Klassismus im Bildungssystem

Tomke Thielebein (SoSe 2022)

Einleitung

Das deutsche Bildungssystem ist mehrgliedrig und basiert unter anderem auf einem Selektionsprinzip. Das heißt, dass (spätestens) nach der Grundschule die Schüler*innen auf ‚begabungsgerechte‘ Schulformen aufgeteilt werden. Dieses Prinzip soll den Grundgedanken einer begabungsgerechten Bildung verfolgen. Die erste PISA-Studie hat gezeigt, dass Deutschland in keinem Schulbereich herausragend gut ist, eher das Gegenteil war der Fall vgl.:  (Lehmann, 2019). Worin Deutschland jedoch herausragend zu sein scheint, ist die soziale Selektion (vgl.: ebd.). Es scheint so zu sein, dass das Selektionsprinzip nicht zur Folge hat, dass Schüler*innen auf Schulen mit passenden Lernformen sortiert werden, sondern auf Schulen, die der sozialen Position zugeschrieben werden.

Im Folgenden möchte ich darauf eingehen, wie das Selektionsprinzip mit dem milieuspezifischen Habitus und Klassismus zusammenhängt.

1. Definition Klassismus

Klassismus beschreibt Diskriminierung aufgrund des sozialen Status oder aufgrund der Zuschreibung eines sozialen Status (vgl.: Kemper, 2021). Dieser setzt sich aus der sozialen Herkunft und der sozialen Position zusammen. Die soziale Herkunft beschreibt die soziokulturellen und ökonomischen Gegebenheiten, in die jeder Mensch hineingeboren wird (Bsp.: ein Kind, dessen Eltern arm sind). Die soziale Position beschreibt die aktuelle soziale Positionierung in der Gesellschaft (z.B. auf ALG II angewiesen sein). Sie ist veränderbar und nicht statisch. (vgl.: Kemper, 2016).

Klassistische Diskriminierung kann also auf die soziale Herkunft bezogen sein und/oder auf die soziale Position. Diskriminierung umfasst nach Iris Marion Young fünf Dimensionen der Unterdrückung: Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und des Kulturimperialismus[1] (vgl.: Kemper, 2016).  Das Herstellen von Klassimus wird auf drei Ebenen beschrieben: die institutionelle, die kulturelle und die individuelle Ebene vgl.: (Kemper & Weinbach, 2018). Klassismus im Bildungssystem findet sowohl auf der individuellen als auch auf der institutionellen Ebene statt. Lehrkräfte handeln mit ihrem individuellen Mindset, Stereotypen und Vorannahmen, handeln dabei aber innerhalb einer wegbereitenden Institution. Gerade Lehrkräfte, die als Gatekeeper*innen fungieren, handeln auf beiden Ebenen.

Die soziale Herkunft hat Einfluss auf den Habituts des Individuums, der in der Kindheit geprägt wird. Nach Bourdieu ist der Habitus  „die Art und Weise, wie man sich gibt und wie man die Welt wahrnimmt” (Kemper, 2015). Der Habitus trägt demnach die soziale Herkunft nach außen. Die äußerlich sichtbare Erscheinung der sozialen Herkunft kann als schwer veränderbare Komponente betrachtet werden, die sich über die Lebensspanne nicht leicht verändern lässt. Wenn über Klassismus in der Bildung gesprochen wird, ist es sinnvoll das Konzept des Habitus genauer zu betrachten und zu schauen, wie er Einfluss auf die Chancen(un)gleichheit im Bildungssystem hat.

2. Klassismus im Bildungssystem

Im Folgenden wird auf Klassismus im Bildungssystem eingegenagen, der durch den äußerlich wahrnehmbaren Habitus erklärt wird.

2.1   Habitus in der Bildung

Mit dem Blick auf die Auswirkungen des Habitus auf Bildungschancen, wird sozusagen die klassistische Diskriminierung auf der Ebene der sozialen Herkunft betrachtet.

Hier möchte ich zuerst nochmal genauer auf den Habitusbegriff eingehen, um zu spezifizieren, wovon ich schreibe.

Der Habitusbegriff „beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln” (El-Mafaalani, 2020)[2]. Diese Prägung findet in der Kindheit milieuspezifisch statt. Da ein Habitus milieuspezifisch ausgeprägt wird, erscheint er einem selbst und dem Umfeld als natürlich gegeben, da mit dem Umfeld ähnliche Erfahrungen und soziale Logiken geteilt werden, die den Habitus mit ausmachen (vgl.: ebd.). Innerhalb des prägenden Milieus gelingt das Habitus-spezifische Handeln und Denken widerstandslos und erscheint damit intersubjektiv wie natürlich.  Dies ermöglicht innerhalb des geteilten Milieus ein intuitives Handeln (vgl.: ebd.).

Doch was ist, wenn Personen mit einem milieuspezifischen Habitus mit Personen mit einem diametral entgegengesetzten Habitus interagieren? Laut El-Mafaalani (2020) komme es zu Spannungen, zu Missverständnissen und Dissonanzen.

Weiter geht er darauf ein, dass die meisten Lehrkräfte aus einem ‚bildungsaffinen Milieu‘ stammen und häufig auch die Mitglieder voriger Generationen bereits im sog. Bildungsbürgertum verankert waren. Auch bei Lehrkräften führt habituelle Nähe zu gegenseitiger Resonanz und habituelle Entfernung oder Entgegensetzung zu Dissonanzen und Missverständnissen. Dies sind relevante Aspekte im Selektionsprozess des Bildungssystems.

2.2   Selektion

Das deutsche Bildungssystem ist durch aufeinander aufbauende ‚Bildungsschwellen‘ gekennzeichnet; wie die Einschulung, wo geschaut wird, ob das Kind entwickelt genug für die Schule ist, dann kommt nach der Grundschule die Selektion auf unterschiedliche Schulformen, die unterschiedliche Bildungschancen ermöglichen, anschließend geht es weiter mit unterschiedlichen Abschlüssen, die verschiedene Bildungszugänge erlauben. Am gradlinigsten geht es vom Kindergarten in die Grundschule[3], von der Grundschule zum Gymnasium und vom Gymnasium zur Uni, wo erst der Bachelor dann der Master studiert wird; und wenn es eine akademische Laufbahn werden soll, geht es weiter (hoch) bis zum Doktor oder zur Professur.

Doch die Bildungslaufbahn der Kinder ist intensiv von den Abschlüssen ihrer Eltern beeinflusst, so zeigt bspw. eine Studie aus Wiesbaden, dass die Note 2,5 bei 70% der privilegierten Schüler*innen zu einer Gymnasialempfehlung führen, jedoch nur bei 20% der nichtprivilegierten. Hier zeigt sich, dass für die Verteilung der Bildungschancen nicht die Leistungen der Schüler*innen ausschlaggebend sind, sondern das Einkommen und der Bildungsstand der Eltern (vgl.: Kemper, 2021). Auch bundesweit hat sich gezeigt, dass die Bildungschancen von dem sozio-ökonomischen Status der Eltern abhängen, so zeigt sich in der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) von 2016, dass gleiche Lesekompetenz und kognitive Fähigkeiten bei privilegierten Kinder 3,37-mal so oft eine Gymnasialempfehlung mit sich bringt, wie bei Kindern von Arbeiter*innen.

Spätestens in der Grundschule findet der erste entscheidende Selektionsschritt statt, der die weitere Bildungslaufbahn beeinflusst.

An dieser Stelle des Bildungssystems können Lehrer*innen als sog. Gatekeeper*innen beschrieben werden. Gatekeeper*innen sind hier Menschen, die bspw. eine soziale Position innehaben, die es ihnen erlaubt an Bildungsschwellen Menschen einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen oder zu verwehren, bzw. zu erschweren. Diese Gatekeeping-Praxis lässt sich in Deutschland an den oben genannten Beispielen der Schulempfehlungen an weiterführende Schulen festmachen. Arbeiter*innen- oder Armenkinder benötigen für den Aufstieg im Bildungssystem einen spezifischen sozialen Code, um mit ihrem Verhalten, Einstellungen etc. automatisch von Lehrkräften als ‚natürlich‘ und nicht aneckend handelnd gelesen zu werden, den sie sich meist in Lernprozessen aneignen müssen (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018).

Hier kann sich die Frage gestellt werden, woran es liegt, dass diese Selektionspraxis mit einer ungleichen Chancenverteilung einhergeht. An dieser Stelle möchte ich erneut den bereits oben eingebrachten Habitus als eine Erklärungskomponente anführen. Wie bereits erwähnt haben Lehrkräfte häufig eine soziale Herkunft, die mit einem hohen sozio-ökonomischen Status einhergeht, da der Habitus in diesem Milieu geprägt ist, stellt für Lehrkräfte ein ähnlicher Habitus das ‚Richtige‘ und ‚Natürliche‘ dar. Auch kann innerhalb einer Interaktion mit einem Menschen, der ähnlich sozialisiert ist und damit einen gleichen oder ähnlichen Habitus hat, reibungsloses Verständnis stattfinden. So verweist El-Mafaalanie (2020) darauf, dass die äußere Erscheinung von Fleiß sich ggf. habituell unterscheidet und damit bei einem Kind von Arbeiter*innen weniger leicht von der Lehrkraft erkannt wird als bei einem Akademiker*innenkind[4].

Zur Irritation und nicht reibungslosen Verständigung zwischen verschieden sozialisierten Habitus, kommt die Dimension der Stereotype und Vorannahmen hinzu. Auch das Sprachverhalten unterscheidet sich habituell. Eine Studie hat gezeigt, dass lediglich eine minimale Information über das Sprachverhalten gebraucht wird, damit bei Lehrkräften stereotypes Denken aktiviert wird (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018). Bereits durch minimale Abweichungen der Normsprache können also stereotype klassistische Zuschreibungen entstehen.

Auch die Eltern spielen eine Rolle bei dem Übergang der Grundschule in weiterführende Schulformen. Sie sind in den meisten Bundesländern die Instanz, die letztlich entscheidet, auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen wird. Es hat sich gezeigt, dass es unterschiedlich ist, wie die Eltern mit den Empfehlungen der Lehrkräfte umgehen. Sozio-ökonomisch schlechter dastehende Eltern hielten sich eher an die Empfehlungen der Lehrkräfte. Eltern mit einem privilegierten sozio-ökonomischen Status entschieden meist, dass ihre Kinder auf ein Gymnasium gehen sollten, auch wenn die Empfehlungen der Lehrkräfte davon abrieten (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018).

An dieser Stelle spekuliere ich, dass verschiedene gesellschaftliche Positionen mit unterschiedlichem Selbstbewusstsein einhergehen (können). Akademiker*innen haben in ihrer Sozialisation möglicherweise mitgegeben bekommen, dass ihnen ein gewisser gesellschaftlicher Platz zustehe und dies auch für ihre Nachfolger*innen gelte.

Beispielsweise ist es in meiner Familie so, dass ich nun in der vierten Generation bin, in der studiert wurde. Einer meiner Urgroßväter war Chefarzt, einer meiner Großväter Richter und auch meine Eltern haben beide studiert. Über mehrere Generationen hat meine Familie demnach eine gesellschaftliche Position inne, die anerkannt ist und im Fall von hohen Juristen[5] und Ärzten auch gesellschaftliche Einflussnahmen möglich war. In meinem Fall war es zwar nicht so, dass meine Eltern uns zum Studieren überzeugt haben (das stand uns immer offen), aber es war immer klar, dass ich und mein Geschwisterkind das Abitur absolvieren werden.

In Hamburg ging dieses gesellschaftliche Selbstverständnis des besitzenden Bürgertums beispielsweise so weit, dass 2010 eine Bildungsreform von hauptsächlich besitzenden bürgerlichen Eltern blockiert wurde. Die Reform zielte darauf ab, die Dreigliedrigkeit zu reformieren und damit mehr Chancengleichheit zu schaffen vgl.: (Ndr, 2010). Mehr Chancengleichheit würde aber auch weniger Privilegien für bisher Privilegierte bedeuten. An diesem Beispiel wird deutlich ersichtlich, dass es gesellschaftliche Akteur*innen gibt, die ihre Privilegien bewahren möchten und dafür viel Zeit und Geld aufwenden.

2.3 Habitus und Selektion an Hochschulen

Es verwundert nicht, dass auch an den Hochschulen der sozio-ökonomische Status der Eltern einen Einfluss auf die Bildungs- bzw. Abschlusschancen hat: 1982 hatten 17 Prozent aller Studierenden einen ‚hohen‘ sozialen Herkunftsstatus und 2016 waren es 24 Prozent. Wo es 1982 noch 23 Prozent Kinder von Eltern ohne Abschluss an der Uni gab, sind es 2016 nur noch 12 Prozent (vgl.: Baudson & Altieri, 2022). An Hochschulen steigt demnach die Zahl der Studierenden mit einem ‚hohen‘ sozialen Herkunftsstatus und der Anteil der Studierenden, mit ‚niedrigem‘ sozialen Herkunftsstatus wird weniger. Es scheint sich eine (tendenziöse) Entwicklung abzulesen.

Akademiker*innenkinder haben eine dreimal so hohe Chance einen Bachelorabschluss zu erlangen wie Kinder von Arbeiter*innen (vgl.: Tawadrous, 2021). Über die ganze akademische Laufbahn hinweg zeigt sich folgendes: „Von 100 Grundschulkindern, deren Eltern beide studiert haben, besuchen 74 die Hochschule. 63 erwerben einen Bachelor-, 45 einen Masterabschluss, und 10 erlangen die Doktorwürde. Bei 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten gelangen nur 21 an die Hochschulen, 15 schaffen den Bachelor, acht den Master, und nur eine Person wird promoviert“ (Baudson & Altieri, 2022). Die Kinder von Arbeiter*innen, die es trotz der Barrieren im Schulsystem auf eine Hochschule geschafft haben, scheinen hier erneut anderen Hürden ausgesetzt zu sein als Akademiker*innenkinder.

El-Mafaalani (2020) schreibt in diesem Zusammenhang über sog. ‚Bildungsaufsteiger*innen‘ und den gemeinsamen Herausforderungen, die mit dem Aufstieg und der damit zusammenhängenden Distanzierung ihres Herkunftsmilieus zusammenhängen. Diese Distanzierung findet laut El-Mafaalani (2020) u.a. durch die Veränderung des Habitus statt. Es hat sich gezeigt, dass die Erfahrung geteilt wird, als eine Person aus einem ‚unteren‘ sozialen Milieu, in einem ‚höheren‘ sozialen Milieu anzuecken (vgl.: ebd.). Routinierte und natürliche Handlungen und intuitive Reaktionen müssen kontrolliert werden, da gemerkt wird, mit den Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Einstellungen nicht auf Konsens zu stoßen, sondern auf Dissens[6]. Daher wir permanent das eigene Verhalten beobachtet. Die Art, wie auf andere zugegangenen wird, wie gesprochen wird oder wie gestikuliert wird, wird mit dem Umfeld abgeglichen und versucht anzupassen (vgl.: ebd.). Dass bspw. nur kleine Sprachabweichungen ausreichen, um stereotypes Denken hervorzurufen und damit ggf. klassistische Handlungen, wurde bereits im oberen Abschnitt angesprochen.

Diese Erfahrungen zeigen Aufsteiger*innen, dass sie sich von ihrem Herkunftsmilieu distanzieren müssen, um sich dem neuen Milieu anzupassen und dazugehören zu können, also nicht anzuecken. Hier wird jedoch oft erlebt, dass die Distanzierung nicht direkt mit einer Zugehörigkeit einhergeht. Vielmehr befinden sich Aufsteiger*innen in einer Zwischenposition (zu den einen und zu den anderen nicht zu passen) (vgl.: ebd.). Dies hängt z.B. damit zusammen, dass in der neuen Umgebung wenige Menschen sind, die ähnliche Erfahrungen teilen und damit nicht auf gemeinsame Werte usw. angeknüpft werden kann.

Nicht anzukommen oder nicht angenommen zu werden, sind Herausforderungen, die in dieser spezifischen Weise Menschen erleben, die sich aus Armut mit einem akademischen Weg herausbewegen wollen. Dieser Weg, der eine soziale Distanz zum Herkunftsmilieu erzeugt, bringt Unsicherheiten mit sich (vgl.: ebd.). Kinder von Arbeiter*innen sind demnach anderen Belastungen und Herausforderungen ausgesetzt als akademisch sozialisierte Kinder[7], was mit begünstigt, dass Akademiker*innenkinder eine dreimal so hohe Chance auf einen Bachelorabschluss haben. 

3. Fazit

Insgesamt kann gesagt werden, dass der sozio-ökonomische Status der Eltern aus verschiedenen Gründen relevant für den Bildungsweg ist. In dieser Arbeit wurde v.a. der Habitus betrachtet, der als äußerlich wahrnehmbare Komponente des sozialen Status zu klassistischen Zuschreibungen, durch stereotypes Denken führen kann, welches wiederum klassistische Handlungen begünstigt.

So hat sich bspw. in der Schule gezeigt, dass die Empfehlungen von Lehrkräften für ein Gymnasium vom sozio-ökonomischen Status mitbeeinflusst wird. An dieser Stelle wurde ein kleiner Abstecher zur Rolle der Eltern und deren Anerkennung der Empfehlung in Abhängigkeit zum sozio-ökonomischen Status gemacht. Hier hat sich gezeigt, dass dieser Einfluss darauf hat, ob Eltern die Schulempfehlungen der Lehrkräfte annehmen oder ignorieren. Hier wurde die Spekulation getätigt, ob dies mit einem gesellschaftlichen Selbstverständis zusammenhängt, welches durch Wertzuschreibungen und Positonierungen über Generationen entstehen kann.

Auch der Blick in die akademische Welt hat ergeben, dass der sozio-ökonomsiche Status Einfluss auf die Anzahlen von Studierenden mit ’hohem’ oder ’nidrigem’ Status hat, wie auch darauf, welcher Abschluss von welcher Statusgruppe eher erreicht wird. Hier wurde auf Herausforderungen eingegangen, die sog. Bildungsaufsteiger*innen durch ihren ’nicht zum Habitus der Akademiker*innen passenden Habitus’ ergeben.

Abschließend möchte ich sagen, dass die Auswirkungen des sozio-ökonomischen Status und dem damit einhergehenden sichtbaren Habitus deutlich die Normativität der gesellschaftlichen Anforderungen zeigt. Ebenso, wie gezeigt wird, wer diese Anforderungen formt. Am Beispiel der verhinderten Bildungsreform in Hamburg ist dies nochmal deutlich geworden.

Aus meiner Sicht sind Reflexionsprozesse der Privilegierten und der Gatekeeper*innen notwendig, um sich in eine Gesellschaft weiterzuentwickeln, die Chancengleichheit tatsächlich ermöglicht.

Literaturverzeichnis

Baudson, T. G. & Altieri, R. (2022). Klassimsu in Academia. Wer kommt an die Spitze? Forschung & Lehre. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://www.forschung-und-lehre.de/karriere/wer-kommt-an-die-spitze-4340

El-Mafaalani, A. (2020, 13. Februar). Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiepenheuer & Witsch GmbH.

Kemper, A. Klassismus im Bildungssystem: Zur virtùellen Gewalt des sich senkenden Blicks. In Kunst – Theorie – Aktivismus (S. 199–230). https://doi.org/10.1515/9783839426203-008

Kemper, A. (2016). Klassismus. Eine Bestandsaufnahme (Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen, Hrsg.). Erfurt.

Kemper, A., & Weinbach, H. (2009). Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast.

Kemper, A. & Weinbach, H. (2018). Klassismus. Eine Einführung (1. Auflage). Münster: UNRAST Verlag.

Kemper, A. (2021, 4. Mai). Mehr als nur Anerkennung. taz.

Lehmann, A. (2019, 3. Dezember). Bittere Ergebnisse der neuen Pisa-Studie: Mehr Mut gegen die Mittelschicht. Taz. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://taz.de/Bittere-Ergebnisse-der-neuen-Pisa-Studie/!5641658/

Ndr. (2010, 18. Februar). Kampf um Schulreform: Eliten wollen unter sich bleiben. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/Kampf-um-Schulreform-Eliten-wollen-unter-sich-bleiben,panoramaschulreform100.html

Tawadrous, M. (2021, 22. Oktober). Chancenungleichheit in der Bildung: In der Schule gibt es mehr Probleme als nur die Digitalisierung. Tagesspiegel. Abgerufen am 14. September 2022, von https://www.tagesspiegel.de/politik/in-der-schule-gibt-es-mehr-probleme-als-nur-die-digitalisierung-4285435.html


[1] „Kulturimperialismus bedeutet, dass die besondere Perspektive einer gesellschaftlichen Gruppe unsichtbar gemacht wird. Sie wird stereotypisiert und als „das Andere“ markiert“ (Kemper, 2021).

[2] Es sind nicht nur einzelne Handlungen gemeint, sondern ein allumfassendes Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema.

[3] Und nicht auf eine Förder- oder Sonderschule.

[4] Fleiß nenne ich hier nur als ein Beispiel, da ich denke, dass dies eine Eigenschaft ist, auf die viel Wert in der Schule gelegt wird.

[5] An dieser Stelle gendere ich nicht, weil es in meiner Familie männliche Personen waren, die diese Berufe ausübten.

[6] Dies wurde bereits im Schulkontext angesprochen.

[7] Ganz abgesehen, von den unterschiedlichen finanziellen Mitteln der Herkunftsfamilie, die ggf. das Arbeiten neben der Uni obsolet machen (ökonomisches Kapital) oder die Beziehungen der Herkunftsfamilie, die einen begehrten Job ermöglichen können (soziales Kapital).


Quelle: Tomke Thielebein, Klassismus im Bildungssystem, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?page_id=326

Bourdieus’ Habitus und seine Relevanz für die Klassismus-Forschung

Lynn Hruschka (SoSe 2022)

Für mich persönlich ist das Konzept des Habitus eines der wenigen akademischen Theorien, auf die ich im Laufe meines Studiums gestoßen bin und die mich nachträglich beeindruckt haben. Der Habitus hat mir plötzlich Dinge verständlich gemacht, für die ich vorher keine Worte hatte. Besonders interessant war auch für mich die Erkenntnis, dass es über Geld hinaus unterschiedliche Kapitalformen gibt und welche ich von meiner Herkunft „geerbt“ habe und welche nicht. Ich bin nun seit einem Jahr Mutter einer kleinen Tochter und frage mich jetzt, was ich meinem Kind für einen Habitus vererben möchte. Kann ich das überhaupt beeinflussen? Während des Seminars wurde mir die Rolle des Habitus für jegliche Klassenfrage wieder bewusst und wollte deswegen die wichtigsten Punkte kompakt hier zusammenfassen:

Im folgenden Essay soll die Frage nach der Relevanz von Bourdieus Habitus Konzept diskutiert werden. Inwiefern kann die Theorie des Habitus für die aktuelle Forschung zu Klassismus fruchtbar gemacht werden?

Die Konzepte von Pierre Bourdieu spielen für jegliche Forschung zu Klassismus eine Rolle. Vor dem Hintergrund seiner theoretischen Grundannahmen widmen wir uns hier insbesondere seinem Konzept des Habitus. 1979 in seinem Opus Magnum „La distinction“ eingeführt, ist es der zentrale Baustein seiner Sozioanalyse.

Habitus

Aber was ist der Habitus überhaupt?

Der Habitus stellt ein Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft dar. Unter Habitus versteht Bourdieu die inkorporierte Position, die ein Mensch im sozialen Gefüge einnimmt (Ernaux 2016, 30). Er besteht aus der Gesamtheit von Haltungen, Dispositionen, Gewohnheiten und Einstellungen eines Individuums gegenüber der Welt. Diese werden wiederum von den ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen diktiert. Somit nimmt der Habitus eine klassenspezifische Form an, ausgehend von der Annahme, dass sich die Gesellschaft in Klassen gliedert, welche sich durch ihre ökonomischen Bedingungen voneinander scheiden. Für Bourdieu erlangt die theoretische Annahme der Existenz sozialer Klassen erst Bedeutung, wenn die Klassenzugehörigkeit sich in unterschiedliche Formen der Lebensführung übersetzt (Fuchs-Heinritz und König 2014, 89f; Bourdieu 1987, 182). Mit Lebensführung sind hier die soziale Praxis und der Blick auf die Welt gemeint. Diese generieren sich aus dem Habitus und zeigen durch ihre sichtbaren Formen, wie beispielsweise Behausung, kulinarische Vorlieben oder Konsum von kulturellen Gütern, soziale Unterschiede an. (Krais und Gebauer 2014, 36) Der Erwerb des Habitus geschieht in der Sozialisation. Die kulturelle und materielle Ausstattung einer Familie prägt die Vorlieben des Kindes. (Fuchs-Heinritz und König 2014, 96) Dabei nimmt das Individuum das an, was zur Verfügung steht. Mit anderen Worten: Man mag, was man hat. (Krais und Gebauer 2014, 41). In der physischen Erscheinung eines Individuums sieht Bourdieu eine objektivierte, äußerlich sichtbare Form des Habitus. Die soziale Welt formt den Körper. An ihm werden gesellschaftliche Hierarchien und die Position des Individuums sichtbar. Gesellschaftliche Hierarchien werden durch manifeste Symbole äußerlich sichtbar.

Innerhalb des globalen Gefüges des sozialen Raumes bestehen kleinere Einheiten von sozialen Feldern, in denen ihre eigenen Regeln gelten. Soziale Felder sind Schauplätze des Konkurrenzkampfes. Neben der Akkumulation von ökonomischem und kulturellem Kapital kämpfen die Individuen um die Deutungshoheit, d.h. um die Vorherrschaft ihrer Weltsicht (Schmitt 2016, 16). Diese Vorherrschaft wird durch Symbole äußerlich kenntlich gemacht. Folglich ist der Kampf um die Deutungshoheit ein Kampf um das symbolische Kapital. Der Habitus eines Individuums beeinflusst, welches Feld es sich aussucht und wie es sich dort verhält. Als handlungsleitend gibt der Habitus nämlich ein Gespür für die in einem Feld vorherrschenden Spielregeln mit (Schmitt 2006, 17).

Befreiung vom Habitus

Ist es möglich, sich vom eigenen Habitus zu lösen und ihn zu überwinden? Lässt sich der „Teufelskreis“ aus reproduzierendem Kapital durchbrechen? Robert Schmidt argumentiert skeptisch (Schmidt 2014, 234): Bourdieu selbst hätte zwar durchaus auf die Möglichkeit des reflexiven Bewusstwerdens der symbolischen Gewalt hingewiesen, jedoch gleichzeitig erkannt, dass ein bloßes Beseitigen der méconnaissance nicht reiche, um sich von der symbolischen Herrschaft (sei sie männlich oder neoliberal) zu befreien. Lothar Peter lenkt den Blick auf die drei Möglichkeiten:

Erstens, wenn der Habitus und die Struktur so weit auseinanderklaffen, dass die Realität und die symbolische Erwartung unvermeidlicher Weise kollidieren, zum Beispiel der Schriftsteller der sich Édouard Louis nennt, aber als Eddy Bellegeulle als homosexueller Mann im französischen Arbeitermilieu aufgewachsen ist. Dies gilt letztlich für alle queere Menschen, die in unserer heteronormativen Gesellschaft aufwachsen. Ebenso anwenden könnte man den Gedanken auf Frauen in männergeprägten Berufen – sie müssen unwillkürlich sich einen anderen Habitus erarbeiten.

Zweitens gibt es die Möglichkeit den Habitus zu erkennen und ihn wissenschaftlich zu analysieren, wie es zum Beispiel in diesem Essay passiert. In dem Moment, in dem über den Habitus geschrieben wird, kann er ausgesetzt werden, in dem man sich von ihm distanziert.

Drittens gibt es in der „biographisch-sozialisatorischen“ (Peter 2011, 29) Entwicklung die Chance für symbolische Gewalt immun gemacht zu werden. Das kostet viel Kraft und ist ein Prozess, der immer wieder von gesellschaftlichen Kräften verlangsamt werden wird. Die bürgerliche Klasse hat kein wirkliches Interesse daran, dass sich Menschen emanzipatorisch frei machen und so leben, wie sie wollen. Diese Arbeit wird viel von der LGBTQ+ Community geleistet und trifft vielleicht gerade deswegen auf so viel Widerspruch, weil ihr Erfolg ein Umwerfen aller essentialistischen Wahrheiten der bürgerlichen Klasse bedeuten würde.

Gerade mit seinem Werk „La domination masculine“ von 1998 schaffte Bourdieu einen wichtigen Grundstein für poststrukturalistische und postkoloniale Forschung. Zur männlichen Herrschaft sagte er: „Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, dass sie der Rechtfertigung nicht bedarf: Die androzentrische Sicht zwingt sich als neutral auf und muss sich nicht in legitimatorischen Diskursen artikulieren. […] Das gesellschaftliche Deutungsprinzip konstruiert den anatomischen Unterschied. Und dieser gesellschaftlich konstruierte Unterschied wird dann zu der als etwas Natürliches erscheinenden Grundlage.“ (Bourdieu 2012, 21) Dieses Zitat ist auch noch in der Argumentationsweise feministischer Literatur wiederzufinden und scheint nichts an seiner Aktualität verloren zu haben.

Des Weiteren wird Bourdieus Ethnografie zur kabylischen Gesellschaft (auf der der Habitus basierte) auch heute noch rezipiert: 2007 Loic Wacquant analysierte in Bezugnahme auf Bourdieu die Entwicklungen in den französischen Banlieues (Schmidt 2014, 234).

Für die Klassismus-Forschung sind einige Aspekte des Habitus-Konzeptes relevant. Zunächst ist der Habitus ein mehrdimensionales Konzept: „Klassenhabitus, geschlechtspezifizierter Habitus, ethnisierter Habitus“ (Schmitt 2006, 14). Lars Schmitt beschreibt ihn in seiner Heuristik als Matrix, die die inneren und äußeren Grenzen des Denk- und Handelbaren (in Anlehnung an Foucaults Episteme) umfasst. Gleichzeitig kann Klassismus-Forschung mit dem Konzept generationenübergreifend Konflikte bearbeiten, da sich der Habitus in seiner Form zwar verändert, jedoch nicht an bestimmte Verhaltensformen geknüpft ist (Schmitt 2006, 16).

In der Analyse der Performativität des Habitus gelingt Bourdieu die Alltäglichkeit des menschlichen Lebens und Leidens einzufangen, unterschiedliche Subjekte selbstbestimmt zu Wort kommen zu lassen, und sie trotzdem in ihre Herrschaftsverhältnisse einzuordnen. Dabei bleiben diese Menschen in ihren Konfliktthemen rationale Entscheidungsfinder, aber immer im Hinblick ihres schon vorher sich manifestierten Habitus. Dadurch verändert sich der Blick auf Opfer-Täter-Analysen. Während diese oft eine dichotomische Weltsicht voraussetzen, sieht Bourdieu „oppression as a cooperative game“ (Schmitt 2006, 21). Denn auch die Herrschenden werden von ihrer Herrschaft beherrscht (Schmidt 2014, 233).

Beispiel Habitus-Struktur-Konflikt

Analytisches Potenzial bietet das Konzept des Habitus insbesondere in sog. Habitus-Struktur-Konflikten (HSK). In solchen Konflikten gerät das Individuum mit den Erwartungen und Regeln seines sozialen Umfelds in Widerspruch. Schmitt (2006, 18) führt das Beispiel einer weiblichen Chefärztin an, die in ihrem beruflichen Umfeld mit den männlichen Strukturen und Anforderung an „den“ Arzt konfrontiert wird. Dieses empirische Beispiel lässt sich nun mit Bourdieu durchdringen. In seiner Terminologie haben wir es mit einem sozialen Feld zu tun, in dem bestimmte Regeln und Anforderungen an den individuellen Habitus gelten. Individuen wählen dieses Feld in der Regel nur, wenn ihr Habitus mit dem geforderten Habitus übereinstimmt. D.h., die Wahrscheinlichkeit ein soziales Feld zu betreten ist ungleich zwischen Individuen verteilt, je nach der Nähe des Feldes zu dem Habitus des Individuums. Das Beispiel der weiblichen Chefärztin zeigt, dass der Zutritt nicht grundsätzlich im Vorfeld determiniert ist. In ihrem Feld begegnet sie nun den Trägern der „orthodoxen“ Position. Sie selbst hat nun die Möglichkeit, diese Position nachzubilden, oder eine „heterodoxe“ Position einzunehmen. Letztlich findet zwischen den Individuen in dem Feld ein Kampf über die Deutungshoheit über die Spielregeln statt (Schmitt 2006, 18).

Beispiel Sprache

Ein weiteres Beispiel für den Habitus ist die Sprache, die sehr interessant für die Klassismus-Forschung sein kann und die wir im Seminar auch in verschiedenen Texten besprochen hatten:

Im Französischen wie im Deutschen nutzen marginalisierte Gruppen Sprache, um sich von der weißen Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Im Französischen weitaus komplexer sorgt das sogenannte „Verlan“ (abgeleitet von „à l’envers“) zuweilen dafür, dass Außenstehende die hervorgebrachten, auf französischen Wörtern basierenden, Schöpfungen nicht verstehen (Prévos 1996). Im Deutschen wird die „Kanacksprack“ oft als einfacher Akzent, der darauf hindeutet, dass der- oder diejenige die Sprache nicht korrekt beherrscht, missverstanden (Rehbein, Schalowski, und Wiese 2014).

Die sogenannte Eloquenz einer akzentfreien Sprache der weißen Mittelschicht (die auch in dieser wissenschaftlichen Arbeit wiederzufinden ist) steht hier im krassen Kontrast. Schiller und Molière sind Ikonen ihrer Sprache und werden gerne als Vertreter einer höheren Sprache, einer „besseren“ Sprache dargestellt, einer Sprache, die, wenn sie richtig beherrscht wird, aus den Sprechenden „etwas“ macht. Aus „Isch“ muss „ich“ werden und wer „Friedrisch“ anstatt „Friedrich“ sagt, gehört nicht zur deutschen Gesellschaft (Kreuder 2018, 271).

Die Kooperation und Assimilation an die deutsche Sprache werden gleichgesetzt mit der Vorstellung, etwas erreichen zu können. Dies knüpft an post-koloniale Theorien wie zum Beispiel Achille Mbembe sie formuliert hat, an, die die Verwendung der Kolonialsprache als Aufgabe der eigenen Identität sehr kritisch betrachten (Mbembe 2014).

Kritik am Habitus Konzept

Gibt es auch Kritik am Habitus-Konzept?

Mit dem Habitus-Konzept kann außerdem die gesamte akademische Klassismus-Forschung kritisch hinterfragt werden: Bourdieu sah auch im akademischen Feld einen Raum, der symbolische Gewalt reproduziert. So war für ihn beispielsweise die Idee einer herrschaftsfreien Kommunikation nach Jürgen Habermas „habitusblind“ (Schmitt 2006, 20). Entscheidend ist also nicht nur, welche Symboliken die Realität bestimmen, sondern auch, wer die Definitionsmacht hat, sie zu verändern.

Gerade ein so viel zitiertes Konzept wie der Habitus zieht selbstredend auch Kritik auf sich. Externe akademische Kritik am Konzept kam dabei immer wieder aus unterschiedlichen Richtungen: Stephan Moebius verweist auf Alain Caillé, der bemängelt, dass in Bourdieus Theorie die Menschen immer nur nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül handeln würden und außerdem das ökonomische Kapital ohne Beweis zum wichtigsten der vier Kapitale verklärt.

Andere Kritiker*innen beanstanden die fehlende terminologische Unterscheidung zwischen Gewalt, Macht und Herrschaft. Verschiedene Poststrukturalist*innen (darunter Judith Butler) verweisen auf die „Unberechenbarkeit der für die Strukturerhaltung notwendigen Wiederholung“ des Habitus über Generationen hinweg (Moebius 2011, 66). Schmitt sieht eher die Problematik eines zu hoch angelegten sozialen Determinismus, sowie die Möglichkeit, dass nicht alle situativen Konflikte mit dem Konzept realitätsnah erklärt werden könnten (Schmitt 2006, 27). Als Leser*in vom Bourdieus Texten springt jedoch als größter Kritikpunkt seine klassistische Schreibweise mit ihren Formulierungen und sehr langer Satzketten selbst ins Auge, die für Leser*innen außerhalb des akademischen Milieus kaum verständlich zu sein scheint.

Fazit

Nichtsdestotrotz bleibt Bourdieu ein wichtiger Faktor für jedes emanzipatorische Denken, dass sich aus den uns jeweilig betreffenden versteckten Herrschaftsverhältnissen symbolischer Gewalt befreien möchte und damit auch für die Klassismus-Forschung. Für mich hat das Konzept eine gewisse Zeitlosigkeit erreicht, vielleicht ebenso wie „Das Kapital“ von Karl Marx für jegliche Kapitalismuskritik. Selbst wenn einige Aspekte noch weiter ausformuliert und verändert werden könnten, so wird der Habitus doch in der Grundausstattung eines jeden Werkzeugkastens für Klassismus bleiben.

Und auch meiner Tochter werde ich versuchen mitzugeben, welche Habitus-Struktur-Konflikte ihr in ihrem Leben begegnen könnten und wie sie sich daraus befreien kann. Dies wird kein einfacher Weg sein, aber das Bewusstsein für den Habitus, den wir alle im Alltag und in jeder Konversation „performen“, ist ein erster Schritt.

Bibliographie

Bourdieu, Pierre. Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987.

———. Die männliche Herrschaft. 5. Auflage.  Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2012.

Ernaux, Annie. „La distinction, oeuvre total et revolutionnaire“. In : Edouard Louis. Pierre Bourdieu: L’insoumission en héritage, herausgegeben von Edouard Louis. Paris: Presses Universitaires de France, 2016.

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Quelle: Lynn Hruschka, Bourdieus’ Habitus und seine Relevanz für die Klassismus-Forschung, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 07.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=300