Aimée Doms, Linus Broll, Jonas Pfeifer und Nike Fuchs (SoSe 2024)
Teaser:
Misogynie tötet. Was in von Frauenhass durchzogenen Onlineforen beginnt, endet in realem Terror. Männer, die der Überzeugung sind, ohne breiten Unterkiefer keine Zärtlichkeit erfahren zu können, begeben sich nicht selten in Radikalisierungsspiralen und werden Teil der Incel Anschlagserie.
Unsere Podcastreihe ist ein Versuch der Aufarbeitung.
Triggerwarnung:
Bevor wir beginnen, möchten wir darauf hinweisen, dass dieser Podcast sensible Themen behandelt, die für einige Hörer*innen belastend sein können.
Wir sprechen über die Incel-Community, deren Ideologien und Auswirkungen auf die Gesellschaft. In den kommenden Minuten werden wir auch über Themen wie Femizide, Frustration, Hass und Radikalisierung sprechen.
Es ist also wichtig zu beachten, dass diese Inhalte verstörend sein können und möglicherweise Trigger für Menschen mit persönlichen Erfahrungen in diesen Bereichen darstellen. Wenn du dich unwohl fühlen solltest oder dir Unterstützung wünscht, empfehlen wir dir, diesen Podcast möglicherweise nicht weiter anzuhören. Beratungsstellen, professionelle Hilfe und Ansprechpartner *innen findest du unten in der Beschreibung.
Wir möchten sicherstellen, dass alle unsere Hörer*innen sich sicher und respektiert fühlen. Vielen Dank für euer Verständnis.
Über Podcast Werkstatt: Gender und Diversity in den Techno-Sciences: Von Sexrobotern, Dating Apps und KI
Wie wollen wir in einer Welt leben, die durch Technik geprägt ist? Inwiefern beeinflussen soziale Ungleichheiten technologische Entwicklungen? Welche Rolle kann Technik spielen, um unsere Welt gerechter zu gestalten und sozialen Ungleichheiten entgegen zu wirken?
In der von Dr. Tanja Kubes geleiteten Podcast-Werkstatt werden aktuelle soziotechnische Themen wie Künstliche Intelligenz, Dating Apps, Social Media, etc. aufgegriffen und deren feministisches Potenzial beleuchten. Dabei wird von den Studierenden Technik nicht nur kritisch analysiert, sondern auch selbst aktiv angewendet und Podcasts produziert.
Seit Beginn meiner Pubertät haben mich Themen wie das Schminken, Stylen, und die allgemeine eigene Schönheit fast täglich beschäftigt. Sei es früh morgens vor der Schule, nachmittags, bevor ich meine Freund*innen traf, oder auch abends vor Konzerten gewesen – ein „perfektes” Aussehen war in fast allen Bereichen meines Lebens ein sehr wichtiger Aspekt. Ein Thema, welches mich allerdings nie betroffen hat und mir daher größtenteils unbewusst war, beinhaltet die starke Präsenz von diskriminierenden Schönheitstrends, die von rassistischen Werten geprägt sind. Tatsächlich ist mir der Begriff „Colorism” erst seit einigen Jahren bekannt und ist mir auch seitdem erst als ein fortbestehendes, soziokulturelles Problem aufgefallen.
Im Rahmen meines Studiums und nach der Teilnahme am ABV-Modul „Gender, Diversity, Gender Mainstreaming” habe ich mich unter Anderem tiefer mit Rassismus und rassistischer Diskriminierung auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen auseinandergesetzt. Des Weiteren wurde ich für verschiedene Themenbereiche der Diskriminierung stärker sensibilisiert, was dazu führte, dass ich das Phänomen Colorismus kritisch betrachtet und näher analysiert habe. In dieser Analyse werde ich zunächst auf die Begriffsbedeutung und den historischen Kontext von Colorismus eingehen, bevor moderne Beispiele aus mehreren Berichten Colorismus als ein beständiges, allgegenwärtiges und vielschichtiges Problem verdeutlichen. Mit Hilfe von wissenschaftlicher Literatur, welche die Themen Schönheit und Colorismus aus diversen soziologischen Perspektiven behandelt, wird diese Analyse ermitteln, inwiefern Colorismus als ein komplexes, diskriminierendes und höchst schädigendes System fungiert. In diesem Text werde ich hauptsächlich den eingedeutschten Begriff „Colorismus” (vom Englischen „Colorism”) verwenden, welcher sich klar von dem Farbkonzept „Kolorismus” aus der Malerei abgrenzt.
2. Was ist Colorismus?: Begriffsklärung und historischer Ursprung
Der Begriff wurde 1982 von der afroamerikanischen Schriftstellerin Alice Walker geprägt und bezeichnet die „voreingenommene oder bevorzugte Behandlung von Menschen derselben [rassifizierten Gruppe] basierend allein auf ihrer Hautfarbe” (Igwe, 2023). Die Definition des Merriam-Webster Dictionary betont darüber hinaus, dass Menschen mit hellerer Haut gegenüber denen mit dunklerer Haut bevorzugt werden. Hierbei geht hervor, dass Colorismus sich von Rassismus unterscheidet, da er innerhalb von ethnischen und rassifizierten Gruppen stattfindet und somit nur ein bestimmter Teil dieser Gruppen diskriminiert wird. Hinzu kommt, dass Colorismus von allen ethnischen und rassifizierten Gruppen praktiziert wird und dies insofern problematisch ist, dass dadurch Spaltungen innerhalb von verschiedenen Communities, z.B. der Schwarzen Community, entstehen können (Wolf, 2021).
In einem Artikel des Studierendenmagazin der Hochschule der Medien schreibt Samira Igwe über das Stereotyp „Angry Black Woman”, also „das Narrativ der wütenden Schwarzen Frau” (Igwe, 2023), welches Betroffenen das Recht auf Wut abspricht. Samira berichtet von ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Stereotyp und nimmt Bezug auf Colorismus, wobei sie anmerkt, dass sie selbst als „lightskinned-Schwarze Frau”[1] weniger ausgegrenzt und diskriminiert wird, als die „darkskinned-Schwarze” Perla Londole, Gründerin der Black Community Foundation in Deutschland, welche oftmals als „Angry Black Woman” abgestempelt wird. Dieses Beispiel verdeutlicht: Je heller die Hautfarbe Schwarzer Personen, desto mehr Privilegien haben sie in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, während Schwarze Personen mit dunkler Haut schlechter behandelt werden (Igwe).
Seinen Ursprung hat der Colorismus im Kolonialismus. Im US-amerikanischen Kontext basiert er auf der Versklavung von Schwarzen Menschen. Da versklavte Menschen mit hellerem Teint oftmals Familienmitglieder[2] der Sklavenhalter*innen waren, wurden sie meist bevorzugt. Dies zeigte sich vor allem in den verschiedenen Aufgabenbereichen: während Sklav*innen mit hellerer Hautfarbe oft im Haushalt arbeiteten, mussten andere versklavte Menschen mit dunklerer Hautfarbe schwere Arbeiten auf den Feldern verrichten. Folglich wurde eine helle Hautfarbe unter versklavten Menschen als Vermögenswert angesehen (Nittle, 2021). Daraus lässt sich schließen, dass Colorismus einen klaren rassistischen Ursprung hat und in einer Beziehung zu einer Hierarchie der Klassengesellschaft steht, wobei eine dunkle Hautfarbe immer unterhalb der helleren eingestuft wird.
Die historische Beziehung zum Klassismus wird noch deutlicher hinsichtlich des Colorismus in asiatischen Ländern, wo er bereits vor dem Kontakt mit Europäern und eher aus den Unterschieden zwischen der herrschenden und der Bauernklasse entstand. Die gebräunte Haut von Menschen der Bauernklasse wurde zu einem klaren Merkmal eines unterprivilegierten Status, während ein heller Teint mit der Elite assoziiert wurde (Nittle, 2021). Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass der heutige Colorismus im asiatischen Raum auf dieser Vorgeschichte basiert und weiterhin von kulturellen westlichen Einflüssen verstärkt wird.
3. Colorismus in der heutigen Zeit: ein vielschichtiges „Subsystem”
Mit dem Wissen, dass Colorismus stark mit Rassismus und Klassismus zusammenhängt, ist es nicht verwunderlich, dass dieser sich ebenfalls in vielen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen als präsent und wirkungsvoll erweist. Von medialer Repräsentation, über Einstellungen im Beruf, bis hin zu alltäglichen Dingen wie Seifenspendern und Snapchat Filtern, die dunkle Haut nicht als menschlich identifizieren. Diese Allgegenwärtigkeit deutet auf ein systematisches Machtgefüge hin, dessen Funktionsweise Prof. Dr. Maisha-Maureen Auma darin sieht, “hierarchisch zu positionieren, zu marginalisieren und auszuschließen” (Auma, 2020).
Des Weiteren bezeichnet die Professorin Colorismus als ein Subsystem bzw. eine bedeutende Technik der rassistischen Ordnung, welche dazu dient, Rassismus durch Unterschiede der Hautpigmentierung zu begründen. Folglich liegt es für weiße Privilegierte somit in der Natur, und nicht am Menschen, dass Schwarze Menschen rassifiziert werden. Negative Eigenschaften wie Kriminalität, Faulheit und Emotionalität wurden in weißen Mehrheitsgesellschaften historisch mit Schwarzen Menschen assoziiert, wobei die Hautfarbe „zu einer folgenreichen Unterscheidungskategorie aufgeladen” wurde (Auma, 2020).
Das bereits erwähnte Stereotyp „Angry Black Woman” ist ein klares Beispiel dafür, wie sich bestimmte Assoziationen mit dunkler Hautfarbe in medialer Repräsentation sowie in zwischenmenschlichen Interaktionen offenbaren und widerspiegeln. Ein wiederkehrendes Motiv in Serien und Filmen ist die lightskinned Frau, welche oftmals als sehr hübsch, freundlich, und wohlerzogen dargestellt wird, wohingegen ihre darkskinned Freundin entgegengesetzte Eigenschaften präsentiert, sprich Boshaftigkeit, Unerzogenheit und Verbitterung.
In der US-amerikanischen Netflix Serie Dear White People (2017-2021) wird das Stereotyp der „Angry Black Woman” zum Teil von der Figur Joelle Brooks verkörpert, dessen beste Freundin und Hauptfigur Samantha White ein „lightskin privilege” besitzt. Auch durch Coco Conners, eine weitere Freundin von Samantha, wird Colorismus in der Serie deutlich und kritisch behandelt. Während die Aktivistin Samantha versucht, ihr eigenes lightskin und „white privilege”[3] zu überkompensieren (Willer, 2021), indem sie sich besonders stark für die Schwarze Community und das Black Movement an ihrer Universität engagiert, hält Coco sich diesbezüglich zurück. Da sie aus armen Familienverhältnissen kommt und als darkskinned Frau sehr viel unterprivilegierter ist als lightskinned Frauen*, musste sie lernen, sich der weißen Gesellschaft anzupassen. Ein Merkmal, welches dies veranschaulicht, sind Coco’s glatte, unnatürliche Haare, die im Gegensatz zu den natürlichen Haaren von Samantha stehen.
Das Thema Haare wird unter anderem in der Serie thematisiert, als die beiden Freundinnen sich über ihre unterschiedlichen sozialen Privilegien streiten. Diese dargestellte Selbstreflexion führt dazu, dass Samantha ihr lightskin Privileg als solches erkennt und sich bei Coco für ihre frühere Ignoranz entschuldigt.
Es wird demnach deutlich, dass der Colorismus oft über Hautfarbe hinausgeht, und Haarstruktur ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Das vorherrschende rassistische und klassistische europäische Schönheitsideal ist im Colorismus zentral. In den folgenden Sektionen werde ich anhand von persönlichen Berichten und einem viralen Modetrend näher auf die Beziehung zwischen gesellschaftlichen Vorstellungen von Schönheit und Colorismus eingehen.
3.1. „Je weißer, desto schöner”: Colorismus als Schönheitsmaßstab
In ihrem TEDx Talk „Confessions of a D Girl: Colorism and Global Standards of Beauty” (dt.: „Geständnisse eines D Girls: Colorismus und globale Schönheitsstandards”) aus dem Jahr 2016, spricht Chika Okoro über die schädigenden Auswirkungen von Colorismus auf Selbstliebe und das Selbstwertgefühl von schwarzen Frauen* mit dunklem Hautton. Zunächst berichtet sie von ihrer Entdeckung der überaus problematischen Maßstäbe für bestimmte Rollen in dem Film Straight Outta Compton (2015). Die Kategorien im Casting-Aufruf verdeutlichen ihr, dass sie unter die letzte Kategorie der „D girls” fällt, welche sich auf arme schwarze Frauen bezieht, die in „keiner guten Form” sind und einen dunkleren Hautton besitzen müssen. Konträr dazu setzen die vorherigen Kategorien (A-C) hellere Hauttöne sowie natürliches langes Haar voraus, wobei die Kategorie der “A girls” sich auf die “heißesten Models” bezieht.
Chika Okoro beschreibt ein Gefühl des Verrats, welches sie durch die Realisierung überkommt, dass es ihr selbst innerhalb einer rassifizierten Gruppe, die ohnehin schon selten auf der großen Leinwand repräsentiert wird, verwehrt wird, sich schön zu fühlen. Doch dieses Gefühl wird zu einer zwangsläufigen Akzeptanz, da subtiler Colorismus ihr in nahezu allen Lebensbereichen deutlich wird. Weniger subtil sind hingegen Testmethoden wie der Papiertüten-Test, um Hauttöne zu prüfen, der Stifttest, welcher Haarstrukturen prüft, und der Schattentest, um Gesichtsmerkmale abzugrenzen. Diese Methoden werden unter anderem von Elite-Gruppen (bspw. US Schwesternschaften) genutzt, um Personen und vor allem Frauen*, welche zu weit von den äußerlichen europäischen Körpermerkmalen abweichen (d.h. dunklere Hautfarbe, krauses Haar, ‘nicht weiße’ Gesichtszüge), auszugrenzen.
Auch hiermit wird erneut klar, dass Colorismus neben der Hautfarbe alle äußerlichen Merkmale mit einbezieht, welche ein gewisses Schönheitsideal widerspiegeln. Durch die historischen Auswirkungen des Kolonialismus sind Haar-Differenzierungen bis heute bei schwarzen Frauen, wie Schönheitsideale und Weiblichkeit verbunden. Dies reflektiert die Aufrechterhaltung rassistischer Gegensätze, wobei die ‘gerade Haar-Regel’ als Bestandteil kolonialer und rassistischer Ideologien dient (Ellis & Destine, 2023, S.8).
In dem Buch Projekt Körper: Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt (2009) spricht Waltraud Posch von der Entstehung von Körperklassen im Neoliberalismus, welche bestimmte Körperideale bevorzugen und andere durch Selektionsmechanismen ausgrenzen. Das dadurch gebildete System der Attraktivität beeinflusst die soziale Hierarchie, in welcher Schönheit sich als eigene Klasse etabliert hat (Posch, 2009, S.64-65). Daraus lässt sich schließen, dass vorherrschende Schönheitsideale direkt mit einer Einstufung in gesellschaftliche Klassen einhergehen, wobei unerwünschte Körper abgewertet und ausgeschlossen werden. Des Weiteren sorgen möglichst unerreichbare Normen dafür, dass diejenigen, die sie erreichen, als „besonders gut, toll, fit, [und] erfolgreich” gelten (Posch, S.65). Je weniger Menschen sich also dem Idealkörper nähern können, desto erfolgreicher sind die körperlich Erfolgreichen.
In den Fällen von Chika Okoro und dem fiktiven Charakter Coco Conners wird diese Einstufung, wie sich zeigt, neben dem Rassismus sehr stark vom Colorismus bestimmt. Beide Beispiele werfen ein Licht darauf, wie tief coloristische Wertvorstellungen in der Gesellschaft verankert sind und dass diese sich vehement auf das Selbstwertgefühl von jenen auswirken, die aus der ‘Schönheitsnorm’ fallen. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist, dass Körperlichkeit, im Sinne von Mode oder grundlegender Körperdimensionen, eine entscheidende Rolle bei der Schaffung und Darstellung von Identität spielt. Sei es die Wahl der Kleidung, die Nähe zu Schönheitsstandards, oder die Inszenierung der Persönlichkeit durch Mode und Körperlichkeit – all das trägt zur Identitätsbildung bei (Posch, 2009, S.37). Daher ist es nicht verwunderlich, wenn auch problematisch, dass viele Menschen mithilfe von kostspieligen und/oder sogar gesundheitsschädlichen Mitteln versuchen, dem idealen Aussehen so nahe wie möglich zu kommen.
3.2. Obsession „Weiß-sein”: Auswirkungen auf persönliches Handeln
Wie bereits erwähnt, ist Colorismus ein globales Phänomen, welches People of Color aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen betrifft. Neben Chika Okoro’s US-bezogenen TEDx Talk gibt es noch viele weitere Berichte über Colorismus von Menschen und Frauen* unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Beispielsweise berichtet Bianca Punzalan von Colorismus in den Philippinen, und Waseka Nahar spricht über ihre Erfahrungen als “brown girl” in Südasien. Beide Sprecherinnen thematisieren die großflächige Vermarktung und Begünstigung von weißer Haut durch hautaufhellende Cremes und Mittel. Auch die exzessive Verwendung von Sonnencreme soll in den Philippinen nicht bloß gesundheitsbedingt sein, sondern hängt laut Punzalan sehr stark mit dem Schönheitsideal heller oder weißer Haut zusammen.
In Punzalan’s Bericht (2021) wird deutlich, wie sehr sich das Verinnerlichen und Bewerben dieses Ideals von der eigenen Familie auf junge Menschen auswirken kann. Da braune Haut in den Philippinen als “dreckig, hässlich, und arm” betrachtet wird und oft Sprüche fallen wie „Du bist hübsch, füreine dunkle Person”, hat Punzalan zwangsläufig versucht, sich dem Schönheitsideal trotz schmerzhafter Methoden immer weiter zu nähern. Auch die beiden Schweizerinnen Dhiviyaa Satkunanathan und Claire Bengue erzählen in der Reportage „Hau(p)tsache hell – Das Geschäft mit dunkler Haut” (2021) von ihren zwanghaften, familiär geförderten Versuchen, einen helleren Hautton durch Bleichcremes und Seifen zu erreichen. Dies verursachte bei Bengue einmal eine Hautverbrennung. Ein permanentes negatives Feedback zur „zu dunklen” Hautfarbe führt demnach häufig dazu, dass Betroffene trotz eigener Gesundheitsgefährdung mit Hilfe von entsprechenden (und weit verbreiteten) Produkten und Methoden alles versuchen, um ihre Haut aufzuhellen.
Daraus lässt sich also folgern, dass rassifizierte Schönheit eine Kommodifizierung heller Haut mit sich bringt, was die Hautaufhellungsindustrie zu einem Millionen-Dollar-Geschäft macht. Zudem fördern coloristische Ideale und deren Vermarktung die Selbstabwertung betroffener Menschen sowie das weiße Überlegenheitsdenken als Begleiter des europäischen Kolonialismus (Ellis & Destine, 2023, S.7). Im asiatischen Raum steht helle Haut für Modernität und soziale Mobilität, weshalb weißes Bleipulver von asiatischen Frauen* der Oberschicht historisch oft verwendet wurde (Ellis & Destine, S.9). Demzufolge kann Colorismus als ein Subsystem des Rassismus betrachtet werden, welches sich auf die komplexen Strukturen des Klassismus, Sexismus, und Kapitalismus stützt, und somit durch mehrere zusammenhängende Faktoren weitergeführt wird.
Waltraud Posch betont, dass Körpermanipulationen als Mittel zweier gegensätzlicher Verhaltensweisen dienen: zum einen der Unterwerfung und zum anderen der Selbstbestimmung. Somit können sie gleichzeitig für Unterdrückung sowie für Freiheit stehen (Posch, 2009, S.166). Des Weiteren muss klargestellt werden, dass Schönheitshandeln kein privates Handeln ist, denn es „verlangt nach dem Blick der anderen und ist ein Akt der Kommunikation” (Posch, S. 166). Ebenso wenig stellt Schönheitshandeln reinen Spaß, reine ‘Frauensache’, oder bloß ein Oberflächenphänomen dar; denn tatsächlich ist es ein identitätsstiftender Akt (Posch, S. 166).
Die vorgestellten Fälle dienen dafür als klare Beispiele. Colorismus ist zwar häufig ein geschlechtsspezifisches Phänomen, welches Frauen* überproportional betrifft (Ellis & Destine, 2023, S.2), jedoch kann er ebenso von Menschen aller Geschlechtszugehörigkeiten erfahren werden. Der Zusammenhang von sozialem Geschlecht und dunkler Hautfarbe kann hier, wie auch in einigen Formen des Rassismus, auf gesellschaftliche Vorstellungen von Schönheit und Weiblichkeit zurückgeführt werden. In diesem Kontext können Methoden der Hautaufhellung eine Unterdrückung im Sinne der Konformität (Weiß-sein = „schön” sein) widerspiegeln, was jedoch für einige gewisse Freiheiten mit sich bringt. Wenn hellere Haut soziale Inklusion und bessere Behandlung bedeutet, wird sie als ein Kapital gesehen, welches eindeutig mehr Chancen und Privilegien bietet als dunklere Haut. Ob dies echte Freiheit darstellt, gilt definitiv zu hinterfragen. Vielmehr mögen die positiven Effekte derartiger Körpermanipulationen eine Freiheit vortäuschen, die auf höchst problematischen sozialen Dynamiken und Werten basiert, und das auf Kosten des Selbstwertgefühls und der körperlichen Akzeptanz.
4. Fazit: Social-Media Einfluss: Was ist vor allem heute wichtig?
Das heutige Zeitalter der „Social Media Generation” bietet eine riesige Fläche für die regelmäßige Verbreitung bestimmter Bilder und Einflüsse, weshalb das Internet als relevantes und integrales Kulturobjekt gilt. Von User*innen und prominenten Personen, die gewisse Körper, Standards, und Ästhetiken präsentieren, bis hin zu Fotobearbeitungstools, durch welche Selfies schnell und einfach „verschönert” oder gar verfremdet werden können – ein Entkommen der modernen Schönheitsideale ist nahezu unmöglich. Auch im Kontext des Colorismus stellen scheinbar harmlose, hautaufhellende Gesichtsfilter, oder Trends wie der „Clean Girl Look”[4] eine gefährliche Kontinuität der bereits bestehenden (selbst)abwertenden Ansichten und Praktiken dar. Umso wichtiger ist es, öffentliche Inhalte und Plattformen einerseits kritisch zu betrachten und andererseits als Tool für mehr Aufklärung, Sichtbarkeit, und Diversity-Förderung wahrzunehmen.
Ellis, N. P., & Destine, S. (2023). Color capital: Examining the racialized nature of beauty via colorism and skin bleaching. Sociology Compass, 17(8), e13049.
[1] „lightskinned” beschreibt eine Schwarze Person mit vergleichsweise hellem Hautton, während „darkskinned” sich auf Schwarze Personen mit dunklerem Hautton bezieht. Die Begriffe werden auch im deutschen Diskurs verwendet, u.a. von der Erziehungs- und Genderwissenschaftlerin Prof. Dr. Maisha-Maureen Auma. Sie betont, dass solange die deutsche Sprache noch nicht genug für die anerkennende Beziehung zwischen Schwarzen Menschen und ihren Körpern hergibt, englische Begriffe benutzt werden müssen (zeit).
[2] Kinder von versklavten Menschen und Sklavenhalter*innen waren meist das Ergebnis von sexuellen Übergriffen, bei dem die versklavten Menschen zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurden.
[3] Samantha White ist die Tochter einer schwarzen Mutter und eines weißen Vaters, und somit “biracial”.
[4]„Clean Girl Look”: eine Stil-Ästhetik, die minimales und ‘sauberes’ Make-Up sowie Kleidungs- und Lebensstil darstellen soll. Er wurde mehrfach dafür kritisiert, dass er ausgrenzend, und ausschließlich auf ‘hübsche’, dünne, und weiße Frauen* ausgerichtet sei. Vor allem das schlichte Make-Up wurde von Schwarzen Creator*innen als spezifisch für weiße Menschen bezeichnet (Urbancik, 2024).
Quelle: Kim-Margaux Déniel, Diskriminierung und Selbsthass durch rassistisch geprägte Schönheitsideale: Die Körperpolitik des Colorismus in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 08.07.2024, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=459
Vorbemerkung: Analog zu Begriffen wie Queerphobie, Transphobie oder Homophobie wäre die Wortbildung mit „-phobie” im Deutschen irreführend, da es sich bei all diesen Beispielen nicht um klassische Ängste im Sinne einer Phobie handelt, sondern um ablehnende Einstellungen und Haltungen. Daher werde ich im Folgenden ausschließlich den englischen Begriff Femmephobia verwenden.
Femme als Identifikation und Femmephobia
Bevor wir definieren können, was Femmephobia ist und wie ihre Manifestationen in queeren Communities aussehen können, ist es notwendig zu definieren, was „femme“ ist und wo die Unterschiede z.B. zu Feminität liegen. Rhea Hoskin definiert „femme“ als eine Identität, die sowohl Feminität unabhängig von einem als weiblich gelesenen oder definierten Körper umfasst, als auch Feminität, die gesellschaftlich sanktionslos dargestellt werden kann (Blair & Hoskin, 2015, S.232). Unsanktionierte Feminität soll hier als patriarchale Feminität bezeichnet werden, was bedeutet, dass nur jene Feminität gesellschaftlich akzeptiert ist, die von weißen, able-bodied, heterosexuell verfügbaren cis-Frauen im biologisch-deterministischen Verständnis performativ hergestellt wird (Blair & Hoskin, 2015, S.232). Femme umfasst also nicht nur diese Definition von patriarchaler bzw. essentieller Feminität, sondern auch Abweichungen oder Ablehnungen ebendieser, z.B. durch die Performanz von Feminität durch andere Geschlechtsidentitäten, also z.B. von Trans*-Personen, nicht-binäre oder sich als männlich identifizierende Personen. Ausführliche Definitionen, Abgrenzungen und Diskussionen zu Femme finden sich u.a. in Hoskin (2013) und werden hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt.
Femmephobia ist demnach die Ablehnung von gesellschaftlich als weiblich oder feminin konnotierten Eigenschaften, Verhaltensweisen, Gesten, Sprachelementen, modischen Vorlieben etc. insbesondere, aber nicht ausschließlich, wenn diese außerhalb der essentiellen Feminität liegen. Es handelt sich also um eine systematische Abwertung und gleichzeitige Regulierung von Femininität (Hoskin et al., 2023, S.193). Dabei ist es wichtig, Femmephobia von anderen Formen der Unterdrückung wie Misogynie oder Sexismus abzugrenzen, auch wenn sich diese Unterdrückungsmechanismen oft überlagern und gleichzeitig stattfinden. Während sich Misogynie und im Wesentlichen auch Sexismus gegen Personen richten, die als weiblich gelesen werden (unabhängig davon, ob diese Feminität performen), richtet sich Femmephobia gegen performante Feminität, unabhängig von der eigenen oder zugeschriebenen Geschlechtsidentität (Hoskin et al., 2023, S.193).
Ausprägungen von Femmephobia
Rhea Hoskin, die in den letzten Jahren die Femme-Theorie und das Phänomen der Femmephobia maßgeblich erforscht und wissenschaftlich-theoretisch weiterentwickelt hat, definiert verschiedene Erscheinungsformen der Femmephobia: die strukturelle oder verdeckte Femmephobia, die offene Femmephobia, die Femme Mystification und die moralische Femmephobia {Anm. d. Verf.: freie Übersetzung von “pious femmephobia”} (Hoskin, 2013).
Strukturelle oder verdeckte Femmephobia sind Alltagspraktiken in Form von Sprache, Ideologie oder Gendering, z.B. “Du siehst nicht aus wie eine Lesbe”. Offene Femmephobia hingegen ist die explizite Ablehnung von Feminität, z.B. die Formulierung “no fems” auf Grindr-Profilen von MSM (Männer, die Sex mit Männern haben), die klar die Ablehnung von Feminität bei potentiellen Dates zum Ausdruck bringt (Blair & Hoskin, 2015, S.232). Unter Femme Mystification versteht Hoskin die Herabsetzung oder Objektifizierung von Personen, die femme Charakteristika aufweisen, z.B. wird freizügigere Kleidung damit assoziiert, dass die Person käuflich oder leicht zu haben sei (Blair & Hoskin, 2015, S.232). Moralische Femmephobia schließlich umfasst Ausprägungen wie Slut-Shaming, Victim-Blaming oder Gender Policing, die darauf abzielen, eine “anständige Weiblichkeit” bzw. eine essentielle / patriarchale Feminität durchzusetzen (Blair & Hoskin, 2015, S.232).
In einer weiteren umfassenden Studie konnte Hoskin (2019) neben dem übergeordneten Frame, dass die Performanz von Feminität das Ziel von Femmephobia ist, verschiedene Subframes identifizieren. Femmephobia äußert sich zudem in Form der Regulierung sexueller Identitäten, der Morphologie und des biologischen Determinismus, „masculine right of access“ (auf eine Übersetzung wird verzichtet), feminine joke und Femininität und Passing (Hoskin, 2019, S.691).
Die Regulierung sexueller Identitäten umfasst wiederum Maßnahmen wie Slut-Shaming, Virgin-Shaming oder Victim-Blaming sowie grundsätzlich die Regulierung der heterosexuellen Matrix durch Femmephobia, meist in sprachlicher Form. Ziel ist die Aufrechterhaltung der männlichen Überlegenheit in der Geschlechterhegemonie und die Aufrechterhaltung patriarchaler Feminität.
Besonders deutlich wird dies in der Sprache: Feminität soll (sexuelle) Avancen akzeptieren, aber nicht eigenständig handeln. Wehrt sich eine Femme-Person gegen solche Avancen oder lehnt sie ab, wird sie z.B. als “bitch” oder prüde betitelt. Geht sie hingegen darauf ein oder ergreift sogar die Initiative, um ihre eigenen Interessen oder Wünsche zu verwirklichen, wird sie z.B. als “slut” oder “billig” bezeichnet (Hoskin, 2019, S.691/692). Es wird also deutlich, dass es einen sehr kleinen Bereich gibt, nämlich die essentielle Feminität, der für Femme-Personen als gesellschaftlich akzeptabel angesehen wird. Deviationen in irgendeine Richtung von diesem Bereich werden durch Femmephobia in dieser Ausprägung effektiv stigmatisiert. Wichtig ist hier die zentrale Komponente von Femininität unabhängig von der Geschlechtsidentität: Abstinenz wie Promiskuität sind für maskuline Identitäten nicht stigmatisiert (Hoskin, 2019, S.692) bzw. werden gesellschaftlich sogar als aufwertend wahrgenommen. Noch deutlicher wird diese Ausprägung im Victim Blaming, bei dem z.B. die Kleidungswahl einer femininen Person für sexuelle Übergriffe verantwortlich gemacht wird oder feminine schwule Männer aufgrund ihrer „unmaskulinen” Außendarstellung für Homofeindlichkeit verantwortlich gemacht werden (Hoskin, 2019, S.692).
Der Bereich Morphologie und des biologistischen Determinismus umfasst Assoziationen, die Feminität mit (cis-)weiblicher Geschlechtsidentität und Maskulinität mit (cis-)männlicher Geschlechtsidentität und dem damit verbundenen stereotypen Erscheinungsbild gleichsetzen. Ein stereotyp kräftiger männlicher Körper soll bzw. muss demnach auch Maskulinität ausstrahlen, während ein stereotyp zarter weiblicher Körper Feminität verkörpern soll. Wird von dieser Kombination aus Morphologie und Performanz abgewichen, erfolgt der Sanktionsmechanismus in Form von Femmephobia (Hoskin, 2019, S.693).
Unter dem Frame „masculine rights of access“ lässt sich im Wesentlichen die Annahme zusammenfassen, dass Feminität (gleich welchen Genders) ausschließlich dazu dient, heterosexuellen Männern bzw. dem männlichen Blick (male gaze) zu gefallen und zu entsprechen (Hoskin, 2019, S.694-696). Dies kann verschiedene Formen annehmen, zum Beispiel, dass lesbische Personen als Lustphantasie für Männer dienen (und dafür ganz selbstverständlich zur Verfügung stehen), dass die sexuelle Orientierung aufgrund des Femme-Seins in Frage gestellt wird, dass eine weibliche Femme-Person als „zu schade“ für gleichgeschlechtliche Beziehungen angesehen wird oder dass die eigene Maskulinität durch die Anwesenheit einer Femme-Person in Frage gestellt wird (Hoskin, 2019, S. 695-696).
Feminine Joke (Hoskin, 2019, S.696/697) fasst Formen von Femmephobia zusammen, die Witze oder “humorvolle” Kommentare verwenden und oft als harmlos dargestellt werden und nicht zuletzt immer die Möglichkeit bieten, die Aussage als nicht ernst gemeint zu revidieren oder herunterzuspielen. Verbreitete Themen sind “butch in the streets, femme in the sheets” oder “Mann in Frauenkleidern”, die beide auf die Unterlegenheit von Feminität abzielen und Ansatzpunkte für Lächerlichkeit bieten. Eng damit verbunden sind auch Aspekte von Femininität am Arbeitsplatz oder in der Wissenschaft. Beides sind Bereiche, in denen die offene Darstellung von Femininität nach wie vor häufig mit geringerer Intelligenz, Kompetenz oder Qualifikation assoziiert wird (Hoskin, 2019, S.697).
Der letzte Frame schließlich bezieht sich auf Feminität und Passing. Dies ist besonders häufig in intersektionalen Kontexten anzutreffen, z.B. bei trans*weiblichen Personen, von denen oft eine Hyperfeminität erwartet wird, um als Frau akzeptiert zu werden. Während diese Performanz von Feminität einerseits validierend sein kann (in Form von Akzeptanz), stellt sie gleichzeitig eine starke Einschränkung der eigenen Repräsentation und Identität dar: „zu wenig“ ist nicht „trans* genug“, „zu viel“ wird als Lächerlichmachen von Trans*-Identitäten wahrgenommen (Hoskin, 2019, S.698). Ähnliches gilt z.B. für cis-lesbische Femmes in queeren Räumen, denen aufgrund ihres femme Erscheinungsbildes abgesprochen wird, queer zu sein. Dies führt zu Ausgrenzungsphänomenen, da sich die Person weder heteronormativen noch queeren Räumen zugehörig fühlt (Hoskin, 2019, S.698/699).
Reaktionen von Betroffenen auf Femmephobia
Wie reagieren nun Betroffene auf diese Formen der Femmephobia? Hoskin et al. (2023) haben dies untersucht und festgestellt, dass die Mehrheit der Betroffenen mit einer zumindest partiellen Unterdrückung der Feminität reagiert, oft selektiv je nach Situation, z.B. am Arbeitsplatz (Hoskin et al., 2023, S.196-199). Eine immer noch relativ großer Anteil reagierte mit Nicht-Änderung. Eine wichtige Erkenntnis dieser Untersuchung war, dass die Nicht-Änderung bewusst und als Agency erfolgt. Es handelt sich also keineswegs um eine mangelnde Wahrnehmung oder von Femmephobia, sondern um die bewusste Entscheidung, sich und die eigene Performanz nicht aufgrund äußerer Einflüsse und Rückmeldungen einschränken zu lassen oder verändern zu wollen (Hoskin et al., 2023, S.199/200). Nur ein verschwindend geringer Teil der Betroffenen reagierte auf die Femmephobia mit verstärkter femininer Performanz. Diese Personen identifizierten sich alle als queer (Hoskin et al., 2023, S.199).
Nachdem wir nun gesehen haben, was Femmephobia ist und wie gesamtgesellschaftlich wirkmächtig sie ist, um patriarchale Feminität zu stützen und davon abweichende Formen zu unterdrücken, wollen wir nun konkreter darauf eingehen, ob und wie Femmephobia in lesbischen und schwulen Communities existiert, sich äußert und wahrgenommen wird.
Femmephobia in lesbischen Communities
Lange Zeit existierte in lesbischen Communities, aber auch in weiten Teilen der feministischen Literatur und Wissenschaft, die Annahme, dass Femme-Identitäten mit internalisierter Homofeindlichkeit, der Reproduktion patriarchaler Feminität (und damit der Unterordnung von Feminität unter Maskulinität) und mangelnder Bereitschaft, sich zu outen, verbunden sind (Gunn et al., 2021, S.2). Zudem wurde femme oft nicht als eigenständige Ausdrucksform akzeptiert, sondern nur als Gegenform zu butch (Gunn et al., 2021, S.2). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Femme-Identifikation sowohl in Teilen der queeren Community als auch in der Gesellschaft im Allgemeinen als unauthentisch wahrgenommen wurde und teilweise wird, wodurch die Betroffenen und ihre Lebensrealitäten ignoriert oder unsichtbar gemacht werden (Gunn et al., 2021, S.2).
Gunn et al. (2021) untersuchen, inwiefern insbesondere die Annahmen der internalisierten Homofeindlichkeit und des geringeren Outings mit der eigenen Performanz von Feminität zusammenhängen, indem sie sich als queer identifizierende Personen, die sich als butch, androgyn oder femme identifizieren, diesbezüglich in SCT-Diagrammen (Sexual Configuration Theory, vgl. van Anders, 2015) einordnen ließen. Es konnte kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Performanz von Feminität und internalisierter Homofeindlichkeit und Outing-Tendenz festgestellt werden (Gunn et al., 2021, S.5-9). Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass sich queere Identitäten heute stärker individuell ausdifferenzieren und nicht mehr gängigen Stereotypen entsprechen, und dass diese Ausprägungen eher mit der individuellen Performanz von Feminität zusammenhängen als mit der Zuordnung zu einer bestimmten sexuellen Identität oder Präferenz (Gunn et al., 2021, S.9-11).
Dennoch ist dieser Wandel ein langsamer Prozess und Femmephobia ist in queeren Communities nach wie vor weit verbreitet. Blair & Hoskin (2015) haben in einer umfassenden Studie (Blair & Hoskin, 2015, S.233/234) die verschiedenen Typen von Femmephobia in queeren Communities untersucht. Viele Personen beschrieben den Prozess des Coming-out als Femme als belastend und identitätsentwertend. Unsichtbarkeit, die Privilegierung maskuliner oder butch-Identitäten, das Fehlen einer sichtbaren Repräsentation von Femmes und der Druck, vermeintlichen Stereotypen entsprechen zu müssen, sind die häufigsten Manifestationen (Blair & Hoskin, 2015, S.235/236). Nach Blair & Hoskin führt dies häufig zu einem Prozess, den sie als “feminine-butch-femme”-Prozess bezeichnen: Personen zeigen ursprünglich eine starke (oft patriarchale) Performanz von Femininität, versuchen aufgrund der oben genannten Faktoren eine Butch-Identität zu performen, stellen fest, dass diese für sie unauthentisch ist und entwickeln in der Folge eine bewusste Femme-Identität und Performanz (Blair & Hoskin, 2015, S.236/237).
Unsichtbarkeit, strukturelle Femmephobia und die Infragestellung der eigenen Queerness bzw. Authentizität durch Teile der queeren Community, Beziehungspartner und die Gesellschaft im Allgemeinen wurden von den meisten Befragten wahrgenommen (Blair & Hoskin, 2015, S.237-239). Moralische Femmephobia wurde ebenfalls stark wahrgenommen, z.B. in der Zuschreibung von Schwäche, geringerer Kompetenz oder Unterordnung mit Femme-Performanz (Blair & Hoskin, 2015, S.239).
Offene Femmephobia ist, wenn auch rückläufig, immer noch weit verbreitet. Dies kann sich z.B. darin äußern, dass Femme-Personen in queeren Räumen nur in Begleitung von Butch-Personen geduldet werden oder dass sie explizit als Outsider etikettiert und behandelt werden, bzw. als Personen, mit denen man nicht gesehen werden möchte (Blair & Hoskin, 2015, S.239/240). Der Typus der Femme Mystification wurde vergleichsweise wenig wahrgenommen und äußerte sich im Wesentlichen in einer Objektifizierung und einem Tokenism der Femme-Identität, wobei die Betroffenen berichteten, sich als “Häkchen auf einer Liste” von (sexuellen) Eroberungen zu fühlen (Blair & Hoskin, 2015, S.240).
Wir sehen also, dass Femmephobia in lesbischen Communities zwar sehr spezifische Ausprägungen hat, aber in allen Subtypen genauso präsent ist wie in der Gesamtgesellschaft und gleichermaßen darauf abzielt, die Identität und die Performanz von Feminität zu regulieren.
Femmephobia in trans*Communities
Femmephobia hat auch einen starken Einfluss auf trans*männliche Personen, indem Maskulinität als Maßstab und Norm für diese Personen stilisiert wird und das Zeigen von Feminität mit Inauthentizität oder Trendhaftigkeit assoziiert wird (Bellamy-Walker, 2019, S.2/3).
Die Infragestellung der männlichen Identität durch die Gleichsetzung von Maskulinität mit männlicher Identität (trans*männliche Personen müssen sehr maskulin sein, um als “echte” Männer akzeptiert zu werden) ist sehr verbreitet (Bellamy-Walker, 2019, S.5/6). Dies ist laut Bellamy auch im medizinischen Bereich ein wesentlicher Faktor, da trans*männliche Personen gegenüber Fachpersonal und Institutionen konstant zeigen und beweisen müssen, dass sie “wirklich” trans* sind und dieser Nachweis oft in Form von Maskulinität eingefordert wird (Bellamy-Walker, 2019, S.6-8).
Vergleichbares Verhalten ist auch innerhalb der Trans*Community zu beobachten, wo häufig eine Wertung durch andere in der Community stattfindet, ob die Person trans* (und in diesem Fall maskulin) genug ist, um akzeptiert zu werden (Bellamy-Walker, 2019, S.8-10).
Femmephobia in schwulen Communities
Ähnliche Ausprägungen von Femmephobia finden sich auch in cis-schwulen Communities oder popkulturären Repräsentationen von schwulen cis-Männern. Davies (2023) untersuchte ausführlich die Darstellung und Konnotation von Feminität und die daraus resultierende Femmephobia im Spielfilm “Love, Simon”, dessen Hauptfigur eine “maskulin”-schwule Person ist und die einem femme-schwulen Charakter gegenübergestellt wird. Obwohl die Femme-Figur Ethan bewusst und mit eigener Agency handelt und ihre Femme-Identität performativ auslebt, wird sie dennoch als Abweichung von der „Norm“ charakterisiert und im Vergleich zu Simon als „too much“ datgestellt, wobei die offene Performanz gleichzeitig als Entschuldigung dafür dient, Ethans persönliche Lebensrealität und seine Probleme unsichtbar zu machen (z.B. Davies, 2023, S.8). Die Analyse zeigt, dass selbst explizit progressive Produktionen (die die Hauptfiguren als eindeutig homosexuell ausweisen) häufig Femmephobia und entsprechende Stereotype reproduzieren (Davies, 2023, S.11-13).
Die Intersektionalität von Femmephobia mit anderen Diskriminierungen wird von Patrón & Harper (2024) in ihrer Studie über Femmephobia unter schwulen Latinos hervorgehoben. Sie zeigen u.a. die Verwobenheit von Maskulinität mit Machismo und Heterosexismus in Latino-Communities und die damit verbundenen Manifestationen von Femmephobia (Patrón & Harper, 2024, S.3/4).
Es konnte gezeigt werden, dass die Bagatellisierung oder Unterdrückung von Feminität weit verbreitet ist. Dies kann unter anderem aus Gründen der Zugehörigkeit oder der Sicherheit geschehen (Patrón & Harper, 2024, S.10). Dies wird auch mit Ethnizität oder Race in Zusammenhang gesetzt, indem deutlich wird, dass viele Gay-Spaces von und für Weiße gemacht sind und dass unter Latinos ein Druck besteht, durch Hypermaskulinität Akzeptanz und Zugehörigkeit in diesen weißen Spaces zu schaffen (Patrón & Harper, 2024, S.10/11).
Ähnlich wie in den vorangegangenen Beispielen wird auch in Gay Communities Feminität häufig mit Schwäche und Vulnerabilität für (sexuelle) Gewalt gleichgesetzt (Patrón & Harper, 2024, S.12). Deutlich wird auch die Privilegierung und Bevorzugung maskuliner Identitäten in der Gay-Community (Patrón & Harper, 2024, S.13/14), nicht zuletzt in dem Spannungsfeld, dass Maskulinität einerseits eine bessere Unsichtbarkeit innerhalb der heterosexuellen Matrix schafft und andererseits betont, dass “man als schwuler Mensch wirklich auf andere (richtige) Männer steht” (interpretiert nach Patrón & Harper, 2024, S.14/15).
Einige Teilnehmende vermuteten, dass hinter der verbreiteten Femmephobia in Gay-Communities oft Misogynie stecke, die sich aber mangels Frauen* in diesen Communities an den anwesenden Femmes ausdrücke (Patrón & Harper, 2024, S.15/16). Schließlich konnte noch festgestellt werden, dass Femmephobia oft hinter persönlichen Präferenzen für Interesse oder Desinteresse an feminin performenden Personen zu verstecken versucht wird (Patrón & Harper, 2024, S.16/17).
Fazit
Insgesamt zeigt sich, dass Femmephobia ein weit verbreitetes Problem in der Gesamtgesellschaft, aber insbesondere auch in queeren Räumen ist. Dennoch wird es in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen bisher vergleichsweise wenig thematisiert oder fälschlicherweise anderen Diskriminierungsformen wie Sexismus oder Misogynie zugeordnet, obwohl Femmephobia im Gegensatz zu diesen unabhängig von der Geschlechtsidentität auftritt und keinesfalls auf cis-weibliche Identitäten beschränkt ist. Femme als Identität und Femmephobia als spezifische Form der Unterdrückung wahrzunehmen, ist daher ein zentraler Baustein, um Diskriminierung und Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts bzw. der Performanz von Geschlechtsidentität zu untersuchen und zu beseitigen.
Quellenverzeichnis:
Bellamy-Walker, T. (2019). Not Manly Enough: Femmephobia’s Stinging Impact on the Transmasculine Community. CUNY Academic Works.https://academicworks.cuny.edu/gj_etds/411
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Davies, A. W. (2023). Love, Simon and failure: Challenging normative discourses and femmephobia in gay youth representations. Sexualities, 0(0), 1-15. https://doi.org/10.1177/13634607231199409
Gunn, A., Hoskin, R. A., & Blair, K. L. (2021). The new lesbian aesthetic? Exploring gender style among femme, butch and androgynous sexual minority women. Women’s Studies International Forum, 88, Article 102504. https://doi.org/10.1016/j.wsif.2021.102504
Hoskin, R. A. (2013). Femme theory: Femininity’s challenge to western feminist pedagogies (Master’s thesis). QSpace at Queen’s University, Kingston, Ontario, Canada. http://hdl.handle.net/1974/8271
Hoskin, R. A. (2019). Femmephobia: The Role of Anti-Femininity and Gender Policing in LGBTQ+ People’s Experiences of Discrimination. Sex Roles, 81(11–12), 686–703. https://doi.org/10.1007/s11199-019-01021-3
Hoskin, R. A., Serafini, T., & Gillespie, J. G. (2023). Femmephobia versus gender norms: Examining women’s responses to competing and contradictory gender messages. The Canadian Journal of Human Sexuality, 32(2), 191–207. https://doi.org/10.3138/cjhs.2023-0017
Patrón, O. E., & Harper, S. R. (2024). Understanding Femmephobia Within Queer Communities: Insights From Gay Latino College Men. The Journal of Higher Education, 1–24. https://doi.org/10.1080/00221546.2024.2329227
van Anders, S. M. (2015). Beyond Sexual Orientation: Integrating Gender/Sex and Diverse Sexualities via Sexual Configurations Theory. Archives of Sexual Behavior, 44(5), 1177–1213. https://doi.org/10.1007/s10508-015-0490-8
Hysterie als Beispiel für die Reproduktion von Stereotypen in der Medizin
Julika Likus (WiSe 2023/24)
Einleitung
Gesundheit und Krankheit spielen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine große Rolle im alltäglichen Leben. Im Diskurs über Gesundheit und Krankheit überschneiden sich medizinische, biologische und soziale, aber auch politische und historische Ansätze, obwohl häufig zunächst die medizinischen[1] Aspekte im Vordergrund stehen, diskutiert und als heilungsbedürftig empfunden werden. Dabei werden ebenfalls häufiger körperliche Abweichungen einer Norm stärker mit der Sphäre von Krankheit und Gesundheit verknüpft als geistige Beeinträchtigungen, die von physischen Konditionen oft als abgrenzbar dargestellt werden. Eine erweiterte Betrachtung des Feldes Krankheit und Gesundheit betrachtet Krankheit jedoch nicht als „rein-medizinischen“ Zustand, sondern als soziales Ereignis (Dross/Metzger 2018). Einerseits ist die Medizin in Bezug auf Beurteilung, Diagnose und Behandlung von Krankheit und Gesundheit von gesellschaftlichen Normen geprägt, die sich stetig wandeln, und andererseits folgt auf eine medizinische Diagnose von Krankheit und Gesundheit eine soziale Wirkung/Reaktion, die die Teilnahme an einem sozialen Alltag beeinflusst. So sind also auch gesundheitliche Unterschiede zwischen Gruppen nicht ausschließlich durch biologische Unterschiede verursacht, sondern werden durch soziale Strukturen, die mit Hierarchie und Macht zusammenhängen und Menschen privilegieren und unterdrücken, konstruiert (Short/Zacher 2022).
In der vorliegenden Arbeit wird sich hauptsächlich auf Machtgefällen und diskriminierenden Strukturen im medizinischen Bereich beschränkt, die aufgrund des Geschlechts[2] existieren, wobei eine ganzheitliche, feministische Perspektive immer auch andere -ismen und Merkmale wie Klasse oder Race einbeziehen muss und intersektional gedacht werden muss.
Daten wissenschaftlicher Forschungen, die zur Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien verwendet werden, wurden jahrhundertelang anhand einer hauptsächlich cis-männlichen[3] Untersuchungsgruppe gewonnen und deren Erkenntnisse dann geschlechts- und gruppenübergreifend angewandt. Die Abwesenheit von Frauen in klinischen Studien bedeutet das Zuschneiden des Wissens auf Männer und festigt die Norm eines cis-männlichen Körpers. Die Aufschlüsselung nach Geschlecht[4] wurde zunehmend in medizinischer Forschung etabliert, weitere soziale Realitäten und intersektionale Perspektiven werden jedoch weiterhin größtenteils außer Acht gelassen (Kuhlmann 2016).
Frauen erhalten auch heute noch regelmäßig andere Diagnosen und Behandlungsempfehlungen wie Männer, bei ihnen werden zum Beispiel häufiger psychische Dinge als Ursache für Symptome angesehen und körperliche Probleme dadurch übersehen (Short/Zacher 2022). Ein historisch interessanter Fall, der die Verflechtung von Stereotypen, Krankheit und Gesundheit aufzeigt und zur Reproduktion patriarchischer Strukturen führt, ist die hauptsächlich Frauen zugeschriebene und lange als Krankheit angesehene Hysterie. In den nächsten Kapiteln wird zunächst die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit näher erläutert und anschließend die Entstehung und Konzeption der Hysterie als Beispiel für die Verknüpfung sozialer Norm und Geschlechtsvorstellungen mit medizinischer Diagnostik und Behandlung thematisiert. Es wird sich zeigen, dass sich die Symptomatik und Behandlungsmethoden der Symptome mit sich verändernden Werten und zugeschriebenen Eigenschaften und Erwartungen an Geschlechter ebenfalls verändert haben und besonders die Benachteiligung im medizinischen Bereich für diskriminierte Gruppen der Gesellschaft folgenschwere Auswirkungen hat.
Krankheit als soziales Konstrukt
Das Verständnis von Krankheit und Gesundheit beruht auf sozialen Vorstellungen über den Zustand von Personen oder Dingen. Die Medizin nimmt in der Gesellschaft eine Art Doppelrolle ein, die als Hauptinstanz zur Trennung von Krankheit und Gesundheit gilt, dadurch aber gleichzeitig auch ihr eigenes Handeln begründet (Dross/Metzger 2018). Krankheit wird in der Literatur ursprünglich häufig als Abweichung eines als „normal“ betrachteten Körpers definiert, der das Einwirken von Mediziner:innen zur Stellung einer Diagnose und eines Behandlungskonzepts mit dem grundsätzlichen Ziel der Heilung und Wiederherstellung von Gesundheit erfordert. Einem strukturfunktionalistischem Ansatz nach gilt körperliche und geistige Gesundheit als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur. Krankheit wurde zunehmend als Prozess verstanden, der keine klare Grenze zu „Gesundheit“ hat (Ullrich 2014). Einige Krankheitsbilder hängen stark mit der gesellschaftlichen Konstruktion und Vorstellung von Körper, Geschlecht und Sexualität zusammen, die Geschichte bestimmter Krankheitsbilder zu verstehen, erfordert deshalb die Auseinandersetzung mit der Veränderung klinischer und psychologischer Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht (Kleinplatz 2018, Schroer/Wilde 2016). Werte und Normen enthalten oft stereotypische Vorstellungen von Menschen, die in der Medizin zu ausbleibender oder fehlerhaften Diagnostik und Behandlung führen. Neben der medizinischen Komponente greifen diverse sozio-politische Aspekte in den Bereich von Krankheit und Gesundheit; soziale Beziehungen, Abhängigkeitsverhältnisse und politische Setzungen, die von gesellschaftlichen Normen geprägt sind (Ullrich 2014). Erkrankungen prägen soziale Beziehungen und Konnotationen von Krankheiten wirken sich auf den gesellschaftlichen Umgang mit einer erkrankten Person aus. Besonders schwerwiegende oder ansteckende Krankheiten werden zum Beispiel häufig mit Armut in Verbindung gebracht und können zur sozialen Ächtung, Abscheu, Ausgrenzung oder ,Aussatz‘ führen. Allgemeine Definition von Krankheiten, die auf der ,Norm‘ basieren, ignorieren Gesundheit- und Lebensrealitäten vieler marginalisierter und diskriminierter Gruppen wie zum Beispiel BIPoCs, LGBTQIA+-Menschen und Frauen, da aufgrund von Stereotypen und tatsächlichem Ausschluss aus medizinischer Betrachtung und Forschung unterschiedliche Maßstäbe zur Bewertung und Behandlung gleicher Umstände je nach Patient:in angelegt werden (Dross/Metzger 2018). „[S]oziale Strukturen werden durch wissenschaftliche Autorität im Körper der Betroffenen veranker[t]“ (Dross/Metzger 2018), was folgenschwere Auswirkungen für die Personen haben kann.
Hysterie als Beispiel für stereotypisierte medizinische Diagnostik und Behandlung
Hysterie[5] ist ein historischer medizinischer Begriff, der im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen hatte und in der modernen Medizin nicht mehr als diagnostische Kategorie verwendet wird. Ein Blick auf die Geschichte der Hysterie ist dennoch hilfreich, um die Entwicklung medizinischer Konzepte und Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu verstehen und wie gesellschaftliche Vorstellungen von Frauen und ihrer Rolle in der Medizin sich im Laufe der Zeit verändert haben.
Die Hysterie leitet sich aus dem altgriechischen Wort für Gebärmutter histéra ab (Günther 2023).
Lange Zeit galt die produktive Gebärmutter als Hauptmerkmal einer körperlich und geistig gesunden Frau und als ursächliches Organ für psychiatrische Krankheiten im Zusammenhang mit Hysterie, die sich allgemein durch ein sozial unerwünschtes Verhalten äußerten (Short/Zacher 2022). Das zugrundeliegende Frauenbild ist das der Frau als Mutter und Hausfrau für den Mann.
Als typische Symptome der Hysterie wurden einerseits ein bestimmtes „theatralisches“/ „dramatisches“ Verhalten angesehen, aber auch sensorische Ausfälle wie Krämpfe, plötzliche Blindheit, Ohnmacht oder chronischer Müdigkeit (Dross/Metzger 2018). Der Psychiater Richard von Kraft-Ebing beschreibt Hysterikerinnen als Frauen, die
„ihre Leiden übertreiben, zu simulieren, sich um jeden Preis interessant […] machen [,] wobei ihre krankhaft gesteigerte Phantasie gute Dinge leistet und ihre geschwächte Sittlichkeit vor keinem Betrug und keiner Lüge zurückschreckt.“
Kraft-Ebing 1883, S.212
Der Diskurs über Hysterie beschäftigte sich zunächst hauptsächlich mit Frauen, erweiterte sich aber zunehmend auch auf Männer, die anhand ,zu weiblicher Eigenschaften‘ oder ,Feigheit‘ durch die Diagnose der Hysterie ebenfalls stark abgewertet wurden (Westhoff 2013). Bereits in der Antike wurde Hysterie als eine
„Veränderung der Position der Gebärmutter gesehen, welche, durch sexuelle Abstinenz hungrig geworden, auf der Suche nach Befriedigung die Reise durch den Körper antrat und auf ihrem Weg andere Organe in Unordnung brachte.“
Zaudig 2015, S.28
Platon sagt über die Gebärmutter:
„Die Gebärmutter ist ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten.“
Zaudig 2015, S.28
Es wurde davon ausgegangen, dass die Verlagerung der Gebärmutter die mentale Situation einer Frau verändert und das Nichtnachkommen Können oder Wollen ihrer ,natürlichen‘ Aufgaben eine Frau, zum Beispiel Mutterschaft oder Tätigkeiten im Haushalt, krank macht. Die antike Säftelehre besagt, dass weibliches Blut einer monatlichen Reinigung (Periode) unterzogen wird und beim Ausbleiben der Periode richtet die Materie im Inneren Unheil an (Westhoff 2013). Trotz der historischen Fokussierung auf die Gebärmutter und die Reproduktionsfähigkeit der Frau wurden tatsächliche, schmerzhafte und lebensverändernde Krankheiten der Gebärmutter wie Endometriose in der Forschung und Gesellschaft wenig beachtet und erhalten auch heute im Vergleich zu nicht „nur Frauen betreffenden Krankheiten“ wenig Aufmerksamkeit (Westhoff 2013).
Im viktorianischen Zeitalter dominierte ein Geschlechterideal, das die Rolle der Frau stark von traditionellen Normen und den Bedürfnissen des Ehemanns abhängig machte. Weibliche Sexualität galt als kontrollierbar und sollte vorrangig die Bedürfnisse des Mannes befriedigen, Abweichungen von diesem normativen Verhalten wurden als sexuelle Störung betrachtet. Die psychologischen Probleme von Frauen wurden häufig auf angebliche Störungen der Fortpflanzungsorgane zurückgeführt, insbesondere durch die Diagnose der „Hysterie“, was die Kontrolle über weibliche Psyche und Sexualität weiter institutionalisierte (Kleinplatz).
“The underlying assumption that women were dominated by their reproductive organs led some physicians to blame virtually all women’s diseases and complaints on disorders of these organs.”
Groneman 1994, zitiert nach Kleinplatz 2018 S.33
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hält Hysterie für den Ausdruck verdrängter, unterdrückter Wünsche aufgrund eines ungelösten Traumas, häufig sexueller Missbrauch im Kindesalter (Kleinplatz 2018, Westhoff 2013). Frauen mit Hysterie seien unwillig/unfähig, „weiblicher“ Pflichten nachzukommen und hätten keine familiären Gefühle (Dross/Metzger 2018). Im 19. Jahrhundert waren Methoden wie ballaststoffreiche Diäten, Aderlass, kalte Einläufe, Ovarektomien (Entfernung der Eierstöcke), Klitorisablation, Auslösung paroxysmaler Krämpfe (Orgasmen) durch den Arzt üblich zur Behandlung von Hysterie.
„What is interesting, however, is the surprising manner in which the uterus is at the same time considered an essential component to womanhood and also easily removable.“
Jones 2015, S.1108
Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot „führte seine hysterischen Patientinnen öffentlich vor und demonstrierte an ihnen die aberwitzigsten, martialischen Behandlungsmethoden wie zum Beispiel eine ,Ovarienpresse‘ oder Vibratoren ,zur Beruhigung‘.“ (Westhoff 2013). Eltern oder Ehemänner von ,hysterischen Frauen‘ veranlassten häufig Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten zur Linderung der Symptome und Heilung (Dross/Metzger 2018).
„No one knew for certain how to prevent this from happening, but one cure was to anchor the uterus. This could easily be accomplished through either impregnating the woman or keeping the uterus moist through intercourse so it would not seek out the moisture of other organs.“
Meyer 1997, S.1
Im 20. Jahrhundert wurde die zunehmende diagnostische Ungenauigkeit des Begriffs Hysterie erkannt und die vielfältigen Symptome in neue Begriffe präziser klassifiziert. Der Begriff „Histrionische Persönlichkeitsstörung“ (von lat. „histrio“: Schauspieler) betonten die (intentionale) Dramatisierung von Konflikten, während die „Dissoziative Störung“ einen Zerfall der Persönlichkeit, insbesondere nach traumatischen Ereignissen, beschrieb.
Im Gegensatz zur klassischen Hysterie standen bei diesen Diagnosen psychologische Aspekte im Vordergrund, und sie wurden zunehmend unabhängig von körperlichen Symptomen betrachtet (Westhoff 2013).
Die Zuschreibung und Interpretation bestimmter Verhaltensweisen als ,typisch weiblich‘ und die gleichzeitige Vernachlässigung körperlicher Ausfallserscheinungen führt zu einer Pathologisierung des seelischen und körperlichen Leidens von Frauen. Die Konzeption einer ,überemotionalen‘ Frau festigt historische Stereotypen, die häufig eine vermeintliche Instabilität und Irrationalität weiblicher Emotionen betonen. Hysterie als konstruierte Krankheit führte zur sozialen Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen, insbesondere solchen, die überwiegend Frauen zugeschrieben wurden, und muss auch heute noch bei der Diskussion über Gleichberechtigung und Gesundheitsversorgung mitbedacht werden. Die heutigen therapeutischen Ansätze, denen Frauen mit sexuellen Problemen begegnen, variieren in Abhängigkeit von der aufgesuchten medizinischen Fachkraft, wobei häufig immer noch eine unzureichende interdisziplinäre Betrachtung besteht. Es bedarf einer Herangehensweise, die organische, psychische und psychosoziale Ursachen gemeinsam betrachtet und behandelt, um eine effektive Therapie zu gewährleisten (Kleinplatz 2018).
Aktuelle Debatten
„Not only was hysteria itself all of those things—irrational, capricious, unpredictable, and most importantly, unsolvable—but it also pathologized, sexualized, and eroticized womanhood.“
Jones 2015, S.1095
In der Medizin ist der Begriff der Hysterie aus dem wissenschaftlichen/medizinischen Sprachgebrauch größtenteils verschwunden und wird hauptsächlich alltäglich und medial verwendet. Mit „hysterisch“ wird bis heute ein bestimmtes stereotypisches Verhalten wahrgenommen, wie beispielsweise Kreischen, Weinen oder hohe Emotionalität; Eigenschaften, die vorrangig immer noch weiblichen Personen zugeschrieben werden.
„Wer heute etwa über Krankheitssymptome klagt wird noch immer schnell mal als ,hysterisch‘ bezeichnet. Auch wenn man als Frau die Stimme erhebt oder mal so richtig ,ausrastet’, ist das vorbestrafte H-Wort nicht weit.“
Günther 2023
Auch die mediale Weiterverwendung führt also zur Reproduktion geschlechtsstereotypischen Verhaltens, wertet Eigenschaften und Verhaltensweisen ab und erinnert an historisch überholte Vorstellungen einer Frau, deren Gesundheit allein von einer produktiven Gebärmutter und dem Einfügen in gesellschaftliche Rollenbilder abhängt. Der Begriff muss sich eindeutig davon abgrenzen, dass mit ihm ein meist weiblich zugeschriebenes Verhalten als ,krankhaft‘ bezeichnet wurde und zu entmündigenden sowie menschen- und frauenfeindlichen Behandlungsmethoden geführt hat.
Einem Ansatz der amerikanischen Professorin für Women´s and Gender Studies Cara E. Jones nach weist zum Beispiel die heutige Lebensrealität von Frauen mit Endometriose einige Parallelen zum historischen Konzept der Hysterie auf:
„I argue that […] endometriosis has taken up a diagnostic and cultural location once occupied by hysteria: each disease pathologizes not only certain physical symptoms, but also social and cultural deviations from female gender norms.“
Jones 2015, S.1084
Jones argumentiert, dass die medizinischen Behandlungsmethoden für sogenannte ,weibliche‘ Krankheiten wie Endometriose immer noch auf veralteten Vorstellungen über die Gebärmutter beruhen und auf die ungehinderte Reproduktion von Frauen abzielt (Jones 2015).
In ihrem Beitrag liefern Short und Zacher einige Ansätze zu geschlechtersensiblerer medizinischer Diagnostik und Behandlungsmethoden. Die Betrachtung der Frauengesundheit sollte sich von der reinen Fokussierung auf Fortpflanzung und Kindergesundheit lösen, um den Frauenkörper nicht ausschließlich auf die Funktion des Kinderkriegens zu reduzieren. Es ist wichtig, die binäre Geschlechtervorstellung zu überwinden und sich nicht ausschließlich auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu konzentrieren. Geschlechter sollten als sozial konstruierte Konzepte betrachtet werden und auch geschlechtsspezifischer Unterschiede sollten nicht auf biologische Faktoren geschoben werden, sondern unter Berücksichtigung zugrundeliegender biosoziale Strukturen und Mechanismen. Es ist entscheidend, intersektionale Ansätze einzubeziehen, die die Wechselwirkungen verschiedener sozialer Benachteiligungen oder Privilegien berücksichtigen. Dazu gehören Merkmale wie Geschlecht,Sexualität, Fähigkeiten, Race, Klasse, Bildung und andere relevante Parameter (Short/Zacher 2022). Ungleichheiten in der Medizin müssen von den treibenden Kräften der Forschung anerkannt und gezielt behoben werden. Short und Zacher berichten in ihrem Artikel über eine Studie aus dem Jahr 2021, die zeigt, dass die Forschung zu Krankheiten, von denen Männer überproportional betroffen sind, von den nationalen Gesundheitsinstituten eher überfinanziert wird, während die Forschung zu Krankheiten, von denen hauptsächlich Frauen betroffen sind, im Verhältnis zur Krankheitslast in der Bevölkerung eher unterfinanziert ist (Short/Zacher 2022).
Fazit
Krankheit und Gesundheit sind keine rein biologischen oder medizinischen Phänomene, sondern werden stark von sozialen Strukturen und Machtverhältnissen beeinflusst. Die Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien basierte historisch oft auf Forschungsdaten, die hauptsächlich an cis-geschlechtlichen Männern gewonnen wurden, was zu einer unzureichenden Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede führte. Frauen erhielten und erhalten immer noch unterschiedliche Diagnosen und Behandlungsempfehlungen im Vergleich zu Männern, wobei stereotype Vorstellungen über weibliche Emotionalität und Sexualität die medizinische Praxis beeinflussen.
Das historische Beispiel der Hysterie verdeutlichte, wie gesellschaftliche Normen und Geschlechtsvorstellungen in medizinische Diagnosen eingeflossen sind. Frauen wurden als hauptsächlich von der Gebärmutter gesteuert betrachtet, was zu pathologisierenden und oft dehumanisierenden Behandlungsmethoden führte. Obwohl der Begriff der Hysterie heute aus dem medizinischen Vokabular verschwunden ist, bleiben stereotype Vorstellungen über „hysterisches“ Verhalten im gesellschaftlichen Diskurs präsent.
Ungleichheit in medizinischen Strukturen betonen die Notwendigkeit geschlechtersensiblerer medizinischer Ansätze, die nicht nur auf Fortpflanzung fokussiert sind. Frauenkörper dürfen nicht ausschließlich auf reproduktive Funktionen reduziert werden und binäre Geschlechtervorstellung überwunden werden. Die Einbeziehung intersektionaler Ansätze, die die Vielschichtigkeit sozialer Benachteiligungen berücksichtigen, ist entscheidend, um diverse Ungleichheiten in der Medizin anzugehen und eine gerechtere Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten.
Jones, Cara E. (2015). Wandering Wombs and “Female Troubles”: The Hysterical Origins, Symptoms, and Treatments of Endometriosis, Women’s Studies, 44:8, 1083-1113 https://doi.org/10.1080/00497878.2015.1078212
Kleinplatz, Peggy J. (2018). History of the Treatment of Female Sexual Dysfunction(s). In: Annual Review of Clinical Psychology. 14:1, 29-54.
Krafft-Ebing, Richard von (1883). Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende (Bd. 1-2). Stuttgart: Enke.
Kuhlmann, Ellen (2016). Gendersensible Perspektiven auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 183–196. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11010-9_12
Meyer, Cheryl L. (1997). The Wandering Uterus: Politics and the Reproductive Rights of Women. In: New York University Press. 1997. https://doi.org/10.18574/nyu/9780814763209.001.0001
Schroer, Markus und Jessica Wilde (2016). Gesunde Körper – Kranke Körper. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 257-271.
Short, Susan E. und Meghan Zacher (2022). Women’s Health: Population Patterns and Social Determinants. In: Annual Review of Sociology. 48:1, 277-298.
Ullrich, Charlotte (2014). Die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit. In: Medikalisierte Hoffnung?. Deutschland: transcript. 31–58.
Zaudig, Michael (2015). Entwicklung des Hysteriekonzepts und Diagnostik in ICD und DSM bis DSM-5. In: Hysterie. Verständnis und Psychotherapie der hysterischen Dissoziationen und Konversionen und der histrionischen Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien. 20:1, 27-49 https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/03.-Zaudig.pdf.
[1] Im Verlauf des Textes wird „medizinisch“ für die Beschreibung klassischer, schulmedizinischer Vorstellungen verwendet, die häufig für unveränderbar gehalten werden und aktuell die größte wissenschaftliche Deutungshoheit in der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit haben. Die Verwendung des Wortes „medizinisch“ muss jedoch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass „Medizin“ nicht gleich frei von Normen bedeutet und Prioritäten, Durchführung und Auswertung wissenschaftlicher Forschungen immer durch soziale Strukturen geprägt sind.
[2] Geschlecht ist keine biologische, neutrale Tatsache, sondern eine aufgrund von körperlichen Merkmalen bei oder sogar schon vor der Geburt vorgenommene Zuweisung, die häufig auf der Vorstellung binärer Geschlechterkategorien beruht.
[3] Zur Vereinfachung werden im Verlauf der Arbeit zwar die binären Begriffe Mann und Frau verwendet zur Beschreibung cis-geschlechtlicher Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen, wobei bei jeder Verwendung mitbedacht werden soll, dass Geschlecht, und vor allem die binäre Betrachtung davon, konstruiert sind.
[4] Eine Aufschlüsselung nach Geschlecht bedeutet in der Wissenschaft eine Trennung von cis-weiblichen und cis-männlichen Personen, was auf einer binären Geschlechterkonstruktion beruht und diskriminierend gegenüber allen anderen Geschlechtsidentitäten ist.
[5] Bei der Verwendung des Wortes Hysterie wird sich ausschließlich auf die historischen Konzepte in Abgrenzung von einer medizinischen Diagnose bezogen, da der Begriff historisch stark mit stereotypen Vorstellungen von Frauen verbunden ist und ihre psychischen Gesundheitszustände auf veraltete, kulturell geprägte Vorstellungen reduziert.
“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt”, so steht es im Grundgesetzbuch (BT, 2010, §1, Abs. 1).
Dennoch gibt es viele Menschen, die immer noch für ihre Würde und Rechte kämpfen müssen. So auch Inter* Menschen, die erst seit Ende des 20. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit erlangt haben. Der erste öffentliche Protest von Inter* Personen fand am 26. Oktober 1996 in Boston (USA) statt. Kritisiert wurden dort unter anderem die geschlechtsverändernden Eingriffe an Inter* Kindern, die selbst heute teilweise noch durchgeführt werden (Regenbogenportal, o.D.). 2021 verabschiedete der Bundestag das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung” (Bundestag, o.D.). Dies ist der erste gesetzliche Versuch gewesen, Inter*-Rechte zu schützen.
In der vorliegenden Arbeit wird durch ausgewählte Aspekte der Verlauf von Inter*-Rechten im deutschen Gesundheitssystem behandelt. Dazu werden der “Zwitterparagraph” (1794) und das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung” (2021) gegenübergestellt, um den heutigen medizinischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand zu erörtern.
Trigger und Content Warnung:
Im Folgenden werden Zwangsoperationen, Beschreibung von medizinischen Eingriffen, sowie Aufzählungen von Begriffen wie Inters*x beim Zitieren und zur Erklärung von sensibler Sprache verwendet. Ebenso werden Organe und Anatomie ohne Zensur benannt. Des Weiteren wird der “Zwitterparagraph” als historischer Begriff verwendet, der aus heutiger Sicht nicht mehr verwendet werden sollte.
2. Begriffserklärung – Was bedeutet Inter*?
Inter* sind Menschen, die nicht in das Konstrukt der Binarität passen. Sie haben körperliche Ausprägungen, durch die sie nicht eindeutig zur weiblichen oder männlichen Norm eingeordnet werden können. Es gibt mehrere Varianten der Geschlechtsentwicklung, sie können sowohl die Hormonproduktion oder die Geschlechtsorgane, als auch den Chromosomensatz betreffen (BMFSFJ,o. D.).
Der Gegenbegriff zu Inter* ist Endo*. Sie machen den Hauptteil der Gesellschaft aus und lassen sich in die Kategorien “weiblich” und “männlich” einordnen (FUMA, o.D.).
In der deutschen Sprache gibt es mehrere Bezeichnungen für Inter* Menschen, darunter jedoch auch viele Begriffe, die beleidigend sein können. “Zwitter” ist eine ältere medizinische Bezeichnung, die vermieden werden sollte, da sie als Beleidigung genutzt wird (OII Deutschland, 2015, S. 19). Zwei weitere veraltete Begriffe sind “Hermaphrodit” und “Pseudo-Hermaphrodit”, die früher in der Medizin gebraucht wurden, jedoch auch Pathologisierungen darstellen. (Ebd. S. 13) Auch der Begriff “Intersex”, der zurzeit noch am häufigsten verwendet wird, sollte vermieden werden. Denn hierbei handelt es sich um eine missverständliche Fehlübersetzung vom Englischen “intersex” (Ebd. S. 14). Die korrekte Übersetzung wäre “intergeschlecht”. Diese in der Community entstandene Bezeichnung ist einwandfrei und kann in einem sensiblen Sprachgebrauch verwendet werden. Inter* ist eine weitere Bezeichnung, die genutzt werden sollte. Sie steht für die Selbstbestimmung von Inter* Menschen, die sich trotz ständiger Pathologisierung für ihre Rechte einsetzen. Ebenso stellt das Asterisk die Vielfältigkeit an Möglichkeiten Inter* zu sein, sowie jegliche Selbstbezeichnungen dar (Ebd. S. 15).
Nur weil eine Person Inter* ist, heißt das jedoch nicht, dass deren Geschlechtsidentität auch Inter* ist. Es gibt auch Inter*, die sich trans* oder cis* identifizieren.
Das wichtigste Kriterium ist jedoch die Selbstbezeichnung der jeweiligen Personen. Da dies letztendlich eine persönliche Entscheidung ist.
3. Medizinische Behandlung von Inter*
Intergeschlechtlichkeit galt sehr lange als Krankheit, Syndrom oder Störung. Seit den 1960er Jahren wurden international immer mehr geschlechtsverändernde Operationen durchgeführt. Diese Geschlechtszuweisungen wurden meistens ohne die Zustimmung der Inter* Personen durchgeführt (FUMA, o.D.). 2012 erklärte der Deutsche Ethikrat die geschlechtsverändernden Operationen in Deutschland als Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Gesundheitsstadt Berlin, 2015).
Seit 2019 kann aufgrund einer Änderung im Personenstandsgesetz ein Kind auch als “divers” oder ohne Geschlechtsangabe in das Geburtenregister eingetragen werden (LSVD, o.D.). Trotz des vermeintlichen gesellschaftlichen und medizinischen Umschwungs hat sich die Anzahl der geschlechtsverändernden Operationen von 2005-2016 nicht bemerkbar verringert (Hoenes, Januschke, Klöppel 2019, S. 20).
Zur Veranschaulichung, dass viele dieser medizinischen Vorgänge menschenrechtsverletzend sind, werden nun ohne Zensur verschiedene medizinische Abläufe geschildert.
Die angewandten Verfahren mit Patient*innen, deren Geschlecht nicht eindeutig in die zwei Geschlechternormen hineinpasst, hatten zwei bestimmte Kriterien. Entweder wenn die Klitoris zu überdurchschnittlich groß war, um als Frau akzeptiert zu werden. Oder falls der Penis zu klein war, um als Mann akzeptiert zu werden. Weiterhin gab es eine Empfehlung, die Genitalien in solch einem Fall bestenfalls vor dem Abschluss des 18. Lebensmonats zu verdeutlichen. Außerdem wurde den Sorgeberechtigten zumeist empfohlen, den Patient*innen nichts über die Eingriffe und Operationen zu erzählen, um die Entwicklung der Psychosexualität nicht negativ zu beeinflussen. Die letztere Empfehlung ist jedoch seit mehreren Jahren, aufgrund von Inter* Protesten, nicht mehr aktuell (Voß, 2012, S.45-47).
Der Prozess sowie die Folgen der geschlechtsverändernden Operationen sind traumatisierend und schmerzhaft. Bei einer feminisierenden Operation wird die Klitoris beschnitten, was zu einem Verlust der Empfindsamkeit führen kann. Ebenso wird gegebenenfalls eine künstliche Vagina durch mehrfache Dehnung für die spätere Penetration durchgeführt. Solch eine Behandlung, die laut Erfahrungsberichten einer Misshandlung gleicht, ist meistens medizinisch völlig irrelevant (Ebd., S. 59-60).
Ein weiterer Vorgang ist die Entnahme der Keimdrüsen (Gonaden). Folgen sind Unfruchtbarkeit, ein schwerer Hormonmangel, welcher eine lebenslange Hormontherapie mit sich zieht, sowie psychische und physische Nebeneffekte (Ebd. S. 59-60). Bei dieser Operation wurde zumeist angegeben, dass die Keimdrüsen möglicherweise Krebs verursachen könnten. Wobei dies medizinisch umstritten ist, da das Vorkommen dieser Entwicklung viel zu unerforscht ist. Und selbst bei einem erhöhten Risiko, blieben die Folgen der Operation (Ebd. S. 47).
Wie irrelevant die Gesundheit der Patient*innen bei der Wahl der Operationen ist, wird deutlich gemacht. Denn technisch ist die feminisierende Operation deutlich leichter (Ebd. S. 47). So ergeben medizinische Schätzungen, dass sich in 90 Prozent der Fälle für eine feminisierende Operation entschieden wurde (Ebd. S. 45).
Der historische Ursprung der geschlechtsverändernden Operationen, der sich aus den 1950er Jahren ergibt, ist wie hier die psychische Entwicklung, die als bedroht angesehen wurde. Jedoch waren die Bedenken zu dieser Zeit noch die Befürchtung von homosexuellen Ausprägungen (Ebd. S. 13).
Hieraus wird deutlich, dass in den meisten Fällen von Eingriffen und Operationen an Inter* Personen, deren Angleichung zu einer der Geschlechternormen eine sehr hohe Priorität hatte und die medizinische Relevanz komplett in den Hintergrund rückte.
4. Vorstellung des “Zwitterparagraphens”
In der Frühen Neuzeit galten zwei verschiedene Ansichten zur Intergeschlechtlichkeit. Die hippokratisch-galenische Lehre, welche sich im “Zwitterparagraphen” widerspiegelt und die aristotelische Lehre, welche die Existenz von Intergeschlechtlichkeit nicht anerkannte. Der „Zwitterparagraph“ beweist jedoch keine vollkommene Akzeptanz der hippokratisch-galenischen Lehre in der Gesellschaft. Beide Ansichten standen zu dieser Zeit in Diskussion.
Die hippokratisch-galenische Lehre stellt den Mann als vollkommenen Menschen dar und die Frau unvollkommenen Mann. Intergeschlechtliche Menschen hingegen waren keines von beidem (Klöppel, 2010, S.143-144).
In der aristotelischen Lehre existiert Intergeschlechtlichkeit als solches nicht. Es gibt lediglich missgebildete Männer und missgebildete Frauen, die durch ein “Übermaß an Materie” bestimmte Exzesse gebildet haben (Klöppel, 2010, S. 145).
Der sogenannte “Zwitterpragraph” war Teil des Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR, 1794). Er bestimmte das Vorgehen bei der Geburt einer Inter* Person, hier als Zw*tter bezeichnet. Es galt, dass wenn ein Neugeborenes ein uneindeutiges Geschlecht hat, die Eltern bestimmen sollten, wie das Kind aufgezogen wird. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres stehe es der besagten Person frei, deren Geschlecht zu wählen (ALR, 1794, Personenrecht der Zwitter, §19-20). Ganz so frei schien die Entscheidung jedoch nicht zu sein, da jederzeit durch Untersuchung von Sachverständigen das Geschlecht als ein anderes beurteilt werden konnte (ALR, 1794, Personenrecht der Zwitter, §22-23). Die hier genannten Sachverständigen waren vermutlich medizinisches Personal.
Die Rechte von Inter* Menschen waren bei dem “Zwitterparagraphen” weniger von Relevanz. Die Nachfrage nach solch einem Gesetz kam vielmehr daher, dass der damalige Zweck der Ehe, welcher die Fortpflanzung war, bewahrt werden sollte. (Schwenger, 2009).
Im Jahre 1900 schwang die rechtliche Meinung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur aristotelischen Lehre, die die Existenz von Inter* verleugnete (BGB, 1888, S.26). Dennoch wurden Inter* trotz der Gesetzesänderung immer öfter als Personen und weniger als Forschungsobjekte angesehen (Schwenger, 2009).
5. Vorstellung des neuen Gesetzes
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts geraten Inter* Menschen und ihre Rechte immer mehr ins Interesse der Öffentlichkeit. Jahrelang wurden nun von Inter* Verbänden Veränderungen in den medizinischen Richtlinien gefordert, die die menschenrechtswidrigen Operationen an Inter* verbieten. Länger als 200 Jahre nach dem „Zwitterparagraph“ setzte 2021 das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ in Kraft.
Das neue Gesetz verbietet kosmetische Behandlungen an nicht einwilligungsfähigen Inter* Personen. Sowohl das Durchführen als auch die Einwilligung zu so einem Eingriff ist nicht erlaubt (§1631e, 2021, Artikel 1, Absatz 1). Die Eltern des Kindes sind ausschließlich dazu befähigt, für ihr Kind zu entscheiden, wenn der Eingriff nicht auf eine Selbstbestimmung des Kindes warten kann (Ebd., Artikel 1, Absatz 2).
Falls es zu solch einem Fall kommt, wird die Genehmigung des Familiengerichts benötigt. Zur Beantragung müssen die Eltern eine den Eingriff befürwortende Stellungnahme der interdisziplinären Kommission vorlegen. Diese Kommission entscheidet dann, ob ein Eingriff im Wohl des Kindes wäre (Ebd., Artikel 1, Absatz 3). Die Mitglieder der interdisziplinären Kommission müssen alle Erfahrung im Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung haben. Ebenso müssen folgende Personen angehört werden: Psycholog*in/Psychiater*in, Ethiker*in, Jugend- oder Kindermediziner*in, eine neutrale ärztliche Person und der*die zuständige Ärzt*in. Ebenso kann auf Wunsch der Eltern eine beratende Inter* Person hinzugezogen werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 4).
Falls sich die Kommission für eine Befürwortung des Eingriffes entscheidet, müssen gewisse Informationen dokumentiert werden: Die Namen und Befähigungen der Mitglieder, Kindesalter und Variante der Geschlechtsentwicklung, Name des Eingriffes sowie medizinische Begründung, Grund für Befürwortung des Eingriffes in Hinblick auf die Risiken der Durchführung und was die Risiken bei einer Verschiebung wären, sind von Relevanz. Ebenso ob und wer sich mit den Eltern unterhalten hat, ob die Eltern und das Kind über den Umgang mit der spezifischen Variante aufgeklärt wurden und durch welches Mitglied der Kommission dies geschah, ob die Beratung einer Inter* Person stattfand, inwiefern das Kind sich eine Meinung über den Eingriff bilden kann und falls ja, ob es diesen befürwortet und ob die beratende Inter* Person den Eingriff unterstützt (Ebd., Artikel 1, Absatz 5)
Wenn das Kind in einer lebensbedrohlichen Lage ist oder eine Gefahr für die Gesundheit besteht, kann die Kommission übergangen werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 3).
Falls die Eltern den Eingriff in ihrer Stellungnahme nicht befürworten oder etwas anderes gegen die Genehmigung spricht, erörtert das Gericht den Grund mit den Beteiligten. Die Eltern werden auf Beratungsmöglichkeiten hingewiesen. Gegebenenfalls kann die Beratung über den Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung angeordnet werden (Ebd., Artikel 3, Absatz 2).
Die Patientenakte muss bei einem Eingriff bis zum 48. Lebensjahr der Inter* Person aufgehoben werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 6). Dies gilt auch für Eingriffe, die vor der Verabschiedung des Gesetzes stattfanden (Ebd. Artikel 2).
Zur Überprüfung der Wirksamkeit sollen die Regelungen durch die Bundesregierung innerhalb von fünf Jahren überprüft werden (Ebd., Artikel 6).
Die Ausarbeitung dieses Gesetzes war ein langwieriger Prozess, der noch immer nicht ganz beendet ist. Schon nach dem ersten Gesetzesentwurf aus Februar 2020 kritisierten mehrere Inter* Verbände sowie das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die Ausführungen. Nach einer Überarbeitung veröffentlichte die Bundesregierung im September 2020 einen neuen Gesetzesentwurf, welcher erneut kritisiert wurde. Sowohl die uneindeutige Verwendung von Begriffen, die Umgehungsmöglichkeiten, die fehlende Dokumentationspflicht, als auch ein fehlendes Zentralregister wurden bemängelt, von der Bundesregierung jedoch nicht ausreichend verbessert. Im März 2021 setzte das Gesetz ein, jedoch ohne genügend Verbesserungen vorgenommen zu haben (Lesben- und Schwulenverband, o.D.).
6. Fortschritt – vom “Zwitterparagraphen” zum neuen Gesetz
Werden diese beiden Gesetze in den Vergleich gesetzt, lassen sich erhebliche Fortschritte kenntlich machen. Unter der Betrachtung des Zeitalters und des damaligen gesellschaftlichen Fortschrittes kann von einem grundlegenden Unterschied im Ursprung der Gesetze ausgegangen werden.
Der “Zwitterparagraphen” stand aufgrund von Unsicherheiten in der Gesellschaft. Es wurde sich in der Medizin zwar sehr um Kriterien für eine klare Diagnose bemüht, doch mit dem Stand der derzeitigen Medizin war dies nicht möglich. Dennoch verlangten akademische Ärzte Überprüfungen über den Geschlechterstatus in Verbindung mit der Ehetauglichkeit. Denn falls eine Inter* Person mit einer Person gleichen Geschlechts verheiratet werden würde, brächte dies die sexuelle Norm durcheinander und die Fortpflanzung als Ehezweck wäre bedroht gewesen (Schwenger, 2009).
Das neue Gesetz hingegen wurde verfasst um Inter*-Rechte auszuarbeiten. Es soll kosmetische Operationen verhindern und Inter* schützen.
Trotz diesem grundlegenden Unterschied zeigt der „Zwitterparagraph“ erste Schritte zur Selbstbestimmung. Der “Zwitterparagraph” bemächtigt eine Inter* Person ihre Geschlechtsidentität nach dem 18. Lebensjahr selbst zu bestimmen. Die Durchsetzbarkeit war wahrscheinlich schwierig bis gar nicht möglich, der Paragraph hätte jedoch auch einfach weggelassen werden können.
Ebenso beruhen beide Gesetze auf der gleichen Problematik: Eine Gesellschaft, die nur weiß wie sie innerhalb der konstruierten Geschlechternormen denken und handeln soll.
Dennoch ist sowohl der gesetzliche als auch der soziale Fortschritt in Deutschlands Gesellschaft deutlich zu erkennen: Die Änderung im Personenstandsgesetz, sowie das neue Inter* Gesetz sind trotz der kritisierbaren Punkte ein großer Erfolg in Bezug auf Inter*-Rechte. Ebenso ist das Ansehen von Inter* in der Gesellschaft deutlich gestiegen, welches die Grundsteine für die medizinischen und rechtlichen Erfolge überhaupt erst gelegt hat.
7. Forderungen der Inter* Community
Das neue Inter* Gesetz weist eine Reihe von Lücken und Verbesserungsmöglichkeiten auf. Kritisiert wird unter anderem die Bezeichnung “Varianten der Geschlechtsentwicklung”, die aus der Medizin kommt. Definitionen von medizinischen Begriffen lassen sich auch neu definieren, sodass die enge Anlehnung die Gültigkeit des Gesetzes gefährdet (im.e.v., o.D.). Ebenso werden Maßnahmen zur Verhinderung einer Umgehung des Gesetzes verlangt, da dies eine effektive Strafverfolgung sonst erschwert. Eine weitere Ergänzung wäre die verpflichtende Beratung durch qualifizierte Peer-Berater*innen. Des Weiteren wird die Einrichtung eines zentralen Melderegisters, sowie eine ausgiebige Melde- und Dokumentationspflicht gefordert, für einen verständlichen Behandlungsverlauf und eine effektive Strafverfolgung (lsvd, o.D.), ein Verbot für eine Umgehung im Ausland. Sowie eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Körperverletzung, die momentan 5, bzw. 10 Jahre bei schwerer Körperverletzung beträgt. Die Kosten für die medizinische Versorgung sollen von Krankenkassen übernommen werden. Außerdem wird eine medizinische Versorgung von allen Opfern von Eingriffen der letzten 50 Jahre gefordert, sowie Möglichkeiten zur gesundheitlichen Rehabilitation. Ebenso wird mehr Aus- und Weiterbildung medizinischen Personals verlangt (lsvd, o.D.).
Änderungen der Bundesregierung sind wahrscheinlich bis 2026 zu erwarten, da die in §1631e Artikel 6 genannte Überprüfung des Gesetzes innerhalb von fünf Jahren des Inkrafttretens stattfinden soll.
8. Schluss / Fazit
Das heutige Inter* Gesetz bildet einen deutlichen Unterschied zum damaligen “Zwitterparagraphen”. Inter* habe in der Gesellschaft und in der Medizin Anerkennung erlangt. Die gesetzliche Anfertigung von Inter*-Rechten ist, obwohl das Gesetz noch nicht zufriedenstellend ist, ein wichtiger Meilenstein.
Durch den Vergleich wird jedoch auch deutlich, dass unsere Gesellschaft sich nicht in allen Punkten weiterentwickelt hat. Probleme, die damals herrschten, sind auch heute noch nicht vollends gelöst. Das Aufwachsen von Kindern außerhalb der Geschlechternormen ist gesellschaftlich immer noch nicht normalisiert. Der Umschwung fing jedoch auch erst vor ungefähr 30 Jahren an.
Der Weg zu einer gesellschaftlichen Besserung kann jedoch mit weiteren Forschungen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, sowie Aktivismus und eine Weiterentwicklung der Inter* Gesetze erreicht werden. So wird die Gesellschaft sicherlich in ein paar Jahren schon weitere Fortschritte zeigen.
ALR = Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794), opiniorius.de – Die freie juristische Bibliothek. Letzter Aufruf: 21.01.24, https://opinioiuris.de/quelle/1622
Voß = Intersexualität – Intersex. Eine Intervention (2012) UNRAST-Verlag, Münster, Heinz-Jürgen Voß, ISBN 987-3-89771-119-8
OII Deutschland = Inter & Sprache – Von “Angeboren” bis “Zwitter”, (Dezember 2015), Das TransInterQueer-Projekt »Antidiskriminierungsarbeit & Empowerment für Inter*« In Kooperation mit IVIM / OII Deutschland, Dr. Dan Christian Ghattas, Ins A Kromminga, Ev Blaine Matthigack, Es Thoralf Mosel und weitere Inter*, die nicht namentlich genannt werden möchten. Letzter Aufruf: 18.01.24, https://oiigermany.org/wp-content/uploads/InterUndSprache_A_Z.pdf
Klöppel = XX0XY ungelöst: Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität (2010), Bielefeld: transcript Verlag, Ulrike Klöppel. Letzter Aufruf: 21.01.24, https://doi.org/10.1515/9783839413432
Als Kind bin ich mit einigen Disneyklassikern aufgewachsen, besonders gerne haben meine Geschwister und ich Das Dschungelbuch (Wolfgang Reitherman, USA 1967) und Aristocats (Wolfgang Reitherman, USA 1970) gesehen – so häufig, bis wir alle Lieder auswendig mitsingen konnten. Mittlerweile studiere ich im 7. Semester Filmwissenschaft an der FU und habe mich im Rahmen meines Studiums mit weiteren Disneyklassikern auseinandergesetzt, die ich in meiner Kindheit nicht gesehen habe.
Das im letzten Sommersemester angebotene ABV-Modul zu „Gender und Diversity: Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse“ hat mich einerseits stärker bezüglich kolonialer Geschichte und Kontinuität sensibilisiert, als auch Selbstreflektion angeregt. Von meinem jetzigen Standpunkt aus ergibt sich eine reflektiertere Sichtweise auf die filmischen Darstellungen in Disneyklassikern, die es im Folgenden zu analysieren gilt. Nachdem ich die global-mediale Verantwortung des Konzerns Disney umrahme, wird es um eine Auseinandersetzung mit stereotypen Darstellungsformen rassistischer Art anhand von ausgewählten Beispielen gehen, welche auf den filmischen Umgang mit Kolonialismus überleiten. Vor einem abschließenden Ausblick ist es für ein umfassendes Fazit wichtig, sich mit Strategien zur Aufarbeitung rund um das Thema auseinanderzusetzen und zu klären, inwiefern Disney seine eigenen Filme selbstreflektiv in einen problembewussten Kontext stellt.
Vor Beginn meiner Analyse möchte ich eine Triggerwarnung aussprechen, da ich mehrere rassistische und sexistische Inhalte, die in den Filmen Disney’s verankert sind, benennen werde.
2. Global-mediale Verantwortung des Konzerns Disney
»When you take on a Disney animated feature, you know you’re going to be affecting entire generations of human minds.«[1]
Dieses Zitat der Drehbuchautorin Linda Woolverton, welche für The Walt Disney Company arbeitete, verdeutliche die gesellschaftliche Verantwortung und einflussreiche Position des Unternehmens auf globaler Ebene[2], dessen Einnahmen 2022 über 80 Milliarden US-Dollar betrug[3]. Hervorzuheben ist der seit 2019 angebotene Streaming-Dienst Disney+, der über 100 Millionen User:innen verzeichnen kann und in den nächsten Jahren wohl zum größten globalen Streaming-Anbieter heranwachsen mag[4]. Durch eine solche Position auf dem Weltmarkt ergibt sich meiner Auffassung nach eine gewisse mediale Verantwortung, beispielsweise bezogen darauf, welche Inhalte welchem Zielpublikum gezeigt werden. Mir ist es wichtig zu betonen, dass ein Unternehmen dieser Art sich stets selbst reflektieren und darüber hinaus eigenes Fehlverhalten aufarbeiten sollte. Als einige Faktoren für die global-mediale Verantwortung Disneys fasse ich inhaltliche Sorgfalt in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen, Selbstreflektion und Aufarbeitung zusammen.
3. Stereotype Darstellungsformen rassistischer Art
Im Seminar haben wir zum antiasiatischen Rassismus in Deutschland einen Artikel von Kimiko Suda, Sabrina J. Mayer und Christoph Nguyen besprochen und diskutiert, der in der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurde. Insbesondere wurde betont, dass jene Form von Rassismus kaum historisch aufgearbeitet ist[5]. Bei der Sichtung einiger Disney-Klassiker sind mir mehrfach antiasiatisch-rassistische Darstellungen aufgefallen, die in ihrer filmischen Umsetzung von stereotypen Diskriminierungsmustern geprägt sind. Bei Susi & Strolch (Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, Hamilton Luske, USA 1955) zeichnen sich zwei Siamkatzen durch ihr hinterhältiges und manipulatives Verhalten aus. Diese negative Konnotation wird auf sprachlicher Ebene durch ein von ihnen gesungenes Lied verstärkt und mit ihrer kulturellen Identität in Verbindung gebracht, um ein rassistisches Bild zu kreieren: „Wir sind Siamesen und zwar echte, wir behandeln andere wie Knechte.“. Diese Formulierung lässt sich nur in der deutschen Synchronfassung, nicht in der US-amerikanischen Originalversion finden, jedoch zieht sich in letzterer eine lispelnde Betonung in Kombination mit Grammatikfehlern als rassistisches Stereotyp durch die Performance. Zu diesem Stereotyp lässt sich das identische Aussehen der Katzen, sowie die geschlitzte Form der Augen, große Schneidezähne und gelbes Fell hinzufügen[6]. Auf mich wirken die Katzen in ihren synchronen Bewegungen und Blicken unheimlich, sowohl beim ersten Sehen des Filmes in meiner Kindheit, als auch bei einer erneuten, aktuellen Sichtung. Auch in Aristocats lässt sich eine ähnliche antiasiatisch-rassistische Darstellung finden. Die audiovisuelle Portraitierung der Figur wirkt wie eine Karikatur; sie gibt, mit stark geschlitzten Augen, Hasenzähnen und einer heraushängenden Zunge versehen, unverständliche und zusammenhangslose Laute von sich, während die anderen Figuren um sie herum im Kollektiv ein Lied singen. Dazu spielt sie mit Essstäbchen auf einer Klaviatur. Die dem Aussehen einer Siamkatze entsprechende Figur wird als Chinese Cat vorgestellt; nebenbei ist zu erwähnen, dass die Siamkatze ihren Ursprung ursprünglich im heutigen Thailand hat. In Aristocats handelt es sich bei der einzigen als asiatisch portraitierten Figur um eine rassistische, vermutlich zu humoristischen Zwecken, ins Lächerliche gezogene Darstellung.
Neben diesen genannten antiasiatisch-rassistischen filmischen Darstellungen lassen sich in den Disneyklassikern zahlreiche andere Formen rassistischer Kennzeichnungen finden. Auch Jahrzehnte später, in den 1990er-Jahren, vermittelt beispielsweise Aladdin (John Musker, Ron Clements, USA 1992) insbesondere durch zahlreiche brutale Figuren eine unsensible und unauthentische Darstellung der arabischen Kultur, die rassistische Vorurteile festige[7]. Wie ich zu Beginn erläuterte, war Das Dschungelbuch früher einer meiner Lieblingsfilme. Dass er von rassistischen Strukturen durchzogen ist, habe ich erst nach der aktuellen Sichtung für dieses Essay erkannt, nachdem ich ergänzend recherchiert habe. Im politischen Kontext des Entstehungszeitraumes Ende der 1960er-Jahre in den USA kann die Darstellung der Affenfiguren im Film als eine ins Lächerliche gezogene Karikatur der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufgefasst werden[8]. Speziell das Oberhaupt der Affenbande, King Louie, welcher das Lied „Ich wäre so gern wie du“ singst, wird hervorgehoben. Inhaltlich sind die Versionen der Liedtexte im Englischen und Deutschen fast identisch. King Louie wird gegenüber Mogli, dem menschlichen Protagonisten, herabgestuft und scheint sich gleichzeitig zu wünschen, jenem ebenbürtig zu sein. Im Englischen hat seine Synchronstimme einen afroamerikanischen Akzent – an dieser Stelle der Hinweis, dass der Synchronsprecher Louis Prima nicht afroamerikanischer Herkunft war. Disney lässt auf diese Art und Weise der audiovisuellen Darbietung, die durch Gesten primitiv erscheinenden Affen mit afroamerikanischen Menschen assoziieren. King Louie betont im sich schnell in einen Ohrwurm entwickelnden Lied mehrfach den Wunsch, zivilisierter zu sein und bestärkt somit das rassistische Stereotyp einmal mehr, unzivilisiertes Verhalten und fehlende Kompetenz mit schwarzen Menschen zu verknüpfen. In Dumbo (Ben Sharpsteen, USA 1941) hingegen singen schwarze Arbeiter „Wenn andere ins Bett gehen, schuften wir uns ab, bis wir sterben“, jedoch nicht etwa sich über die Umstände beschwerend, sondern in einem fröhlichen Tonfall mit heiterer Melodie, was als eindeutige Verharmlosung von Sklavenarbeit verstanden werden kann und auf koloniale Strukturen verweist. Interessant ist an dieser Stelle, dass die deutsche Synchronisation inhaltlich dramatischer erscheint; im Englischen heißt es hingegen: „When we get our pay, we throw our money all away.“ – hier wird den arbeitenden schwarzen Menschen ein kompetenter Umgang mit Geld abgesprochen.
4. Umgang mit Kolonialismus
Ebenfalls zeigt sich ein filmisches Aufgreifen von Kolonialismus zum Beispiel in Pocahontas (Mike Gabriel, Eric Goldberg, USA 1995) und Peter Pan (Hamilton Luske, Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, USA 1953). Während in Pocahontas die Synchronstimmen von Native Americans im Original gesprochen wurden, wurde hingegen der Inhalt der Erzählung in historischer Sicht faktisch falsch wiedergegeben und idealisiert, was für Kritik sorgte und zum Vorwurf der Geschichtsverfälschung führte[9]. Die Konfliktparteien, kolonialistisches Gedankengut durchzusetzen versuchende Engländer und amerikanische Ureinwohner, werden deutlich gegenübergestellt und bekämpfen sich innerhalb der Handlung gegenseitig, sodass das Konzept des Kolonialismus negativ konnotiert wird. Meiner Auffassung nach tritt jedoch die idealisierte Liebeserzählung von Pocahontas und John Smith zu sehr in den Vordergrund, sodass die koloniale Geschichte Amerikas heruntergebrochen wird. Ein stereotypes rassistisches Klischee der Ureinwohner wird visuell aufgegriffen, indem ihre Haut rötlich animiert ist. Auffällig und ebenfalls problematisch ist, dass die Protagonistin Pocahontas in etwas hellerer Haut dargestellt wird und wie viele weibliche Disney-Figuren sexualisiert wird. In Peter Pan werden in der Handlung ebenfalls Indigene durch eine rote Hautfarbe und die Bezeichnung als „Rothäute“ rassifiziert. Ein weiteres Beispiel für die koloniale Darstellung einer Figur lässt sich in Tarzan (Kevin Lima, Chris Buck, USA 1999) finden. Der Kolonialismus findet sich in der Inszenierung der menschlichen Figur Tarzans insofern wieder, als dass jener am Ende der Erzählung Anführer der Affengruppe wird, die ihn großgezogen hat. Er hat von ihnen profitiert und sie dennoch in Gefahr gebracht, da er den Forscher Mr. Porter, seine Tochter, spätere Geliebte Tarzans, Jane und den Jäger Clayton zu den Affen geführt hat, wobei bei letzterem das kolonialistische Gedankengut am deutlichsten wird und in einem Kampf mit den Affen mündet. Offensichtlich durch die Tatsache, dass es sich um britische Figuren handelt, und wenn wir die Affen ähnlich wie schon im Dschungelbuch als „colonized natives“[10] verstehen, ergibt sich der koloniale Kontext. Dadurch, dass Jane, ihr Vater und Tarzan bei den Affen bleiben und insbesondere letzterer zum Anführer der Gruppe wird, ergibt sich eine koloniale Kontinuität im vermeintlichen Happy End, da der inszenierte Bösewicht Clayton gestorben ist. Jene Kontinuität ergibt sich im Ausblick auch dadurch, dass mögliche Kinder von Tarzan und Jane die Führungsposition innerhalb der Affengruppe mit größter Wahrscheinlichkeit einnehmen würden. Dadurch, dass die Erzählung lokal-geographisch und temporal nicht genau umrahmt wird[11], sich jedoch eindeutig aus einer westlichen Perspektive heraus entwickelt – und im bekannten Stil Disneys zum wiederholten Male mit Tierfiguren statt menschlichen, verschiedenen Kulturen zugehörigen, Figuren gearbeitet wird, mag der Vorwurf dieser kolonialen Darstellung entkräftigt werden, obgleich er so offensichtlich scheint.
5. Aufarbeitung
Nach einer analytischen Umrahmung der verschiedenen rassistischen Darstellungsformen von Figuren, die Stereotype bekräftigen und dahingehend zur Verfestigung von rassistischen Vorurteilen führen können, stellt sich die Frage, inwiefern jene zutiefst falsche und diskriminierende Formen vom Konzern Disney aufarbeitet werden. Wenn Menschen mit rassistischem filmischem Material aufgewachsen sind, sollten sie darüber informiert werden, denn als Kinder werden wir von den uns emotional affizierenden Filmen auf eine gewisse Art und Weise geprägt und können Informationen über beispielsweise Weltanschauungen diesen Formaten entnehmen, was insbesondere dann gefährlich ist, wenn unbewusst rassistische Bilder verinnerlicht werden und somit theoretisch weiter projiziert werden können.
Seit 2019 wird auf der Streaming-Plattform Disney+ vor bestimmten Filmen, wie unter anderem Aristocats, Das Dschungelbuch, Dumbo und Peter Pan, ein warnender Hinweis vor Beginn des Vorspanns eingeblendet, der auf rassistische Darstellungen verweist und jene als falsch einstuft. Im Englischen lautet dieser:
„This programme includes negative depictions and/or mistreatment of people or cultures. These stereotypes were wrong then and are wrong now. Rather than remove this content, we want to acknowledge its harmful impact, learn from it and spark conversation to create a more inclusive future together. Disney is committed to creating stories with inspirational and aspirational themes that reflect the rich diversity of the human experience around the globe. To learn more about how stories have impacted society visit: www.Disney.com/StoriesMatter”.
Seit Januar 2021 haben Kinderprofile, für alle User:innen unter 12 Jahren, keinen Zugriff mehr auf all die Filme, die mit einer solchen Warnung ausgestattet sind. Es lässt sich diskutieren, ob die Filme komplett aus dem Sortiment genommen werden oder nur mit warnenden Hinweisen versehen werden sollten. Meiner Auffassung nach war die Entscheidung, jene Filme für Kinderprofile zu sperren, vernünftig und notwendig. Kinder werden so davor geschützt, rassistische Darstellungen und diskriminierende Werte unbewusst aufzunehmen und anschließend selbst zu reproduzieren. Zusätzlich werden sie davor geschützt, selbst Diskriminierungserfahrungen beim Sichten der Filme zu durchleben. Die Filme mit Warnungen zu versehen und für Jugendliche und Erwachsene weiterhin zur Verfügung zu stellen empfinde ich als richtig und äußerst wichtig, um die historische Aufarbeitung weiter in Gang zu setzen, Fehler klar zu benennen und den Zuschauer:innen eine Selbstreflektion im Sehprozess zu ermöglichen. Außerdem ist es wichtig, eine Art der Triggerwarnung zu geben, damit von Diskriminierungsmustern betroffene Personen selbst entscheiden können, ob sie das Material sichten wollen oder sich bewusst vor einer Konfrontation schützen wollen.
Meinem Eindruck nach bemüht sich Disney, rassistische Darstellungen als falsch zu benennen und genau zu erklären, beispielsweise wird auf der verlinkten Internetseite genaueres zu Peter Pan verfasst:
„The film portrays Native people in a stereotypical manner that reflects neither the diversity of Native peoples nor their authentic cultural traditions. It shows them speaking in an unintelligible language and repeatedly refers to them as „redskins,“ an offensive term. Peter and the Lost Boys engage in dancing, wearing headdresses and other exaggerated tropes, a form of mockery and appropriation of Native peoples‘ culture and imagery”.
Das Unternehmen Disney sensibilisiert für sein eigenes Fehlverhalten, indem es selbstreflektierend seine Diskriminierungsmechanismen aufarbeitet und inhaltlich transparent in den neuen Produktionen darauf achtet, diversen Repräsentationen von Minderheiten Raum zu geben, die strukturell nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft entsprechen und ein Identifikationspotenzial mit sich tragen. Zwei recht aktuelle Animationsfilmbeispiele, die ich positiv hervorheben möchte sind Vaiana (Ron Clements, John Musker, USA 2016), welcher 2017 für den Oscar als bester Animationsfilm nominiert wurde, und Raya und der letzte Drache (Don Hall, Carlos López Estrada, USA 2021). In beiden Filmen steht eine weibliche, Protagonistin of Colour im Vordergrund, die selbstbewusst Abendteuer erlebt, ohne auf männliche Nebenfiguren angewiesen zu sein. Das großer Wert auf Diversität gelegt wird, zeigt sich nicht nur in den animierten Figuren, sondern auch in der Besetzung der Sprechrollen. So spricht beispielsweise die gebürtige Hawaiianerin Auliʻi Cravalho die Figur der Vaiana. Der nach ihrer Figur benannte Film wurde auch auf Tahitianisch, einer polynesischen Sprache, synchronisiert, da der filmische Handlungsort auf einer polynesischen Insel lokalisiert ist. Die Regisseure haben in der Vorproduktion kulturell, historisch und mythologisch direkt vor Ort intensiv recherchiert, um einen authentischen Film zu produzieren[12]; im Gegensatz zu ihrer Arbeit für Aladdin, haben sie ihren Horizont umfassend erweitert.
6. Fazit und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Unternehmen Disney seit seiner Entstehung zahlreiche Filme veröffentlicht hat, die rassistische Stereotype audiovisuell darstellen. Viele aus dem vergangenen Jahrhundert stammende Klassiker beinhalten solche Formen der Diskriminierung bestimmter Gruppen, genauer gesagt, Minderheiten in einer weiß-positionierten Mehrheitsgesellschaft. Die technischen Möglichkeiten der Animationen bieten einerseits Chancen als auch Probleme: aktuelle Projekte zeigen die detaillierte Repräsentation von Minderheiten mit Identifikationspotenzial für das Publikum, andererseits wurden in der Vergangenheit vorwiegend Tierfiguren zu rassistischen Zwecken instrumentalisiert, um beispielsweise bestimmte Bevölkerungsgruppen, bestimmte Kulturen, deutlich voneinander abzugrenzen und kolonialen Strukturen Raum zu geben. Früher habe ich nie verstanden, warum in Das Dschungelbuch Mogli am Ende nicht mit seinen tierischen Freunden aus dem Dschungel sein Leben verbringen kann, sondern ins Menschendorf zieht. Heute verstehe ich, dass aufgrund der sich durch den gesamten Film so deutlich durchziehenden rassistischen Strukturen von den Produzierenden des Konzerns genau das gewollt zu sein scheint – nämlich klare Grenzen zwischen aufgrund ihrer kulturellen Identität als verschieden angesehenen Individuen zu ziehen. Derartige Darstellungen zu vermitteln ist für eine Gesellschaft mit allen ihren Mitglieder:innen äußerst gefährlich und im Nachhinein schockiert es mich, dass ich durch das Singen von Liedern aus diesem Film unbewusst rassistische Inhalte reproduziert habe. Meinen eigenen Kindern werde ich diese Filme mit rassistischem Inhalt nicht zeigen, für eine historische Einordnung sind sie jedoch für Erwachsene wichtig.
Ich wünsche mir, dass Disney noch umfassender kontinuierlich an der Aufarbeitung derartiger Inhalte arbeitet und weiterhin neue Erzählungen produziert, die viel Wert auf Diversität legen – gerade weil die Filme global einen solchen Erfolg verzeichnen, ist es wichtig, sich als mediales Unternehmen bewusst zu sein und immer wieder daran zu erinnern, in welcher Verantwortung man selbst steht.
7. Literaturverzeichnis
Anon (2001). The Return of the Empire: Representations of Race, Ethnicity and Culture in Disney’s Tarzan and The Jungle Book, and in the Burroughs and Kipling.
[9] Vgl.: ebd. / Vgl.: Giroux, Henry & Pollock, Grace (2010). The mouse that roared. Disney and the end of innocence. Lanham: Rowman & Littlefield.
[10] Anon (2001). The Return of the Empire: Representations of Race, Ethnicity and Culture in Disney’s Tarzan and The Jungle Book, and in the Burroughs and Kipling, S, 7.
Quelle: Tilde Funk, Global-mediale Verantwortung und Aufarbeitung rassistischer Darstellungen in Disney-Klassikern, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 23.01.2024, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=434
Anwendung auf das Beispiel Ruanda und den Völkermord 1994
Paula Härtge (SoSe 2023)
Einleitung
„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird zur Frau gemacht.”
Mit diesen Worten beschreibt Simone de Beauvoir, dass das soziale Geschlecht ein Konstrukt ist, dem gesellschaftliche Ideale und Überzeugungen zugrunde liegen. Frauen weltweit versuchen, ihren Alltag innerhalb dieses Konstrukts zu gestalten und immer wieder gibt es Bestrebungen, das Konstrukt aufzulösen. Doch auch 2023 zeigt der Global Gender Gap Report, dass die Lücke zur Parität erst um 68,4% geschlossen ist und wenn sich der Fortschritt im aktuellen Tempo weiterentwickelt, wird die Welt erst in 131 Jahren paritätisch sein.[1]
In Konflikt- und Kriegssituationen ändern sich Lebensrealitäten enorm, Normen und Werte verschieben sich. Dies wirkt sich auch auf die Alltagserfahrung von Frauen aus. Diskriminierung ihnen gegenüber verstärkt sich, sie sind verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt und agieren dennoch sowohl als Täterinnen und Opfer. Anhand des Völkermords in Ruanda, der sich 1994 ereignete und das Land in Schrecken zurückließ, wird in der folgenden Arbeit analysiert, wie Frauen Konfliktsituationen erleben und wie sich dies auf langfristige politische Entwicklungen auswirkt. Dem Konflikt wird besondere Bedeutung beigemessen, da das Land in den folgenden Jahren eine Vorbildfunktion hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit einnahm.
In der folgenden Arbeit geht es primär um Frauen, deren Rolle oft pauschalisiert betrachtet wird. Das Bewusstsein darum, dass Frauen keine homogene Gruppe sind, lag dieser Pauschalisierung stets zugrunde und wo möglich wurden Konkretisierungen vorgenommen. Für den Völkermord in Ruanda existieren nahezu keine Daten zu der Rolle von INTA*-Personen, weshalb eine diesbezügliche Einordnung ungenau und spekulativ wäre. Wann immer möglich, wurde versucht, das Binaritätsprinzip aufzubrechen und Daten abseits dieses Konstrukts zu verwenden. Der Völkermord in Ruanda und geschlechtliche Gewalt in Kriegen allgemein sind sensible Themen, deren Lektüre belastend sein kann. In dieser Arbeit werden explizit Handlungen geschlechtlicher Gewalt sowie Mord thematisiert.
Definition gender
Um verstehen zu können, inwiefern der Aspekt der Geschlechtsidentität Auswirkungen auf Konfliktsituationen hat, muss dieser vorerst definiert werden.
Die Basis dessen ist die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht. Als soziales Geschlecht bezeichnet man die „gesellschaftlich geprägte […] und individuell erlernte […] Geschlechterrolle. Diese Geschlechterrolle wird durch die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Organisation einer Gesellschaft und durch die in ihr geltenden rechtlichen und ethisch-religiösen Normen und Werte bestimmt.“[2] Der Begriff des biologischen Geschlechts bezeichnet alle körperlichen, geschlechtsspezifischen Merkmale.[3] Obwohl die beiden Begriffe des biologischen und sozialen Geschlechts eng miteinander zusammenhängen, sind sie doch voneinander unabhängig. Beide sind per definitionem nicht eindeutig und vor allem wandelbar. Geschlecht wird als Spektrum verstanden und das Prinzip der Binarität wird in aktuellen Betrachtungsweisen immer weiter abgelegt.[4] Das Konzept gender ist ein hierarchisches und erzeugt Ungerechtigkeiten. Minderheiten sind so nicht nur jeden Tag verschiedensten Formen der Diskriminierung ausgesetzt, sondern auch expliziten Gefahren, wie zum Beispiel einem schlechteren Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Doch nicht nur der Zugang wird deutlich erschwert, auch Behandlungen sind oft geprägt von Fehldiagnosen oder dem Absprechen von Entscheidungskompetenzen.[5]
gender und Konfliktbearbeitung
Die Stereotypisierung des sozialen Geschlechts kann in allen Lebensbereichen wahrgenommen werden und dennoch lässt sich dezidiert feststellen, wie sich diese Annahmen in gesellschaftlichen Krisen und Konflikten verhärten. Moderne Kriegsführung lässt die Grenzen zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre verschwimmen und die Fragestellungen der Sicherheitspolitik werden auf verschiedene Bereiche erweitert.[6] So werden Themen wie Klimagerechtigkeit, Ressourcenschutz und soziale Gerechtigkeit als Teil einer funktionierenden Sicherheitsstrategie verstanden. Um diese Strategien kohärent verfolgen zu können, spielen zunehmend auch nichtstaatliche und zivilgesellschaftliche Akteure eine große Rolle, da sie eine andere Expertise einbringen können.[7]
So sehr der Blickwinkel verschiedener Sicherheitsstrategien erweitert wird, noch ist die Realität der Kriegsführung eine andere. So zeigt sich weiterhin, dass Kriegssituationen bereits bestehende geschlechtliche Ungerechtigkeiten und Diskriminierung verstärken. Zum Beispiel nimmt die häusliche Gewalt zu, während Frauen gleichzeitig deutlich mehr Care-Arbeit übernehmen. Trotzdem ist ihr Zugang zu humanitären Hilfen deutlich eingeschränkt.[8] „Flüchtende und Opfer sexualisierter Kriegsgewalt sind meist Frauen und Menschen der LGBTIQ+ Community. Transpersonen in Kriegssituationen werden meist nicht anerkannt und geschützt.”[9] Auch in Friedensprozessen werden Frauenrechte häufig als irrelevant abgetan und die von ihnen erlittene Gewalt wird nicht aufgearbeitet. Täter*innen geschlechtsspezifischer Gewalt müssen sich für ihre Taten meist nicht verantworten und haben so häufig auch keine Konsequenzen zu befürchten. Hinzu kommt, dass Frauen in Friedensprozesse selten aktiv einbezogen werden.[10] „In Friedensabkommen wird die Frage der geschlechtsspezifischen Verfolgung und Gewalt meist ausgeklammert und bei der Umsetzung der Abkommen weitgehend ignoriert.”[11]
Ruanda und die Rolle von Frauen nach dem Völkermord 1994
Konflikt
Als in Ruanda 1994 circa 3,5 Millionen Menschen einem Völkermord zum Opfer fielen, geschah dies nicht aus dem Nichts, sondern stellte die Eskalation eines langanhaltenden Konflikts dar. Der Völkermord ereignete sich in knapp hundert Tagen zwischen April und Juli 1994 und traf vor allem Angehörige der Bevölkerungsminderheit der Tutsi.[12] Der dem Völkermord zugrunde liegende ethnische Konflikt reicht bis weit in die Kolonialzeit zurück. Ruanda wurde von 1884 bis 1916 von Deutschland kolonialisiert, bis Belgien nach dem Ersten Weltkrieg die unterdrückende Kolonialmacht wurde. Beide Staaten übten eine rassistische Kolonialpolitik aus, welche die Tutsi-Minderheit als herrschende Klasse etablierte. Die Tutsi-Minderheit hatte sich als Krieger*innen und Viehzüchter*innen ausgezeichnet, während die Hutu, welche circa 90% der Bevölkerung ausmachten, von der Landwirtschaft lebten. Die künstliche Hervorhebung der Tutsi erzeugte unüberbrückbare soziale Spannungen.[13] Vor 1884 gab es zwischen beiden Kulturen gemeinsame Traditionen und Verbindungen, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugten. Doch die Einführung sogenannter Personalpapiere, welche die Unterscheidung verschriftlichte, zerstörte diese Bindungen nachhaltig.[14] Die bestehenden Machtverhältnisse änderten sich 1959 durch Hutu-Aufstände, in Folge welcher tausende Tutsi aus Angst vor gewaltvollen Konsequenzen flohen. So hatte sich die Situation, als Ruanda 1962 unabhängig wurde, gewendet und eine autoritäre Hutu-Elite beherrschte das Land. Nicht alle Tutsi nahmen diese Machtumkehr stillschweigend hin und so formierte sich im burundischen Ausland ein Widerstand. 1972 kam es dort zu Massakern, bei welchen circa 300.000 Hutu starben. Als Folge davon kam es 1973 zu einem Militärputsch in Ruanda, bei dem Hutu Juvénal Habyarimana an die Macht kam. Dies ließ erst eine Hutu-Rachefeldzug vermuten, welcher entgegen aller Erwartungen jedoch ausblieb. Nach Drängen aus dem Ausland versuchte der neue Machthaber ein Proporzsystem einzuführen. Da die beiden Volksgruppen zu tief verfeindet waren, scheiterte der Versuch.[15]
Der Tutsi-Widerstand organisierte sich fortlaufend im Ausland und im benachbarten Uganda gründete sich die „Front Patriotique Rwandaise“ (FPR). Nach Ruanda kehrten sie 1990 als Kämpfer*innen zurück, um gegen das Regime vorzugehen. Sie eroberten dabei weite Teile des Nordens und stießen bis in die Landeshauptstadt vor. Unter ihnen befanden sich auch oppositionelle Hutu-Kämpfer*innen, was verdeutlicht, wie kompliziert die Situation und wie tief die Gräben zwischen den beiden Völkern waren.[16] „Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Arusha (Tansania) im August 1993 schien der Bürgerkrieg vorerst beendet. Das Abkommen sah unter anderem eine breit angelegte Übergangsregierung unter Einbeziehung der RPF sowie die Einführung eines Mehrparteiensystems vor.”[17] Daraufhin beschloss der Sicherheitsrat der UN die Resolution 872, um bei der Stabilisierung des Landes zu helfen. Diese Resolution erteilte jedoch keine Legitimation für ein militärisches Eingreifen. Radikale Hutu akzeptierten diese Resolution aber nicht, sie radikalisierten sich stattdessen weiter und gründeten Milizen. Der Rassenhass wurde immer weiter angeheizt, insbesondere durch Radiosendungen, in denen die Tutsi-Minderheit diffamiert wurde. Doch auch öffentliche Todeslisten führender Tutsi waren tägliche Praxis der Diskriminierung.[18] Als konkreter Auslöser des Völkermordes wird der Abschuss des Flugzeugs von Machthaber Habyarimana gewertet. Als direkte Konsequenz wurden bereits eine halbe Stunde später moderate Hutu-Politker*innen und zahlreiche Tutsi ermordet. Diese Mordserie nahm in den folgenden hundert Tagen Fahrt auf und die Weltbevölkerung sah zwischen April und Juni 1994 zu, wie fast die gesamte Minderheit der Tutsi und zahlreiche gemäßigte Hutu ermordet wurden.[19] Der Genozid endete, nachdem es der RFP gelang, ganz Ruanda zu erobern. Daraufhin wurde eine Übergangsregierung gegründet, maßgeblich bestehend aus Bizimungu, einem Hutu, als Präsident und Paul Kagame, einem Tutsi und Anführer der RPF, als Vizepräsident. [20]
Das Land war zerrüttet und die Aufarbeitung des Völkermordes dauert bis heute an. Da besonders Frauen von Gewalttaten betroffen waren, gründeten sich unterstützende Netzwerke. Die Frauen bekommen dort Unterstützung bei der Gesundheitsvorsorge, der Traumaverarbeitung und bei der Erfahrung aktueller sowie vergangener Gewalt.[21]
Geschlechtliche Gewalt während des Völkermords
Der Völkermord versetzte ein ganzes Land in Angst und Schrecken, die Einwohner*innen wurden Zeug*innen eines unvergleichlichen Blutbades. Während ehemals Verbündete zu Feind*innen wurden, fürchteten Tutsi um ihr Leben. Doch gerade in den ersten Tagen der Gewalteskalation wähnten sich viele Tutsi-Frauen in Sicherheit, da bei vergangenen Pogromen meist ausschließlich Tutsi-Männer angegriffen wurden. Diese falsche Einschätzung hatte verheerende Folgen, denn die Frauen entschieden sich sehr spät, ihre Häuser zu verlassen.[22] Auf ihrer Flucht werden viele Tutsi-Frauen nach Ausweisdokumenten gefragt, deren Herausgabe sie meist kollektiv verweigern. Die dem zugrunde liegende Hoffnung, nicht als Tutsi identifiziert werden zu können, wird zuhauf durch eine stereotype Zuordnung aufgrund physiognomischer Merkmale zunichte gemacht.
So müssen tausende Frauen schwere Vergewaltigungen ertragen, bei denen die Penetration oftmals auch durch Gegenstände wie abgeschlagene Flaschen erfolgt. Die Täter[23] lassen die Frauen schwer verletzt zurück, nicht selten werden Genitalien verstümmelt und Brüste oder Nasen abgeschnitten.[24]
Abgesehen von den direkten, schweren Verletzungen müssen die circa 500.000 Opfer der Vergewaltigungen noch viele langfristige Schäden erleiden. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert, der Zugang zu psychologischer Hilfe wird ihnen jedoch auch nach 1994 oft verwehrt. Außerdem infizieren sich viele Frauen mit HIV. Die vielen Kinder, die aus den Vergewaltigungen hervorgingen, werden als „vergessene Opfer” des Völkermordes bezeichnet. Sie müssen sich nicht nur der Stigmatisierung der Gesellschaft aussetzen, sondern haben oftmals ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihren Müttern. Da sie in den meisten Fällen nach 1994 geboren sind, wird ihnen die staatliche Unterstützung zur Verarbeitung des Völkermordes nicht zuteil.[25]
Frauen als Täter*innen
Während Tutsi-Frauen Opfer unvorstellbarer Verbrechen wurden, beteiligten sich auch tausende Frauen als Täterinnen am Völkermord. Zwar gibt es keine Zahlen dafür, wie viele Frauen Gewaltverbrechen ausübten, doch der Anteil der weiblich Inhaftierten belief sich auf circa 6%. Die Dunkelziffer an Frauen, die nicht nur direkte körperliche Gewalt ausübten, sondern auch Verstecke verrieten oder zum Morden aufhetzten, ist vermutlich deutlich höher.
Auch wenn die Anzahl der Täterinnen in verschiedenen Berichten stark variiert, wird meist deutlich: Der Großteil aller Täterinnen nahm eine führende oder Machtposition innerhalb der ruandischen Gesellschaft ein.
Die von den Frauen verübten Taten stehen im Widerspruch zu gängigen feministischen Theorien, die Frauen eine gewaltfreie Neigung zuschreiben. Es wurde also versucht, verschiedene Handlungsmotivationen der Frauen auszumachen. Die Antworten scheinen alle eindimensional und nicht alle Faktoren beachtend. So wird einigen Täterinnen ihr Frau-Sein abgesprochen, während andere Erklärungen die Täterinnen als Ungeheuer bezeichnen. Dabei wird sich darauf berufen, dass Frauen, die gegen Stereotype verstießen, keine richtigen Frauen sein könnten, weshalb sie Ungeheuer sein müssten. Außerdem ist oft die Sprache von männlicher Einflussnahme, welche die Frauen zu Täterinnen mache.[26] Es kann also keine alleinige Handlungsmotivation festgestellt werden. “Sowohl der Versuch, [das] Verhalten [der Frauen] zu entschuldigen, als auch, es als Bruch der üblichen Geschlechterrollen zu verurteilen, führt zu einem stereotypen Frauenbild und wird der Vielschichtigkeit, in der Frauen Gewalt erfahren und ausüben, nicht gerecht.”[27]
Auswirkungen auf die langfristige Entwicklung
UN Sicherheitsresolution 1325
Der Völkermord in Ruanda hinterließ viele Frauen mit schweren Traumata, deren Folgen weitreichend sind. Dennoch gibt es in der feministischen Forschung immer wieder Stimmen, welche die zeitlich folgenden progressiven Entwicklungen direkt mit dem Völkermord verbinden. Denn erstmals erkannte die Weltbevölkerung geschlechtsspezifische Gewalt als ein Kernelement der Kriegsführung gegenüber der Zivilgesellschaft an. So wurden auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking Frauen in bewaffneten Konflikten zum zentralen Thema gemacht. Anschließend forderte der UN-Botschafter Anwarul Chowdhury aus Bangladesch, dass sich auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit dem Thema auseinandersetzen müsse. Eine Resolution des Sicherheitsrats ist vor allem deswegen entscheidend, da sie völkerrechtlich bindend ist. Auf den Vorschlag Chowdhurrys hin formulierten mehrere NGOs und Kanada einen Gesetzesentwurf, der nach intensiver Lobbyarbeit schließlich abgestimmt wurde. Seit dem 31. Oktober 2000 sind somit die Rechte von Frauen explizit niedergeschrieben und rechtlich bindend.[28]
„Wesentliche Elemente der Resolution 1325 sind der besondere Schutz von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten sowie die Stärkung der Teilhabe von Frauen an politischen Prozessen und Institutionen bei der Bewältigung und Verhütung von Konflikten.”[29] Dabei wird anerkannt, dass Frauen in Konflikten nicht nur Opfer sind, sondern sie auch einen aktiven Beitrag in friedensschaffenden Prozessen leisten.[30]
Frauenrechte in Ruanda heute
Zwei Jahrzehnte nach dem Völkermord wurde Ruanda häufig als sehr fortschrittliches Land hinsichtlich der Gleichberechtigung bezeichnet und verdiente sich Beinamen wie “Paradies für Frauen”. Das lag vor allem an der 2005 gesetzlich eingeführten Quotenregelung, die Frauen mehr Führungspositionen ermöglichen sollte. Diese erwies sich als erfolgreich und so waren 2019 61,3% des Parlaments weiblich besetzt. Insbesondere zivilgesellschaftliche Akteure (vor allem Menschenrechtsorganisationen) kritisierten jedoch die vermeintliche Progressivität des Landes und taten sie als reine Symbolpolitik ab.[31] Der größte Kritikpunkt ist dabei die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Rolle der Frau. Während Frauen in öffentlichen Positionen nicht nur repräsentative Macht haben, sind im häuslichen Umfeld patriarchale Strukturen fest verankert. Es wird als gegeben vorausgesetzt, dass Frauen die Care-Arbeit erledigen, während Männer als unbestrittenes Familienoberhaupt angesehen werden.[32] Im jüngsten Global Gender Gap Report (2023) zeigt sich zudem, dass das Land auf dem Weg zur Parität Rückschritte macht. Während Ruanda im Vorjahr noch Platz 6 der 146 bewerteten Länder belegte, liegt es 2023 nur noch auf Platz 12. Begründet ist dieser Rückschritt vor allem in der Covid-Pandemie und ihren wirtschaftlichen sowie sozialen Auswirkungen.[33] Der Sustainable Development Report postuliert bei SDG 5[34], dass bei diesem Ziel weiterhin signifikante Herausforderungen bestünden, der Wert verbessere sich jedoch.[35]
Fazit
Frauen werden zu Frauen[36] gemacht, auch und gerade in Konflikt- und Kriegssituationen. Diese stellen Frauen vor besondere Herausforderungen. Abgesehen von im Krieg üblichen Gefahren, sind Frauen starker Diskriminierung ausgesetzt. Meist haben Frauen auch abseits von Krisensituationen eine niedrige soziale Stellung, weshalb sie die Auswirkungen von Kriegen in besonderer Härte erleben müssen. Bereits gängige und veraltete Rollenbilder werden verstärkt gelebt und Frauen müssen sich diesen unterordnen. Die größte Gefahr für Frauen stellt geschlechtliche Gewalt dar. Frauen erfahren nicht nur massive körperliche Verletzungen, sondern werden auch psychisch erniedrigt. Der Einsatz geschlechtlicher Gewalt erfolgt oft systematisch und die betroffenen Frauen haben kaum Widerstandsmöglichkeiten.[37]
Insbesondere nach Kriseneskalationen muss das Augenmerk in friedensfördernden Prozessen auch auf der Geschlechtergerechtigkeit liegen. Ruanda kann hier als Positivbeispiel dienen: Trotz der unvergleichbaren Gewalt, der Frauen ausgesetzt waren, nahm das Land eine Vorreiterrolle hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit ein und konnte schnell enorme Fortschritte verzeichnen. Auch Jahrzehnte nach dem Völkermord gibt es politische Programme, die dem Erreichen der Geschlechtergerechtigkeit dienen. Dennoch muss an dieser Stelle auch betont werden, dass in Ruanda allen positiven Entwicklungen zum Trotz auch Jahre nach dem Völkermord noch ungerechte Gesellschaftsverhältnisse herrschen, in denen geschlechtliche Diskriminierung Gang und Gäbe ist. Menschenrechtsorganisationen berichten regelmäßig von Menschenrechtsverletzungen. So lässt sich zwar sagen, dass Frauenquoten und weibliche politische Teilhabe das politische Geschehen maßgeblich ändern – doch um Geschlechtergerechtigkeit tatsächlich zu erreichen, müssen auch gesellschaftliche Strukturen gewandelt und Stereotype aufgebrochen werden.
Frauen werden in Kriegen zu Frauen gemacht. Neben besonderen Gefahren bedeutet das auch, dass Frauen friedensfördernde Prozesse anstoßen und insbesondere nach Krisensituationen zur Erstellung rechtlicher Leitlinien beitragen.
Jeffrey D. Sachs, Guillaume Lafortune, Grayson Fuller and Eamon Drumm: SUSTAINABLE DEVELOPMENT REPORT 2023 Implementing the SDG Stimulus Includes the SDG Index and Dashboards: 2023, S. 4 Sustainable Development Report 2023 (sdgindex.org) (letzter Zugriff: 02.08.2023)
Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)
Hrsg.: UN Women and CARE International: RAPID GENDER ANALYSIS OF UKRAINE. o.A., 2022, S.7
Karen Krüger: Die Vergewaltigung von Tutsi-Frauen im rwandischen Genozid 1994. In: Feministische Studien, Band 22, 2004, S. 282
Jens Martens und Wolfgang Obenland: Globale Zukunftsziele für nachhaltige Entwicklung. 2017, S. 7
Jana Arloth Frauke und Lisa Seidensticker, Hrsg.: Deutsches Institut für Menschenrechte: Frauen als Akteurinnen in Friedensprozessen. Berlin, 2011, S.10
[13] vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)
[15] vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)
[16] vgl. vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)
[18]vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)
[19]vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)
[22] Hier muss betont werden, dass diese Fehleinschätzung keine Korrelation zur Verantwortung für alle folgenden Taten hat. Was den Tutsi-Frauen angetan wurde, ist unabhängig ihrer Handlungen zu bewerten und zu betrachten.
[23] Das generische Maskulinum wird hier bewusst verwendet.
[24] vgl. Karen Krüger: Die Vergewaltigung von Tutsi-Frauen im rwandischen Genozid 1994. In: Feministische Studien, Band 22, 2004, S. 282
[34] Die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs) sind Teil der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Diese Agenda bildet den Rahmen für Umwelt- und Entwicklungspolitik weltweit. Ziel 5 der Agenda ist das Erreichen der Geschlechtergerechtigkeit. (vgl. Jens Martens und Wolfgang Obenland: Globale Zukunftsziele für nachhaltige Entwicklung. 2017, S. 7)
[35] vgl. Jeffrey D. Sachs, Guillaume Lafortune, Grayson Fuller and Eamon Drumm: SUSTAINABLE DEVELOPMENT REPORT 2023 Implementing the SDG Stimulus Includes the SDG Index and Dashboards: 2023, S. 4 Sustainable Development Report 2023 (sdgindex.org)
[36] Auch in Kriegen sind Frauen keine homogene Gruppe. Die der Aussage zugrunde liegende These geht davon aus, dass Frauen anders an und in Kriegen leiden als Männer. (vgl. Jana Arloth und Frauke Lisa Seidensticker, Hrsg.: Deutsches Institut für Menschenrechte: Frauen als Akteurinnen in Friedensprozessen. Berlin, 2011, S.10)
[37] vgl. Jana Arloth Frauke und Lisa Seidensticker, Hrsg.: Deutsches Institut für Menschenrechte: Frauen als Akteurinnen in Friedensprozessen. Berlin, 2011, S.10
Quelle: Paula Härtge, Frauen in Konflikt- und Kriegssituationen: Beiträge, Herausforderungen und Potentiale, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 23.01.2024, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=430
On the 24th of February 2022 the now infamous Parental Rights in Education Act (HB 1557), commonly referred to as the “Don’t Say Gay” law, was voted for in the state of Florida, signed by Governor Ron DeSantis on the 28th of March 2022 and came into effect on the 1st of July of that year (O’ Connor 2022). This law was expanded upon during April 2023 by the Florida Board of Education and it now encompasses all ages in primary and secondary education, with a bill affecting tertiary education being now in the works (Nietzel 2023 ; Williams 2023). As far as framing goes, HB 1557 was presented as a safeguard of parental decision rights in relation to their children’s upbringing and schooling, but as will soon become evident it is far more encompassing (Johnson n.d.).
This new law, however, must be seen in its cultural context, as another development in the wider attempt at rollbacks of LGBTQI+ rights in the US (Gabbatt, Pilkington, and Stein 2023). There is no denying that significant progress has been made in the last years regarding the promotion of LGBTQI+ rights, but at the same time a significant backlash can be observed. From bathroom access “controversies” to restricting children from competing in the sports teams they feel more comfortable in to banning gender-affirming medical care, conservative lawmakers have frequently tried to fight back against the traction won by the LGBTQI+ community (Mulhivill 2023) . While a holistic overview of all rollbacks is very much in order if one is to better understand how their cumulative impact will intersect and synergize, this text will highlight a single instance of such rollbacks, which will most likely create lasting negative effects on a new generation of Floridian children, teenagers and their respective communities, with Florida acting as a “pioneer” and with many other states like Texas and Montana following suit (Mulhivill 2023).
2. Anti-Genderist Dogmatism
Nevertheless, it is still imperative to at least shortly review the general ideological dimension motivating this moral panic, before one delves into the content and possible impact of HB 1557. What one must first notice when summarizing this ideological movement is that it is a rather heterogeneous one, manifesting itself in a different manner in different societies. This is not to say that there are not some persistent similarities. Anti-genderism largely refers to a transnational movement, mainly consisting of but not limited to, right-wing and far right populists, conservatives, and Christian fundamentalists (Kováts 2017). Anti-genderism has also fostered in TERF (trans-exclusionary radical feminism) discourse since 2016 (Pearce, Erikainen, and Vincent 2020).
What does Anti-Genderism evangelize? In a nutshell, adherents of the anti-genderist ideology stand against what they conceive of as an overproportionate concession of rights to the LGBTQI+ community such as the equal standing of same-sex marriage, while at the same time positioning themselves against the proliferation of government gender related policies (e.g. race or sex based quota in job admissions), gender mainstreaming, gender studies, etc., in short against all that they perceive as promoting “gender ideology” (Wittenius 2023; Kováts 2017). Anti-genderist arguments are primarily derived from a combination of essentialist and theological (as the movement was greatly influenced by the Catholic church’s position on gender) arguments with regards to what gender actually “is” (Wittenius 2023). Anti-genderists generally subscribe to a binary and essentialist conception of gender. They conceive of gender, sexual orientation and reproduction as static, “natural” and unchangeable biological characteristics that one has from their birth. Gender is thus equated with biological sex in this ideological framework, an argument that has become antiquated by modern scientific discourse, as it is now largely accepted that gender resembles more a fluid spectrum than a static either/or (Tharp, n.d.).
The theological part of anti-genderism derives its argumentation mainly from the complementarian worldview, which is found in the dominant monotheistic religions, namely Judaism, Islam and Christianity. What complementarianism basically evangelizes is that God has made men and women ontologically equal but functionally different (Kuhar and Paternotte 2017). Men and women (and only men and women) are in this ideological framework destined for different responsibilities and functions, with men enjoying a higher place in social hierarchy, being designated as leaders and breadwinners, and with women being designated for auxiliary roles, meant to support and “complement” their male counterparts. Sexual activity is viewed in functional terms and is therefore acceptable only with the explicit goal of reproduction (Kuhar and Paternotte 2017).
The end effect of this ideology is to view anyone who does not neatly conform to the traditional conception of gender, sexual orientation and reproduction as abnormal, blasphemous and unnatural. Another prominent feature of this worldview is to paint the LGBTQI+ and feminist struggle as part of an elite conspiracy to limit freedom of speech and to impose foreign and unacceptable norms and values on a given population (Kuhar and Paternotte 2017).
3. HB 1557’s Components
Having reviewed the main ideological trend lurking behind LGBTQI+ rollbacks around the world in general and in the US in particular, one can now better understand the broader context and motivation behind the introduction of the law and its subsequent implementation. Before we can move on to the impact of HB 1557 though, it is only logical to first unpack what the law specifically requires and how some of its more ambiguous parts have caused confusion and anxiety.
First and foremost, HB 1557 originally prohibited classroom instruction and discussion about sexual orientation or gender identity in all classrooms from kindergarten to the third grade, with the newest expansion ranging from kindergarten to the sixth grade (Williams 2023). Courtesy of its vagueness, a lot of teachers are experiencing a constant anxiety that even the mere mention of LGBTQI+ issues in classroom could land them in serious professional trouble. For example, teachers from Orlando have expressed fear that they will not be able to even discuss the brutal hate crime/mass shooting that took place in the Pulse gay nightclub in Orlando in 2016 and sent shockwaves across the world (Craig 2022).
In addition, since classroom discussion of LGBTQI+ issues, gender identity and sexual orientation is prohibited, selective book bans are a subsequent dangerous by-product of HB 1557, as books containing any content that can be perceived as being related to the above-mentioned subject can now, after the filing of a corresponding parental grievance, be removed from school libraries and curriculum. It is important to note here that critical race theory, or rather what the state regards as CRT, has also been dealt a similar blow (Moolten 2023). From the sixth grade up to the 12th grade, reproductive health instruction is required to “be age-appropriate or developmentally appropriate for students in accordance with state standards”, with many voicing concerns over the ambiguity of the term “age-appropriate”, as it can obviously be quite freely interpreted (Williams 2023).
Echoing anti-genderist arguments, the bill furthermore demands that schools teach “that sex is determined by biology and reproductive function at birth; that biological males impregnate biological females by fertilizing the female egg with male sperm; that the female then gestates the offspring; and that these reproductive roles are binary, stable, and unchangeable.” (Singh 2023).
Parents are furthermore to be notified about what healthcare services the school provides (for example psychological support for children experiencing gender dysphoria), while simultaneously reserving the right to deny these services to their children. While at first glance this may seem quite logical, one should keep in mind that with this new provision a child feeling gender dysphoria that may not have the support or even empathy of its family regarding its experience, now has basically nowhere to turn to for help, since the school can no longer act as a shelter for them (Williams 2023). Finally, the bill also explicitly targets the use of personal pronouns within the school grounds, prohibiting both teachers and students from using other pronouns than those assigned to them at birth (Geggis 2023).
4. HB 1557’s Fallout
While the law has not been that long in effect, some studies and interviews regarding the law´s impact have already been conducted, painting a bleak picture for its possible consequences to the mental state and social standing of the LGBTQI+ community in Florida, as it is by the Governor’s own admission that he wants to wage war against anything “woke” (Kane and Davis 2023).
4.a) Mental Health and Psychosomatic Implications
The law’s most deleterious effect that is well recorded in the related literature, can by no means be anything other than the excessive mental, emotional and in many cases psychosomatic burden placed on the LGBTQI+ community. It is already established that LGBTQI+ populations in general and youth in particular experience greater rates of mental duress, such as depression, anxiety and stress compared to the broader population, with laws such as HB 1557 acting as additional and amplifying stressors (Kline et al. 2022). Moreover, increased probability of self-harm and suicide among populations with a significant mental load is common with the implication for LGBTQI+ youth being clear (Madireddy 2020).
Furthermore, as instruction and discussion are effectively silenced and made taboo, fear of social rejection and anxiety on the side of students who either are LGBTQI+ themselves or have LGBTQI+ parents will be greatly exacerbated. Simultaneously, from the teacher’s standpoint, a violation of the HB 1557 law in any form may very well lead to a job loss, thereby creating a multilateral environment and culture of exclusion (Kline et al. 2022).
Stress, fear and anxiety experienced in a continuous and systematic manner are not without their very real bodily consequences, meaning that HB 1557 can negatively contribute to the development of chronic health problems for the Floridian LGBTQI+ community, such as cardiovascular disease, hypertension and overexposure to cortisol, which in its turn is related to a heightened probability of strokes and high blood pressure. Moreover, stress alleviation as an answer to the above-mentioned stressors, often comes in the form of tobacco and substance use, which in the case of the latter can exacerbate ongoing health crises, such as the fentanyl crisis and in the case of both be associated with a multitude of possible health complications such as pulmonary diseases (Perez 2022).
The intersectional implications of HB 1557 are also diligently accounted for, with LGBTQI+ people of colour being in an even more precarious quagmire regarding their mental well-being, having to deal with broader systematic and diachronic oppression, in a society which is to this day heavily stratified with regards to race (Kline et al. 2022).
4.b) Societal Standing
As hinted to above, HB 1557 will introduce a new wave of detrimental risks to the Floridian LGBTQI+ community with regards to its social standing. As already explained, LGBTQI+ parents or parents of LGBTQ+ youth have commented on the growing fear and insecurity they are experiencing. Many, who have access to such resources, are either considering leaving the state or sending their children to private schools thus also highlighting the classist implications of the law, as poorer families can seldom exercise such options (Goldberg 2023).
Moreover, state sponsored projects of LGBTQI+ exclusion, which this law almost explicitly is, can provide an encouraging basis for aggravated instances of teasing, bullying and in end effect hate crime violence (Hartman 2023). If the state basically states that being LGBTQI+ is abnormal and taboo, it is probable that younger children will internalize this and then, as children and teens most often do, externalize this in an aggressive manner. There is also a hidden synergy here, as LGBTQI+ children in need of psychological, emotional and even material support, whether with regards to experiencing bullying within school grounds or to being dismissed by their less tolerable families can now no longer turn to school authorities for help, in effect being left to fend for themselves (Hartman 2023).
More perniciously, HB 1557 sets an extreme legal precedent, as it lays a venomous foundation for sanctioned discrimination of specific groups, a fact, which should be most alarming to everyone and not simply the Floridian LGBTQI+ community, as spillover effects are to be seriously considered. Furthermore, many LGBTQI+ parents have already posed their concerns that they will in many cases be turned to second class citizens, being effectively framed as child groomers, with many fearing that the state may eventually even take away their children (Luterman 2022).
All this without being able to properly account for the invisible and not yet graspable long-term effects such a law may create.
5. What now?
It is no overstatement that the LGBTQI+ community in the US and around the globe finds itself in a critical juncture, a most crucial crossroads, which in many ways will determine if all the forward momentum that was so painstakingly, gradually and through constant struggle won over the years will reverse course. While the situation is most definitely dire, not all is yet lost and the future is hardly written in stone.
The criticism drawn was more than widespread and the backlash immense. A series of lawsuits from LGBTQI+ advocacy groups was filed against the act while many professional organizations and labour unions condemned the act, such as the American Federation of Teachers (AFT 2022; Brown 2022). Quite importantly, many businesses also heavily criticised the act, most notably Disney, which has its mailing address in Florida and practically owns Florida’s most famous landmark, namely Disneyland, in its own special commercial district (Blair 2022).
At the same time anti genderist paranoia has indeed seeped deeper into the collective consciousness of Florida. In Florida HB 1557 inspired a wave of related law extensions, further negatively impacting the local LGBTQI+ community, while also leading the prelude to more sinister and impactful legal acts, such as the banning of gender affirming care for minors (Williams 2023). Alas, as mentioned above, this trend is not constrained to Florida but has found roots in all the US. As many as 15 states have introduced similar acts to HB 1557 in their respective state legislatures while a Republican did so on a federal level in the House of Representatives (Migdon and Simon 2022; Chmura 2022). While the ending of this saga is still elusive, if history is to illuminate any of its insights, it is that one shall not simply resign to their fate but rage against the dying of the light. From the Stonewall riots to the Gay Liberation March to even the establishment of the equal standing of same-sex marriage in many states, the LGBTQI+ community achieved what it achieved through solidarity and collective action.
Goldberg, A.E. 2023. Impact of HB 1557 (Florida’s Don’t Say Gay Bill) on LGBTQ+ Parents in Florida. Los Angeles, CA: The Williams Institute, UCLA School of Law.
Hartman, Christina. 2023. ‘Don’t Say Gay: How Laws Are Tools for Hate, Discrimination, and Violence’.
Kline, Nolan S., Stacey B. Griner, Malinee Neelamegam, Nathaniel J. Webb, Joél Junior Morales, and Scott D. Rhodes. 2022. ‘Responding to “Don’t Say Gay” Laws in the US: Research Priorities and Considerations for Health Equity’. Sexuality Research & Social Policy 19 (4): 1397–1402. https://doi.org/10.1007/s13178-022-00773-0 .
Kováts, Eszter. 2017. ‘The Emergence of Powerful Anti-Gender Movements in Europe and the Crisis of Liberal Democracy’. In Gender and Far Right Politics in Europe, edited by Michaela Köttig, Renate Bitzan, and Andrea Petö, 175–89. Cham: Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-319-43533-6_12.
Kuhar, Roman and David Paternotte. 2017. „Introduction“. Anti-Gender Campaigns in Europe: Mobilizing against Equality. Rowman & Littlefield. ISBN 978-1-78660-001-1:
Madireddy, Samskruthi, Sahithi Madireddy. 2020. Strategies for schools to prevent psychosocial stress, stigma, and suicidality risks among LGBTQ+ students. American Journal of Educational Research, 8(9), 659–667.
Pearce, Ruth, Sonja Erikainen, and Ben Vincent. 2020. ‘TERF Wars: An Introduction’. The Sociological Review 68 (4): 677–98. https://doi.org/10.1177/0038026120934713 .
Bis heute ist nicht geklärt, ob Angela Merkel in der Sommerpressekonferenz am 31. August 2015 in dem Bewusstsein vor das Mikrofon trat, dass ein Satz ihre Amtszeit – und vermutlich sogar sie selbst – überdauern wird. „Wir schaffen das.“ – lautete die Affirmation in die Gesellschaft und das Mantra der Bundesregierung. Jenes „Wir schaffen das“ bezog sich auf die Geflüchteten, die bis zu Angela Merkels Aufnahmezusage unter menschenunwürdigsten Bedingungen auf der sogenannten „Balkanroute“ zurückgehalten wurden und ausharren mussten. Dass Angela Merkel mit ihrem „Wir“ die deutsche Gesellschaft in ihre Selbstvergewisserung miteinschloss, deutet zweierlei an: erstens die Gewissheit darüber, dass das politische Gelingen von gesellschaftlicher Überzeugung abhängig ist. Zweitens die Sicherheit, dass die Politik fähig ist, funktionale Lösungen hervorzubringen. Schon früh deutete sich an, dass beide Annahmen auf ein weitreichendes „kollektives Fremdeln“ in der deutschen Gesellschaft trafen, das sowohl tiefsitzende Ressentiments und Ablehnung gegen die als „fremd“ empfundenen „Anderen“ reaktivierte als auch eine Zurückweisung von demokratischen Grundsätzen als Grundlage des politischen Handelns förderte. Diese gesellschaftlichen Reflexe sind jedoch keineswegs neu und auch nicht erst im Kontext der Fluchtbewegungen 2015 sichtbar geworden. Im Gegenteil: Rassistische Einstellungen sind schon immer fester Bestandteil einer kulturellen Identität, die sich über die Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen in der Logik „zugehörig – nicht zugehörig“ definiert. Der Kolonialismus stand wie keine andere politische Idee für diese Ausnutzung von Macht, indem sich weiße Menschen durch die Herstellung von Unterdrückungsverhältnissen über ethnische Gruppen erhoben. Mitnichten hat sich bereits eine vollständige Dekolonialisierung eingestellt, nein: die kolonialen Kontinuitäten wirken fort. Für ein auf demokratischen Werten aufgebautes Gemeinwesen stellen Diskriminierungen basierend auf rassistischen Konzepten in vielerlei Hinsicht eine Bedrohung dar. Denn klar ist: sobald der gesellschaftliche Konsens über ein gleichberechtigtes, freiheitliches und solidarisches Miteinander erodiert, zerfällt gleichzeitig die Bereitschaft, allen Menschen die gleichen bürgerlichen und politischen sowie wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zuzugestehen. Eine Gesellschaft, die dazu übergeht, Menschen bestimmte Wertigkeiten zuzuschreiben, ist nicht länger in der Lage, eine friedvolle, gerechte und würdevolle Gemeinschaft zu organisieren – sie zerfällt in Einzelteile. Die Ebene, auf der sich diese Zersetzungsprozesse am ehesten nachweisen lassen, ist die politische. Durch ihre politischen Präferenzen, Einstellungen und Werte bringen Menschen ihre Vorstellungen über die Gesellschaft und die Politik zum Ausdruck. Sie sind deshalb ein verlässlicher Gradmesser für den gesellschaftlichen Zustand insgesamt. In diesem Abschlussessay werde ich die Erkenntnisse zu rassistischen Einstellungen in Deutschland mit ihren Auswirkungen auf die Demokratie zusammentragen und diskutieren.
2. Bestandsaufnahme: Der gesellschaftliche Zustand
Als eine „Gesellschaft in der Dauerkrise“ ließe sich die Situation in Deutschland in wenigen Worten wohl am besten beschreiben. Es erschließt sich von selbst, dass multiple Krisenauswirkungen belastend auf die Gesellschaft wirken. Sozioökonomisch benachteiligte Gruppen leiden unter diesem Zustand ganz besonders und fühlen sich mehr denn je abgehängt und vernachlässigt. Aber auch die „gesellschaftliche Mitte“ ist von Sorgen und Unsicherheiten geprägt. In einem solchen Klima der Ängste und des Misstrauens gedeihen Vertrauensverlust und Rückzugstendenzen ins Private – es findet also eine Entfremdung sowohl von politischen als auch von gesellschaftlichen Prozessen statt. Im Ergebnis entsteht das gesteigerte Bedürfnis, verbliebene Privilegien einem limitierten Zugriff zu unterwerfen, um die Gruppe derer, die sich Ressourcen teilt, nicht weiter zu vergrößern. In historischer Betrachtung bedienen sich Menschen zur Erreichung dieses Ziels schon immer der Logik des gruppenbezogenen Ein- und Ausschlusses, über den festgelegt wird, wer Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten Rechten hat und wem dies verwehrt bleibt. Die Einteilung von Menschen in bestimmte Gruppen kann entlang von unterschiedlichen Merkmalen erfolgen, wobei für dieses Essay das Distinktionsmerkmal der ethnischen Herkunft im Mittelpunkt stehen soll. Bezogen auf dieses Attribut entscheidet sich die Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit von Menschen anhand der Bewertung „[…] ihres Äußeren, ihres Namens, ihrer (vermeintlichen) Kultur, Herkunft oder Religion […]“[1]. Dass Rassismus Teil der deutschen Gesellschaft ist, belegen unterschiedliche Studien. So zeigt die „Mitte-Studie 2023“ der Friedrich-Ebert-Stiftung beispielsweise, dass 40 Prozent der Befragten der Aussage „Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“ zustimmen.[2] Noch deutlicher drückt sich die Überhöhung der eigenen Nation gegenüber anderen Nationen in der Aussage „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ aus, welcher über 25 Prozent der Befragten zustimmen.[3] Die längsschnittliche Betrachtung erhärtet den Befund, dass rechtsextreme Einstellungen im Vergleich zu den Vorjahren weiter angestiegen sind. Die Fremdenfeindlichkeit erreichte in den Jahren 2022/2023 mit 16,2 % ihren Höchstwert und übertrifft den zweithöchsten Wert aus den Jahren 2018/2019 (8,7 %) damit fast um das Doppelte.[4] Ein manifestes rechtsextremes Weltbild lässt sich 2022/2023 bei 8,3 % der Befragten feststellen. Auch dieser Wert übertrifft alle Vorjahreswerte, die zwischen 2-3 % lagen.[5] Zusammenfassend lässt sich also ein gesellschaftliches Auseinanderfallen konstatieren, das auf rassistischen Vorstellungen von Nation und Nationalität beruht. Die Konstruktion eines spezifischen „Deutschseins“ rechtfertigt die Abwertung von Menschen, die als „nichtdeutsch“ beurteilt werden. Sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene sind die Gefahren einer solchen Entwicklung offensichtlich. Für Individuen, die von Rassismus betroffen sind, resultieren daraus politische, soziale und ökonomische Nachteile sowie psychische und physische Gefährdungen. Zum Beispiel haben sie unter strukturellen Benachteiligungen im schulischen Kontext zu leiden, die sich negativ auf ihre Bildungschancen auswirken.[6] Des Weiteren sind sie Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt ausgesetzt. „Der Wohnungsmarkt ist einer der Lebensbereiche in dem Menschen mit (familiärer) Einwanderungsgeschichte am häufigsten aufgrund ihrer (zugeschriebenen) ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit diskriminiert werden.“[7] Zuletzt ist auch ein Anstieg der gruppenbezogenen Hasskriminalität beobachtbar. Die Straftaten in diesem Bereich haben im Jahr 2022 gegenüber dem Jahr 2021 um 9,7 % zugenommen.[8] „2021 gab es demnach 10.501 solcher Straftaten, 2022 bereits 11.520.“[9] All diese Zahlen demonstrieren, dass Rassismus das Fundament der Gesellschaft angreift. Es entstehen Spaltungsdynamiken, die Hass, Hetze und Gewalt mit sich bringen. Sie machen außerdem deutlich, dass Demokratie längst keine Selbstverständlichkeit ist – aber dazu im nächsten Kapitel mehr.
3. Folgenabschätzung: Die politischen Auswirkungen
Politische Präferenzen, Einstellungen und Werte entwickeln sich nicht losgelöst vom sozialen Umfeld und den gesellschaftlichen Bedingungen. Deshalb besteht ein Wechselverhältnis zwischen dem im vorherigen Kapitel skizzierten Gesellschaftszustand und den politischen Verhältnissen. Spiegelbildlich ist auch auf der Ebene der Politik erkennbar, was für die Gesellschaft gilt: Das „kollektive Fremdeln“ auf der Grundlage rassistischer Motive gewinnt an Prägekraft und beeinflusst so auch die politische Situation. Eine „Normalisierung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung“[10] schlägt sich in der wachsenden Zustimmung für die rechtsextreme AfD nieder. Gleichzeitig deutet dieser Befund aber auch auf eine tiefgehende Skepsis gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik selbst hin. Denn eine Identifikation mit rechtsextremen Standpunkten führt zumindest zu einer Tolerierung von antidemokratischen Ideen. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil rassistische Argumente an die zunehmende Unzufriedenheit mit der Politik ankoppeln und zu Abgrenzungen über die „Deservingness“-Überlegung führen. Das heißt: aus Sicht vieler Menschen muss sich der Anspruch auf bestimmte Rechte und Privilegien ausdrücklich verdient werden. Diese Anspruchsberechtigung wird wiederum vor allem Menschen nichtdeutscher Herkunft abgesprochen, die als „anders“ und damit „minderwertig“ markiert werden. Rechtsextreme Parteien machen sich damit gleich mehrere gesellschaftliche Problemlagen zunutze: den tief verwurzelten Rassismus, die allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik und die Überzeugung von Menschen deutscher Herkunft, sich für die Gesellschaft verdienter gemacht zu haben und damit Vorrechte genießen zu müssen. Es ist ersichtlich, dass diese Tendenzen – so sie politisch nicht ausreichend wahrgenommen und von demokratischen Parteien adressiert werden – auf fruchtbaren Boden fallen und eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Gerade in diesen Zeiten scheinen diese Befürchtungen berechtigt: Im ARD-DeutschlandTREND für November 2023 liegt die AfD in der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl bei 22 Prozent.[11] Insgesamt 76 % der Befragten sind weniger bzw. gar nicht zufrieden mit der Bundesregierung.[12] Der ARD-Deutschlandtrend für Oktober 2023 bekräftigt das Bild des fortschreitenden politischen Überdrusses: 35 Prozent der Befragten sind weniger zufrieden, 20 Prozent gar nicht zufrieden mit der Demokratie.[13] Eine ähnlich hoch ausgeprägte Demokratieunzufriedenheit wurde zuletzt im Oktober 2008 ermittelt.[14] Auffällig ist, dass mit dem Anstieg der Enttäuschung über die Politik und der Entfremdung von dieser die migrationspolitischen Einstellungen restriktiver werden. So vertreten 64 % der Befragten im ARD-DeutschlandTREND Oktober 2023 die Meinung, dass Zuwanderung eher Nachteile für Deutschland hat. Dies bedeutet eine Steigerung von 10 Prozentpunkten gegenüber dem ARD DeutschlandTREND für Mai 2023.[15] Ebenfalls 64 % finden, dass Deutschland weniger Flüchtlinge aufnehmen sollte – ein Plus von 12 Prozentpunkten gegenüber Mai 2023.[16] Zuletzt halten 71 % der Befragten die Einführung von Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen für richtig, das sind 8 Prozentpunkte mehr als im März 2016.[17] Angesichts dieser Erkenntnisse bestätigt sich, dass Rassismus nicht nur ein Machtinstrument darstellt, durch das strukturelle Positionierungen in der Gesellschaft hervorgebracht werden. Rassismus beeinflusst darüber hinaus politisches Verhalten, indem Reflexe der eigenen Privilegiensicherung zum Nachteil rassifizierter Menschen ausgetragen werden. Menschenwürde, Mitmenschlichkeit und Zusammenhalt als Kitt der Gesellschaft werden übetrumpft von dem massiven Gefühl, dass sich Menschen deutscher Herkunft Exklusivrechte verdient hätten.
4. Fazit
Angesichts der vorgenannten Erkenntnisse bestätigt sich, dass Rassismus eine gesellschaftsstrukturierende und damit eine auf Machtverhältnissen basierende Ideologie ist, durch die gruppenbezogene Dynamiken des Ein- und Ausschlusses gerechtfertigt werden. Rassismus ist aber mehr als das: Er ist die Fortsetzung kolonialer Ausbeutungslogiken, die sich als Kontinuitäten in den rassistischen Realitäten der Gesellschaft wiederfinden. Die Ausführungen zur gesellschaftlichen Zustandsbeschreibung haben dies sehr deutlich gezeigt: Es geht eben nicht nur um den Zugang zu gesellschaftlichen Gruppen, es geht vor allem auch um den Zugang zu Ressourcen – finanzieller, materieller, rechtlicher Art. Den Zugriff an die ethnische Herkunft zu koppeln, garantiert eigene Privilegien und sichert die Verfügbarkeit. In einer krisengebeutelten Gesellschaft, die nachweislich auch unter ökonomischen Unsicherheiten zu leiden hat, erhöht sich der Hang dazu, bestimmte Gruppen von spezifischen Rechten ausschließen zu wollen. Wie sich bestätigt, geht diese Gemengelage mit Gefahren für die Demokratie einher. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich vor allem rechtsextreme Parteien den Dreiklang aus rassistischen Einstellungen, allgemeiner Unzufriedenheit und ökonomischer Unsicherheit zunutze macht. Sie verachten den Grundkonsens einer demokratischen Gesellschaft und treiben die Spaltung auf dem Rücken benachteiligter ethnischer Gruppen weiter voran. Wie sich zeigt, sind Menschen bereit, diesen Weg mitzugehen, solange er ihnen eine Verbesserung der individuellen Situation verspricht. Diese auf rassistischen Vorurteilen und antidemokratischen Elementen basierende Strategie entfaltet vor allem in einer Phase der umfassenden politischen Verbitterung ihre Wirkung. Nachdem ich mit Angela Merkel in dieses Abschlussessay eingestiegen bin, halte ich es für konsequent, sie auch für den letzten Satz des Fazits zu zitieren. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“[18] – so ihr Aufruf an die Bevölkerung während der Corona-Pandemie. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“ möchte ich mir auch für mein Plädoyer an die Gesellschaft zu eigen machen, welches den Schlussteil dieses Essays bildet.
5. Zum Abschluss: Ein persönliches Plädoyer an die Gesellschaft
Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, wie mühsam es ist, auf „bessere Zeiten“ zu hoffen. Ökonomische Unsicherheiten, soziale Benachteiligungen, strukturelle Ungleichheiten verursachen reales Leid. Das Gefühl zu haben, in seinem Schmerz gerade von den Menschen nicht wahrgenommen zu werden, deren Aufgabe es ist, politische Lösungen zu finden, ist nur schwer erträglich. Pessimismus und Zukunftsängste gehören für viele Menschen in Deutschland zum Alltag – sie erahnen, dass ihre Anstrengung für die Gesellschaft nicht in dem Maße belohnt wird, wie sie es verdient hätten. Es ist nicht verwunderlich, dass das Motiv dieser „Deservingness“ deshalb auch als Bewertungsgrundlage in Richtung der Mitmenschen wirkt. Wer hat was beigetragen? Wer verdient aus diesem Beitrag heraus was? Zu schnell führt Menschen diese Denklogik dazu, anhand der ethnischen Herkunft zu unterscheiden: als „richtiger“ Deutscher ergibt sich die „Deservingness“ qua Geburt. Menschen anderer Herkunft müssten sich dieser Systematik nach mit weniger zufriedengeben oder zumindest mehr für das Gleiche leisten. Das Gefährliche für unsere Demokratie dabei ist, dass sich die Gesellschaft zunehmend auch emotional verschließt. Im Ergebnis ist sie nicht mehr nur dagegen, materielle Rechte zu teilen. Nein, der Rückzug nimmt grundsätzlichere Ausmaße an: die Gesellschaft scheint nicht mehr empfänglich und gesprächsbereit. Sie trägt eine ausgeprägte Kompromisslosigkeit vor sich her, die sie davor schützt, in zwischenmenschliche Verbindung zu treten. Die Geschichte der anderen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, diesen Geschichten eine gleichberechtigte Bedeutung beizumessen, wird durch diese Strategie verunmöglicht. Was aber würde passieren, wenn wir uns bewusst mit den Geschichten „der anderen“ auseinandersetzten, wenn wir einander zuhörten, wenn wir hinsähen? „Hör zu und schau dich um!“ war der Aufruf am Ende des dekolonialen Hörspaziergangs zurück << erzählt. „Hör zu und schau dich um!“ ist mein Plädoyer an die Gesellschaft. Versuchen wir, uns gegenseitig wahrzunehmen. „Es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst.“ ist meine Mahnung an die Gesellschaft. In diesem Sinne: Versuchen wir, den Kontakt wieder aufzunehmen. Versuchen wir, uns menschlich wieder nahe zu sein.
Zick, Andreas, Küpper Beate und Nico Mokros (Hrsg.) für die Friedrich-Ebert-Stiftung. 2023. Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. GmbH.
[2] Vgl. Zick, Andreas, Küpper Beate und Nico Mokros (Hrsg.) für die Friedrich-Ebert-Stiftung. 2023. Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. GmbH, S. 66.
[6] Vgl. z.B. Die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus. 2023. Lagebericht Rassismus in Deutschland. Ausgangslage, Handlungsfelder, Maßnahmen. Berlin, S. 50.
In den letzten Jahren rücken die Themen Geschlechtsidentität und -vielfalt verstärkt in das öffentliche Bewusstsein. In diesem Zusammenhang hat die Trans*-Community, bestehend aus Menschen, die nicht das Geschlecht sind, dem sie bei der Geburt zugewiesen wurden (Queer-Lexikon, 2023), zunehmend Aufmerksamkeit erhalten. Trotz dieser wachsenden Sichtbarkeit, viel Engagement und Aufklärungsarbeit sehen sich trans* Menschen oder Menschen, die als trans* wahrgenommen werden, immer noch mit Trans*feindlichkeit konfrontiert. Diese manifestiert sich in vielfältigen Formen, sei es in der medialen Berichtserstattung, in gesetzgeberischen Entscheidungen oder im Alltag der Individuen. Die Rechte und das Wohlbefinden von trans*-Personen sind grundlegende Menschenrechtsfragen. Trans*feindlichkeit widerspricht den Prinzipien der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, die in vielen nationalen und internationalen Gesetzen verankert sind.
Im Rahmen der Ausarbeitung des Referatsthemas „Trans*feindlichkeit und die Realität der vielfältigen Diskriminierung“ im Seminar „Gender, Diversity, Gender Mainstreaming“ bin ich auf die verheerenden Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von trans* Menschen gestoßen. Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität, Stigmatisierung und Ablehnung scheinen zu einer relevanten psychischen Belastung beizutragen (Ott, Regli, Znoj, 2017).
Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Thema Trans*feindlichkeit und die Auswirkungen dieser auf die mentale Gesundheit von trans* Menschen. Die Begriffserklärungen und das Minority Stress Modell liefern hierbei den theoretischen Rahmen, um die Ursachen und die Mechanismen hinter diesen Auswirkungen zu verstehen. Durch die Analyse von ausgewählten Studien und Forschungsarbeiten wird versucht die negativen Folgen auf die psychische Gesundheit zu beleuchten und notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung aufzuzeigen. Schließlich werden mögliche Ansätze zur Bewältigung, Prävention und zur Verbesserung der psychischen Gesundheit von trans* Personen diskutiert.
2. Theoretischer Hintergrund
Um einen besseren Einblick in die Hausarbeit zu erlangen, werden im theoretischen Hintergrund die für das Verständnis relevanten Begriffe Geschlechtsidentität, trans* und Trans*feindlichkeit erklärt. Im weiteren Verlauf wird eine Einführung in das Minority Stress Modell gegeben und seine Relevanz für das Verständnis der psychischen Gesundheit von trans* Personen dargestellt.
2.1 Begriffserklärungen
Die Geschlechtsidentität beschreibt die innere Überzeugung, einem Geschlecht anzugehören (Lexikon der Psychologie, 2023). Man bekommt bei der Geburt ein Geschlecht zugeschrieben. Bis 2013 wurde im Geburten-Register anhand körperlicher Anzeichen zwischen „männlich“ oder „weiblich“ entschieden. Danach wurde vor allem für Neugeborene, die beide Merkmale der Geschlechter tragen, also „zwischen-geschlechtliche“ Menschen, die Bezeichnung „keine Angabe“ eingeführt. Viele Menschen fanden die neu eingeführte Bezeichnung nicht passend und klagten deshalb. Das Verfassungs-Gericht beschloss daraufhin eine Änderung. Seit 2018 sind die zur Auswahl stehenden Geschlechter in Deutschland ,,weiblich‘‘, ,,männlich‘‘ und „divers“ (Personenstandsgesetz, 2023). ,,Divers“ beinhaltet mehrere Geschlechtsbezeichnungen.
Laut Scheithauer & Niebank (2022) werden im Kleinkindalter bedeutsame Erfahrungen gesammelt, die zu einer Unterscheidung zwischen ,,männlich“ und ,,weiblich“ führen. Des Weiteren beschreiben sie, dass man bei unter Zweijährigen schon eine Geschlechtssterotype-Aneignung beobachten kann. Damit ist gemeint, dass sie sozial geteilte Vorstellungen darüber haben, welche Eigenschaften typisch ,,männliche“ und ,,weibliche“ Personen haben. Das kann sich äußern durch geschlechtstypisierte Kleidung, Spielzeuge oder Verhaltensweisen. Ungefähr im Alter von zweieinhalb Jahren formt sich daraufhin die Geschlechtsidentität. Man kann sich ab diesem Alter einem Geschlecht zuschreiben, dass bei einem Großteil von Personen lebenslang erhalten bleibt (ebd., 2022).
Einige Menschen erleben eine Diskrepanz zwischen ihrem bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht und ihrer eigenenGeschlechtsidentität. In der vorliegenden Hausarbeit liegt der Fokus auf trans* Menschen. Dabei ist zu erwähnen, dass trans* nicht nur auf die binären Geschlechter beschränkt ist, sondern auch das nichtbinäre Geschlecht beinhaltet (Queer-Lexikon, 2023).
Transgeschlechtliche Menschen erleben durch das geschlechterbinäre Denkmuster vermehrt Diskriminierung (Vanagas & Vanagas, 2023). Früher wurde dafür der Begriff Transphobie eingeführt. Allerdings definiert eine Phobie eine Angststörung, weshalb sich der Begriff ,,Trans*feindlichkeit‘‘ bewährte, der den diskriminierenden Charakter hervorhebt (ebd., 2023). Die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit werden im Folgenden herausgearbeitet.
Das Ziel einer Einführung in das Minority Stress Modell besteht darin, die Bedeutung dieses Modells für das Verständnis der psychischen Gesundheit von Menschen mit einer geschlechtlichen Vielfalt zu verdeutlichen.
2.2 Minority Stress Modell
Das Minority Stress Modell (Meyer, 2003) bietet einen theoretischen Rahmen für das Verständnis von Auswirkungen auf die mentale Gesundheit im Sinne von Minderheitenstress. Es wurde im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit von homosexuellen und bisexuellen Menschen entwickelt. Minderheitenstress bezeichnet das erhebliche Ausmaß an Stress, dem Mitglieder*innen stigmatisierter Minderheitengruppen (b) ausgesetzt sind. Es erklärt, dass Stigmatisierung, Vorurteile und Diskriminierung ein feindliches und stressiges soziales Umfeld schaffen, das psychische Gesundheitsprobleme verursacht.
Abbildung 1
Stress durch Minderheiten ist in die Umweltbedingungen (a) eingebettet, zu denen Vorteile und Nachteile im Zusammenhang mit Faktoren wie dem sozioökonomischen Status gehören können. Kästchen (a) und Kästchen (b) sind überschneidend dargestellt, um deren enge Wechselwirkung aufzuzeigen. Der Minderheitenstatus führt zu einer persönlichen Identifikation mit dem eigenen Minderheitenstatus (e). Im dargestellten Stressprozess spielen auch die Merkmale der Minderheitenidentität (h) eine unterschiedliche Rolle. Sie können verstärkend oder abschwächend auf die psychische Gesundheit auswirken, z.B. je nach individueller Valenz. Das Modell beleuchtet verschiedene Stressprozesse, einschließlich der Erfahrung von Vorurteilen, der Erwartung von Ablehnung, das Verbergen der eigenen Identität, die internalisierte Diskriminierung und Bewältigungsmechanismen auf sozialer und individueller Ebene (h) (ebd., 2003).
Das Modell teilt separate, aber miteinander verknüpfte Aspekte von Erfahrungen in allgemeine Stressoren (c), wie Arbeitsplatzverlust oder Tod eines nahestehenden Menschen, in distalen Stress (d) und in proximalen Stress (f) ein. Distaler Stress ist externer Stress, der sich aus Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt ergibt, wie Trans*feindlichkeit. Proximaler Stress ist interner Stress, der mit selbstkritischen Überzeugungen zusammenhängt, die sich auf die psychische Gesundheit auswirken (i) können. Auch diese Kästchen sind anliegend dargestellt, um ihre Abhängigkeit dazustellen (ebd., 2003).
Trans* Menschen erleben diese vorher aufgezählten Punkte und sind Teil einer marginalisierten Gruppe, wodurch das Modell für die Beschreibung der Auswirkungen auf die mentale Gesundheit genutzt werden kann.
Im Folgenden wird darauf eingegangen welche möglichen Ursachen existieren, die zur Entstehung von Trans*feindlichkeit beitragen.
3. Ursachen von Trans*feindlichkeit
46 Prozent von 20.271 befragten Lesben, Schwulen, Bi* und Trans* Menschen (LSBT) in Deutschland geben Diskriminierungserfahrungen an (FRA – European Union Agency for Fundamental Rights, 2013). Dabei findet die Ausgrenzung in der Öffentlichkeit, der Freizeit und am Arbeitsplatz statt. (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016)
Politische Einstellungen können eine Ursache hierfür sein: linkseingestellt Menschen stehen LSBT-Menschen eher positiv gegenüber als Menschen, die sich politisch eher mittig oder recht einordnen (Klocke, 2017). Ebenfalls scheint die religiöse beziehungsweise kulturelle Herkunft eine Rolle für das Auftreten feindlicher Einstellungen zu sein (ebd., 2017). Menschen mit Migrationshintergrund scheinen negativer eingestellt zu sein als Menschen ohne Migrationshintergrund, wobei zu erwähnen ist, dass in vielen Studien unterschiedliche Herkunftsländer zusammengefasst wurden. Vor allem zeigen Menschen mit Hintergrund aus islamischen Ländern und teilweise aus ehemalige UdSSR- Staaten diese negativen Einstellungen. (ebd., 2017)
Menschen neigen dazu, zu kategorisieren, wodurch Stereotypen entstehen und suggeriert werden (Vanagas & Vanagas, 2023). ,,[…] Die vorgegebenen gesellschaftlich anerkannten Kategorien – im Falle des Geschlechts die Kategorien männlich/weiblich – [sind] an gesellschaftliche Erwartungen gebunden wurden, die bei Erfüllung Anerkennung und Inklusion bedeuteten und bei Nicht-Erfüllung in der Regel zu Missachtung und Exklusion führten […]‘‘ (ebd., 2023, S.318). Auch stehen in diesem Zusammenhang Unsicherheiten, da durch trans* Identitäten die soziale Rollenvorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit hinterfragt wird (Friedrich, 2023). Somit sind soziale Privilegien und Rechte nicht am biologischen Geschlecht festzumachen (ebd., 2023).
Die Ursachen für trans*feindliche Einstellungen sind vielfältig und das Thema rückt zunehmend in den Fokus, weshalb die Forschung in diese Richtung weiterhin voranschreitet. Im Folgenden sind die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit dargestellt.
4. Auswirkungen von Transfeindlichkeit auf die psychische Gesundheit
Im Minority Stress Modell spielen die verschiedenen Arten von Stress eine entscheidende Rolle, um die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit gegenüber marginalisierten Gruppen zu verstehen. Im Folgendem wird anhand von Ergebnissen und Erkenntnissen aus verschiedenen Studien und Forschungsarbeiten dargestellt, inwiefern Trans*feindlichkeit negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat.
Trans*feindlichkeit lässt sich nicht klar einordnen. Klassisch könnte man sagen, dass es sich um eine Diskriminierungsform handelt und somit als distaler Stress beschrieben wird. Dieser hat jedoch auch Einfluss auf proximalen Stress.
In der Studie von Timmins, Rimes & Rahman (2017) wurden direkte und indirekte Zusammenhänge zwischen Stressoren der Minderheit und psychischer Belastung an einer großen und geographisch vielfältigen Stichprobe (N= 1207) untersucht. Die Erwartung der Ablehnung, die Selbststigmatisierung und die Vorurteilserlebnisse waren alle mit psychischer Belastung verbunden. Die Beziehungen wurden teilweise durch das Grübeln erklärt und zeigte 54,5 Prozent der Varianz der psychischen Belastung und 29,3 Prozent des Grübelns. Die Ergebnisse verdeutlichen die starke Beziehung zwischen den Minderheitsstressoren und psychischen Belastungen von trans* Menschen.
Eine weitere Untersuchung zum Wohlbefinden von trans* Menschen (N= 90) in der Schweiz veranschaulicht Befragungen zu erlebter Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität, internalisierter Trans*feindlichkeit, Lebenszufriedenheit und psychischer Belastung (Ott, Regli & Znoj, 2017). Die Auswertung zeigt eine hohe Prävalenz an psychischer Belastung und eine starke negative Korrelation zwischen Minderheitenstress und Wohlbefinden. Internalisierte Trans*feindlichkeit vermittelt einen Zusammenhang zwischen Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität und dem Wohlbefinden. Diese Ergebnisse stützen das Minority Stress Modell.
Eine andere Studie zum Thema Genderidentität und sexuelle Orientierung untersucht Opfer in einer Stichprobe von 641 Menschen, die Gewaltverbrechen erlebt haben und eine medizinische Notfallbehandlung in einem öffentlichen Krankenhaus in Anspruch nehmen mussten (Cramer, McNiel, Holley, Shumway & Boccellari, 2012). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass lesbische, schwule, bi* und trans* (LSBT) Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer sexueller Übergriffe wurden. Außerdem leiden LSBT-Menschen signifikant mehr unter akutem Stress und allgemeinen Ängsten (ebd., 2012). Außerdem machen die Forschenden (2012) die Beobachtung, dass die Genderidentität der Opfer den Zusammenhang zwischen Art der Gewalt und dem Auftreten von Paniksymptomen und den Zusammenhang zwischen Traumageschichte und allgemeinen Angstsymptomen moderiert.
Eine weitere Studie (Jefferson, Neilands & Sevelius, 2013) aus diesem Bereich stellt dar, inwieweit der Zusammenhang besteht zwischen trans* Frauen of Colour, die von vielfältiger Diskriminierung betroffen sind, und Depressionen. In dem einfachen logistischen Regressionsmodell mit Exposition gegenüber trans*feindlichen Ereignissen an ein Depressionssymptom-Ergebnis angepasst, bedeutet jede Einheit Anstieg der Exposition trans*feindlichen Ereignissen eine um 3 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit Depressionssymptome zu erleben.
Zu einem signifikanten Ergebnis kommt auch die Online-Umfrage von 2003 mit einer Stichprobe von 1093 trans* Teilnehmenden. Eine hohe Prävalenz von klinischen Depressionen (44,1 %), Angstzuständen (33,2 %) und Somatisierung (27,5 %) werden dokumentiert. Des Weiteren zeigt sich, dass soziale Stigmatisierung in einem positiven Zusammenhang mit psychischer Belastung steht (ebd., 2003).
Ein Erklärungsmodell von Plöderl (2016) legt viele Studien dar, die ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit lesbischen, schwulen, bi*, trans* und inter* Menschen sehen. Dabei arbeitet er heraus, dass die Datenlage für die Gruppe der trans* Menschen noch nicht ausreichend ist. Die Ergebnisse lassen jedoch auf ein erhöhtes Risiko schließen.
Aufbauend auf diesen Informationen gibt es Präventions- und Interventionsstrategien, die vor allem den negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit abschwächen oder verhindern können. Diese werden im Folgenden dargestellt.
5. Präventions- und Interventionsstrategien
Eine Strategie ist es, die Sichtbarkeit von trans* Menschen grundlegend zu erhöhen (Klocke, 2017). Der sogenannte Mere exposure-Effekt, den man auch aus dem Bereich der Werbung kennt, kann dazu führen, dass sich Einstellungen ändern. Es wird positiver auf vertraute Personen reagiert. Aufbau von Vertrautheit durch das Kennenlernen von trans* Persönlichkeiten kann deshalb ein wichtiger Schritt sein (ebd., 2017). Umsetzen kann man das durch Aufklärungsprojekte, Aufklärungsarbeit und Kontaktinterventionen, die vor allem von Autoritäten oder Institutionen gestützt werden (Allport, Clark & Pettigrew, 1954).
Um trans*feindliche Angriffe von vornherein abzuwenden, können geschützte Räume erschaffen und genutzt werden, in denen die Identität selbstverständlich akzeptiert wird (Franzen, 2011). Auch die Einführung von einem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und Transphobie am 17. Mai 2009 führt zu mehr Sichtbarkeit. Und auch Demonstrationen wie der transgeniale CSD in Berlin sind Wege, um Unsicherheit und Unsichtbarkeit abzubauen.
Eine andere Möglichkeit ist, sich über einen respektvollen zwischenmenschlichen Umgang mit trans*Personen zu informieren (Kailey, 2013). Man kann verschiedenste Literatur nutzen, die für unpassende Fragen sensibilisiert und Unwissende darauf hinweist, welche Bedürfnisse die trans* Community hat. Bespiele hierfür sind, nicht nach Operationen, Geschlecht oder Erfahrungen über Ausgrenzung zu fragen, Personen nicht ungewollt zu outen und die korrekten Pronomen und Namen zu verwenden (ebd.,2013).
Auch institutionell ist es wichtig für trans* Menschen eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, wobei eine Reform zum Transsexuellengesetz (TSG) auf den Weg gebrachten werden soll. 2011 wurde vom Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. Aktuell stehen diese Reform und neue Gesetzesentwürfe in Diskussion.
Ebenfalls von großer Bedeutung sind pädagogische Einrichtungen, wie Schulen, um aufzuklären, die Lebenswirklichkeit von trans* Menschen in Schulbüchern darzustellen und das Thema Genderidentität im Allgemeinen einen Raum zu geben, um Vorurteile frühzeitig abzubauen, aber auch positive Erfahrungen zu schaffen (Krell, 2019).
Die vorangegangenen Strategien zur Prävention und Intervention zielen vor allem auf den Abbau von Vorurteilen ab und auf den Schutz vor Trans*feindlichkeit. Haben Menschen diese feindlichen Erlebnisse in ihrem Leben durchgemacht, ist es wichtig, auch hier Schutz und Hilfe anzubieten, um die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit einzudämmen. Allerdings haben viele trans* Menschen Vorbehalte gegen eine psychotherapeutische Behandlung, da sie auch immer noch von der Krankenkasse in Deutschland gefordert wird, um eine geschlechtsangleichende Behandlung zu übernehmen. Auch wird in Therapien eher geprüft und versucht umzustimmen, da früher das Trans*-Sein als psychische Störung eingeordnet wurde. Dabei sollte die Entscheidung zu einer psychotherapeutischen Behandlung individuell getroffen werden und nicht als Grundlage für die Auslebung einer eigenen Identität genutzt werden.
Die trans* Community stellt ebenso eine große Ressource für die mentale Gesundheit da, worauf in der Hausarbeit aufgrund von Limitationen nicht weiter eingegangen wird.
6. Zusammenfassung/Diskussion
Zusammenfassend kann bezüglich der in der Hausarbeit gewonnenen Erkenntnisse gesagt werden, dass obwohl ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen bei trans* Personen zum Teil auf Geschlechtsdysphorie zurückzuführen sein kann (Leiden, das aus der Inkongruenz zwischen dem zugewiesenen und dem erlebten Geschlecht), trans* Personen einem sozialen Umfeld mit Vorurteilen gegen trans* und soziale Stigmatisierung, bekannt als Trans*feindlichkeit, ausgeliefert sind (Norton & Herek, 2013).
Das Wohlbefinden spielt eine entscheidende Rolle bei der psychischen Gesundheit jedes Individuums. Trans* Menschen haben mit einer Vielzahl von Belastungen zu kämpfen, die das Wohlbefinden beeinträchtigen und somit auch ihre mentale Gesundheit. Dazu gehören soziale Stigmatisierung, Diskriminierung, Vorurteile, Gewalt und Trans*feindlichkeit, die diese Probleme erheblich verschärfen. Die permanente Angst vor Diskriminierung und Gewalt, die viele trans* Personen begleitet, belastet ihre psychische Gesundheit. Depressionen, Angstzustände, Suizidalität, posttraumatische Belastungsstörungen und Selbstverletzung sind einige der Auswirkungen.
Das in der Literatur gefundene Minority Stress Modell ließ sich anhand der vorgestellten Studien belegen und stellt eine wichtige Grundlage da, um zu verstehen, wie es durch täglich erlebten Stress zu psychischen Belastungen bei trans* Menschen kommen kann.
Es ist unerlässlich, trans* Menschen auf unterschiedlichen Ebenen zu unterstützen, Trans*feindlichkeit zu bekämpfen und für betroffene Menschen einzustehen.
7. Resümee
In meiner zukünftigen Arbeit als Psychotherapeutin möchte ich besonders auf die Bedürfnisse von trans* Menschen achten. Es ist besorgniserregend, was Menschen erleben müssen, die sich nicht ihrem zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen. Ich denke, dass es eine sehr wichtige Aufgabe ist, die Psychotherapie hier weiter auszubauen und auf das Individuum anzupassen. Das sehe ich auch in meiner aktuellen Beschäftigung speziell mit suchterkrankten Menschen. Sie erleben soziale Stigmatisierung durch ihre Erkrankung und bei einer anderen Geschlechtsidentität zusätzliche Diskriminierung, was zum Teil ihre Grunderkrankung beeinflussen kann. In diesem Bereich ist die Forschung noch ganz am Anfang und ich denke, dass vor allem Mehrfachdiskriminierung zunehmend einen Bereich in der psychologischen Forschung einnehmen wird.
Des Weiteren braucht es mehr Strategien, um Trans*feindlichkeit zu verhindern.
Auch habe ich in meiner Literaturrecherche gesehen, dass die Forschung im Bereich der Genderidentität weiter ausgebaut werden sollte, auch da das Thema zunehmend an Relevanz gewinnt und mehr Menschen zu ihrer Geschlechteridentität stehen.
Literaturverzeichnis
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Quelle: Elise Ferdoun Kedik, Die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit von trans* Personen, , in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 05.12.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=413