich die Erwähnung der deutschen Kolonialgeschichte auf einen Absatz mit neun Sätzen (vgl. Berg, 2010, p.209). Hier wird betont, dass das Deutsche Reich später als andere europäische Länder zu Kolonialmacht wurde. Auch werden Bismarcks wirtschaftliche Interessen an den Kolonien erwähnt (Berg, 2010, p. 209). Über die Grausamkeiten, die während der deutschen Kolonialbesetzung stattfand oder dem Genozid, wird kein Wort verloren.

Neben dem Absatz zur Kolonialpolitik bietet das Buch allerdings einen Verweis für LEMO („Lebendiges Museum Online“), der dort verlinkte Beitrag führt zu einem Text über die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches. In diesem Text wird der Aufstand der Herero und Nama zumindest erwähnt, vor allem werden die Opferzahlen der Herero, Nama und auch die der Siedler*innen aufgezählt. Allerdings wird es nicht als Genozid beschrieben (Asmuss, 2011), obwohl es offiziell von der UN als Genozid eingestuft ist.

3.3  Schlussfolgerung

Der Bildungsplan von Baden-Württemberg bietet genug Ansatzstellen, um sich in der Schule mehr mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und die daraus resultierenden Folgen für die Gegenwart auseinanderzusetzen. Allerdings muss dies explizit in den Bildungsplan festgeschrieben werden, damit es auch in den Schulen umgesetzt wird. Darüber hinaus müssen auch die für den Schulunterricht zugelassenen Schulbücher dahingehend überarbeitet werden, dass der Kolonialismus einen angemessenen Stellenwert erhält und nicht weiterhin in einem Absatz abgehandelt werden kann. 

4. Fazit

Die Schule ist ein Ort, in dem viele junge Menschen den ersten Kontakt zu dem Thema Kolonialismus erhalten. Deswegen ist es wichtig, dass in diesem Rahmen grundlegendes Wissen und ein Gefühl der Verantwortung vermittelt werden kann, um gesamtgesellschaftlich ein besseres Bewusstsein für diesen Teil der deutschen Geschichte zu schaffen. Der Bildungsplan Baden-Württembergs hat bereits die nötigen Voraussetzungen, um diese Grundlagen zu vermitteln, allerdings muss die Umsetzung noch verbessert werden.

Es gilt allerdings weiterhin in allen Lebensbereichen nach neuen Wegen der Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu suchen.

Reference list

Asmuss, B. (2011) Kolonialpolitik. Available at: https://​www.dhm.de​/​lemo/​kapitel/​kaiserreich/​aussenpolitik/​kolonien.

Berg, R. (ed.) (2010) Kursbuch Geschichte. Berlin: Cornelsen.

Bildungspläne Baden-Württemberg (no date). Available at: https://​www.bildungsplaene-bw.de​ (Accessed: 8 August 2022).

Böcker, J. (2020) ‘Juristische, politische und ethische Dimensionen der Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama’, Sicherheit & Frieden, 38(1), pp. 50–54. doi: 10.5771/0175-274X-2020-1-50

Gründer, H. (2018) Geschichte der deutschen Kolonien // Geschichte der Deutschen Kolonien. 7th edn. (Uni-Taschenbücher, Nr. 1332 // 1332). Paderborn: Ferdinand Schöningh; Schöningh.

Lutz, H. and Brumlik, M. (eds.) (2005) Kolonialismus und Erinnerungskultur: Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft. Münster: Waxmann (Niederlande-Studien, Bd. 40).

Trotha, T. von (2004) ‘Was war Kolonialismus? Einige zusammenfassenden Befunge zur Soziologie und Geschichte des Kolonialismus und der Kolonialherrschaft’, Saeculum, 55(1), pp. 49–96. doi: 10.7788/saeculum.2004.55.1.49


[1] In diesem Text wird mithilfe des Gendersternchen gegendert, um auch Geschlechtsformen, die nicht männlich oder weiblich sind, miteinzubeziehen.


Quelle: Constanze Luise Selegrad, Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/10/27/erinnerung-an-die-deutsche-kolonialgeschichte-im-bildungsplan-baden-wurttembergs-mit-fokus-auf-den-volkermord-der-herero-und-nama/

Die post-koloniale Zeug*innenschaft der afro-deutschen Community –

Sichtbarmachung von Rassismus als Form der kolonialen Kontinuität in Deutschland

Lotta Klister (WiSe 2021-22)

Dieser Essay steht im Kontext eines Seminars zu Theorien und Praktiken der Dekolonialisierung. Während des Seminars arbeitete ich zeitweise mit einer Gruppe zusammen, in der wir uns dem Thema des anti-kolonialen Widerstandes in Berlin näherten und unter anderem das May-Ayim-Ufer besuchten, das ein Zeichen für die fehlende Thematisierung kolonialer Kontinuitäten in Deutschland setzt. Ausgangspunkt meines Essays ist eine kritische Haltung gegenüber meiner eigenen Aneignung von Wissen, in der ich als weiße Person nur eine begrenzte epistemische Einsicht in koloniale Kontinuitäten wie bspw. die Erfahrung von Rassismus habe. In meinem Reflexionsprozess fragte ich mich daher, ob sich eine koloniale Kontinuität auch über Analyse- und Erzählpraktiken auf Basis von Archiven des Wissens erstrecken kann: Inwiefern birgt der Versuch des Sammelns, Selektierens und Aneignens von Wissen zu kolonialer Geschichte selbst das Risiko, eine koloniale Kontinuität zu werden – gerade, wenn der Versuch von Personen wie mir praktiziert wird, die nur eine begrenzte Einsicht haben in die akute Bedeutung der Aufarbeitung von kolonialer Geschichte für das von alltäglicher Diskriminierung und Marginalisierung geprägte Leben in Deutschland? Die Wahrscheinlichkeit, blinde Flecken nicht nur zu übersehen, sondern niemals auflösen zu können, wurde mir in meiner Auseinandersetzung immer klarer. Die einzige Möglichkeit für mich, diesen Essay zu schreiben, ist, diese blinden Flecken permanent mitzudenken und sprachlich zu reflektieren.

1.  Hinführung

Im ersten Teil des Essays werde ich mich der Frage nähern, inwiefern die Wissenslücken ‚offizieller‘ Archive durch eine post-koloniale Zeug*innenschaft aufgezeigt und dadurch alternative Wissenssysteme konstituiert werden können. Beginnen werde ich diese Überlegungen mit Arbeiten von May Ayim, die als Zeugin alltäglich erfahrenen Rassismus als Form der kolonialen Kontinuität versuchte, auf die geschichtlichen Hintergründe dieser Kontinuitäten zu verweisen. May Ayims Zeug*innenschaft stand und steht im Kontext der Bildung einer afro-deutschen Community in Deutschland, die sich an der Bildung einer transnationalen afrikanischen Diaspora orientiert(e). Eine fundamentale Kritik an den tief verankerten Rassismen europäischer Wissenssysteme ist konstitutiver Bestandteil jener Formulierung einer diasporischen Gemeinschaft.

Im zweiten Teil meines Essays werde ich thematisieren, wie die koloniale Vergangenheit Deutschlands und die post-kolonialen Bedingungen in Deutschland die Debatten um Rassismus und um koloniale Kontinuitäten beeinflussen. Diese komplexen Bedingungen haben laut Monika Albrecht auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten anti-kolonialen Widerstands. Als Beispiel wendet sich Albrecht der als anti-koloniale Widerstandspraktik zu verstehende Umbenennung des in Berlin Kreuzberg verorteten Gröben-Ufers in May-Ayim-Ufer zu, die ihrer Meinung nach eine kompetitive Erinnerungskultur in Deutschland widerspiegelt und deshalb zu kritisieren ist. Ich werde mir daran anschließend die Frage stellen, inwiefern die Kritik an eben dieser anti-kolonialen Widerstandspraktik deren tatsächliche subversiven Möglichkeiten verfehlen könnte. Schließen werde ich den Essay mit einer poetischen Form der post-kolonialen Zeug*innenschaft, indem ich auf ein Gedicht May Ayims verweise, das Rassismus als Form der intersektionalen, kolonialen Kontinuität poetisch reflektiert.

2.  Post-koloniale Zeug*innenschaft der afro-deutschen Community

2.1.  Durchbrechen offizieller Archive durch kollektivierende Zeug*innenschaft

Im Vorwort von Farbe bekennen schreiben die Herausgeberinnen May Ayim, Katharina  Oguntoye und Dagmar Schultz über den Prozess, ihre „subjektiven Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam weiterzudenken, andere Afro-Deutsche anzusprechen und in diesen Prozess einzubeziehen“, sowie über den Prozess, sich auf Nachforschungen ihrer „Geschichte zu begeben und schließlich – was mit diesem Buch geschieht – an die Öffentlichkeit zu gehen.“ (Ayim et al. 2020, 19). Die kollektivierende Auseinandersetzung mit subjektiven Erfahrungen ist in Farbe bekennen direkt mit einer Hinwendung zu öffentlichen Diskursen sowie deren gezielter Herstellung und Veränderung verbunden: „Mit diesem Buch wollen wir in Verbindung mit persönlichen Erfahrungen gesellschaftliche Zusammenhänge von Rassismus offenlegen“ (Ebd., 19). Diese Zusammenhänge betreffen die koloniale und nationalsozialistische Geschichte Deutschlands sowie deren Folgen, die laut der Herausgeberinnen zu wenig aufgearbeitet wurde und noch immer verdrängt wird – ansonsten fänden afro-deutsche Menschen sowie deren Lebenshintergründe gegenwärtig mehr Beachtung (Vgl. ebd., 20). Die Veränderung „der mit Unwissenheit und Vorurteilen durchdrungenen Öffentlichkeit“ (ebd.) setzt also voraus, dass offizielle Archive sich für die gegenwärtigen subjektiven Erfahrungen afro-deutscher Personen öffnen und das geschichtliche Wissen, auf das diese Erfahrungen hinweisen, auch als genuines Wissen anerkennen müssen.

Die Kritik an fehlenden öffentlichen Auseinandersetzungen mit Rassismus berührt auch die Frage, inwiefern dekoloniale bzw. post-koloniale Zeug*innenschaften das Potenzial haben, hegemoniale Strukturen der offiziellen Wissensarchive und der Wissensarchivierung zu durchbrechen. Solche Ordnungen offizieller Archive lassen sich auch mit Hito Steyerls Begriff der „Politik des Archivs“ fassen:

Das offizielle Archiv erkennt die individuelle Geschichte nicht an, es demonstriert seine archontische, patriarchale Macht. Das Archiv sammelt nicht nur Zeichen und hält sie unter Kontrolle, sondern es erzeugt auch den Eindruck nahtloser Kontinuität, einer natürlichen, selbstverständlichen und transparenten Ordnung. Es stellt ein Korpus dar, dessen Elemente in idealer Konfiguration organisiert sind und eine auf den ersten Blick glatte und kontinuierliche Oberfläche bilden: Effekte einer Politik des Archivs. (Steyerl 2015, 33f.)

Steyerl beschreibt in ihren Ausführungen zur Zeug*innenschaft, wie die Integration der epistemischen Standpunkte von sprechenden Zeug*innen die offiziellen Archive durchkreuzen und nicht nur neues Wissen präsentieren, sondern auch die offizielle Konzeption des Wissens in Frage stellen kann. Darauf werde ich in 2.3. näher eingehen. Zunächst möchte ich darauf verweisen, dass der Versuch, die öffentlichen Diskurse für die geteilten Erfahrungen marginalisierter Communities zu öffnen, voraussetzt, dass diese Communities als solche sichtbar werden. So wird die Bildung der Community performativ in der Hinwendung zur Öffentlichkeit vollzogen. Audre Lorde beschreibt diese Gleichzeitigkeit am Anfang von Farbe bekennen wie folgt:

Dieses Buch ist als Aufforderung der hier schreibenden Frauen an alle Bürgerinnen und Bürger ihres Landes gedacht, sich einem neuen Aspekt des deutschen Bewusstseins zuzuwenden, über den die meisten weißen Deutschen noch nicht nachgedacht haben. Ihre Worte dokumentieren ihre Weigerung, die Verzweiflung lediglich mit Blindheit oder Stillschweigen abzuwehren.

Lorde 1986, 25

Die Weigerung, die individuell erfahrene Verzweiflung auf der subjektiven Ebene zu belassen und sie stattdessen kollektivierend zu thematisieren, dokumentiert gleichzeitig die Hinwendung zur deutschen Öffentlichkeit und damit zur Öffnung offizieller Wissensbestände, die das deutsche Bewusstsein bisher beschränkten.

Das Buch Farbe bekennen beinhaltet verschiedene Essays, die individuelle Erfahrungen in den Kontext dieser Community-Bildung setzen. May Ayim schreibt von ihrem Großwerden als Pflegekind in einer Familie, die krampfhaft versuchte, gegen rassistische Vorurteile vorzugehen: 

Meine Eltern haben mich aus Liebe, Verantwortung und Unwissenheit besonders streng erzogen, geschlagen und gefangengehalten. Im Wissen um die Vorurteile, die in der weißen deutschen Gesellschaft bestehen, passten sie ihre Erziehung unbeabsichtigt diesen Vorurteilen an. Ich wuchs in dem Gefühl auf, das in ihnen steckte: beweisen zu müssen, dass ein ‚Mischling‘, ein ‚N****‘, ein ‚Heimkind‘, ein vollwertiger Mensch ist.

Ayim 2020, 266

Erst in der Konstituierung der afro-deutschen Community, die auch mithilfe von Farbe bekennen ermöglicht wurde, kann diese individuell erfahrene Gewalt in den Kontext rassistischer Kontinuitäten in Deutschland gesetzt werden. Die auf Ayim von ihren Pflegeeltern projizierte Notwendigkeit, als Einzelperson gegen Vorurteile zu kämpfen, indem das ‚Normalsein bewiesen‘ wird, ist ebenso eine Form des Rassismus. Diese Form des Rassismus wird im Kontext der afro-deutschen Community als solche aufgedeckt, indem deren Erfahrbarkeit der individuellen Position entrissen wird und stattdessen auf die Sozialisierung in einer weißen deutschen Gesellschaft rückgeführt wird. Dies möchte ich im nächsten Kapitel vertiefen.

2.2.  Bildung einer afro-deutschen Community mit post-kolonialem Hintergrund

Der Begriff ‚afro-deutsch‘ kennzeichnet die Gemeinsamkeit der Erfahrung, als afro-deutsche Person in einer weißen deutschen Gesellschaft sozialisiert zu werden, also in einer Gesellschaft, die Andersheit aufgrund von Hautfarbe markiert (Vgl. Ayim et al. 2020, 20). In dem von Dagmar Schultz gedrehten Film über Audre Lordes Berliner Jahre äußert sich Lorde über den

Entstehungskontext des Begriffs ‚afro-deutsch‘. Dabei erzählt sie davon, dass es in der Selbstbezeichnung und im Selbstbewusstsein durch das Anerkennen der eigenen Sozialisierung in einer weißen deutschen Gesellschaft auch um die Notwendigkeit geht, überhaupt erst eine afro-deutsche Community zu bilden. Im Film sprechen Bekannte von Audre Lorde davon, dass sich die Lebensrealität durch die Zugehörigkeit zu einer Community radikal verändern kann, da eigene Erfahrungen dort Resonanz finden und geteilt werden (Vgl. Schultz 2012). In Farbe bekennen schreibt Lorde über dieses Bilden einer Community:

Diese Erhebung kann eine wachsende Macht zur Herbeiführung einer nationalen Veränderung im Verein mit anderen, ehemals schweigenden Afro-Deutschen, männlichen wie weiblichen, alten wie jungen, darstellen. Eine wachsende Macht zur Herbeiführung einer internationalen Veränderung im Verein mit anderen AfroEuropäern, Afro-Asiaten, Afro-Amerikanern, allen ‚Bindestrich-Menschen‘, die ihre Identität bestimmt haben, ist kein schamhaftes Geheimnis mehr, sondern die Machterklärung einer wachsenden vereinigten Front, von der die Welt noch nichts gehört hat. (Lorde 1986, 24)

Laut Arina Rotaru war und ist es nur bedingt möglich, die Bildung einer afro-amerikanischen Diaspora als direkten Referenzrahmen für die Bildung einer afro-deutschen Diaspora zu definieren (Vgl. Rotaru 2017, 87). Orientierungspunkt war lange Zeit trotzdem der von Theoretikern wie Stuart Hall und Paul Gilroy geprägte Referenzrahmen der afroamerikanischen Identität, der besonders W.E.B. DuBois Modell der „double consciousness“ (zitiert in ebd.) Folge leistete. In diesem Modell wird die Dissoziation hervorgehoben, die der Lebenssituation afro-amerikanischer Personen entspringt: Das Bewusstsein von der eigenen afrikanischen Teilidentität wird stets von der Umgebung einer rassistischen, weißen Gesellschaft geprägt, was die Anerkennung der gleichwertigen amerikanischen Identität verunmöglicht. Zudem beschreibt der Begriff in diasporischen Kontexten das Vorhandensein einer kulturellen Dopplung, in der kaum repräsentiertes afrikanisches Kulturerbe dem hegemonialen europäischen Kulturerbe erst entgegengesetzt werden muss. Im afroamerikanischen Kontext, aber auch im Versuch, afro-amerikanische Kontexte mit afroeuropäischen Kontexten zusammenzubringen – wie z.B. in Gilroys Begriff „black Atlantic“ (zitiert in Rotaru 2017, 87) – ist es dabei vor allem die Erfahrung von Sklaverei, die als identitätsstiftende, geschichtliche Realität den gemeinsamen Referenzrahmen bildet (Vgl. ebd.). Laut Rotaru wird das jedoch nicht ganz der afro-deutschen Diaspora gerecht. Daran anschließend fragt Rotaru: „Can the African American Anglophone paradigm as the referential counterpart to an Afro-German experience be rethought along with other significant historical discrepancies such as the black German subject’s postcolonial status?“ (Ebd., 89)

Die Schwierigkeit, auf Basis einer post-kolonialen Diaspora eine afrikanische Diaspora in Deutschland zu festigen, ist in unterschiedlichen geschichtlichen Voraussetzungen begründet. Rotaru führt auf, dass die früher eingeläutete post-koloniale Ära Deutschlands 1919 und die daran anschließende Umverteilung kolonialer Strukturen an andere Kolonialmächte dazu führte, dass post-koloniale Perspektiven in Deutschland sich gegen kein klar definiertes Machtzentrum positionieren können (Vgl. ebd.). Rotaru schlägt vor, die Rolle post-kolonialer afro-deutscher Perspektiven stattdessen in der Bildung diasporischer Allianzen zu suchen: „I propose imagining the postcolonial black German subject not in the key of writing back to a center but rather as forging diasporic alliances“ (Ebd.). Es ist diese Allianzbildung, die sich im Buch Farbe bekennen vollzieht. Rotaru hebt dabei die dialogische Dimension hervor, die Post-

Kolonialität in Deutschland aus einer „cross-historical and cross-cultural perspective“ betrachtet und „a reconsideration of diasporic memory as more than just a process of generational transmission“ (Ebd.) ermöglicht. Diesen Fokus auf die allianzbildende Dialogizität werde ich im nächsten Kapitel im Kontext einer Kritik an Wissenssystemen thematisieren. Die Kritik stellt sich gegen jede Form der Unsichtbarkeit und Marginalisierung als Formen kolonialer Kontinuitäten. 

2.3.  Kritik an Wissenssystemen

Kritische post-koloniale und dekoloniale Dokumentationen kolonialer Geschichte und kolonialer Kontinuitäten in Deutschland werden gerade von jenen Perspektiven ermöglicht, die in normativen Geschichtsschreibungen kaum Raum und in der Gesellschaft kaum Sichtbarkeit finden. Der Versuch, koloniale Geschichten und Kontinuitäten aus unterdrückten Perspektiven öffentlich Sichtbarkeit zu verleihen, entspricht der Schwierigkeit, anerkannter, hegemonialer, strukturell tief verankerter Wissensgerüste den Boden zu entreißen. Speziell am deutschen Kontext ist laut Rotaru, dass der im deutschen Idealismus verankerte Rassismus zum gänzlichen Ausschluss einer konstruierten Andersheit führte: „the Afro-German subject as an ‚Other-from-without,‘ a model indebted to G. W. F. Hegel’s thematization of the Black Other as located outside the Western paradigm“ (Rotaru 2017, 90). Mit dem Hintergrund des für die Unsichtbarkeit konstitutiven Ausschlusses scheint es zunächst schwieriger, die Verbindungen zwischen deutsch-europäischer und afrikanischer Geschichte sichtbar zu machen und Gegendiskurse zu bilden, die die hergestellte und sich strukturell reproduzierende Andersheit dekonstruieren.

Wie tief dieser unsichtbarmachende Ausschluss in den westlichen und deutschen Wissenssystemen verankert ist, wird auch von Gayatri Chakravorty Spivaks Begriff des native informant verdeutlicht. Laut Patricia Purtschert lässt sich der Begriff als Kritik an der europäischen Philosophie verstehen, die ihre Subjektvorstellungen in einer eurozentristischen, rassistischen Perspektive konstruierte: Europäische Vorstellungen ‚des Subjekts‘ bzw. ‚des Menschen‘ implizieren den Ausschluss vermeintlich ‚unzivilisierter‘ Subjekt-Vorstellungen, die in eine Arbeitsposition gezwängt werden, die europäische Freiheits- und Lebensmodelle durch materielle Grundlagen erst ermöglicht (Vgl. Purtschert 2011, 348). Hier geht es jedoch nicht nur um Subjekt-Vorstellungen, sondern um die tatsächliche Abhängigkeit ‚des europäischen Menschen‘ von Ressourcen aus kolonialisierten Ländern, die ein vermeintlich ‚menschliches Leben‘ erst denkbar bzw. es als solches erst konstruierbar machen.  

An dieser Stelle möchte ich mich auf einige Lernerfahrungen aus dem Seminar beziehen. So wurde mir klar, dass es in Deutschland nicht nur eine schwierige Aufgabe ist, die deutsche koloniale Vergangenheit als solche zu erkennen, sie als solche anzuerkennen, sondern auch, die kolonialen Kontinuitäten zu thematisieren. Eine solche Kontinuitäten ist, wie bereits oben beschrieben, nicht nur der Rassismus selbst, sondern auch die Leugnung von tief verankerten Rassismen in den europäischen Wissenssystemen, die wiederum der Leugnung der kolonialen Vergangenheit entspringt. Ich habe mich deshalb gefragt: Wie kam es zu dieser komplexen Situation der Leugnung kolonialer Vergangenheiten und der damit verbundenen Stabilisierung kolonialer Kontinuitäten, die ebenfalls geleugnet werden?

3.  Sichtbarmachung kolonialer Vergangenheiten und Kontinuitäten in Deutschland

3.1.  Post-koloniale Bedingungen Deutschlands

Die Schwierigkeit, in Deutschland post-koloniale Zeug*innen sprechen zu lassen und damit die Bildung post-kolonialer Narrative jenen Positionen zu überlassen, die sich mit epistemischen Recht gegen die Leugnung kolonialer Vergangenheiten und Kontinuitäten in offiziellen Archiven und Diskursen stellen, hat verschiedene komplexe Hintergründe. In diesem Kontext plädiert Monika Albrecht dafür, die spezifische post-koloniale Situation in Deutschland anzuerkennen. Diese unterscheidet sich bspw. von der post-kolonialen Situation in Frankreich, wenngleich es laut Albrecht gegenwärtig Ähnlichkeiten zwischen den post-kolonialen Diskursen beider Länder gibt (Albrecht 2017, 204). Der Versuch, eine „German colonial memory culture and politics“ (ebd.) zu konstituieren, muss sich jedoch an der spezifischen kolonialen Vergangenheit orientieren: „It therefore must be taken into consideration that different spatial and temporal colonial realities may bring about different post-colonial conditions“ (Ebd., 205). Das bedeutet im deutschen Kontext das Miteinbeziehen der (kürzeren) Dauer aktiver kolonialer Expansion (ca. 30 Jahre) im Vergleich zu anderen Kolonialmächten sowie die spezifischen „geographic spread and size of overseas possessions“ (ebd.). Zudem gab es laut Albrecht im deutschen kolonialen Kontext keine „extended period of decolonization“ (ebd.), was die post-koloniale Situation und das Ausbilden einer Erinnerungspolitik ebenfalls beeinflusst. Sowohl der selbst-herbeigeführte Verkauf deutscher Kolonien an die Niederlande als auch die fremdbestimmte Abgabe von Kolonien an die Allianzen nach dem ersten Weltkrieg bestimmen die Art, wie post-koloniale Diskurse in Deutschland geführt werden (Vgl. ebd.).

In der Erinnerungskultur Deutschlands haben laut Albrecht die Ereignisse des zweiten Weltkriegs die koloniale Vergangenheit und den Eintritt der post-kolonialen Situation weitestgehend abgelöst (Vgl. ebd., 205f.). Überhaupt gibt es im gesamteuropäischen Diskurs Albrecht zufolge das Problem, dass die vier Blocks der Erinnerung (zweiter Weltkrieg, Holocaust, Kommunismus und Kolonialismus) hierarchisiert werden, obwohl sie alle miteinander verbunden sind. Die daraus entstehende „memory competition“ (ebd., 206) trägt dazu bei, dass die tatsächliche Komplexität historischer Ereignisse in den aktiven Praktiken der Erinnerung, die bestimmte Ereignisse voranstellen, reduziert wird.

Aus Albrechts Perspektive wird die post-koloniale Situation in Deutschland weiterhin davon beeinflusst, dass es in der deutschen Gesellschaft eine Unsichtbarkeit von Rückkehrer*innen aus ehemaligen deutschen Kolonien gibt, zumindest im Vergleich zu der Anwesenheit postkolonialer Subjekte in anderen europäischen Ländern mit kolonialer Vergangenheit (Vgl. Albrecht 2017, 206). Die „absence of ‚living reminders‘ of Germany’s colonial history“ (ebd.), das heißt das Fehlen post-kolonialer Subjekte, sowie der starke Fokus auf einen scheinbaren deutschen Multikulturalismus ohne koloniale Verbindungen, machen es schwierig, einen spezifischen post-kolonialen Diskurs in Deutschland zu etablieren, der sich nicht nur an anderen europäischen Diskursen orientiert. Obwohl die gegenwärtigen multikulturellen Gesellschaften in Europa unterschiedlich sind und deshalb auf unterschiedliche Art und Weise an post-koloniale Vergangenheiten erinnern, kann das laut Albrecht nicht heißen, dass sich das scheinbare Fehlen gegenwärtiger post-kolonialer Communities in Deutschland der post-koloniale Diskurs nur an Diskursen orientiert, die von post-kolonialen Communities in anderen europäischen Gesellschaften geführt werden. Die tatsächliche Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit (und Kontinuität) in Deutschland wird dadurch laut Albrecht übergangen (Vgl. ebd., 207).

Aufgrund der genannten Punkte spielt Kolonialismus in der deutschen Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik eine untergeordnete Rolle: „the idea of any continuity between Germany’s imperial history and the present as a source of memory politics does not play a major role in Germany“ (ebd). Ein Grundproblem der post-kolonialen Erinnerungsdiskurse ist dabei die „potential incompatibility of memories“ (ebd.), in der unterschiedliche Communities die Vergangenheit unterschiedlich erinnern. Laut Albrecht ist die Grundfrage deshalb: „how to deal with eras or events of the past which possess different meanings for different communities“ (ebd.). Albrecht zufolge stehen in der gegenwärtigen Aufarbeitung der Vergangenheit stets die Opfer unterschiedlicher geschichtlicher Ereignisse im Vordergrund. In der realen Umsetzung von Erinnerungspolitik und -kultur bedeutet das aber, dass „existing hierarchies of suffering“ aufrechterhalten werden und eine „competition between victim groups“ (ebd., 208) gefördert wird. Im nächsten Kapitel werde ich mich auf eine solch komplexe Erinnerungssituation im Kontext anti-kolonialen Widerstands konzentrieren und anhand dieses Beispiels meine bisherigen Gedanken zur post-kolonialen Zeug*innenschaft mit den Praktiken anti-kolonialen Widerstands zusammenführen.  

3.2.  Praktiken anti-kolonialen Widerstands: Straßen-Umbenennung

Eine kompetitive Erinnerungssituation in Deutschland war laut Albrecht die Straßenumbenennung des ehemaligen Groeben-Ufers in May-Ayim-Ufer. Albrecht zufolge kam es in dieser Situation zur Missachtung der vielfältigen Geschichte des Ufers, an dem in der DDR drei Kinder im Wasser ertrunken sind, weil DDR-Offiziere es nicht zuließen, dass West-Berliner ihnen zur Hilfe kommen durften (Vgl. Albrecht 2017, 212). Mit der Umbenennung in May-Ayim-Ufer fand laut Albrecht eine Überschreibung des Ortes statt, die Ausdruck einer potenziell kompetitiven Situation zwischen Opfergruppen sein könnte. Albrecht kritisiert die aufgeladenen politischen Debatten zwischen Minderheiten dafür, einen solchen Wettbewerb zu fördern und die tatsächliche Erfassung der historischen Hintergründe zu verunmöglichen (Vgl. ebd.). Albrecht konkludiert deshalb, dass der Versuch, die gegenwärtige Situation von Minderheiten – wie die der afro-deutschen Community – mit dem deutschen Kolonialismus zu verbinden, daran gescheitert ist, eine bewusstere post-koloniale Bedingung in Deutschland zu schaffen: „[C]onnecting German minority issues with German colonialism does not provide the potential for increased historical awareness of the colonial past or the generation of new insights into the post-colonial condition.“ (Ebd., 213) 

Zunächst erinnert mich Albrechts Argument, dass es im Wettbewerb der Erinnerungen zu Komplexitätsreduktion kommen kann, an Chimamanda Adichies Vortrag „The Danger of a Single Story“[1]: Die Gefahr, dass einzelne Erinnerungspole fokussiert werden, entspricht auch der Gefahr, dass die Intersektionen zwischen historischen Ereignissen von der Analysefläche verschwinden. Gleichzeitig scheint Albrechts Kritik an der Umbenennung auf einen spezifischen politischen Kontext zu zielen, der die Erinnerungskultur und -politik primär im Rahmen demokratischer Debatten und Diskussionen rund um koloniale Vergangenheiten verortet, was es so scheinen lässt, als könnten allein diese die post-koloniale Situation in Deutschland gestalten. Was im Fokus auf die Erinnerung weniger zur Sprache kommt, sind die kolonialen Kontinuitäten, wie die des Rassismus. Mir scheint also, als würde Albrecht nicht ganz den Rahmen treffen, in dem die Umbenennung des May-Ayim-Ufers vollzogen wurde. Joshua Kwesi Aikin aus der ISD ruft bei der Eröffnung der Gedenktafel am May-Ayim-Ufer dazu auf: „Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Tafel viele weitere folgen. Lasst uns daran arbeiten, dass dieser Ort zu einem umfassenderen Perspektivwechsel beiträgt: Weg von dem, wofür Gröben stand, hin zu dem wofür May Ayim stand, steht und stehen wird.“[2] Bisher wurden die dekolonialen Projekte, die der Umbenennung folgen sollten, so noch nicht weitergeführt. Eine Welle der Umbenennung, die zu einem „umfassenderen Perspektivenwechsel beiträgt“, ist noch nicht eingetreten. Es fehlt an einer radikalen Sichtbarkeit, die Kontroversen ermöglicht, in denen die Erinnerungen an Deutschlands koloniale Vergangenheit auch in die Thematisierung der kolonialen Kontinuitäten überführt wird. Eine intersektionale Perspektive einzunehmen heißt hier auch, dass diese Kontinuitäten mit anderen historischen Ereignissen direkt verbunden und thematisiert werden. Eben dies ist es aber, wofür May Ayim und die afro-deutsche Community steht: Die Bildung von Allianzen zwischen unterschiedlichen Communities.  

Das setzt jedoch voraus, dass post-koloniale Zeug*innenschaft eine Stimme in den ‚offiziellen‘ Archiven erhält und die Erinnerungspolitik und -kultur in die Gegenwart überführt. Gerade die Umbenennung kann als ein Durchbrechen der patriarchalen „Politik des Archivs“ gedeutet werden: Durch Umbenennung wird ein neues Archiv geöffnet, das Zeug*innen sprechen lässt, die das Fehlen der Erinnerung an koloniale Geschichte aus ihrer heutigen Perspektive auf gegenwärtige soziale Verhältnisse dokumentieren. Die eigentliche Leistung der Umbenennung ist dabei auch, die Lücken des Erinnerns aufzuzeigen: Indem auf das heutige Bestehen des Rassismus verwiesen und gezeigt wird, dass dieser noch immer geleugnet wird, kann abgeleitet werden, dass die Aufarbeitung kolonialer Hintergründe als einer der wesentlichen Entstehungskontexte von Rassismus noch immer zu wenig Folge geleistet wird. Würde die koloniale Vergangenheit Deutschlands nämlich deutlicher thematisiert werden, wäre die Frage nach gegenwärtigen rassistischen Strukturen womöglich präsenter. Zudem wäre dadurch bspw. die Verbindung zwischen kolonialen Anfängen, auf Rassismus beruhendem deutschem Nationalismus und der Entstehung nationalsozialistischer Ideologie sowie Eugenik klarer (Vgl. Ayim et al. 2020).

Der Kontext, in dem May Ayims Schaffen verortet werden kann, ist also nicht nur die Bildung einer afrikanischen Diaspora im geteilten Deutschland der 80er Jahre, sondern auch die Thematisierung der problematischen offiziellen Erinnerungskultur, geleitet von einer Politik der Archive, die der afro-deutschen Community kein grundsätzliches epistemisches Recht ‚in Sachen‘ Kolonialismus, Nationalsozialismus und Rassismus ermöglicht. So möchte ich diesen Essay mit dem Anfang von May Ayims Gedichts „gegen leberwurstgrau – für eine bunte Republik“ (Ayim 2021, 70) beenden, das eben diese problematische Archiv-Politik beschreibt:

zu besonderen anlässen und bei besonderen ereignissen aber besonders kurz vor und kurz nach den wahlen sind wir wieder gefragt werden wir wieder wahrgenommen werden wir plötzlich angesprochen werden wir endlich einbezogen sind wir auf einmal unentbehrlich werden wir sogar eingeflogen auf eure einladung versteht sich als »liebe ausländische mitbürgerInnen« ohne bürgerrechte natürlich als migrantinnen aus aller herren länder als experten in Sachen rassismus als »betroffene« 

zusammen mit aktivistInnen und politikerInnen mit prominenten und engagierten diskutieren analysieren debattieren wir über forderungen protestaktionen appellationen in diskussionen hearings talkshows

auf dem podium im forum oder plenum

und dann – was dann

die forderungen werden sauber aufgelistet

die listen werden sauber abgeheftet und sicherlich und zuverlässig an die entsprechenden stellen mit den wirklich zuständigen leuten

weitergeleitet

und dann – was dann

die show ist aus

wir gehen nach haus

die engagierten fühlen sich erleichtert – zum teil die betroffenen fühlen sich verarscht – total

[…]


Literaturverzeichnis

Albrecht, Monika. 2017. „Negotiating Memories of German Colonialism: Reflections on Current Forms of Non-Governmental Memory Politics“. Journal of European Studies 47 (2): 203–18.

Ayim, May. 2020. „Aufbruch“. Farbe bekennen: afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, herausgegeben von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz. 2. Aufl., 261–270. Berlin: Orlanda.

Ayim, May. 2021. blues in schwarz weiss / nachtgesang. Münster: Unrast.

Ayim, May; Oguntoye, Katharina; Schultz, Dagmar, Hrsg. 2020. Farbe bekennen: afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. 2. Aufl. Berlin: Orlanda.

Lorde, Audre. 1986. „›Gefährtinnen, ich grüße euch‹“. Farbe bekennen: afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, herausgegeben von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz. 2020. 2. Aufl., 23–25. Berlin: Orlanda.

Purtschert, Patricia. 2011. „Postkoloniale Philosophie. Die westliche Denkgeschichte gegen den Strich lesen“. Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, herausgegeben von Julia

Reuter und Alexandra Karentzos, 1. Aufl., 343–55. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV).

Rotaru, Arina. 2017. „May Ayim and Diasporic Poetics“. The Germanic Review 92 (1): 86– 107.

Schultz, Dagmar, Reg. 2012. Audre Lorde – Die Berliner Jahre 1984 bis 1992. Deutschland, New York: Third World Newsreel. 2012. DVD.

Steyerl, Hito. 2015. Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld. Nachdruck. Wien, Berlin: Verlag Turia + Kant.


[1] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg, zuletzt aufgerufen am 11.05.2022.

[2] https://isdonline.de/rede-may-ayim-ufer-von-joshua-kwesi-aikins/, zuletzt aufgerufen am 11.05.2022.


Quelle: Lotta Klister, Die post-koloniale Zeug*innenschaft der afro-deutschen Community – Sichtbarmachung von Rassismus als Form der kolonialen Kontinuität in Deutschland, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.06.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=226

Welcher Zusammenhang lässt sich zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Erbe mit Blick auf die Gegenwart und koloniale Kontinuitäten herausarbeiten, am Beispiel der Benin Bronzen?

Jody A. Pinkrah (SoSe 2021)

Einleitung

Die Welt befindet sich seit Jahren in einem anhaltenden Globalisierungsprozess. Manche Wissenschaftler*innen argumentieren, dass der Prozess im 15. Jahrhundert mit Kolumbus begann, andere datieren den Beginn mit der Entstehung des Wirtschaftsbegriffs in den 60er Jahren (Straumann 2016). In jedem Fall lassen sich verschiedene Phasen im Laufe des Prozesses festlegen, mit denen weitreichende Veränderungen in allen Bereichen des menschlichen (Zusammen-)Lebens einhergehen, wie Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt, Kommunikation etc. Die Globalisierung ist nicht konfliktfrei, dafür aber beständiger Grund für Debatten. Der sich stetig steigernde kulturelle Austausch ist ein Teil dieser Veränderungen und Diskussionen. Die Debatte um kulturelle Aneignung gewann in den letzten Jahren immer mehr an Aufmerksamkeit, womit auch Diskussionen um Kulturerbe immer mehr in den Fokus vieler Menschen gerückt wurden. Diese Diskussion soll auch Thema dieser Arbeit werden, indem ich mich mit der Frage nach der Restitution der Benin Bronzen und den damit in Verbindung stehenden kolonialen Kontinuitäten beschäftige. Meine Fragestellung dazu lautet: Welcher Zusammenhang lässt sich zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Erbe mit Blick auf die Gegenwart und kolonialen Kontinuitäten herausarbeiten, am Beispiel von den Benin Bronzen?

Um die Fragestellung angemessen erörtern zu können, definiere ich erst einmal die wichtigsten Begriffe mithilfe des „Online-Lexikons zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“. Anschließend gehe ich zur Kolonialzeit über und bespreche Alexander Humboldts Rolle des Forschers in einer fremden Kultur zu jener Zeit mit dem Text: „Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika: Chancen und Herausforderungen einer Themensaison“ von Sandra Rebok. Daran anknüpfend gehe ich vor dem Hintergrund des Humboldt Forums und der aktuellen Diskussion über die Benin-Bronzen auf kulturelles Erbe in Museen ein, sowie die kulturelle Aneignung von vielen ausgestellten Objekten in vorrangig westlichen Museen (mit dem Text von Lutz Mükke und Maria Wiesner „Die Beute Bronzen“). Zuletzt betrachte ich die Folgen, die das Aneignen von Kulturerbe für die Menschen der Ursprungskultur hat.

Definitionen: (Im)materielles Kulturerbe und kulturelle Aneignung

Zuerst muss geklärt werden, was materielles bzw. immaterielles Kulturerbe ist: „Als Kulturerbe wird die Gesamtheit der materiellen und immateriellen Kulturgüter bezeichnet“ (Bierwerth 2014). Kulturgüter sind essenziell für eine nationale und kollektive Identitätsbildung. Kulturerbe ist ein sehr dehnbarer Begriff und kann sich demnach abhängig von Land und Kultur unterscheiden. Es wird zwischen materiell und immateriell unterschieden. Das materielle Erbe umfasst sowohl bewegliche als auch unbewegliche Objekte. Diese Objekte besitzen einen Wert, im Sinne einer symbolischen Bedeutung, für die entsprechende Bevölkerungsgruppe. Immaterielles Erbe hingegen umfasst kulturelle sowie soziale Praktiken, Techniken, Kenntnisse und mündliche Überlieferungen. Immaterielles Erbe wird also von Menschen getragen. Durch Kulturerbe wird Vergangenheit überliefert, die gleichzeitig für die Zukunft bewahrt werden soll. Kulturerbe ist in einem stetigen Wandel, da es neu interpretiert und angenommen werden kann (Bierwerth 2014). Das heißt aber nicht, dass kulturelle Elemente aus ihrem Kontext gerissen und in einem anderen verwendet werden sollten, das wäre wiederum kulturelle Aneignung. Im “Cambrige Dictonary” wird kulturelle Aneignung als “the act of taking or using things from a culture that is not your own, especially without showing that you understand or respect this culture” (Cambridge Advanced Learner’s Dictionary & Thesaurus) beschrieben. Im Kontext von kulturellem Austausch und Wandel kommt es allerdings ständig zu kulturellen Aneignungen. Kulturelle Aneignung wird somit zunehmend alltäglich und popkulturell verhandelt.

Es stellt sich also die Frage, ab wann und warum wird dies zu einem Problem? Eine Antwort wäre beispielsweise, dass es zum Problem wird, sobald Kulturerbe kommerzialisiert wird. Denn dies hat fast immer zur Folge, dass der Ursprung des Kulturerbes keine Anerkennung mehr findet, womit immer negative Konsequenzen für die Ursprungsgruppen einhergehen. Diese bestehen darin, dass innerhalb der Kommerzialisierung und damit in Bezug auf ein System, dessen Markt nach kapitalistischen Maximen agiert, beispielsweise nur ausgewählte und für die Elite nützliche Teile verschiedener Kulturen akzeptiert und assimiliert werden. Das bedeutet in der Konsequenz, dass entsprechende Kulturen nicht vollständig in ebendieser Kultur anerkannt und akzeptiert werden. Die Menschen, die der Ursprungskultur angehören, sind weiterhin von Diskriminierung betroffen. Sie profitieren zudem am wenigsten von der Kommerzialisierung der Elemente ihrer Kultur (vgl. Armbruster 2002). (Kultureller) Austausch setzt Reziprozität voraus.

Ein Beispiel der beschriebenen Kommerzialisierung von Kulturgut ist die Körpertechnik Capoeira. Sie wurde von Tänzen, Ritualen und Musikelementen aus Afrika inspiriert. Capoeira ist mittlerweile einer der Trendsportarten Deutschlands und genießt große Beliebtheit innerhalb der Bevölkerung, besonders in der Hauptstadt Berlin (Armbruster 2002). Capoeira ist historisch gesehen verbunden mit dem transatlantischen Sklavenhandel und dem Plantagensystem, insbesondere den Zuckerrohrplantagen und dem Widerstand der versklavten Menschen. Laut aktuellen Forschungen wird davon ausgegangen, dass Capoeira von Bantu-Sklaven[1] in der Kolonialzeit entwickelt und dazu genutzt wurde, um sich vor Gewalt zu schützen. Im Laufe der Zeit wurde Capoeira zu einem festen und sehr wichtigen Bestandteil der afrobrasilianischen Kultur und transformierte sich fortlaufend. Im Jahr 1888 wurde Capoeira als Gewaltakt deklariert und damit sogar kriminalisiert:

„In einer historischen Perspektive muss Capoeira aber zunächst als kulturelle Praxis begriffen werden, die die körperlich gespeicherte Erinnerung an die Gewalt der Sklavenhaltergesellschaft und die Techniken und Rituale physischen, psychischen und religiösen Überlebens beinhaltet.“

Armbruster 2002

Gegenwärtig ist Capoeira eine Mischung aus Sport, Spiel, Tanz, Ritual, Akrobatik und Musik. Durch die Globalisierung kam Capoeira in den 90er Jahren auch in Europa und den USA an. Die Kommerzialisierung Capoeiras begann allerdings in Brasilien.

1937 wurde Capoeira als brasilianische Nationalsportart anerkannt und damit auch wieder legalisiert. Mit der fortlaufenden Ausbreitung ist sie nicht mehr Symbol des Widerstands und der gewaltvollen Erfahrung des Schwarz-Seins für die Afrobrasilianer*innen (Armbruster 2002). Derweil verdienen Leiter*innen größerer Unternehmen, wie zum Beispiel Fitnessketten daran. Diese sind tendenziell eher Menschen, die nicht aus der Ursprungsgruppe kommen und nur wenig bis gar keinen Bezug zu der Entstehungskontext haben. Strukturelle Rassismen und Diskriminierungen wirken nachhaltig auf die Menschen/Bevölkerungsgruppen (in diesem Fall die Bevölkerungsgruppen, aus deren geteilter kultureller Praxis, also dem Erfahrungsraum, Capoeira entstanden ist). Sie sind damit gesellschaftlich benachteiligt und finden schwerer oder gar keinen Zugang zu den Positionen, die ihnen erlauben würden, ihre eigene Kultur/Kulturgut in einem globalisierten marktwirtschaftlichen System zu präsentieren, zu verteidigen und damit eben auch in eine Kommerzialisierung zu überführen. Die gesamtgesellschaftliche Anerkennung eines spezifischen Kulturguts aus einer Kultur bedeutet nicht die gleichzeitige Anerkennung einer gesamten Kultur oder Gruppe von Menschen.

Es kann also gesagt werden, kulturelle Aneignung wird immer dann zum Problem, wenn die Kultur, aus der die Kulturelemente adaptiert werden, nicht anerkennt wird und die Kulturelemente und die Bedeutung in ihren ursprünglichen Kontexten nicht verstanden werden. Die Philosophin Djamila Ribeiro beschreibt die Aneignung fremder Kulturelemente „als ein Problem des Systems und nicht eines Individuums.“[2] Sie sagt, man muss das System verstehen.

Humboldts Forschung und Wahrnehmung in Lateinamerika

Das Aneignen von Kulturerbe wirft vor allem in kolonialen Kontexten Fragen nach Wiedergutmachung und kollektiver Identitätsbildung auf. Hinsichtlich der Verbindung zwischen Lateinamerika und Europa war Alexander von Humboldt ein sehr wichtiges Bindeglied. Er war ein deutscher Wissenschaftler, der von 1769 bis 1859 lebte. Bekannt wurde er für seine fünfjährige Expeditionsreise (von 1799 bis 1804) durch Lateinamerika (Rebok 2019: S. 10). Seine empirischen Aufzeichnungen und detaillierten Karten gelten, insbesondere in Lateinamerika, noch immer als Forschungsgrundlage. Er gilt als der erste westliche Forscher, der Natur und Klima in einen kontinentalen Kontext setzte und erkannte, wie er selbst oft betonte, dass alles in einer Wechselwirkung geschieht (Rebok 2019).

Wie Humboldt und seine Forschung in Lateinamerika wahrgenommen wird, unterscheidet sich von Land zu Land und wurde durch Umfragen erfasst. Die unterschiedlichen Auffassungen sind von verschiedenen Faktoren abhängig wie z.B. der Aufenthaltsdauer Humboldts im entsprechenden Land oder der Intensivität, in welcher er mit den lokalen Wissenschaftler*innen arbeitete. Jedes Land hat somit „seinen eigenen Humboldt zu pflegen“ (Rebok 2019: S. 24).

In den Umfragen kamen viele verschiedene Aspekte zur Sprache. Es werden zum Beispiel seine wissenschaftlichen Kenntnisse, sowie seine Beiträge zur Weiterentwicklung diverser Disziplinen bewundert. Er gilt als einer der wichtigsten Wissenschaftler der letzten Jahrhunderte. Außerdem wird seine transnationale Sicht als hilfreich beschrieben, da sie dazu beitrug, Nationalismen zu überwinden. Er vermittelte wohl eine sehr humane Version Lateinamerikas (im Gegensatz zu anderen europäischen Ethno- und Soziologen) und machte gleichzeitig auf die ungerechte Verteilung der Ressourcen und die daraus folgenden Konsequenzen aufmerksam. Er kritisierte damit auch die koloniale Ausbeutung und Regierung. Er erhob also nicht nur eine beachtliche Menge an wissenschaftlichen Daten, sondern setzte sich auch mit den Lebensgewohnheiten, der Wirtschaft, der Politik und den sozialen Problemen der Menschen auseinander. Ein bedeutend großer Teil des Wissens über Lateinamerika, gelangte durch Humboldt nach Europa. Weiterhin trug er dazu bei, dass Errungenschaften lateinamerikanischer Wissenschaftler*innen als solche anerkannt wurden und bezog diese in seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten mit ein. Später hatte Humboldt auch Einfluss auf zahlreiche wissenschaftliche Projekte, sowie auf die politische Führung verschiedener südamerikanischer Länder.

Genauso gibt es neben der durchaus sehr positiven Haltung Lateinamerikas gegenüber Humboldt auch kritische Stimmen, die in den Umfragen zum Vorschein kamen. Humboldt kritisierte zwar einerseits die koloniale Regierung, andererseits unterstützte er diese, indem er seine Forschungsergebnisse zur Verfügung stellte, welche zur weiteren Ausbeutung der Ressourcen des Landes verhalfen. Außerdem wird insbesondere in Kolumbien die Frage aufgeworfen, warum sich nicht auf kolumbianische Wissenschaftler*innen konzentriert wird, anstatt Humboldt zu seinem Jubiläum zu ehren. Weiterhin gibt es eine Sensibilisierung für das Wort entdecken. Dieses impliziert, dass Dinge erst eine Bedeutung erlangen würden, wenn sie von Europäer*innen entdeckt werden und für die europäische Wissenschaft als wichtig gelten. Es wird auch hervorgehoben, dass für Humboldt (wie für viele seiner Zeitgenossen) das wissenschaftliche Interesse über dem kulturellen Respekt stand. So geht aus seinen Tagebüchern hervor, dass er z.B. ca. im Jahr 1800, aus heiligen Grabstätten indigener Völker, Skelette der Vorfahren zu Forschungszwecken nach Europa mitnahm (Rebok 2019).

Humboldt-Forum

Dass Länder nicht nur durch die kolonialen Mächte bestohlen und ausgebeutet wurden, sondern auch durch europäische Forscher*innen, die Teil der kolonialen Mächte waren und in ihren Heimatländern oft als Abenteurer*innen und Held*innen galten, ist bekannt und Teil der antikolonialen Aufarbeitungsgeschichte. Dabei wurden viele für die indigenen Bevölkerungen wichtige Teile ihres Kulturerbes entwendet, die mittlerweile in zahlreichen europäischen bzw. westlichen Museen zu finden sind. Das Präsentieren von gestohlenem Kulturerbe und der daraus resultierende finanzielle Gewinn für die Museen (durch z.B. wachsende Besucherzahlen), ist die materiell lukrativste Form kultureller Aneignung. Durch sie werden betroffene Gruppen nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes ihrer kulturellen Geschichte beraubt, sondern ihnen wird auch die Möglichkeit genommen, ihre Geschichte(n) selbst erzählen zu können. Sie werden stattdessen in eine eurozentrische Erzählperspektive gedrängt. Die Verteilung von Macht spielt also eine wesentliche Rolle bei kultureller Aneignung. Diese Tatsache entfacht weltweit Diskussionen über die Frage nach Restitutionen und Provenienzforschungen. Genauso werfen die sogenannten Human Remains ethnische und moralische Fragen auf.

Teil dieser Debatten ist auch das Humboldt-Forum in Berlin, dessen Namensgeber die Brüder Alexander von Humboldt (siehe Seite 3) und Wilhelm von Humboldt, ein Gelehrter und Schriftsteller, sind (Stiftung Preußischer Kulturbesitz). Schon im Zuge des Wiederaufbaus und der Neueröffnung des Humboldt-Forums kam es immer wieder zu Debatten und Kritik bezüglich kolonialer Sammlungen, aber auch bezüglich des Umgangs mit Menschenknochen aus Afrika, die zu rassenanthropologischen Forschungs- und Sammelzwecken während der Kolonialzeit nach Berlin gebracht worden waren. Vor allem die Präsentation dieser Sammlungen war starker Kritik ausgesetzt, nicht zuletzt, da diese mit nur „eingeschränkter Beteiligung betroffener Gruppen und unter weitgehender Ausblendung postkolonialer Perspektiven“ (Zimmerer 2013) geschehen sollte. Die Gründer wollten, dass Berlin, mithilfe des Humboldt-Forums, zu einer der größten Museumsstädte Europas wird. Sie sollte über eine Institution von Weltklasse verfügen, (dank der enorm großen Sammlung von gestohlenen Kulturgütern) vergleichbar mit dem British Museum oder dem Louvre. Das Humboldt-Forum sollte die Botschaft eines Universalmuseums tragen, was im Hinblick auf die geschichtlichen Hintergründe eine gewisse Ironie mit sich bringt. Forderungen nach Restitutionen wurden immer lauter, insbesondere in Bezug auf die Benin-Bronzen: „Die Bronzen gehören zu den bedeutendsten und wertvollsten afrikanischen Kunstwerken. In den vergangenen Jahren sind sie außerdem zu Symbolen der Debatte um den Umgang mit kolonialer Raubkunst geworden“ (Häntzschel 2021).

Benin-Bronzen

Vor 1897 schmückten noch hunderte Bronzen die Wände des königlichen Palasts im Königreich Benin. Das Edo-Volk nutzte keine Schriftsprache, sondern die Bronzen, um alle wichtigen Ereignisse auf ihnen festzuhalten. Andere Benin Antiquitäten hatten sakrale Funktionen und wurden von Königen als Kommunikationsmittel genutzt, um mit ihren Vorfahren in Kontakt treten zu können. Hier wird der enorme emotionale Wert deutlich (neben dem materiellen Wert), die die Objekte für die Menschen im Hinblick auf ihr Kulturerbe haben.

Vor 120 Jahren brannten die Briten den gesamten königlichen Palast im damaligen Benin nieder und plünderten das Lagerhaus. Dabei wurden zahlreiche Kunstschätze (ca. 3500 bis 4000 Objekte) aus dem Königreich Benin (heutiges Nigeria) gestohlen (Mükke, Wiesner 2018). Einige davon wurden der Queen geschenkt, oder Elitesoldat*innen behielten ihre Kriegsbeute selbst. Der Großteil jedoch wurde nach der Rückkehr der Truppen für die Finanzierung des Krieges an Museen und Sammlungen in aller Welt verkauft. Neben Großbritannien besitzt Deutschland die meisten der geraubten Benin-Bronzen. Das Humboldt-Forum verfügt mit ca. 500 Stück über die zweitgrößte Sammlung von Benin-Objekten Deutschlands (Mükke, Wiesner 2018). Kurator*innen aus westlichen Museen hatten lange Abstand davon gehalten mit Nigeria in ein Gespräch zu treten, aufgrund der Angst vor Forderungen auf Restitutionsansprüchen. Als diese letzten Endes nicht mehr zu ignorieren waren, wurde immer wieder darauf verwiesen, dass das Land zu korrupt sei und die Museen zu unprofessionell und unsicher wären, um solch wertvolle Objekte auszustellen (Mükke, Wiesner 2018). Diese Aussagen haben nicht nur einen rassistischen Unterton, sondern entsprechen demnach nicht der Wahrheit und werden nur vorgeschoben, um den Besitz des kulturellen Erbes weiterhin rechtfertigen zu können. Wie auch der nigerianische Kurator Theophilus Umogabi nochmals deutlich machte, waren die Objekte mehr als 500 Jahre lang im Besitz des Königreichs Benin, bevor sie auf brutalste Art und Weise geraubt wurden (Mükke, Wiesner 2018). Außerdem kann der Westen, allein aus moralischer Sicht, keine Ansprüche auf das gestohlene Kulturerbe erheben. Die Debatten der westlichen Museen um Restitution lösen in Nigeria ein nachwirkendes Trauma aus, viele Nigerianer*innen fühlen sich nicht ernstgenommen: „Wie kann es sein, dass ich bis nach London fliegen muss, um etwas anzuschauen, das zu meiner Kultur gehört, das uns gestohlen wurde?“ (Adekunle Gold[3] in Mükke, Wiesner 2018).

Restitution

Nach mehr als hundert Jahren, in denen Restitutionsforderungen, vor allem für die Benin-Bronzen gestellt wurden, scheint es endlich Bewegung zu geben. Der Generalintendant des Humboldt-Forums, Hartmut Dorgerloh, kündigte nun überraschend an, dass die Bronzen (zumindest ihr größter Teil) restituiert werden sollen (Häntzschel 2021). Wenn dieses Versprechen wirklich gehalten wird, wäre das ein weltweiter Meilenstein und Präzedenzfall. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Sammlungen und somit die Benin-Bronzen nicht dem Humboldt-Forum gehören, sondern der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Steffes-Halmer 2021). Der Direktor Hermann Pranziger soll die Rückgabegespräche nächstes Jahr (2022) führen. Im Artikel „Archive der Zukunft“ wird aufgrund der immer wieder aufkommenden Frage, wie Restitutionen am besten durchgeführt werden sollen, eine neue Politik der Restitution und die damit verbundene Aufarbeitung von kolonial geschichtlichen Archiven und ethnographischen Sammlungen in Deutschland diskutiert. Es wird über eine räumliche Neuverteilung von Archiven gesprochen und eine andere Art von Kuration. Für die Zukunft von Archiven muss es nicht nur die Möglichkeit zu Restitutionen geben, sondern auch die Sammelgeschichte erneut reflektiert werden und „als eine Geschichte der Macht ihrer Institutionen, ihrer Formationen und ihrer Medien“ begriffen werden (Kuster 2019: 98).

Die Rückgabe des Kulturerbes hätte eine immense Bedeutung für die Menschen und das Land, die Bronzen sind in Nigeria zu einem emotionalen Symbol kolonialer Erniedrigung geworden (Mükke, Wiesner 2018). Der Ministerpräsident von Nigeria, Godwin Nogheghase Obaseki, erklärte in einem Statement 2018:

„Diese Kunstwerke verkörpern das, was wir sind: unser Volk, unsere Kultur, unsere Religion, auch einen Teil unserer politischen Struktur. Sie sind Symbole unserer Identität. 100 Jahre nachdem sie uns mit fürchterlicher Gewalt entrissen wurden, versuchen wir immer noch, sie zurückzubekommen. Was 1897 passierte, hat unser ganzes Volk traumatisiert. Es war ein Schock. Vergessen Sie nicht, dass Benin einst eine Weltmacht war.“

Mükke, Wiesner 2018

Seiner Ansicht nach kann die Rückholung der Benin-Bronzen dabei helfen, das koloniale Trauma zu überwinden.

Außerdem haben die Objekte (wie schon zuvor erwähnt) einen enormen materiellen Wert, an dem Menschen verdienen, die nur wenig bis gar keine Verbindung zu der Herkunft oder Kultur der Objekte haben. Bis heute tauchen Objekte aus Benin auf Auktionen auf. Über die Jahre hinweg sind die Preise für entsprechende Objekte gewaltig gestiegen (Mükke, Wiesner 2018). Selbst, wenn mittlerweile eine kritischere Auseinandersetzung stattfindet und die Objekte nicht mehr so leichtfertig verkauft werden, wurde mit ihnen über Jahrzehnte hinweg viel Geld gemacht, ohne dass der Ursprungsort oder die Menschen dort in irgendeiner Weise davon profitierten. Wissenschaftler*innen diskutierten sogar noch, ob der Stil der Bronzen nicht viel mehr von portugiesischem, deutschem, indischem, chinesischem, oder japanischen Ursprung sei (Mükke, Wiesner 2018), was erneut verdeutlicht, wie wenig Anerkennung die Menschen und die Kultur, aus der die Schätze stammen, bekommen.

Fazit

Es gab also, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe Anerkennung der Kultur, aus der die Objekte eigentlich stammten. Darüber hinaus wurde mit Eintrittsgeldern, Katalogen und Bildrechten viel Geld verdient. Zudem sind Museen elementare Anziehungspunkte für Tourismus. All dies sind weitere Gründe, weshalb die Benin-Bronzen zurück in das Ursprungsland gegeben werden sollten.

Kulturerbe schafft kollektive Identitäten. Es hilft Menschen dabei, sich ihrer Herkunft bewusst zu werden und ihre kulturellen Identitäten zu konstituieren und zu verstehen. So wird über materielles, sowie immaterielles Kulturgut Wissen weitergetragen. Deswegen haben viele Kulturgüter einen enormen ideellen Wert für viele Menschen. Wenn Kulturerbe zerstört oder gestohlen wird, hat das zur Folge, dass innerhalb der betroffenen Bevölkerungsgruppe Identitäten und Kulturen mit Traditionen und Überzeugungen nicht weiter ausgebildet und/oder weitergetragen werden können. Das schafft Platz für neue Machtstrukturen, die die Menschen oft in schwächere Positionen drängt und es kommt zum Verlust von Identitäten. Das ist für mich auch einer der Gründe, wieso kulturelle Aneignung oft ein Problem darstellt. Dabei geht es darum, dass der Wert einer Sache umgedeutet wird und gleichzeitig die Menschen, die diese Umdeutung vornehmen, von ihr profitieren. Wenn etwas mit dem bestehenden Wert und der bestehenden Bedeutung aus einem Kontext gerissen und in einen Neuen gebracht wird, ist das dann ein Problem, wenn dies ohne Verweis auf die Quelle geschieht, ohne Anerkennung dessen, woher es genommen wurde. Etwas wegzunehmen und selber anzunehmen, ohne dabei etwas zurückzugeben, im kleinsten Fall, Anerkennung, sollte nicht legitim sein. Deshalb gilt das Argument des kulturellen Austausches für mich nicht. Austausch impliziert, dass alle Parteien einen Nutzen aus ihm ziehen können. Es geht also um Wertschätzung des Ursprungs und gerechter Verteilung von Anerkennung und Profit. Da das aber in den meisten Fällen nicht gegeben ist, und Profit und Anerkennung bei denen landet, die in Gesellschaften aufgrund von Strukturen und Systemen, die ihnen zugute kommen am wenigsten Widerstand entgegenwirken müssen, ist es umso wichtiger, ein Bewusstsein für dieses Problem zu schaffen. Besonders bei denen, die sich durch die Systeme, in denen wir leben, weniger konfrontiert mit der Thematik sehen und für die das Problem in ihrer Lebensrealität nicht existent ist.

Bei diesen Menschen muss angesetzt und ein Bewusstsein aufgebaut werden, weil man nur gegen diese Problematik vorgehen kann, wenn ein Bewusstsein dafür vorhanden ist. Es ist also wichtig, dieses Bewusstsein zu schaffen und gleichzeitig durch z.B. Restitution, Aufklärung und Wertschätzung Kulturerbe weiterhin zu sichern. Deswegen sollte insbesondere im Hinblick auf Museen und deren Sammlungen ein Umdenken stattfinden. Die Aufarbeitung ethnographischer Sammlungen ist ein wichtiger Prozess für den entsprechend Konzepte geschaffen werden müssen, um dann grundlegende Änderungen herbeiführen zu können. In dem Bericht „The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics” (2018) forderten Sarr und Savoy „eine gemeinsame Wende in der Kulturpolitik, die das Recht der afrikanischen Länder auf ihr kulturelles Erbe anerkennt. Restitution wird dabei als ethischer Akt der Kultivierung verstanden, der neue kulturelle Beziehungen knüpft“ (Kuster 2019: 96). Mit ihrem Restitutionsprojekt wurde der Beginn eines Konzeptes geschaffen, auf dem aufgebaut werden kann, um fundamentale und systemische Veränderungen zu erzeugen. Genauso essenziell für ein immer globaler werdendes Leben ist aber natürlich der kulturelle Austausch. Ich denke, er ist mittlerweile auch in jeglichen Aspekten unseres Lebens verankert und nicht mehr wegzudenken. Das Fundament dafür sollte allerdings eine respektvolle und wertschätzende Ebene sein.


[1] „Die Somalischen Bantu… sind ethnische Minderheiten gegenüber der überwiegenden Mehrheit der Somali in Somalia.“  Diverse Bantu-Volksgruppen wurden im 19. Jahrhundert im Rahmen des ostafrikanischen Sklavenhandels aus dem heutigen Tansania, Malawi, Mosambik und Kenia nach Somalia verkauft. (Die Evolution des Menschen o.D.)

[2] https://www.blickpunkt-lateinamerika.de/artikel/die-turban-kontroverse-rassismus-gegen-schwarz-und-weiss/

[3] Nigerianischer Künstler und Sänger


Literaturverzeichnis

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Bierwerth, Gesa 2014: Kulturerbe. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa.

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https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/cultural-appropriation (31.10.2021)

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Häntzschel, Jörg 2021: Versprechen oder Versprecher? Er „erwarte“ die Rückgabe der Benin-Bronzen noch in diesem Jahr, sagte Hartmut Dorgerloh vom Humboldt-Forum. Nur: Wer entscheidet das?

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Kuster, Brigitta, Britta Lange und Petra Löffler 2019: Archive der Zukunft? Ein Gespräch über Sammlungspolitiken, koloniale Archive und die Dekolonisierung des Wissens. In: Heft 20. Zeitschrift für Medienwissenschaft.

https://mediarep.org/bitstream/handle/doc/4481/ZfM_20_Was_uns_angeht_96-111_Kuster_Lange_Archive-der-Zukunft_.pdf?sequence=6 (31.10.2021)

Mükke, Lutz und Maria Wiesner 2018: Die Beute Bronzen.

https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/benin-die-beute-bronzen-15359996.html#die-geschichte (31.10.2021)

Rebok, Sandra 2019: Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika: Chancen und Herausforderungen einer Themensaison.

https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/62425 (31.10.2021)

Steffes-Halmer, Annabelle 2021: Geraubtes Erbe Afrikas: Kehren die Benin-Bronzen zurück?

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https://www.preussischer-kulturbesitz.de/newsroom/dossiers-und-nachrichten/dossiers/dossier-humboldt-forum/auf-einen-blick-das-humboldt-forum.html (31.10.2021)

Straumann, Tobias 2016: Die drei Phasen der Globalisierung.

https://blog.tagesanzeiger.ch/nevermindthemarkets/index.php/39267/die-drei-phasen-der-globalisierung/ (31.10.2021)

Zimmerer, Jürgen 2013: Kulturgut aus der Kolonialzeit – ein schwieriges Erbe?

https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/MUKU_1502_Artikel-05_Zimmerer.pdf?referrer=justicewire (31.10.2021)


Quelle: Jody A. Pinkrah, Welcher Zusammenhang lässt sich zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Erbe mit Blick auf die Gegenwart und koloniale Kontinuitäten herausarbeiten, am Beispiel der Benin Bronzen?, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/welcher-zusammenhang-laesst-sich-zwischen-kultureller-aneignung-und-kulturellem-erbe-mit-blick-auf-die-gegenwart-und-koloniale-kontinuitaeten-herausarbeiten-am-beispiel-der-benin-bronzen/

Rassismuskritische Bildung und Aufarbeitung der Kolonialgeschichte an deutschen Schulen

Aktuelle Bestandsaufnahme und Herausforderungen für die Zukunft

Solva Bergmann (SoSe 2021)

Hätte ich vor circa zwei Jahren ehemalige Kolonialmächte aufzählen sollen, wären mir bestimmt Länder wie Frankreich, Spanien und Portugal eingefallen, schließlich habe ich das zumindest aus dem schulischen Geschichtsunterricht mitgenommen: die großen Kolonialmächte, die zahlreiche Länder auf dem afrikanischen und amerikanischen Kontinent besetzten, dessen Bevölkerungen unterdrückten und sie zu ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen ausbeuteten. Allerdings erinnere ich mich kaum an eine aktualisierende Auseinandersetzung zu dem Thema, der Kolonialismus wurde folglich als abgeschlossenes Kapitel der „westlichen“ Geschichte behandelt. Doch welche Rolle spielte Deutschland eigentlich in der Kolonialzeit? Da ich mich im Rahmen des Geschichtsunterrichts nie fundiert mit den Gräueltaten des deutschen Kolonialreichs befasst habe, war mir lediglich bekannt, dass Deutschland selbst Kolonien besaß, diese jedoch im Vergleich zu den anderen Kolonialmächten „vernachlässigbar“ erschienen.

Die intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgte bei mir persönlich erst circa ein Jahr nach meinem Schulabschluss, genauer gesagt kurz nach dem grausamen Mord an George Floyd am 25. Mai 2020. Im Kontext der dadurch ausgelösten Protestbewegungen und Debatten rund um die Themen Polizeigewalt und struktureller Rassismus habe ich erstmalig von dem Genozid an den Herero und Nama gehört. Mindestens so schockiert wie ich über das Ereignis selbst war, war ich überrascht über die Tatsache, dass ich erst jetzt mit dieser dunklen Schattenseite der Geschichte meines eigenen Heimatlandes konfrontiert wurde. Nach dem Austausch mit verschiedenen Freund*innen wurde deutlich, dass das kein individuelles Problem von Desinteresse an bestimmten historischen Ereignissen war, sondern eher von strukturellen Aufklärungslücken an deutschen Schulen zeugt. Aber aus welchen Gründen wird ein solch gesellschaftlich relevantes Thema, gerade anlässlich aktueller Ereignisse wie die späte Anerkennung des Völkermords als solchen, im Lehrplan so unterrepräsentiert? Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung eines postkolonialen Bewusstseins? Diese und weitere Fragen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Um sich der Beantwortung dieser Fragen zu widmen, ist es notwendig, vorab festzustellen, aus welcher Perspektive die Geschichte des Kolonialismus erzählt wird. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie berichtet in dem TED-Talk „The danger of a single story” wie sie als Kind hauptsächlich britische und amerikanische Kinderbücher las und sich nicht mit den Protagonist*innen identifizieren konnte. Darüber hinaus wurde sie durch die ausländischen Autor*innen sogar in dem Maße geprägt, dass sie in ihren ersten selbstgeschriebenen Geschichten ausschließlich weißnormierte Vorstellungswelten wiedergab. Dies verdeutlicht den ausgeprägten Einfluss, den u.a. Bildungs-ressourcen auf unsere eigene Wahrnehmung haben. Adichie weist hierbei auf den Zusammenhang mit strukturellen Machtverhältnissen hin:

„Wie sie erzählt werden, wer sie erzählt, wann sie erzählt werden, wie viele Geschichten erzählt werden, wird wirklich durch Macht bestimmt. Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen.“

Adichie, 2009

Adichie zufolge sind einige wenige Personen in der machtvollen Position, über das Schicksal vieler marginalisierter Personen hinweg zu bestimmen. Im Kontext mit der Aufklärungsarbeit zu Rassismus und Kolonialismus stellt sich folglich die Frage, wer hier die Geschichte erzählt und somit die Deutungshoheit über unser historisches Bewusstsein besitzt.

Aus meinen eigenen Erfahrungen im Geschichtsunterricht erinnere ich mich in der Retrospektive an einige fragwürdige Erzählperspektiven, die sogar teilweise zur Legitimation der kolonialen Taten europäischer Großmächte führen. Prägend dabei ist z.B. die Heroisierung von Christoph Kolumbus als „Entdecker Amerikas“, wodurch die gewaltsame Eroberung des amerikanischen Kontinents und die Ausbeutung dessen indigener Bevölkerung auf eine erschreckend verharmlosende Weise ausgeblendet werden. Eine faire Geschichtserzählung würde allen betroffenen Akteur*innen eine Stimme geben, insbesondere den Kolonisierten, die aufgrund einer asymmetrischen Machtverteilung nie die notwendigen Mittel besaßen, um sich erfolgreich gegen die Kolonisation zur Wehr zu setzen. Ein prägnantes Beispiel, das die vorherrschende Erzählperspektive bestätigt, ist das Kinderlied „Ein Mann, der sich Kolumbus nannt“, das u.a. auf dem YouTube-Kanal „Sing mit mir: Kinderlieder“ veröffentlicht wurde. Der folgende Strophenausschnitt schildert die Situation kurz nach der Ankunft Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent.

Das Volk an Land stand stumm und zag,

[…]
Da sagt Kolumbus: „Guten Tag!

[…]
Ist hier vielleicht Amerika?“

Da schrien alle Wilden: „Ja!“

Sing mit mir- Kinderlieder, 2015

Bereits die herabwürdigende und diffamierende Bezeichnung der einheimischen Bevölkerung als die „Wilden“ deutet auf ein kolonialisierungsverherrlichendes Narrativ hin. In keiner Zeile des Lieds lässt sich auch nur die Andeutung auf die tatsächlich stattgefundene gewaltsame Übernahme der Kolonisatoren finden.

Der YouTube-Kanal „Cut“ dagegen veröffentlichte 2015 eine Videoaufnahme, in der indigene Personen vor der Kamera zeigen, was „Christoph Kolumbus“ in ihnen emotional auslöst. Diese Perspektive komplementiert das bestehende dominante Narrativ, indem nicht nur der Blickwinkel der sowieso schon machtvollen Personen beleuchtet wird.

Äquivalent zu der fehlenden Aufklärung über die Kolonisierung des amerikanischen Kontinents charakterisiert sich das in der Schule angeeignete Wissen über die deutsche Kolonialgeschichte als sehr eindimensional und lückenhaft.

Ein Beleg für die Existenz kolonialer Kontinuitäten ist die fehlende Aufarbeitung über den Genozid an den Herero und Nama, der von Historiker*innen als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird (vgl. Conrad, 2008). Die Kolonie Deutsch-Südwestafrika auf dem heutigen Gebiet des Staates Namibia war seit 1884 die erste Kolonie des Deutschen Kaiserreichs. Das Gebiet war sehr trocken, weshalb die Bevölkerung hauptsächlich von der Viehzucht lebte. Die Bevölkerungszahl lag bei circa 200.000 Einwohner*innen, während sich davon etwa 80.000 zu dem Volk der Herero und 20 000 zu den Nama zählten (vgl. Opfer-Klingerl, 2012).

In den 1890er Jahren entstanden zunehmend Probleme aufgrund der grundsätzlichen Gewaltstruktur der kolonialen Situation. Infolge einer schweren Rinderpest und einer langen Dürreperiode geriet besonders das Nomadenvolk der Herero in existenzielle Schwierigkeiten.

1904 erhoben sich die Herero gegen die Kolonialherrschaft, nachdem sie zunehmend rassistisch motivierte gewaltsame Übergriffe ertragen mussten und die deutschen Siedler*innen immer größere Gebiete für sich beanspruchten (vgl. Ullrich, 1994). Am 11. August 1904 spitzte sich der Konflikt zu, als der neu eingesetzte Generalleutnant Lothar von Trotha und etwa 2000 deutsche Soldaten der „Schutztruppe“ die Herero mit unsagbarer Brutalität in der Schlacht am Waterberg angriffen und überwältigten (vgl. segu Geschichte, o. J.).  Die überlebenden Herero flohen in der Nacht in die wasserarme Omaheke-Halbwüste. Im Oktober 1904 erließ von Trotha den sogenannten „Vernichtungsbefehl“, durch den die Herero offiziell nicht länger auf dem deutschen „Schutzgebiet“ geduldet werden sollten und dessen totale Vernichtung angeordnet wurde (vgl. bpb, 2014).

„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu Ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“  

von Throtha, 1904 zitiert nach Gewald, 1994

Den Herero wurden in der Folge die Rückwege zu Wasserquellen von der „Schutztruppe“ abgeschnitten, weshalb viele von ihnen in der Wüste verdursteten. Andere Überlebende wurden zur Zwangsarbeit deportiert und starben in den Internierungslagern (vgl. Schaller, 2004). Auch Teile einer anderen Bevölkerungsgruppe, der Nama, lehnten sich gegen die Kolonialherrschaft auf und erlitten ein ähnlich grausames Schicksal. Nach Schätzungen zufolge verloren etwa mindestens 60 000 Herero und 10 000 Nama durch den Völkermord ihr Leben (vgl. bpb, 2014). Neben der Massenermordung wurden menschliche Schädel von Militärärzt*innen nach Deutschland geschickt, um rassistische Theorien zu belegen und koloniale Herrschaftsansprüche zu legitimieren (vgl. Kimmerle, 2018).

Zu dem Massenverbrechen gab es bis vor kurzer Zeit seitens der Bundesrepublik Deutschland keine angemessene Aufarbeitung, erst im Mai dieses Jahres, weit mehr als 100 Jahre später, wurde der Völkermord als solcher anerkannt. Gründe für die so verspätete Aufarbeitung sind einerseits das südafrikanische Apartheidsregime, das in Namibia bis 1990 gegolten hat. Für die Nachfahren der Opfer ist es also erst seit der Unabhängigkeit Namibias 1990 möglich, sich öffentlich zum Ausdruck zu bringen (vgl. Brehl, 2021). Zudem ist aber auch in den ehemaligen Kolonialstaaten das generelle Bewusstsein für vergangene koloniale Verbrechen erst sehr spät aufgekommen, nachdem lange Zeit Gewalttaten an der indigenen Bevölkerung als Kollateralschaden der Besiedlung behandelt wurden.

Doch vor allem seit dem 100. Jahrestag des Genozids fordern immer mehr Nachfolger*innen der Herero und Nama eine offizielle Anerkennung des Genozids, eine Entschuldigung und entsprechend angemessene Entschädigungsleistungen (vgl. Kimmerle, 2018).

Nachdem erste Erfolge aufgezeichnet werden konnten, als z.B. geraubte menschliche Gebeine an Namibia zurückgegeben wurden, warteten die Nachfahren lange vergeblich nach einer respekt- und würdevollen offiziellen Entschuldigung. So beschreibt es auch der Berliner Herero-Aktivist Israel Kaunatjike:

„Wir wollen unsere […] Würde noch mal herstellen. Anerkennung, Würde, Menschenwürde, das ist für uns das Wichtigste überhaupt. Es geht nicht nur um Geld, materiell, es geht um Respekt, von Menschen, 100.000 Menschen, die damals umgekommen sind.“

Kaunatjike, 2018 zitiert nach Baschek, 2018

Doch warum weigerte sich die Bundesrepublik so lange, den Genozid rechtlich offiziell anzuerkennen? Die Betonung liegt hier vor allem auf rechtlich, denn historisch-politisch wurde die Einschätzung als Völkermord seitens der Bundesregierung infolge einer parlamentarischen Anfrage der Linken bestätigt (vgl. Bundesregierung, 2016). Der Hauptgrund für den zurückhaltenden Umgang und die fehlende Aufarbeitung liegt wohl in der Angst, dass die verbleibenden Herero und Nama rechtliche Ansprüche auf Entschädigungszahlungen erheben könnten.

Daher gab es seit 2015 zwischen der deutschen und namibischen Regierung langwierige Verhandlungsgespräche über mögliche Entschädigungsleistungen. Zwar waren in der Delegation aus Namibia auch Vertreter*innen der Herero und Nama, die allerdings von der dortigen Regierung ausgewählt wurden (vgl. bpb, 2021). Der Hintergrund dabei ist, dass die Herero und Nama auch in Namibia bis heute noch als Minderheiten gelten und ihre Sonderanerkennung als Opfer des Völkermords von der Seite der namibischen Regierung aus wenig bis gar nicht gewürdigt wird (vgl. Brehl, 2021). Ebenso problematisch ist daher das Argument der Bundesregierung, dass Namibia von Deutschland das höchste Entwicklungsgeld pro Kopf bekomme, mit welchem die zusätzlichen Entschädigungsleistungen obsolet erscheinen. Doch Vertreter*innen der Herero und Nama kritisierten, dass jenes Geld nicht bei ihnen ankomme und dass sie bis heute in einer finanziell prekären Notlage leben müssen. Erwähnenswert an dieser Stelle ist, dass das Farmland der Herero und Nama nach dem Genozid enteignet und an deutsche Siedler*innen verkauft wurde. Auch heute ist über die Hälfte des kommerziellen Farmlands unter dem Besitz von weißen deutschen Siedler*innen (vgl. Kimmerle, 2018).

Nach über fünfjährigen Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen, teilte Außenminister Heiko Maas mit:

„Als Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde, wollen wir Namibia und die Nachkommen der Opfer mit einem substanziellen Programm in Höhe von 1,1 Mrd. Euro zum Wiederaufbau und zur Entwicklung unterstützen. […] Rechtliche Ansprüche auf Entschädigung lassen sich daraus nicht ableiten.“

Maas, 2021

Es bleibt nun abzuwarten, ob bei den betroffenen Personen auch tatsächlich etwas von den versprochenen Projekten und Geldleistungen ankommt.

Mit der offiziellen Anerkennung des Genozids seitens der deutschen Bundesregierung sollte es konsequenterweise auch keinen logischen Grund mehr geben, die deutschen Kolonialverbrechen und dessen Fortwirkungen in die landesweiten Lehrpläne einzuschließen.

Die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin bell hooks schreibt, dass Bildung ein Heilungsprozess ist und mit „Ermächtigung, Befreiung, Transzendenz, Erneuerung des Lebens“ (hooks, 2003, S. 43) zu tun hat. Gleichzeitig kritisiert sie den derzeitigen Status quo im Unterricht, der die bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht aufbricht, sondern sie noch tiefer verfestigt. Jedoch sollte nach hooks die Priorisierung auf der Entwicklung einer herrschafts- und hierarchiefreien Lernmethodik liegen, wodurch „der Raum des Klassenzimmers zu einem Ort des Widerstands gegen Dominanz- und Herrschaftsstrukturen wird“ (Kazeem & Schaffer, 2012, S. 181). Übertragen auf die vorliegende Problematik heißt das, dass nur mit dem Wissen um die Entstehung des Rassismus in der deutschen Kolonialzeit der heute immer noch vorliegende, teils internalisierte Rassismus, erkannt und bekämpft werden kann.

Aktuell wird die Kolonialgeschichte an deutschen Schulen zwar oft behandelt, allerdings aber meistens lediglich im Zusammenhang mit dem Imperialismus (vgl. Lueg, 2021). Maßgeblich wäre vor allem eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Machtgefälle zwischen den Kolonialmächten und den Kolonisierten und der Frage, inwiefern die Kolonialherrschaft die Entstehung von Rassismus bedingt. Dabei reproduziert bereits die Art und Weise, wie die koloniale Gewalt beispielsweise in Lehrbüchern dargestellt wird, oft schon selbst koloniale Diskurse. Den Angehörigen der Herero und Nama wird häufig eine Opferrolle zugeschrieben und ihre Lebenssituation stark vernachlässigt. Neben einer fehlenden Distanzierung von kolonialem Vokabular wie „Häuptling“ oder „Eingeborene“ wird auch die Vielfalt des afrikanischen Kontinents mittels der Rede von „den Afrikanern“ diffamiert.

Die Kölnerin Abigail Fugah startete daher eine Petition zur Überarbeitung der Lehrbücher und Lehrpläne in Nordrhein-Westfalen und begründet dies wie folgt:

 „Wenn schwarze Kinder alt genug sind, Rassismus zu erfahren, dann sind weiße Kinder auch alt genug, um etwas darüber zu lernen.“

Fugah, 2020 zitiert nach Hilfe, 2020

Da Bildung im Kompetenzbereich der Bundesländer liegt, variieren dementsprechend auch die jeweiligen Geschichtslehrpläne. In Niedersachsen z.B. ist lediglich die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen des Imperialismus festgeschrieben, wohingegen in Bayern auch die „Auswirkungen auf die betroffenen Völker an einem Beispiel“ thematisiert werden sollen. Selbst innerhalb eines Bundeslandes herrschen je nach Schulform hochgradige Unterschiede. In Sachsen-Anhalt wird in der neuesten Geschichtsbuchausgabe für die gymnasiale Oberstufe der aktuelle Diskurs über die Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama aufgegriffen, in dem Buch für die Realschüler*innen lässt sich dagegen kein einziger Satz zur Kolonialzeit finden (vgl. Kniestedt, 2020). Inwiefern dann das Thema behandelt wird, liegt folglich in der Verantwortung der einzelnen Lehrpersonen. Ob und wie sich die Lehrkräfte Zeit nehmen, Kolonialismus und dessen Auswirkungen in ihrem Unterricht zu behandeln, ist auch von ihrer eigenen rassismuskritischen Einstellung abhängig (vgl. Kniestedt, 2020). Vorschläge für eine differenziertere Behandlung der Kolonialgeschichte beinhalten neben der Fortbildung für Lehrer*innen Lernkooperationen, die die Interessensvertretung von marginalisierten und rassismuskritischen Gruppen berücksichtigen würde.

Denn nur mit dem Bewusstsein um unsere koloniale Vergangenheit, können wir heute rassistische Strukturen in uns und unserer Gesellschaft überhaupt erkennen. Deswegen sollten wir eine postkoloniale Perspektivenerweiterung in allen Schulen anvisieren, sodass zukünftige Generationen bereits so früh wie möglich für rassismuskritische Themen sensibilisiert werden. Auf diese Weise kann auch zu einer diskriminierungsfreieren Gesellschaft beigetragen werden, in der Schwarze Menschen, bzw. People of Color nicht mehr Opfer von rassistischen Gewalttaten werden müssen.

Literaturverzeichnis

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Quelle: Solva Bergmann, Rassismuskritische Bildung und Aufarbeitung der Kolonialgeschichte an deutschen Schulen: Aktuelle Bestandsaufnahme und Herausforderungen für die Zukunft, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=130

Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen

Susanne Peter (SoSe 2020)

„To repair the harm done to yoga, the harms of cultural appropriation we need to address it at the root causes of separation and disconnection.“

Susanna Barkataki (2021)

Yoga begleitet mich seit meinem Umzug 2011 nach Berlin. Eine aufwühlende Zeit. Auf Empfehlung probiere ich Yoga aus, um wieder Ruhe und Stille zu finden. In einem Tanzstudio in Berlin Schöneberg habe ich meine erste Yogastunde besucht und schnell wurde es zu einer wöchentlichen Praxis. Mit meinem Umzug nach Dublin 2014 spielt Yoga eine zentrale Rolle in meinem Leben und Anfang 2015 entscheide ich mich dafür, eine Ausbildung zu machen. Bis zu dem Zeitpunkt war ich mir nicht bewusst, dass Yoga noch viel mehr beinhaltet als körperliche Praxis. Ich komme zum ersten Mal mit der jahrtausendealten Philosophie in Berührung. Zurück in Berlin unterrichte ich meine ersten Klassen. Ich finde mich nur schwer in der Berliner Yogaszene zurecht. Der Markt an Lehrer*innen ist überlaufen, es gibt unzählige Studios und alles erscheint mir entweder zu hip oder zu esoterisch. Dabei ist es für mich ein Markt, in dem ich leicht einen Platz finden kann. Ich bin eine weiße Frau, schlank und flexibel. Also genau so, wie uns Yoga in den Medien präsentiert wird. Vier Jahre später bin ich Teil dieser Maschinerie und finanziere mir so mein Studium. Genießen kann ich das Lehrerinnen-Dasein nur kurz. Vor jeder Stunde bange ich, dass genug Schüler*innen in meine Klasse kommen. Wir werden gestaffelt bezahlt. Bist du nicht so beliebt oder unterrichtest zu Zeiten, die nicht gefragt sind, verdienst du auch weniger. Ich denke über Content für meinen Instagram Kanal nach, um auf mich aufmerksam zu machen und welcher Workshop sich am besten verkaufen würde. Mit Beginn der Corona-Pandemie bin ich von einem auf den anderen Tag gezwungen, nicht mehr zu arbeiten. Die Studios reagieren zwar schnell und der Unterricht wird online weitergeführt. Die wöchentlichen Stunden reduzieren sich, genauso wie das Stundenhonorar. Die finanzielle Angst ist groß, das Online-Unterrichten raubt mir die letzte Energie. Ich erhalte zum Glück die Sofort-Hilfe. Eine eigene Yoga-Praxis besitze ich nicht mehr, meine Philosophie-Bücher habe ich schon seit Monaten nicht mehr in die Hand genommen. Ich ziehe mich zurück und stelle mir viele Fragen. Es ist für mich der Beginn einer persönlichen und sehr kritischen Auseinandersetzung mit der Yogawelt und meinem Erlebten.

In dieser Zeit stolpere ich auf Instagram über den Podcast Yoga is Dead. Ein reißerischer Titel und die erste Folge White Women Killed Yoga polarisiert nicht weniger. Ich spüre einen Widerstand in mir. Allein durch den Titel fühle ich mich angegriffen. Durch die Rassismus-Debatte in den deutschen Medien, höre ich mir die Folge aber an.Die Yogalehrerinnen Tejal Patel und Jesal Parikh, beide indischer Abstammung, erzählen von ihren diskriminierenden Erfahrungen als Women of Color in einer von weißen Frauen dominierten Yogawelt. Die weiteren fünf Folgen ihrer Podcasts höre ich mir in den folgenden Tagen an. Sie widmen sich den Themen Veganismus, Gurus, 200h Teacher Trainings, Vinyasa und Karma Yoga und deren Auswirkungen auf Yoga. Ich lerne unglaublich viel, nicht nur sind die Folgen gut recherchiert, sie stellen alle ihre Quellen bereit, was ein tieferes Eintauchen in die Thematik leichtmacht.

Das Seminar Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse verändert meinen Blick zusätzlich. Auch wenn Tejal Patel und Jesal Parikh sich in ihrem Podcast auch dem Thema der kulturellen Aneignung widmen, bin ich mir nicht bewusst, was das genau eigentlich bedeutet. Das Seminar verändert das. Kulturelle Aneignung ist eine „…kolonialrassistische Praxis, in der sich die Mehrheitsgesellschaft die Kultur von Subalternen (…), vor allem Kolonialisierten, abschaut, aus dem Kontext reißt und aneignet.“ (Altes, 2017). Während der indischen Inquisition ist es Inder*innen nicht erlaubt, Yoga und Ayurveda zu praktizieren (Parikh & Patel, 2019; Stenzel 2019).  Die Yogakultur wurde geklaut, den westlichen Bedürfnissen angepasst und hat sich zu einem Milliarden-Dollar.Markt entwickelt. Damit ist Yoga nahezu ein Paradebeispiel kultureller Aneignung. Im englischsprachigen Raum ist diese Diskussion lebendig. In mehreren Folgen gemeinsam mit Susanna Barkataki widmet sich Rachel Brathen, bekannt als Yoga Girl, diesem Thema. Susanna Barkataki ist eine der lautesten Stimmen, wenn es darum geht, Yoga diverser zu gestalten und sich der Verfälschung der Praxis bewusst zu werden. Ich stelle mir die Frage, ob diese Gespräche auch in der deutschen Yogaszene stattfinden. Ich beginne, mir die Berliner, aber auch deutsche Yogalandschaft genauer anzusehen.

Es gibt sie, die öffentliche Diskussion, ob wir uns in der westlichen Welt Yoga angeeignet haben. Was mir bei meiner Suche nach einem öffentlichen Diskurs auffällt – Stimmen finden sich innerhalb des deutschsprachigen Raumes fast hauptsächlich außerhalb der Yogaszene. In der Zeit wird Yoga als „kolonialisierte Praxis“ benannt (Rödder, 2019). In dem Artikel wird etwas deutlich, was gerne vergessen wird. In der Hatha Yoga Pradipika, die als Ursprungstext unserer heutigen Yogapraxis angesehen wird, gibt es nur wenige Asanas (Rödder, 2019), die der Vorbereitung der Meditation dienen. In der westlichen Welt ist die Yogapraxis sehr auf das körperliche zentriert, dabei machen diese in der Tradition des Yoga nur einen kleinen Teil aus. In dem Yoga Sutra des Patanjali, einem weiteren Grundlagentext der Yogaphilosophie, wird der achtgliedrige Pfad eines Yogis bzw. einer Yogini benannt. An dritter Stelle befindet sich Asana, die Praxis von Körperübungen. Sie sollen helfen, den Körper besser zu verstehen und bereiten uns auf die kommenden Stufen des achtgliedrigen Pfades vor.

Auch auf bento.de stellt sich Tasnim Rödder die Frage der kulturellen Aneignung und beantwortet sie klar mit einem ja. Yoga, wie wir es heute praktizieren, ist ein Produkt der Kolonialzeit. (Rödder, 2019). Ich schaue mir die größten Yogamagazine aus Deutschland genauer an. Während Yoga Journal der kulturellen Aneignung in einem Artikel zustimmt, finde ich bei Yoga aktuell einen Beitrag von dem Indologen Wilfried Huchzermeyer, der sich auf den Text von Tasnim Rödder bezieht. Auch er stellt sich die Frage, ob Yoga eine kolonialisierte Praxis ist und seine Worte erschrecken mich. Er betrachtet das heutige Yoga als einen „kontinuierlichen, lebendigen Ost-West-Austausch“ (Huchzermeyer, 2020). Er begründet diese Aussage unter anderem damit, dass Lehrer wie B.K.S. Iyengar, der Begründer der Iyengar-Tradition, Jahrzehnte im Westen gewirkt und damit Yoga geprägt hätten. Einen wichtigen Punkt übersieht er hier. Iyengar war Schüler von Sri Tirumalai Krishnamacharya, der auch der Vater des modernen Yogas genannt wird. Beide wachsen in einem Indien auf, dass von der Britischen Kolonialherrschaft geprägt ist. Hinduistische Traditionen sollen aus dem indischen Alltag verschwinden und durch die westlich-europäische Weltanschauung ersetzt werden (Stenzel, 2019). Yoga verschwand.

Viele Yogaposen, wie Adho mukha svanasana (herabschauender Hund) oder Virabhadrasana II (Krieger II), die heute in kaum einer Stunde fehlen, stammen aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert. (Singelton, 2011) Der Versuch, die genauen Ursprünge zu finden, ist schwierig. Mehrere Quellen besagen, dass Britische Soldaten Yogaposen zu eigenen Zwecken wiederbelebten und ihre Fitnessübungen damit kombinierten. (Singelton, 2011; Rödder 2019). Durch den Kolonialismus greift die westliche Körperkultur. Es ist außerdem der einzige Weg, sich der eigenen Kultur wieder ein bisschen mehr annähern zu können. Dieser Mix ist es, was wir heute als modernes Yoga kennen.

Ich habe zwei Yoga-Ausbildungen absolviert. Meine erste 2015 in Dublin in der Tradition von Krishnamacharya und die zweite 2019/2020 in Berlin in der Hatha Yoga Tradition. Ich gehe beide gedanklich nochmal durch. Während der Ausbildung in Dublin widmen wir uns regelmäßig und detailliert der Philosophie, wir lernen Sanskrit, müssen die Posen und wichtigsten Begriffe der Philosophie und Tradition in der Originalsprache beherrschen. Wir bauen eine intensive Asana Praxis, aber auch Pranayama (Atemübungen) und Meditationspraxis auf. Wir sprechen über die Geschichte des Yoga. Dass das moderne Yoga aber ein Produkt der Kolonialzeit ist, wird uns in der Ausbildung nicht vermittelt. Die Berliner Ausbildung sehe ich schon währenddessen sehr kritisch. Wir gehen wenig in die Tiefe, wir erfahren sehr wenig über die Ursprünge und die Philosophie. Dafür wird sich ein Nachmittag der Vorstellung und dem Verkauf von doTerra Ölen gewidmet.

Generell fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit der westlichen Yogawelt. Einfachheit, Minimalismus und Vielfältigkeit wird nahezu gepredigt. Yoga sei eine Praxis, die für alle zugänglich ist. Dem kann ich nur widersprechen. Allein in Berlin gibt es über 300 Yogastudios (Stand 2016). Nicht jeder kann sich die Teilnahme im Studio leisten. Denke ich über die Klassen nach, die ich selber unterrichtet habe, ist der Anteil von People of Color verschwindend gering. In meinen Ausbildungen sind wir ausschließlich weiße Frauen. Das ist auch das Bild, was in den sozialen Medien vermittelt wird. Yogalehrende und Praktizierende sind fast ausnahmslos schlank, hyperflexibel – und weiß. Ich sehe mir die Magazincovernder letzten acht Jahre der Yoga aktuell an. Von 50 Covern sind auf 49 Frauen zu sehen. Nur zwei davon sind Women of Color. Alle Menschen auf den Covern sind schlank und größtenteils in sehr anspruchsvollen Asanas zu sehen, die eine hohe Flexibilität erfordern.

Yoga ist schon lange im Kapitalismus angekommen mit einem weltweit geschätzten Jahresumsatz von ca. 80 Mrd. Dollar (Hüchtker, 2019). Es gibt einen ganzen Yogamarkt für Kleidung, Matten und anderes Zubehör. Auch hier lerne ich, dass ich viel mehr hinterfragen muss. Ein weiterer Teil des Ashtanga Weges, des achtgliedrigen Pfades, sind die yamas (unsere Haltung gegenüber unserer Umwelt). Dazu gehört ahimsa – Gewaltlosigkeit. Kaufe ich Produkte von Yogalabels, stelle ich mir die Frage der ethischen Verwertbarkeit und Nachhaltigkeit nicht mehr. Ich gebe diese Verantwortung an dieser Stelle gerne ab. So weit, so naiv. Lululemon ist eines der bekanntesten und erfolgreichsten Labels der Szene. Und das, obwohl bekannt ist, dass CEO Chip Wilson den Namen gewählt hat, weil er den Gedanken lustig fand, dass Japaner*innen Probleme haben werden, den Markennamen auszusprechen. (Lawrence 2011). Diese rassistische Haltung allein verletzt das Prinzip von ahimsa bereits. Während einer Konferenz zu nachhaltiger, lokaler Ökonomien in Vancouver in 2004 spricht Wilson darüber, die Produktion von lululemon in die Republik China verlegt zu haben, um Kosten zu sparen. Das alleine ist schon paradox, sieht man sich das eigentliche Thema der Konferenz an. Dazu stellt er sich als großer Unterstützer der „Dritten Welt“ dar und feiert sich als Held, weil er Kindern Arbeit gibt und sie so ihre Familien unterstützen können (Deveau 2005). Immer deutlicher wird für mich, wie patriarchal geprägt die Yogaindustrie ist. Das wird nicht nur durch die kapitalistischen Strukturen deutlich.

Die Liste der Machtmissbräuche ist endlos. Iyengar schlägt und tritt seine Schüler*innen öffentlich in Klassen. Er wird verteidigt. Er hätte das tun müssen, weil die Pose falsch ausgeführt wurde (Parikh & Patel 2019; Grisworld 2019). John Friend, der Begründer der Anusara Tradition, schläft mit seinen Schülerinnen und bringt seine Mitarbeiter*innen in rechtliche Schwierigkeiten, da sie Drogen für ihn annehmen müssen (Parikh & Patel 2019; Grisworld 2019). Einen langfristigen Schaden trägt sein Image nicht davon. Er ist zurück mit einer neuer Yogaform namens Sridaira (Griswold 2019). Die Netflix-Dokumentation Bikram: Yogi, Guru, Predator zeigt Bikram Choudhurys ausschweifenden Lebensstil, sowie sein rassistisches und homophones Verhalten. Zwei Frauen schildern den sexuellen Missbrauch, den sie durch ihn erfahren mussten. In 2016 wird er wegen Belästigung und Diskriminierung zu 7 Millionen US-Dollar Schadensersatz verurteilt. Er verlässt das Land und lehrt weiterhin (Order 2019; Godwin 2017). Pattjabi Jois, Begründer des Ashtanga-Yogas, korrigiert die Yogaposen seiner Schüler*innen so rigoros, dass sie sich dabei verletzen. Fotos und Videos zeigen, wie er Schüler*innen an die Brüste greift, in den Schritt greift und sich auf Schüler*innen legt und sich dabei penetriert. Nur zwei Fälle sind bekannt, in denen er für sein Verhalten zur Rede gestellt wird. Erst nach Jois Tod sprechen die Betroffenen über ihre Missbrauchserfahrungen. (Remski, 2020; Parikh & Patel 2019) Das Ashtanga Institut in Mysuru, Indien zeigt sich versöhnlich und gibt in einem Statement bekannt, dass sie eine Umgebung schaffen wollen, die frei von jeglichem sexuellen Missbrauch ist. Richtlinien zur Umsetzung dessen oder Konsequenzen, wenn diese missachtet werden, gibt es jedoch nicht (Remski 2020). Auch die Kundalini Yogaszene wird Anfang des letzten Jahres von einem Skandal erschüttert. Pamela Saharah Dyson veröffentlicht das Buch Premka: White Bird in a Golden Cage, in dem sie über ihre Jahre an der Seite von Yogi Bhajan berichtet. Yogi Bhajan ist in der westlichen Yogawelt eng mit dem Kundalini Yoga verbunden und wird von vielen Praktizierenden verehrt. Das Buch ist zutiefst erschütternd. Dyson beschreibt eine Sektendynamik geprägt von Manipulation und psychischer und körperlicher Gewalt (Dyson 2019). Nach der Veröffentlichung schließen sich mehrere Schüler*innen Yogi Bhajans den Missbrauchsvorwürfen an. Die von ihm gegründete Organisation 3HO reagiert und lässt durch die Organisation An Olive Branch die Vorwürfe prüfen. Der Bericht ist in mehreren Sprachen frei zugänglich. Als Erstes kommen Anhänger*innen Yogi Bhajans zu Wort, die die Missbrauchsvorwürfe vehement abstreiten. Da er nicht mehr lebt, könne er sich selbst nicht mehr rechtfertigen, so die Begründung. Mir stößt das bitter auf. Die guten Erinnerungen einer Gruppe von Menschen relativiert nicht die traumatischen Erfahrungen einer anderen Gruppe. Detailliert wird auf die Vorwürfe eingegangen, die sexuellen Missbrauch, psychische Gewalt, Zwangsverheiratung, Manipulation, die Trennung von Eltern und Kindern, sowie Todesdrohungen umfassen (An Olive Branch Report, 2020). Die 3HO Organisation verbannt seine Bilder, schreibt Bücher um und vieles mehr. In meinem privaten Umfeld kenne ich eine Lehrerin, die Kundalini Yoga nicht mehr unterrichtet. Dabei wird immer wieder gesagt: Man muss die Praxis vom Lehrenden trennen. Aber was ist, wenn wir das nicht machen und uns viel mehr die Frage stellen, wie die Praxis Teil und Hilfsmittel des Missbrauches war?

Mit dem Wort guru verbinden wir schon lange Lehrende, die den spirituellen Weg führen. Ohne kann der Weg nicht gegangen werden. Es ist Teil der Praxis einen Guru zu finden, sich hinzugeben und keine Fragen zu stellen. Übersetzt man aber das Wort guru aus dem Sanskrit, bedeutet es das Erleuchtungsprinzip. Es ist nicht an eine Person gebunden. Es kann alles sein – ein Ort, Musik und vieles mehr. In den beschriebenen Fällen wird deutlich, wie der Lehrende, weil er der Guru ist und zur Erleuchtung führen kann, nicht mehr hinterfragt wird. Der Glaube, dass der Guru weiß, was am besten ist, ist größer als das Vertrauen in den eigenen Instinkt. Der Guru sei kein sexuelles Wesen, daher diene Sex nur als Energie zum spirituellen Wachstum, verbaler Missbrauch sei ein Test, ob dem Guru vertraut wird (Dyson 2010, Parikh & Patel 2019). Auch hier sehe ich mir an, wie das Yogamagazin Yoga aktuell in Deutschland mit den Vorwürfen umgeht. Ich kann nur einen Artikel finden, in dem vage über sexuellen Missbrauch im Yoga geschrieben wird. Es wird aber nicht benannt, was die Vorwürfe enthalten, welche Traditionen es betrifft, den Opfern wird keinen Raum gegeben, ihre Geschichte zu erzählen. Wie bei fast allen kritischen Themen, werden diese nur oberflächlich betrachtet. Dabei sollten sie ins Zentrum rücken. Ein kritischer Diskurs ist es, was vor allem der deutschen Yogaszene fehlt. Ich muss an Tupoka Ogettes Begriff Happyland denken. Auch die Yogawelt empfinde ich häufig als eine Art Happyland. Auseinandersetzungen werden vermieden. Hinterfragt wird wenig. Kritik geäußert noch weniger. Zu oft wird davon ausgegangen, dass alle und alles, was Teil der Szene ist, gut ist. Es ist Yoga – es kann nicht schlecht sein.

Ich lasse all das neue Wissen sinken. Ich weiß, dass ich in Zukunft Yoga und wie wir es in der westlichen Welt leben, viel kritischer betrachten werde. Ich denke über Konsequenzen nach. Ich werde kein Yoga mehr unterrichten. Ich werde der Tradition nicht gerecht. Ich möchte Yoga wieder in seiner Fülle entdecken. Ich möchte wieder nur Schülerin sein. Mich der Philosophie widmen und sie leben. Noch mehr über die Ursprünge lernen und vor allem – zuhören. Den Lehrer*innen zuhören, die sich für Diversität einsetzen, die aufklären, Yoga wieder näher an den eigentlichen Ursprung bringen wollen und nicht müde werden, ihre Stimmen zu nutzen.


Bibliographie

Dyson, Pamela Sahara. Premka: White Bird in a Golden Cage: My Life with Yogi Bhajan (United States: Eyes Wide Publishing, 2019)

Orner, Eva (Regie). (2019). Bikram: Yogi, Guru, Predator [Film]. Pulse Films.

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Godwin, Richard. 2017. He Said He Could Do What He Wanted: The Scandal That Rocked Bikram Yoga, The Guardian <https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2017/feb/18/bikram-hot-yoga-scandal-choudhury-what-he-wanted> [accessed 26. März 2021]

Grisworld, Eliza. 2019. Yoga Reconsiders The Role of The Guru in The Age of #metoo. The New Yorker, <https://www.newyorker.com/news/news-desk/yoga-reconsiders-the-role-of-the-guru-in-the-age-of-metoo> [accessed 26.03.2021]

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Quelle: Susanne Peter, Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 21.05.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/05/21/das-moderne-yoga-ein-ergebnis-patriarchaler-und-kolonialisierter-strukturen/

Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion

Zuzanna Krysta (SoSe 2020)


1.     Einleitung

Wir sitzen in der Küche, es wird durcheinander diskutiert und Reis mit Maffé gegessen. Männer* aus Kamerun, Nigeria, Gambia, Senegal, Angola und ich, als weiße, deutsch-polnische Cis-Frau verbringen diesen Moment gemeinsam. Die Menschen um mich herum fangen an sich darüber auszutauschen, wieviel die jeweiligen Reisepässe `wert´ sind und in welchen Nationalstaaten des globalen Nordens sie ein Visum beantragen können. Ich bin mir meiner privilegierten Situation, eine deutsche Staatsbürgerschaft zu haben, bewusst und bin mir unsicher wie ich mich in diesem Gespräch klar positionieren soll. Meine Gesprächspartner machen mich bald darauf aufmerksam, dass der deutsche Reisepass einer der `besten´ der Welt ist. Ich bemerke, dass ich Argumente verwende, wie der Zufälligkeit in welchem Land man geboren ist oder der kolonialen Kontinuität der Reisepässe, jedoch kann ich zweiteres nicht konkret erläutern, um meinen Gesprächspartnern meine Haltung näher zu bringen.

Aufgrund dessen möchte ich in dem vorliegenden Essay, mit stetigen Einschüben meiner Gedanken bezüglich des Gelesenen, die Konstruktion der Grenzen und der damit einhergehenden Staatsbürgerschaften historisch, sowie theoretisch tiefer ergründen, um in zukünftigen Gesprächen bei dieser Thematik mich klarer positionieren zu können.  Ich werde betrachten, wie Grenzen in Europa entstanden sind (vgl. Tilly 1985)  und diese im kolonialen Kontext im globalen Süden aufgezwungen wurden und bis heute in neokolonialer Form andauern, dabei lege ich den Fokus auf den afrikanischen Kontext (vgl. Marx 2010). Anschließend betrachte ich die symbolische Konstruktion der Grenzen und wie diese auf unsere Gesellschaft wirken und sie in Privilegierte und Nicht-Privilegierte aufspaltet (vgl. Castro Varela 2018; Charim 2018), um abschließend einen Ausblick auf Möglichkeiten der Dekonstruktion von Grenzen zu geben. Im zweiten Teil des Essays werde ich meine persönlichen Erfahrungen mit Grenzen und Staatsangehörigkeit darstellen, dabei mein Privileg als deutsche Staatsbürgerin reflektieren und Handlungsmöglichkeiten erläutern, wie man als weiße Person damit umgehen kann (vgl. Ogette 2018; McIntosh 1992).

2.     Die Grenzen und ihre Konstruktion

Die Idee der Grenzen ist in unserer (westlichen[1]) Gesellschaft fest verankert und wirkt oft unumstößlich. Im öffentlich dominanten Diskurs wird weniger ihre Konstruiertheit diskutiert, sondern es wird, meiner Wahrnehmung nach, als `natürlich gegeben´ angesehen. Man hört oft das Argument, dass Nationalstaaten und Grenzen notwendig sind, um die politische Organisierung an eine angebbare Gruppe innerhalb eines Territoriums zu definieren und sie somit zu kontrollieren (vgl. Weber 2006).  Wenn man jedoch die Geschichte anschaut, bemerkt man, dass Grenzen keine Voraussetzungen sind und die Welt lange ohne nationalstaatliche Grenzen ausgekommen ist.

2.1 Die historische Konstruktion der Grenzen

Tilly (1985) beschreibt in seinem Artikel, wie am Ende des 18. Jahrhunderts die Anfänge der Bildung der Nationalstaaten in Europa, wie wir sie heute kennen, vonstattenging. „War makes state“ (ibid.: 170) ist der vielzitierte Satz, der die Nationalstaatenbildung in Europa zusammenfasst. Die Herausbildung der Staaten basiert auf Kriegen, in dem eine zentralisierte Macht ihre Herrschaftsansprüche in den lokalen Regionen ausgeweitet hat, sie eine staatliche Streitmacht aufgebaut haben, staatliche Institution gegründet haben, für die politische Organisierung und die Organisierung der Steuereinnahmen und bestimmte Elemente der Kultur symbolisch aufgeladen haben, damit die Bevölkerung sich zugehörig fühlt und sich gewissermaßen mit der `Nationalkultur´ identifizieren kann. In diesem Prozess ist ein wichtiger Aspekt die Entstehung der konkret gesetzten Grenzen, die in den Kriegen, ausgehandelt wurden (ibid.).

Anderen Teilen der Welt wurde dieses europäische Konzept im Zuge der Kolonialisierung aufgezwungen (vgl. Kolonialismus und heutige Staatenwelt 2012), in dem die europäischen Staaten die Welt unter sich aufteilten und diese mit Grenzen markierten. Vor der europäischen Kolonialisierung wurde die politische Organisation im afrikanischen Kontext weitgehend durch Personenverbände definiert und nicht aufgrund des Territoriums, somit gab es zum Beispiel Nomad*innengemeinschaften die sich auf ihre Gruppe bezogen und dabei ihren Lebensumfeld immer wieder wechselten. Die meisten Grenzen existieren nach der Entkolonialisierung weiter und bestehen bis heute fort. Im afrikanischen Kontext wurde 1963 in der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) entschieden, dass diese Grenzen unverrückbar sind. Das Weiterbestehen der kolonialen Grenzen beinhaltet einige Schwierigkeiten. Die `künstliche´ Grenzziehung durchtrennt Gemeinschaften und drängte afrikanische Länder nach der Entkolonialisierung dazu, Nationalstaaten im `europäischen Sinne´ zu errichten, was manche Nationalstaaten zu failed states werden ließ (Marx 2010). Außerdem wurden die staatlichen Institutionen im globalen Norden, welche Reisepässe und -beschränkungen etablierten, kurz nach der Beendigung des Sklav*innenhandels gegründet, um neue Formen der „legacy of slavery, apartheid, and diverse forms of  unfree labour“ (Anderson, Sharma, and Wright 2009, 6) zu bilden.

Meiner Ansicht nach belegt die europäische Kolonialgeschichte die Absurdität und Konstruiertheit der Grenzthematik, ohne sich auf kritische Weise damit auseinanderzusetzen; in der kollektiven Erinnerung unserer Gesellschaft wird das Thema nicht reflektiert. Ein Beispiel dafür ist die mangelnde Thematisierung von Kolonialgeschichte in deutschen Schulen – hier wird Schüler*innen die Chance genommen, Grenzen als Konstrukt in Frage zu stellen. Die Entscheidung, keine kritische Auseinandersetzung zu fördern, ist eine politische und dient dem Zweck, die Basis unseres politischen Systems zu stabilisieren. Jedoch wird die Gesellschaft somit daran gehindert, eigene Vorstellungen von Organisation zu entwickeln, die nicht auf Ein- und Ausgrenzung basieren. Auch stellt sich mir die Frage, inwieweit die Errichtung von staatlichen Institutionen in einem Kriegskontext dazu führt, dass Mechanismen und Strukturen auf Krieg ausgerichtet sind. Die Regierung `verkauft´ an uns als Gesellschaft die Idee von Sicherheit und treibt somit die Identifikation mit dem eigenen Nationalstaat voran, was zu nationalistischen Strömungen innerhalb der Gesellschaft führt.

Auf der anderen Seite sieht man im afrikanischen Kontext, dass das Fortbestehen der kolonialen Grenzen nach der Entkolonialisierung eine eindeutige Kontinuität des Kolonialismus beinhaltet und somit den Neokolonialismus des globalen Nordens stabilisiert. Durch die jahrelange und bis heute andauernde gewaltvolle Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden und das Nicht-Benennen dieser Geschichte und heutigen Situation, fällt es uns als Gesellschaft schwer, uns Utopien vorzustellen, in denen Menschen ihr Dasein in Würde leben und sich frei bewegen können, basierend auf ihren eigenen Entscheidungen.

2.2 Die symbolische Konstruktion der Grenzen

Grenzen sind keine objektiven Tatsachen, sondern sie „bestimmen die Wahrnehmung unserer Welt. Grenzen symbolisieren, begründen und stabilisieren Macht und sind daher Herrschaftsinstrumente. Es ist eine begrenzte Welt, die wir bewohnen“ (Castro Varela 2018, 23). Sie produzieren zwei unterschiedliche Subjektivitäten, in welchen jede*r sich auf verschiedene konstruierte Räume bezieht. Charim (2018) verwendet dafür die Begriffe des paradoxen Raumes und der Festung. Den paradoxen Raum bewohnen die Menschen, die das Privileg haben, einen Reisepass zu besitzen, der viel `wert´ ist, wie der deutsche Reisepass (vgl. Kaelin and Kochenov 2018). „Diese [sogenannten] Vernetzten leben nur mit symbolischen Grenzen, also gewissermaßen ohne Grenze. Für sie bedeutet das Überschreiten einer Grenze nur eine Anerkennung ihres Status“ (Charim 2018, 18–19). Hingegen bewohnen die Menschen, deren Reisepass weniger `wert´ ist, wie Migrant*innen des globalen Südens, die Festung. Sie haben nicht die Möglichkeit sich zwischen Ländergrenzen frei zu bewegen, sondern müssen sich entweder in einem komplizierten, oft auch erfolglosen Verfahren auf ein Visum bewerben oder illegalisiert reisen. Auch innerhalb der Grenzen, zum Beispiel im Schengen-Raum, sind für diesen Bevölkerungsteil Grenzen allgegenwärtig, in Form von Asylgesetzen, Verwehrung des Zugangs zum Arbeits- oder Wohnungsmarkt und vielen anderen neokolonialen Exklusionsmechanismen (ibd.). Dieser theoretische Ansatz verdeutlicht die stetige (Re-) Produktion der Konstruktion der Grenzen, die die Menschheit in zwei Gruppierungen teilt: Der eine Bevölkerungsteil, der bis zu einem sehr hohen Grade das Privileg der Bewegungsfreiheit genießen darf und der andere -teil nicht.

Diese Problematik lässt mich an Bruno Latour (vgl. 1993) denken, der in seiner Modernitätskritik aufzeigt, wie die sogenannte `Moderne´ die Welt immer stärker dichotomisiert und alles in Gegensätzen ordnet. Somit ist die politische und rechtliche Praktik der dichotomisierenden Grenzen existent, um die Vorherrschaft des globalen Nordens zu stabilisieren. Dieser Prozess, den Latour Work of Purification nennt, wird stetig vom globalen Norden aus versucht, aufrecht zu erhalten. Ich denke, dass es wichtig ist, die agency der jeweiligen Menschen in Betracht zu ziehen, die trotz der Schwierigkeiten und Beschränkungen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit als Menschenrecht in Realität umsetzen, auch wenn ich mir bewusst bin, dass die Gründe unterschiedlich sind und manche Migrant*innen aufgrund von prekären Lebensverhältnissen fliehen.

In diesem Abschnitt möchte ich abschließend Bewegungen und Gedanken aufzeigen, die gegen Grenzen arbeiten und aufzeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Die No-Border-Bewegung ist eine lose und heterogene Zusammensetzung von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen auf der ganzen Welt, die durch unterschiedliches und selbstorganisiertes Engagement versuchen, eine Welt ohne Grenzen für alle zu gestalten, sei es durch politische Arbeit und Widerstand gegen Abschiebungen, ärztliche Versorgung für illegalisierte Personen oder offene Küchen für alle (vgl. Anderson, Sharma, and Wright 2009). Die Ebene der konkreten Handlungen ist äußerst wichtig, doch erscheint es mir genauso notwendig, uns im Verstehen und Träumen zu üben, denn man muss die jetzige Situation erst verstehen, um sich Utopien vorzustellen. Vor ein paar Tagen las ich das Essay Nadie la tiene von Morales (1998, 97–109), in welchem sie das Konstrukt des privaten Eigentums von Land kritisiert. Privates Eigentum ist zwar eine andere Thematik, jedoch beinhaltet sie genauso Grenzen, inkludierende und exkludierende Mechanismen, sowie Menschen, die die Macht über ein Gebiet für sich beanspruchen. Morales beschreibt wie Land außerhalb dieser Grenzen lebt, sich darüber hinwegbewegt und seinen eigenen Regeln befolgt, zwar immer in Reziprozität mit den Bewohner*innen dieses Gebietes, jedoch ohne auf menschlich gemachte Grenzen achtend. Dies lies mich daran denken, dass Menschen immer migrieren werden, so wie sie es schon immer gemacht haben, egal ob bedingt durch Prekarität im Herkunftsland oder weil sie einfach in einem anderen Land leben möchten und Grenzen sind in der Realität nicht fähig, Migration zu verhindern und werden dies auch nicht mit den bestausgerüsteten Sicherheitstechnologien von Grenzstreitkräften tun. Aufgrund dessen sehe ich keine andere Möglichkeit, als Grenzen abzuschaffen, wenn wir in einer besseren Welt leben möchten.

3.      Meine persönliche Grenzerfahrungen

Mein Vater migrierte kurz vor dem Ende des Kalten Krieges aus Polen nach Deutschland. Die Geschichten, die er mir darüber erzählte, klingen für mich nach einer sehr schwierigen Realität, jedoch nahm ich sie als Kind wie Abenteuergeschichten aus einer fernen Zeit wahr, welche entkoppelt waren aus der Realität, in die ich hineingeboren wurde. Er erzählte von prekären Verhältnissen aus seiner Herkunftsstadt. Laut ihm war die Migration in das damalige Westdeutschland die einzige Möglichkeit Perspektiven für die Zukunft zu erlangen. Er reiste gegen Bezahlung illegalisiert nach Deutschland ein und bekam aufgrund der damaligen politischen Situation sehr bald den deutschen Aufenthaltsstatus. Einige Jahre später kam meine Mutter aufgrund der Heirat mit meinem Vater problemlos nach Deutschland. Beide lebten damals in prekären Verhältnissen in Köln. Als meine Schwester und ich geboren wurden, hatte sich die Situation jedoch verändert und wir konnten in einer gewissen Stabilität aufwachsen. Somit hat dieser Teil der Migration nie zu meiner Gegenwart dazugehört, sondern war stets ein Teil der Vergangenheit, dort wo ich herkam.

Als ich klein war, sind wir jeden Sommer nach Polen gefahren, um die dortigen Familienmitglieder zu besuchen. Ich erinnere mich an die stundenlangen Wartezeiten im Stau an der deutsch-polnischen Grenze, die prüfenden und unangenehmen Blicke der Grenzpolizist*innen, als wir am Grenzposten ankamen. Als im Jahr 2007 die Grenze zwischen Deutschland und Polen aufgrund des Schengen-Abkommens aufgelöst wurde, war es eine Erleichterung auf der langen Fahrt, nicht eine bewachte Grenze zu passieren. Als ich immer älter wurde, genoss ich die Reisefreiheit innerhalb Europas, die ich ausgiebig auskostete. Ich machte mir damals nicht viel Gedanken darüber, da es mir in meiner europäischen Welt normal erschien, mich frei bewegen zu können.

Das Privileg wurde mit erst bewusst, als ich nach Mexiko ging. Mein problemloses Einreisen in dieses Land und der späteren Möglichkeit des Erkaufens eines Touristenvisums, um mich dort `legalisiert´ zwei Jahre aufhalten zu können, standen im Kontrast zu dem sehr präsenten Thematik der Migrant*innen aus Lateinamerika, welche Mexiko durchreisten, um in die Vereinigten Staaten von Amerika einzureisen und dabei oft ihr Leben riskierten. Zur gleichen Zeit drangen die Nachrichten der sogenannten europäischen `Flüchtlingskrise´ zu mir durch, welche gezeichnet waren von inhumanen Reisekonditionen von Menschen, die den Wunsch hatten, nach Europa zu gelangen.

Auch wenn es viele BIPoC gibt, die zum Beispiel eine deutsche Staatsbürgerschaft haben oder weiße Menschen, die dieses Privileg nicht innehaben, denke ich, dass der `Wert´ eines Reisepasses stark mit rassistischen Strukturen verschränkt ist, und wie oben aufgezeigt, koloniale Kontinuität beinhaltet. Es wird oft angenommen, dass BIPoC aufgrund von Rassismus in vielen Bereichen benachteiligt werden, jedoch wird seltener darüber reflektiert, welche Vorteile eine weiße Person[2] aufgrund der Konstruktion und Ideologie rund um ihre Hautfarbe hat und dies wird dem weißen Bevölkerungsteil in seiner Sozialisation beigebracht (vgl. McIntosh 1992). Bis zu meiner Reise nach Mexiko war mir dies auch nicht bewusst. Erst durch die direkte Konfrontation bemerkte ich, was es bedeutet, einen deutschen Reisepass zu besitzen. Dies zeigt auf, dass eine weiße Person sich frei entscheiden kann, ob sie sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen will oder nicht (Ogette 2018, 60). Ich denke, es ist wichtig, in Gesprächen mit weißen Personen darauf hinzuweisen, was es bedeutet, in den Karibikurlaub für zwei Wochen zu fliegen oder entscheiden zu können, nach Madagaskar zu ziehen[3].

Die persönlichen Erfahrungen zu teilen und dem Gegenüber diese Thematik zur Reflektion zu überlassen. Auch denke ich, dass wir uns als weißer, im globalen Norden geborener Bevölkerungsteil im größeren Umfang mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen müssen. Ich bin mir sicher, dass man in fast jeder Familie eine Migrationsgeschichte entdecken würde. Was bedeutet es, seinen Wohnort zu wechseln? Was für Gründe sind die Motivation dafür und wie waren die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu der Zeit? Wenn wir diese Fragen in unserer eigenen Geschichte ergründen würden, würde es uns als Gesellschaft vielleicht leichter fallen, dieses Privileg anzuerkennen und dies für alle zu fordern.

Jedoch ist es in diesem beschriebenen Fall kein individueller Rassismus, den man einfach reflektieren kann, um seine Handlungsweise zu verändern, sondern ein institutioneller Rassismus, welchen man als Person aktiv kritisieren muss. Gleichermaßen ist es ein Privileg, seine politische Meinung frei äußern zu können, ohne dafür aufgrund seiner Hautfarbe verurteilt oder nicht ernstgenommen zu werden (McIntosh 1992, 32). Bewegungen wie die Black-Lives-Matter-Bewegung oder No-Border-Bewegungen können für weiße Personen eine Möglichkeit bieten, sich dem Widerstand gegen den institutionellen Rassismus anzuschließen, jedoch denke ich, dass es als weiße Person wichtig ist, keine öffentliche Rolle einzunehmen oder den Diskurs innerhalb der Gruppe zu leiten, sondern auf die Bedürfnisse der Gruppierung einzugehen und sie in den `hinteren Reihen´ zu unterstützen. Die Motivation des Engagements sollte nicht aus Altruismus resultieren, sondern

„[s]olidarity comes from the inability to tolerate the affront to our own integrity of passive or active collaboration in the oppresion of others (…). From the recognition that, like it or not, our liberation is bound up with that of every other beings on the planet, and that politically (…) we know anything else is unaffordable“

Levins Morales 1998, 125

Denn letztendlich sind alle unsere Leben miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig und für ein würdevolles Leben für alle sollten wir uns verbünden.


[1] Im darauffolgenden Text kann ich mich nur auf meine Wahrnehmungen der Gesellschaft beziehen, in der ich aufgewachsen bin, auch wenn es innerhalb dieser Gesellschaft auch subjektive Unterschiede gibt, die ich nicht alle wiedergeben kann. Bei diesem Beispiel bin ich mir sicher, dass es Gemeinschaften gibt, die in ihrem Lebensumfeld Grenzen weniger präsent haben wie wir, auch wenn heutzutage, global gesehen, alle Menschen in einem Nationalstaatensystem eingebunden sind.

[2] Mit einer Staatsbürgerschaft aus dem globalen Norden.

[3] Auch wenn dieses Thema mit der Diskriminierungsform des Klassismus verschränkt ist, auf welches ich in diesem Text nicht eingehen werde.


Quelle: Zuzanna Krysta, Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/die-grenze-ein-versuch-der-reflektion/