„Catcalling“ – kein Flirt, sondern sexuelle Belästigung!

Kristin Thimsen (SoSe 2021)

Einleitung

Es war zwanzig vor acht. Ich war mal wieder viel zu spät dran. Ich rannte die Treppen runter, zog meine Overkneestiefel über meine Beine, holte die Jeansjacke vom Hacken und war gerade dabei die Haustür zu öffnen, um mich auf mein Fahrrad Richtung Schule zu schwingen. Meine Mutter rief laut meinen Namen und kam aus dem Badezimmer auf mich zugeeilt. Sie musterte mich von oben bis unten. Ich stand verunsichert vor ihr. Dabei hatte ich mich an diesem Tag so wohlgefühlt, mit mir, meinem Körper und meinem neuen Leoprintrock. „Geh sofort nach oben und zieh dich um!“, sagte sie mit wütender Stimme. „Nein! Warum sollte ich?“, werfe ich ihr entgegen. Ihre Stimme verliert mehr an Wut und hört sich besorgter an: „Weil ich dich beschützen möchte! Ein vierzehnjähriges Mädchen in einem kurzen Leo-Rock und langen schwarzen Stiefel bis über das Knie… das provoziert. Keine Widerrede. Du ziehst dich um!“ Ich schaute sie mit Tränen in den Augen an, streifte meine Overknees langsam von meinen Beinen und lief die Treppen nach oben zu meinem Kleiderschrank. Ich fühlte eine so tiefe Ungerechtigkeit in mir. Eine Ungerechtigkeit, die bis heute in mir andauert.

Jedoch hatte sich dieses Gefühl der Ungerechtigkeit im Teenie-Alter oft gegen meine Mutter gerichtet. Heute richtet sie sich viel mehr an das von patriarchalen Strukturen durchzogene System, in dem ich lebe. Mit zweiundzwanzig verstehe ich sehr gut, wovor meine Mutter so besorgt war. Lange wusste ich es selbst nicht zu benennen, doch heute sprechen Wissenschaftler*innen von “Catcalling“.

Ein Forschungsprojekt des kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. zu Catcalling

Das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (KTN) versteht unter Catcalling:

… [die] sexuell konnotierte Verhaltensweisen bzw. verschiedene Arten der sexuellen Belästigung ohne Körperkontakt […]. Darunter fallen unter anderem Pfeiff- oder Kussgeräusche, aufdringliche Blicke, vermeintliche Komplimente, anzügliche Bemerkungen oder Kommentare über das Äußere einer Person im öffentlichen Raum oder auch sexuelle Belästigung mittels digitaler Medien, z. B. durch die ungewollte Konfrontation mit Bildern oder Videos sexuellen Inhalts.

Lehmann & Goede, 2021

Das KTN hat seit Juli 2021 ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Dr. Lena Lehmann zum Thema Catcalling gestartet.  Der Forschungszeitraum endet erst zum Dezember 2021, doch erste Ergebnisse wurden bereits veröffentlicht. Es wurden 1000 überwiegend weibliche Teilnehmende befragt.

Die Studie zeigt, dass vor allem weiblich gelesene Menschen und insbesondere weiblich gelesene Personen, die sich der LGBTIAQ+[1] Community zugehörig fühlen, von Catcalling betroffen sind. Dabei widerfahren den Befragten nicht nur nonverbales Catcalling. Knapp 80 Prozent der weiblich Befragten haben bereits konkrete sexuelle Kommentare und köpernahes Catcalling erfahren. Bei den Befragten der LGBTIAQ+ Community liegen die Zahlen sogar über 80 Prozent. Vor allem abends und an öffentlichen Plätzen oder in Verkehrsmitteln kommt es zu diesen Übergriffen. Die meisten der Befragten waren entweder allein oder mit anderen weiblich gelesenen Menschen unterwegs. Nur zwei Prozent der Befragten geben an, Catcalling in Anwesenheit eines männlich gelesenen Begleiters erlebt zu haben. Gerade einmal fünf Prozent der Befragten waren bei der Polizei, von denen wiederum nur knapp 20 Prozent geholfen wurde. Über 40 Prozent hingegen fühlten sich von der Polizei nicht ernst genommen. Die drei häufigsten Begründungen, weshalb die Betroffenen nicht zur Polizei gegangen sind: Der Vorfall sei zu trivial gewesen, Catcalling sei ein alltägliches Phänomen, fehlende Beweise.

Catcalling ist nicht „normal“

Vor einem Jahr klappte ich meinen Laptop auf und stieß auf eine Reportage der Mediengruppe Funk auf YouTube mit dem Titel „Streit um sexistische Anmache. Catcalling“ (vgl. Represent, 2020). Ich hatte von „Catcalling“ zuvor noch nie was gehört. Ich war neugierig und betätigte den Play Button, eine Frau beginnt zu erzählen: „Die schlimmste Situation, die mir bisher passiert ist, war im Supermarkt. Auf einmal haben sich drei Männer um mich herum platziert. Dann hat der eine Mann eine Salatgurke in die Hand genommen und damit rumgewedelt. Und ausschweifend erklärt, was man damit alles machen kann und wie gut man mich damit penetrieren könnte.“ Ich drückte den Stopp-Button. Ich war angewidert! Doch leider konnte ich zu gut nachvollziehen, wovon die Frau in diesem Video spricht. So schlimm diese Geschichte war, so erstaunt war ich darüber, dass solche Taten endlich benannt werden können und dass es auch andere weiblich gelesene Menschen außer mir gibt, die das als eine klare Grenzüberschreitung wahrnehmen. So saß ich also da, an meinen Laptop, vor einem Jahr, mit einundzwanzig Jahren und realisierte zum ersten Mal wie sehr ich „Catcalling“ bisher als etwas alltägliches im Leben einer weiblich gelesenen Person abgetan hatte. Ich wurde wütend, dann traurig, dann kochte in mir die Wut wieder auf und ganz plötzlich kam in mir ein Gefühl der Erleichterung hoch. Eine Erleichterung darüber, dass mir das Recht zusteht, solche tagtäglichen Belästigungen nicht mehr als etwas „Normales“ hinzunehmen. Es ist nicht normal, wenn ein Mann mir hinterherruft „Na Blondie, Lust durchgefickt zu werden?“. Es ist nicht normal, wenn eine Gruppe von Männern aufhört zu reden, sobald ich an Ihnen vorbeilaufe, sie mich alle mit ekligen Blicken durchdringen und anfangen herabwürdigend wie ein Hund nach mir zu pfeifen. Es ist nicht normal, dass dieses Catcalling stoppt, sobald eine männlich gelesene Person mit mir unterwegs ist. Es ist nicht normal, sondern ein Ausspielen von Macht. Eine Macht, die bei vielen Betroffenen gravierende Folgen hinterlässt.

Folgen für Betroffene von Catcalling

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass „Catcalling“ sowohl psychische, physische als auch ökonomische Folgen für die Betroffenen mit sich zieht. Catcalling zu erleben, bedeutet für die Betroffene Stress – Stress der sich körperlich unter anderem durch eine irreguläre Atmung, Zittern, Muskelanspannungen, Übelkeit, Schwindel und einer erhöhten Herzfrequenz bemerkbar machen kann (vgl. Mores, 2020).

Auch auf einer psychischen Ebenen leiden die Betroffenen oft sehr stark. Catcalling löst nicht nur körperlichen Stress aus, sondern auch mentale Angst – Angst vor schlimmeren sexuellen Übergriffen, wie beispielweise einer Vergewaltigung. Diese Angst ist nicht unbegründet, denn weiblich gelesen Menschen werden schon im frühen Kindesalter durch die Medien, die Werbung und die Gesellschaft sozialisiert, Angst vor sexuellen Übergriffen zu haben (vgl.  Hanna, 2019). Eine Angst, die sich in der Selbstbestimmung und Freiheit der Betroffene gravierend niederschlägt. Nicht selten vermeiden Betroffene bestimmte Routen, verlassen nachts bewusst nicht das Haus oder nutzen öffentliche Transportmittel nicht. Auch versuchen sich Betroffene oft durch unauffällige Kleidung, wie Sonnenbrille, Schal und bedeckte dunkle Klamotten vor Catcalling zu schützen (vgl. Mores, 2020).

Viele Wissenschaftler*innen verweisen bei den Folgen von Catcalling auf die Objektivierungstheorie von Fredrickson und Roberts von 1997.  Diese Theorie “[…] was designed to explain the effects of living in a culture, where women are consistently sexually objectified or reduced to bodies to be used/or evaluated by others rather been seen as full persons” (Fisher, Lindner & Ferguson, 2019, S. 1496).  Catcalling objektiviert die betroffene Person, sie wird nicht mehr als Individuum gelesen, sondern als ein sexuelles Objekt. Dies kann zur Folge haben, dass Betroffene unter Bodyshaming, Essstörungen und Depressionen leiden (vgl. Hanna, 2019). Depressionen können oftmals zu Schlafstörungen und Konzentrationsmangel führen (vgl. Del. Greco & Christensen, 2020).

Auch der ökonomische Schaden, der durch Catcalling entsteht, darf nicht verharmlost werden. Durch das Vermeiden von bestimmten Routen und öffentlichen Transportmitteln ist es manchen Betroffenen nicht möglich, zu ihrem Beruf pünktlich zu erscheinen. Zudem löst die Objektivierung, die Betroffene durch das Catcalling erfahren, in ihnen möglicherweise ein vermindertes Selbstwertgefühl am Arbeitsplatz aus. Depressionen, Schlafstörungen und Konzentrationsmangel führen nicht selten zu einem Verlust an Professionalität im Arbeitsalltag (vgl. Mores, 2020). Im schlimmsten Falle könnte die betroffene Person dadurch ihren Job verlieren.

Als eine Person, die bereits selbst sexuelle Gewalt erfahren hat, können für mich diese Angstzustände sehr intensiv sein, vor allem wenn ich allein als weiblich gelesene Person unterwegs bin. Umso weniger kann ich Männer verstehen, die Catcalling betreiben. Ich spreche hier bewusst von Männern! Denn aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass es sich bei den Tätern von Catcalling immer um cis-Männer mit heteronormativen Denkmustern gehandelt hat. Dennoch sind es Männer, denen wohl bewusst sein dürfte, dass Frauen und Menschen aus der LGBTIAQ+ Community tagtäglich unter den patriarchalen Strukturen der Gesellschaft leiden. Für mich ist das ein reines Ausspielen von Macht und eine Aufrechterhaltung der Binarität von Geschlechtern: der Mann als das erhabene und unterdrückende Geschlecht und die Frau als das zu kontrollierende Gegengeschlecht. In dieser Recherche stellte sich mir also umso öfter die Frage: Warum verüben Menschen, insbesondere cis-Männer, Catcalling?

Motivationen der Täter hinter Catcalling

Es besteht Einigkeit darüber, dass sexuelle Belästigung Teil einer breiteren Kultur ist, die Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt gegenüber Frauen akzeptiert, wenn nicht sogar ermutigt (vgl. Glick & Fiske, 1996; Pryor, 1987; Thomae & Pina, 2015). Sexismus ist tief in traditionellen bzw. konservativen Vorstellungen von Geschlechterrollen verwurzelt (vgl. Spence & Helmreich, 1978; Swim & Cohen, 1997). Soziale Dominanz, in diesem Zusammenhang, ist stark mit Sexismus und traditionellen bzw. konservativen Geschlechterrollenüberzeugungen verbunden. Personen mit hoher sozialer Dominanzorientierung neigen dazu, sexistische Ideologien und Geschlechterrollenstereotypen zu unterstützen (vgl. Pratto et al., 1994; Pryor, 1987).

In meiner Recherche bin ich kaum auf Studien oder wissenschaftliche Texte gestoßen, die sich mit der Motivation hinter Catcalling auseinandersetzen, obwohl genau solche Studien wichtig wären, um gegen Catcalling vorzugehen. Einer der wenigen Texte war eine Studie, die von K. A. Walton und C. L. Pedersen im April 2021 unter dem Titel „Motivations behind catcalling: exploring men‘s engangement in street harassment behaviour“ veröffentlicht wurde.

In dieser Studie wurden insgesamt knapp 260 heterosexuelle cis-Männer befragt, von denen 33 Prozent angaben, im letzten Jahr Catcalling betrieben zu haben. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Ergebnisse kein reales Bild der Täter von Catcalling darstellen, sondern die Ergebnisse durchaus von der sozialen Erwünschtheit der Antworten beeinflusst wurden.

Der meistgenannte Grund für Catcalling war mit 85 Prozent „to show that I like the women“. Über 73 Prozent sehen Catcalling auch als „ a normal way of flirting” oder “to complimente the women”.  Für knapp 50 Prozent der Befragten war die Motivation hinter Catcalling „to improve my mood or to cheer me up “, „because it turns me on” und “because the women was dressed provocatively”. Auch das Ausüben von Kontrolle ist nicht irrelevant, so bestätigten 12 Prozent der Teilnehmer „because it makes me feel in control“. Catcalling passiert in einem anonymen Setting, dies ist auch maßgeblich für den Catcaller. Knapp 40 Prozent bekräftigen dies mit der Antwort „because the women doesn‘t know who I am“. Der Einfluss von Gruppendynamiken der Catcaller darf hierbei auch nicht unterschätzt werden:  20 Prozent gaben an „because it makes me feel like one of the guys“. Catcalling als Ausdruck von Misogynie wurde von den Befragten kaum in Zusammenhang gebracht. Nur knapp 2,5 Prozent bestätigten die Aussage „to make fun of the women“.

Für mich ist es kein seltenes Phänomen, dass heteronormative cis -Männer scheinbar oft nicht den Unterscheid zwischen Flirten und grenzüberschreitenden Catcalling ausmachen können oder vielleicht auch einfach nicht wollen. Ich habe bisher eine große Ignoranz der Catcaller gespürt.

Wenn meine mentale Gesundheit und mein Körpergefühl es zugelassen haben den Catcaller zu konfrontieren, so war es immer ein sehr herabwertendes Gelächter, was mir als Antwort widerfuhr. „Stell dich doch nicht so an!“, wie oft ich diesen Satz zu hören bekam. Nicht selten kamen mir auch Beleidigungen entgegen. Ich habe nicht immer die Kraft in der Situation, in der ich Catcalling erlebe, den Täter zu konfrontieren. Früher habe ich mir dafür oft Vorwürfe gemacht, heute tue ich das aber nicht mehr. Es ist nicht meine Aufgabe und schon erst recht nicht meine Verantwortung, mich selbst für den bestehenden Sexismus und die patriarchalen Strukturen des Systems verantwortlich zu machen. Ich bin nicht diejenige, die sich anstellt, das weiß ich und mit mir viele Betroffene und leidtragenden Menschen von Catcalling. Vielmehr ist es die Politik in Deutschland, die sich anstellt. Eine Politik, die Catcalling bisher noch nicht als einen Strafbestand aufgenommen hat, im Gegensatz zu Frankreich, Belgien oder Portugal.

Petition-Catcalling strafbar machen

Die 22 -jährige Antonia Quell schreibt in ihrer Petition, welche dafür kämpft, Catcalling in Deutschland strafbar zu machen: „Catcalling ist vielmehr das Ausnutzen von Dominanz und Macht. Wieso macht man das überhaupt? Die Antwort ist simpel: weil man es kann.“ (vgl. Quell, 2020). Von 2020 bis August 2021 sammelte sie knapp 70.000 Unterschriften. Dies waren somit genug Befürworter*innen, um die Petition in den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zu bringen. Bisher befindet sich die Petition dort in Bearbeitung. Sollte der Ausschuss zum Entschluss kommen, dass die jetzige Gesetzgebung in Bezug auf Catcalling unzureichend ist, kann dieser eine Debatte im Parlament anstoßen (vgl. Weinmann, 2021).

Unzureichend ist die Gesetzgebung durchaus, denn verbale sexuelle Belästigung ist in Deutschland kein Strafbestand. Voraussetzung für eine sexuelle Belästigung ist strafrechtlich ein sexuell bestimmter Körperkontakt. Zwar können auch Beleidigungen strafrechtlich verfolgt werden, jedoch gilt das für verbale sexuelle Belästigung nur dann, wenn die Äußerung ausdrücklich herabsetzend war (vgl. Weinmann, 2021). Die Formulierung ‘ausdrückliche herabsetzende Äußerungen‘, ist in dem Kontext von Catcalling viel zu vage. Denn schon allein der Akt des Catcalling ist eindeutig herabsetzend. Wie zuvor schon beleuchtet, findet in diesem Moment eine Objektivierung der weiblich gelesenen Person statt. Umso wichtiger ist es, dass strafrechtlich klar festgelegt ist, was Catcalling ist und dass es unter eine Straftat fällt. In Frankreich wird seit 2018 Catcalling beispielsweise mit einem Bußgeld von bis zu 750 Euro belegt (vgl. Berghöfer, 2020). 

Konklusion

Natürlich wird das Strafbarmachen von Catcalling nicht das Catcalling an sich bekämpfen, das wird in Belgien deutlich. Dort steht Catcalling schon seit 2014 unter Strafe. Es ist seitdem jedoch nur zu 25 Strafanzeigen gekommen und einer einzigen Verurteilung (vgl. Schwarz, 2020). Dennoch würde es ein richtiges Zeichen setzten – ein Zeichen dafür, dass wir gesamtgesellschaftlich bereit sind, an einer toleranteren, aufgeklärteren, und feministischeren Gesellschaft zu arbeiten. Es setzt ein Zeichen für marginalisierte Gruppen, wie Frauen und Menschen aus der LGBTIAQ+ Community.

Doch es bedarf nicht nur ein geschriebenes Gesetz. Viel wichtiger ist es, maßgeblich zu einer Aufklärung über Catcalling beizutragen. Betroffene tuen dies bereits mit sogenannten „Ankreiden“ in Großstädten. Dabei sammeln Aktivist*innen Catcalls von Betroffenen und schreiben die sexuellen Beleidigungen auf die Straße – genau dort, wo sie den Betroffenen widerfahren sind. Sie wollen damit sichtbarmachen, wie präsent sexuelle Beleidigungen im Alltag von weiblich gelesenen Personen sind (vgl. Fink, 2021).

Allein bei dem ‚Ankreiden‘ darf es nicht bleiben. Eine Aufklärung über Catcalling muss strukturell stattfinden. Schulen sollten schon frühzeitig Kinder und Jugendliche über Catcalling unterrichten und den Schüler*innen aufzeigen, was es heißt als weiblich gelesene Person strukturell benachteiligt zu sein und Sexismus zu erfahren. Es ist vor allem unter jüngeren Menschen wichtig zu zeigen, dass wir in einem System leben, in dem Menschen immer noch aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Aussehens diskriminiert werden. Und ihnen verständlich machen, dass dies nicht hinzunehmen ist und es gilt, diese patriarchalen Strukturen aufzubrechen.


[1] LGBTIAQ+ ist eine Abkürzung für die Gemeinschaft der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Pansexuellen, Transgender, Intersexuellen, Agender, Asexuellen, Genderqueer, Queer, und Verbündeten. Das Akronym bildet sich aus den englischen Begriffen: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexed, Agender, Queer


Literaturverzeichnis

Internetquellen:

Berghöfer, B. (2020). »Catcalling« ist kein Kompliment. Aufgerufen von https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142781.catcalling-catcalling-ist-kein-kompliment.html [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Fink, A. (2021): Catcalling ist kein Flirten – es ist ein sexueller Übergriff aufgerufen von https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/01/catcalling-berlin-sexuelle-belaestigung-gewalt-sprueche-frauen-strassen.html [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Goede , L.-R., & Lehmann, L. (2021). Catcalling. Erste Ergebnisse einer Online-Befragung. Aufgerufen von https://kfn.de/wp-content/uploads/2021/11/Vortrag%20Catcalling.pdf [zuletzt abgerufen am 13.12.2021]

Quell, A. (2020): „Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein“ aufgerufen von https://www.openpetition.de/petition/online/es-ist-2020-catcalling-sollte-strafbar-sein [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Represent, (2020). Streit um sexistische Anmache. Catcalling. Aufgerufen von https://www.youtube.com/watch?v=gW15lVmSIpU [zuletzt abgerufen am 13.12.2021]

Schwarz, C.  (2020): Raus aus der gesetzlichen Grauzon. Aufgerufen von  https://taz.de/Petition-gegen-Catcalling/!5713269/ [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Weinmann, T. (2021). Frauen im Kampf gegen verbale sexuelle Belästigung. Aufgerufen von https://www.dw.com/de/frauen-gegen-catcalling-tod-sarah-everard-text-me-when-you-get-home/a-55565555 [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Literarische Quellen:

DelGreco, M., & Christensen, J. (2020). Effects of street harassment on anxiety, depression, and sleep quality of college women. Sex Roles, 82(7), 473–481.

Fisher, S., Lindner, D., & Ferguson, C. J. (2019). The effects of exposure to catcalling on women’s state self-objectification and body image. Current Psychology, 38(6), 1495–1502.

Glick, P., & Fiske, S. T. (1996). The ambivalent sexism inventory: Differentiating hostile and benevolent sexism. Journal of Personality and Social Psychology, 70(3), 491.

Hanna, R. (2019). “Hey Sexy Thing, Why Don’t You Come Over Here?” Simulated Stranger Harassment and Its Effects on Women’s Emotions and Cognitions.

Mores, C. L. (2020). When a Stranger Catcalls: The Need for Street Harassment Remedies in Iowa. Iowa L. Rev., 106, 971.

Pratto, F., Sidanius, J., Stallworth, L. M., & Malle, B. F. (1994). Social dominance orientation: A personality variable predicting social and political attitudes. Journal of Personality and Social Psychology, 67(4), 741.

Pryor, J. B. (1987). Sexual harassment proclivities in men. Sex Roles, 17(5), 269–290.

Spence, J. T., & Helmreich, R. L. (1979). Masculinity and femininity: Their psychological dimensions, correlates, and antecedents. University of Texas Press.

Swim, J. K., & Cohen, L. L. (1997). Overt, covert, and subtle sexism: A comparison between the attitudes toward women and modern sexism scales. Psychology of Women Quarterly, 21(1), 103–118.

Thomae, M., & Pina, A. (2015). Sexist humor and social identity: The role of sexist humor in men’s in-group cohesion, sexual harassment, rape proclivity, and victim blame. Humor, 28(2), 187–204.

Walton, K. A., & Pedersen, C. L. (2021). Motivations behind catcalling: exploring men’s engagement in street harassment behaviour. Psychology & Sexuality, 1–15.


Quelle: Kristin Thimsen, „Catcalling“ – kein Flirt, sondern sexuelle Belästigung!: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 10.02.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/02/10/catcalling-kein-flirt-sondern-sexuelle-belaestigung/

Against Carceral Feminism

Warum härtere oder höhere Strafen nichts gegen häusliche und sexualisierte Gewalt ausrichten können

Lars Hardes (SoSe 2021)

Welche Handlungsoptionen resultieren aus der Auseinandersetzung mit Privilegien / De-privilegierung? Welche Veränderungspotentiale braucht es auf der persönlichen, welche auf der strukturellen und institutionellen Ebene? – mit diesen Fragen haben wir uns in einer der Kleingruppendiskussionen im Seminar Gender und Diversity: Zentrale soziale Kategorien im 21. Jahrhundert beschäftigt. Zunächst diskutierten wir die persönliche / individuelle Ebene, anschließend erst die strukturelle und institutionelle.1

Als es schließlich um letztere ging, wurde in meiner Kleingruppe überraschenderweise vorgeschlagen, härtere Strafen für häusliche und sexualisierte Gewalt einzuführen. Nicht genauer spezifizierte Studien hätten erwiesen, dass eine Erhöhung des Strafmaßes zur Verringerung der Anzahl von Fällen häuslicher und sexueller Gewalt führe. 2 Verantwortlich für diese Verringerung sei die abschreckende Wirkung der Strafen. Um sexualisierte Gewalt auf einer institutionellen und strukturellen Ebene zu bekämpfen, sollten demnach mittels eines erhöhten Strafmaßes negative Anreize für Täter*innen geschaffen werden.

Obwohl der Vorschlag sicherlich, wie wir sehen werden, vor allem aufgrund seines kontra- produktiven Charakters als unangebracht verworfen werden kann, fiel mir zunächst auf, dass verschiedene Ebenen miteinander verwechselt worden waren. Denn was der Vorschlag offensichtlich missachtet, ist die Tatsache, dass es sich bei negativen Anreizen, die sich gegen bestimmte Einzelpersonen richten, um Maßnahmen auf der individuellen Ebene handelt. Obwohl diese in einem institutionellen Rahmen, dem Gesetzestext, verankert werden sollten, werden institutionelle oder strukturelle Ursachen häuslicher und sexualisierter Gewalt durch diesen nicht adressiert, sondern vielmehr ignoriert und verschwiegen. Ziel dieses Essays ist es, dem individualisierenden Vorschlag, sexualisierte und häusliche Gewalt härter zu bestrafen, eine alternative Art des Denkens bzw. Umgangs entgegenzusetzen, die institutionelle und strukturelle Ursachen berücksichtigt und sich einer Transformation dieser verschreibt. Gewissermaßen möchte ich versuchen, pointiert zu erörtern, welche Institutionen und Strukturen bezüglich häuslicher und sexualisierte Gewalt eine Rolle spielen und wie diesen effektiv entgegengewirkt werden kann. Zunächst soll dafür der skizzierte Vorschlag als kontraproduktive Symbolpolitik kritisiert werden, die als typisch für den sogenannten „Strafrechtsfeminismus“3 (carceral feminism) gelten kann.

Dabei versuche ich zu verdeutlichen, dass gerade die Institutionen der Strafe, der Polizei und des Gefängnisses häusliche und sexualisierte Gewalt reproduzieren, indem sie verhindern, dass jene Strukturen konfrontiert werden, welche die Gewalt tatsächlich verursacht haben: Statt etwa mangelhafte und fehlende Verständnisse von Konsens oder problematische Vorstellungen der Maskulinität zu adressieren, bewirken strafende Ansätze, polizeiliche Gewalt und die soziale Isolierung von Täter*innen in Gefängnissen, dass Gewalt als Eigenschaft und Veranlagung bestimmter Individuen begriffen wird, vor denen als unschuldig verstandene Teile der Gesellschaft beschützt werden müssen.

Gleichermaßen möchte ich verdeutlichen, dass die Institutionen der Strafe, der Polizei und des Gefängnisses die meisten Individuen weder vor Gewalt schützen, noch resozialisieren können respektive sollen. Anders als gemeinhin verbreitet, war dies auch nie ihre Aufgabe: Statt um ein neutrales und objektives System handelt es sich bei Polizei und Justiz um repressive Organe staatlicher Gewalt, die sich gegen bestimmte Individuen richten, welche von vornherein als suspekt und schuldig angesehen werden – Gerechtigkeit, Unschuld und Schutz vor Gewalt sind seit jeher privilegierten, also weißen und/oder besitzenden Teilen der Gesellschaft vorbehalten. Insofern somit nicht garantiert werden kann, dass diese allen Individuen gleichermaßen zugutekommen, muss automatisch davon ausgegangen werden, dass höhere Strafen vor allem gegen rassifizierte, marginalisierte und prekarisierte Individuen zur Anwendung kommen werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund gilt es, nach alternativen Formen der nichtstaatlichen Gerechtigkeit zu suchen. Enden möchte ich daher mit einer kurzen Besprechung jener Ansätze zur Bekämpfung häuslicher und sexualisierter Gewalt, die als „Community Accountability“4 bzw. „Transformative Justice“5 bekannt sind. Die Forderung nach härteren Strafen für häusliche und sexualisierte Gewalt erfreut sich heute großer Beliebtheit. In Deutschland wurde diese unter anderem nach den Übergriffen der Silvesternacht 2015/16 in Köln auch durch verschiedene feministische Organisationen geäußert. Interessanterweise trafen diese dabei ausgerechnet bei jenen „konservativen und rechten Kräften [auf breite Unterstützung], denen Frauen*[…]rechte bislang herzlich egal waren bzw. die diese Rechte bis dato bekämpft haben.“6 Als Grund für diese „seltsame Schützenhilfe“7 identifiziert Sanz Nationalität und Identität der Täter*innen: Frauenrechte würden häufig als Deckmantel für Repressionen gegen unerwünschte Individuen benutzt.8 Entsprechende Forderungen können indessen als beispielhaft für jenes Phänomen gelten, das als carceral feminism bezeichnet wird. Folgen wir etwa Sanz, so kommt durch diesen Begriff eine Kritik des Vorgehens bestimmter feministischer Organisationen zum Ausdruck:

Die Kritik zielt auf die Art und Weise wie die Ausweitung von Polizei, Strafrecht und Gefängnis als eine zentrale Lösung für Gewalt gegen Frauen* mitgetragen wurde. Der Terminus beschreibt auch einen Prozess der Kooptierung (Aneignung) durch den Staat, der Anliegen von sozialen Bewegungen auf- nimmt und sie einbindet, dabei aber die emanzipatorischen Ziele und die transformative Macht dieser Anliegen verändert und ablegt.9

Was nämlich in entsprechenden Kampagnen und Debatten verloren geht, sind die institutionellen und strukturellen Aspekte respektive systemische Analysen der gesellschaftlichen Hintergründe häuslicher und sexualisierter Gewalt: „Die Thematik selbst wurde im Prozess […] umgedeutet zu einer strafrechtlichen und somit individualisierten Problemauffassung von Gewalt gegen Frauen*.“10 Dadurch würden nicht nur transformative, sondern auch zentrale feministische Anliegen, Auffassungen und Analysen hintergangen:

Damit geht es bei Gewalt gegen Frauen* nicht mehr um patriarchale Unterdrückung und männliche Dominanz mit ihrem Profitieren von Ungleichheiten. Als zentrales Strukturprinzip der Gesellschaft und Fundament von Gewalt gegen Frauen* werden sie aus dem Blick gerückt. Außerdem werden ökonomische Ungleichheiten und Abhängigkeiten nicht als Kern des Problems angesehen – dementsprechend müssen hier auch keine sozialstaatlichen Lösungen ausgebaut werden oder die sozioökonomische Position von Frauen* im Allgemeinen verbessert [werden].11

Ebenso würden reale Auswirkungen entsprechender Ansätze nicht genug berücksichtigt: Da diese meistens die Situation, Erfahrung und Angreifbarkeit von rassifizierten, marginalisierten oder prekarisierten Individuen missachten, führen sie häufig zu mehr statt weniger Gewalt oder aber einer Verschlechterung der individuellen Situation. Beispielsweise kann nicht jede Person die Polizei zur Hilfe rufen: Illegalisierten Migrant*innen und Geflüchteten droht dann eine Abschiebung. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass feminisierte Personen ihre Ein- und Unterkunft verlieren, wenn gewalttätige Partner*innen weggesperrt werden. Als vielleicht prominentestes Beispiel für kontraproduktive Folgen strafender Ansätze können jedoch jene harte Strafen gelten, die in den USA gegen eine Vielzahl afroamerikanischer Frauen angewandt wurden, die sich mit Gewalt gegen häusliche und sexualisierte Gewalt zur Wehr gesetzt haben.12 Härtere Strafen führen demnach in nicht nur wenigen Fällen dazu, dass auch von häuslicher und sexualisierter Gewalt Betroffene härter bestraft werden.

Insgesamt scheinen strafende Ansätzen auch daran zu scheitern, dass nur die Interessen der weißen Mittel- und Oberschicht berücksichtigt würden, so zumindest Sanz:

Indem ein Sicherheitsmodell für die weiße Mittel- und Oberschicht forciert wurde, wurden andere Sicherheitsmodelle missachtet, ebenso wie die Wirkmächtigkeit von historischen Stereotypen über Schwarze Männlichkeit, rassistische Polizeigewalt und die Auswirkungen von polizeilicher Überwachung und massenweiser Inhaftierung für Communities of Color.13

Dass staatliche Institutionen demnach nur bestimmten Interessen verpflichtet scheinen, sollte uns nicht überraschen. Folgen wir beispielsweise Vitale, so muss die Polizei etwa in erster Linie als Institution zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten verstanden werden: „The reality is that the police exist primarily as a system for managing and even producing inequality by suppressing social movements and tightly managing the behaviors of poor and nonwhite people: those on the losing end of economic and political arrangements.“14 Den weit verbreiteten Irrglauben, dass die Polizei die Bevölkerung vor Verbrechen und Gewalt beschützen soll und könnte, entlarvt Vitale als liberales Wunschdenken:

It is largely a liberal fantasy that the police exist to protect us from the bad guys. As the veteran police scholar David Bayley argues, ‚The police do not prevent crime. […] Yet the police pretend that they are society’s best defense against crime and continually argue that if they are given more resources, […] they will be able to protect communities against crime. This is a myth.‘15

Häusliche und sexualisierte Gewalt kann und soll die Polizei also gar nicht erst verhindern. Dass sie bezüglich dieser Gewaltformen auch gar nicht erst als geeigneter Ansprechpartner gelten kann und sollte, legen indessen Studien aus den USA nahe, laut denen Polizist*innen diese sehr viel häufiger ausüben, als es normale Bürger*innen tun:

An asthonishing 40 percent of cops acknowledged in one U.S. survey that they were violent with their spouse or children in the previous six months. A months survey had remarkably similar results – 40 percent of officers admitted there was violence in their relationship in the previous year. The cop’s abuse rate was up to 15 times that of the public.16

Polizist*innen sind demnach selbst häufig Täter*innen. Mehr Schutz durch die Polizei zu fordern, erweist sich spätestens hier als widersprüchlich: Insofern sich Betroffene häuslicher oder sexualisierter Gewalt an die Polizei wenden, laufen sie Gefahr, erneut Gewalt zu erfahren, nun allerdings durch Polizist*innen, deren Einsatz von Gewalt staatlich sanktioniert ist und gegen die sich juristisch nur sehr schwer zur Wehr gesetzt werden kann, da Polizist*innen einen Vertrauensvorschuss genießen und sich häufig gegenseitig decken. Gerade marginalisierte Individuen wie Sexarbeiter*innen können sich daher nicht auf Polizei und Justiz verlassen, wenn sie häusliche oder sexualisierte Gewalt erfahren.

Selbst wenn diese Probleme mit der Polizei nicht bestünden, gäbe es genügend weitere Gründe, gegen härtere Strafen im Besonderen und gegen Bestrafung im Allgemeinen zu sein. Als Ort zur sozialen Isolation von Täter*innen kann das Gefängnis nur sehr wenig zur Prävention von Gewalt beitragen. Statt Täter*innen dem eigenen Anspruch nach zu resozialisieren, reproduziert es etwa Gewalt, so zumindest Sanz: „Ganz außer Acht bleibt […], dass Gefängnisse selbst Orte extremer Gewalt sind und der vielfach bewiesene Fakt, dass diese Institution Gewaltzyklen aufrecht erhält und fördert.“17 Wie Olufemi verdeutlicht, handelt es sich bei Gefängnisstrafen außerdem wieder um individualisierende Maßnahmen, die Institutionen und Strukturen außer Acht lassen: „Prison provides an individualistic response to harm – it locates the problem in the body of the ‚bad‘ person rather than connecting patterns of harm to the conditions in which we live.“18 Es gelte zu beachten, dass das Problem häuslicher und sexualisierter Gewalt nur kollektiv angegangen werden kann:

Anyone who refuses to naturalise aggression, domination and violence in men’s bodies, understands that these traits have more to do with enforcement of gender as a system than individual action. Gendered violence is a systemic problem that requires a collective response. It is crucial that we disrupt normative masculinity and the systems it is predicated on before they become cemented in the bodies of individuals.19

Kritische Bildung und soziale Unterstützung scheinen demnach besser zur Bekämpfung sexualisierter und häuslicher Gewalt geeignet als Strafen, da sie die institutionellen und strukturellen Hintergründe wie etwa normative Gendersysteme tatsächlich adressieren. Auch finanzielle Unterstützung könnte vorbeugend wirken, indem etwa prekarisierten Personen eigene Unterkünfte ermöglicht werden, die es ihnen erlauben, Partner*innen zu verlassen, bevor diese gewalttätig werden. Insofern häusliche und sexualisierte Gewalt bekämpft werden sollen, ist die Forderung nach einer radikalen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums also sinnvoller als die nach härteren Strafen.

Gegen letztere spricht auch der rassistische Charakter der Institutionen der Strafe, der Polizei und des Gefängnisses. Wie Wang etwa beobachtet, werden Schwarze von vornherein mit Schuld assoziiert: „there is an a priori association of Blackness with guilt (criminality).“20 Gerade im Namen weißer Sicherheit komme es häufig zu Repressionen gegen Schwarze: „racial violence is the unspoken and necessary underside of security, particularly white security. Safety requires the removal and containment of people deemed to be threats.“21 Dies schlägt sich nicht nur in konkreten Praktiken wie dem racial profiling nieder,22 sondern führt auch dazu, dass sexualisierte Gewalt an BIPoC festgemacht wird, so Schilde:

Während weiße Täter_innen sexualisierter Gewalt als ‚pathologische‘ Ausnahmen wahrgenommen und als Einzeltäter_innen dargestellt werden, repräsentieren marginalisierte Täter_innen ihre gesamte Gruppe und die von bestimmten Personen ausgeführte sexualisierte Gewalt wird auf die ‚Rasse‘ oder die ‚Kultur‘ zurückgeführt.23

Die Tatsache, dass härtere Strafen vor allem für Verbrechen angedacht sind, die mit rassifizierten Individuen in Verbindung gebracht werden, lässt die Forderung nach diesen gelin de gesagt fragwürdig erscheinen. Erneut sollten wir uns verdeutlichen, dass strafende Institutionen nicht zu mehr Sicherheit führen: „On the contrary, their purpose is to maintain the  social order, protect white people, and defend private property. If these intuitions are vio lent themselves, then expanding their jurisdiction will not help us, especially while racism and patriarchy endures.“24

Spätestens der Umstand, dass neben rassifizierten auch andere marginalisierte und prekarisierte Individuen durch die Institutionen der Strafe, der Polizei und des Gefängnisses systematisch benachteiligt werden, sollte uns jedoch endgültig zu einer Abkehr von diesen bewegen. Der klassistische Charakter der Justiz, der sich unter anderem in der Sozialprognose und fehlenden (materiellen) Barrierefreiheit juristischer Ressourcen manifestiert, führt etwa dazu, dass privilegierte Individuen grundsätzlich weniger hart bestraft werden.

Dennoch gibt es einen weiteren guten Grund, härtere Strafen abzulehnen – wie Brazzell aufzeigt, erfüllen diese schlichtweg nicht die Bedürfnisse Betroffener: „selbst die betroffenen Menschen […] wünschen sich oft mehr Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Heilung als das Rechtssystem ihnen bieten kann.“25 Während diese in unseren momentanen Praktiken jedoch keinesfalls mitgedacht werden, gibt es zahlreiche Versuche, diese Interessen Betroffener stärker zu berücksichtigen. Das vielleicht bekannteste Modell ist der Transformative Justice-Ansatz, der vollständig auf die Institutionen der Strafe, der Polizei und des Gefängnisses verzichtet. Ziel dieser Praxis, die auch als Community Accountability bekannt ist, ist es, Täter*innen durch die jeweiligen Communities darin zu unterstützen, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Zentral für den Ansatz sind Brazzell zufolge folgende Aspekte:

Unterstützung von betroffenen Personen, Gewährleistung ihrer Sicherheit und Selbstbestimmung; Verantwortungsübernahme durch den/die Gewaltausübende und Verhaltensänderung; Maßnahmen inner halb der Community, die gegen Unterdrückung und Gewalt gerichtete Haltungen und Praxen stärken; Strukturelle Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die für den Fortbestand von Gewalt verantwortlich sind.26

Integraler Bestandteil des zugrundeliegenden Gerechtigkeitsverständnisses ist also die Transformation der Gesellschaft; strukturelle und institutionelle Ursachen von Gewalt wie toxische Maskulinitäten, soziale Ungleichheit, Wohnungsmangel, etc. sollen gemeinsam beseitigt werden. Damit unterscheidet sich das Konzept signifikant von herkömmlichen Methoden zur Herstellung von Gerechtigkeit, wie etwa dem Täter-Opfer-Ausgleich:

Im Unterschied zum Täter-Opfer-Ausgleich und anderen Mediationsmethoden […] betrachten Vertreter*innen von CA-TJ [Community Accountability-Transformative Justice, Anm. d. Verf.] Gewalt nicht losgelöst vom größeren Kontext systematischer Unterdrückung und eines Machtgefälles, das nicht einfach durch Mediation wiedergutgemacht werden kann. Daher müssen sowohl das individuelle gewalttätige Verhalten als auch die diesem Verhalten zugrunde liegenden sozialen und politischen Verhältnisse verändert werden.27

Von Täter*innen fordert der Ansatz dabei nicht nur eine Veränderung, sondern auch eine Reflexion und potenziell lebenslange Aufarbeitung des eigenen Verhaltens. Positive Bestärkung soll den kontraproduktiven Auswirkungen von Scham und Schuld entgegenwirken: Da sie in den entsprechenden Prozessen unterstützt werden, können sie Alternativen  erlernen – anders als in der sozialen Isolation des Gefängnisses etwa.

Werfen wir nun einen Blick auf die Forderung zurück, Strafen für häusliche und sexualisierte Gewalt zu erhöhen, so kann diese als kontraproduktive Symbolpolitik verworfen wer den. Obwohl dieser Vorschlag zwar vorgibt, die Sicherheit für feminisierte Personen zu erhöhen, profitieren nur jene hiervon, die sowieso schon verhältnismäßig privilegiert sind. Rassifizierte, marginalisierte und prekarisierte Personen hingegen werden zusätzlicher Gewalt ausgesetzt. Dass ausgerechnet von der Polizei, der Justiz und Gefängnissen erwartet wird, mehr Sicherheit zu schaffen, ist aus dem Grund abwegig, dass diese häusliche und sexualisierte Gewalt nicht etwa verhindern können, sondern vielmehr reproduzieren und sogar selbst ausüben. Indem sie zudem rassifizierte, marginalisierte und prekarisierte Individuen zu Sündenböcken stilisieren, bewirken sie effektiv eine Vergrößerung der Ungleichheit vor dem Gesetz wie auch sozialer Ungleichheit. Dass die tatsächlichen Ursachen von häuslicher und sexualisierter Gewalt dabei vollkommen vernachlässigt werden, wird größtenteils verschwiegen. Wie dargestellt geht es den Institutionen auch nicht darum, diese zu beseitigen: Da die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit das primäre Ziel dieser staatlichen Organe ist, werden institutionelle und strukturelle Ursachen nicht angegangen. Weil der häufig formulierte Anspruch, Verbrechen und Gewalt effektiv zu bekämp fen, mit dieser Realität keineswegs vereinbar ist, kann festgehalten werden, dass von Seiten des Staates leider keine Lösungen erwartet werden können. Diese müssen vielmehr in die eigene Hand genommen werden: Allein durch Community Accountability und Transformative Justice werden kollektive Praktiken in Aussicht gestellt, die die Interessen von Betroffenen zur Genüge berücksichtigen und auch strukturelle und institutionelle Ursachen von Gewalt adressieren.


1 Natürlich ist es nicht immer möglich, diese Ebenen klar voneinander zu trennen, da sich diese überschneiden und gegenseitig beeinflussen.

2 Leider liegen mir besagte Studien bis heute nicht vor. Ganz im Gegenteil scheinen Erhöhungen des Strafmaßes tatsächlich keinen Einfluss auf die Anzahl von Straftaten zu haben: „Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen (harter) Bestrafung und Kriminalitätsbelastung, vor allem, was schwerere Straftaten angeht, niedrig bzw. überhaupt nicht vorhanden.“ Helmut Kury, Mehr Sicherheit durch Strafe?, in: APuZ 40–41 (2007), S. 30–37, hier S. 36.

3 Vgl. Limo Sanz, Einleitung: Strafrechtsfeminismus und Queere Straflust, in: Melanie Brazzell (Hg.), Was macht uns wirklich sicher? Toolkit für Aktivist_innen, Berlin 2017, S. 57–60, hier S. 57

4 Vgl. Melanie Brazzell, Einleitung: Was macht uns wirklich sicher? Ein Einblick in den „Transformative Justice“ Ansatz, in Dies. (Hg.), Wasmacht uns wirklich sicher? Toolkit für Aktivist_innen, Berlin 2017, S. 4–10, hier S. 7

5 Vgl. ebd.

6 Sanz 2010, S. 57.

7 Ebd.

8 Für den gesamten Absatz vgl. ebd. Ähnlich argumentiert Wang: „Historically, appeals to the safety of wo- men have sanctioned the expansion of the police and prison regimes while conjuring the racist image of the Black male rapist.“ Jackie Wang, Against innocence. Race, Gender, and the Politics of Safety, o. O. 2014, S. 9.

9 Sanz 2010, S. 57.

10   Ebd.

11   Ebd., S. 57f. Wachsende soziale Ungleichheiten und der Abbau von sozialstaatlichen Strukturen führen unter anderem dazu, dass feminisierte Personen gewaltvolle Beziehungen nicht mehr verlassen können.Vgl. ebd., S. 58.

12 Vgl. ebd., S. 58.

13   Ebd.

14 Alex Vitale, The End of Policing (EPUB), London/New York 2017, Pos. 71.

15   Vitale 2017, Pos. 68. Vitale zitiert hier David Bayley, Police for the Future, Oxford 1996, S. 25–28. Brazzell argumentiert zudem, dass „Techniken wie Polizei, Gefängnis und Grenzen Gewalt (re)produzieren statt sie zu beenden.“ https://www.zeitschrift-luxemburg.de/sicherheit-von-links-der-transformative-justice-ansatz/, zuletzt abgerufen am 30. August 2021.

16 Alex Roslin, Police Wife. The Secret Epidemic of Police Domestic Violence, o. O. 2017, S. 6f. Meine Hervorhebung.

17 Sanz 2010, S. 58.

18   Lola Olufemi, Feminism, Interrupted. Disrupting Power, London 2020, S. 111.

19 Olufemi 2020, S. 113. Meine Hervorhebung.

20 Wang 2014, S. 4.

21 Ebd., S. 20.

22   Dass Schulungen zur Schaffung und Verbreitung von politischer oder kultureller Awareness etwas an rassistischen Polizeipraktiken ändern könnten, widerlegt Vitale. Vgl. Vitale 2017, Pos. 20. Das Problem ist auch nicht die mangelnde Diversität der Polizeikräfte: „Even the most diverse forces have major problems with racial profiling and bias, and individual black and Latino officers appear to perform very much like their white counterparts.“ Vitale 2017, Pos. 28.

23   Astrid Schilde, „white Men saving white Women from Men of Color“: rassistischer maskulinistischer Schutz in Deutschland, in: Melanie Brazzell (Hg.), Wasmacht uns wirklich sicher? Toolkit für Aktivist_innen, Berlin 2017, S. 64f, hier S. 65.

24 Wang 2014, S. 23.

25 https://www.zeitschrift-luxemburg.de/sicherheit-von-links-der-transformative-justice-ansatz/, zuletzt abgerufen am 30. August 2021

26   Ebd.

27 Ebd


Quelle: Lars Hardes, Against Carceral Feminism: Warum härtere oder höhere Strafen nichts gegen häusliche und sexualisierte Gewalt ausrichten können, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 13.12.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=151