Frauen in Konflikt- und Kriegssituationen: Beiträge, Herausforderungen und Potentiale.

Anwendung auf das Beispiel Ruanda und den Völkermord 1994

Paula Härtge (SoSe 2023)

Einleitung

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird zur Frau gemacht.”

Mit diesen Worten beschreibt Simone de Beauvoir, dass das soziale Geschlecht ein Konstrukt ist, dem gesellschaftliche Ideale und Überzeugungen zugrunde liegen. Frauen weltweit versuchen, ihren Alltag innerhalb dieses Konstrukts zu gestalten und immer wieder gibt es Bestrebungen, das Konstrukt aufzulösen. Doch auch 2023 zeigt der Global Gender Gap Report, dass die Lücke zur Parität erst um 68,4% geschlossen ist und wenn sich der Fortschritt im aktuellen Tempo weiterentwickelt, wird die Welt erst in 131 Jahren paritätisch sein.[1]

In Konflikt- und Kriegssituationen ändern sich Lebensrealitäten enorm, Normen und Werte verschieben sich. Dies wirkt sich auch auf die Alltagserfahrung von Frauen aus. Diskriminierung ihnen gegenüber verstärkt sich, sie sind verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt und agieren dennoch sowohl als Täterinnen und Opfer. Anhand des Völkermords in Ruanda, der sich 1994 ereignete und das Land in Schrecken zurückließ, wird in der folgenden Arbeit analysiert, wie Frauen Konfliktsituationen erleben und wie sich dies auf langfristige politische Entwicklungen auswirkt. Dem Konflikt wird besondere Bedeutung beigemessen, da das Land in den folgenden Jahren eine Vorbildfunktion hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit einnahm.

In der folgenden Arbeit geht es primär um Frauen, deren Rolle oft pauschalisiert betrachtet wird. Das Bewusstsein darum, dass Frauen keine homogene Gruppe sind, lag dieser Pauschalisierung stets zugrunde und wo möglich wurden Konkretisierungen vorgenommen. Für den Völkermord in Ruanda existieren nahezu keine Daten zu der Rolle von INTA*-Personen, weshalb eine diesbezügliche Einordnung ungenau und spekulativ wäre. Wann immer möglich, wurde versucht, das Binaritätsprinzip aufzubrechen und Daten abseits dieses Konstrukts zu verwenden. Der Völkermord in Ruanda und geschlechtliche Gewalt in Kriegen allgemein sind sensible Themen, deren Lektüre belastend sein kann. In dieser Arbeit werden explizit Handlungen geschlechtlicher Gewalt sowie Mord thematisiert.

Definition gender

Um verstehen zu können, inwiefern der Aspekt der Geschlechtsidentität Auswirkungen auf Konfliktsituationen hat, muss dieser vorerst definiert werden.

Die Basis dessen ist die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht. Als soziales Geschlecht bezeichnet man die „gesellschaftlich geprägte […] und individuell erlernte […] Geschlechterrolle. Diese Geschlechterrolle wird durch die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Organisation einer Gesellschaft und durch die in ihr geltenden rechtlichen und ethisch-religiösen Normen und Werte bestimmt.“[2] Der Begriff des biologischen Geschlechts bezeichnet alle körperlichen, geschlechtsspezifischen Merkmale.[3] Obwohl die beiden Begriffe des biologischen und sozialen Geschlechts eng miteinander zusammenhängen, sind sie doch voneinander unabhängig. Beide sind per definitionem nicht eindeutig und vor allem wandelbar. Geschlecht wird als Spektrum verstanden und das Prinzip der Binarität wird in aktuellen Betrachtungsweisen immer weiter abgelegt.[4] Das Konzept gender ist ein hierarchisches und erzeugt Ungerechtigkeiten. Minderheiten sind so nicht nur jeden Tag verschiedensten Formen der Diskriminierung ausgesetzt, sondern auch expliziten Gefahren, wie zum Beispiel einem schlechteren Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Doch nicht nur der Zugang wird deutlich erschwert, auch Behandlungen sind oft geprägt von Fehldiagnosen oder dem Absprechen von Entscheidungskompetenzen.[5]

gender und Konfliktbearbeitung

Die Stereotypisierung des sozialen Geschlechts kann in allen Lebensbereichen wahrgenommen werden und dennoch lässt sich dezidiert feststellen, wie sich diese Annahmen in gesellschaftlichen Krisen und Konflikten verhärten. Moderne Kriegsführung lässt die Grenzen zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre verschwimmen und die Fragestellungen der Sicherheitspolitik werden auf verschiedene Bereiche erweitert.[6] So werden Themen wie Klimagerechtigkeit, Ressourcenschutz und soziale Gerechtigkeit als Teil einer funktionierenden Sicherheitsstrategie verstanden. Um diese Strategien kohärent verfolgen zu können, spielen zunehmend auch nichtstaatliche und zivilgesellschaftliche Akteure eine große Rolle, da sie eine andere Expertise einbringen können.[7]

So sehr der Blickwinkel verschiedener Sicherheitsstrategien erweitert wird, noch ist die Realität der Kriegsführung eine andere. So zeigt sich weiterhin, dass Kriegssituationen bereits bestehende geschlechtliche Ungerechtigkeiten und Diskriminierung verstärken. Zum Beispiel nimmt die häusliche Gewalt zu, während Frauen gleichzeitig deutlich mehr Care-Arbeit übernehmen. Trotzdem ist ihr Zugang zu humanitären Hilfen deutlich eingeschränkt.[8] „Flüchtende und Opfer sexualisierter Kriegsgewalt sind meist Frauen und Menschen der LGBTIQ+ Community. Transpersonen in Kriegssituationen werden meist nicht anerkannt und geschützt.”[9] Auch in Friedensprozessen werden Frauenrechte häufig als irrelevant abgetan und die von ihnen erlittene Gewalt wird nicht aufgearbeitet. Täter*innen geschlechtsspezifischer Gewalt müssen sich für ihre Taten meist nicht verantworten und haben so häufig auch keine Konsequenzen zu befürchten. Hinzu kommt, dass Frauen in Friedensprozesse selten aktiv einbezogen werden.[10] „In Friedensabkommen wird die Frage der geschlechtsspezifischen Verfolgung und Gewalt meist ausgeklammert und bei der Umsetzung der Abkommen weitgehend ignoriert.”[11]

Ruanda und die Rolle von Frauen nach dem Völkermord 1994

Konflikt

Als in Ruanda 1994 circa 3,5 Millionen Menschen einem Völkermord zum Opfer fielen, geschah dies nicht aus dem Nichts, sondern stellte die Eskalation eines langanhaltenden Konflikts dar. Der Völkermord ereignete sich in knapp hundert Tagen zwischen April und Juli 1994 und traf vor allem Angehörige der Bevölkerungsminderheit der Tutsi.[12] Der dem Völkermord zugrunde liegende ethnische Konflikt reicht bis weit in die Kolonialzeit zurück. Ruanda wurde von 1884 bis 1916 von Deutschland kolonialisiert, bis Belgien nach dem Ersten Weltkrieg die unterdrückende Kolonialmacht wurde. Beide Staaten übten eine rassistische Kolonialpolitik aus, welche die Tutsi-Minderheit als herrschende Klasse etablierte. Die Tutsi-Minderheit hatte sich als Krieger*innen und Viehzüchter*innen ausgezeichnet, während die Hutu, welche circa 90% der Bevölkerung ausmachten, von der Landwirtschaft lebten. Die künstliche Hervorhebung der Tutsi erzeugte unüberbrückbare soziale Spannungen.[13] Vor 1884 gab es zwischen beiden Kulturen gemeinsame Traditionen und Verbindungen, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugten. Doch die Einführung sogenannter Personalpapiere, welche die Unterscheidung verschriftlichte, zerstörte diese Bindungen nachhaltig.[14] Die bestehenden Machtverhältnisse änderten sich 1959 durch Hutu-Aufstände, in Folge welcher tausende Tutsi aus Angst vor gewaltvollen Konsequenzen flohen. So hatte sich die Situation, als Ruanda 1962 unabhängig wurde, gewendet und eine autoritäre Hutu-Elite beherrschte das Land. Nicht alle Tutsi nahmen diese Machtumkehr stillschweigend hin und so formierte sich im burundischen Ausland ein Widerstand. 1972 kam es dort zu Massakern, bei welchen circa 300.000 Hutu starben. Als Folge davon kam es 1973 zu einem Militärputsch in Ruanda, bei dem Hutu Juvénal Habyarimana an die Macht kam. Dies ließ erst eine Hutu-Rachefeldzug vermuten, welcher entgegen aller Erwartungen jedoch ausblieb. Nach Drängen aus dem Ausland versuchte der neue Machthaber ein Proporzsystem einzuführen. Da die beiden Volksgruppen zu tief verfeindet waren, scheiterte der Versuch.[15]

Der Tutsi-Widerstand organisierte sich fortlaufend im Ausland und im benachbarten Uganda gründete sich die „Front Patriotique Rwandaise“ (FPR). Nach Ruanda kehrten sie 1990 als Kämpfer*innen zurück, um gegen das Regime vorzugehen. Sie eroberten dabei weite Teile des Nordens und stießen bis in die Landeshauptstadt vor. Unter ihnen befanden sich auch oppositionelle Hutu-Kämpfer*innen, was verdeutlicht, wie kompliziert die Situation und wie tief die Gräben zwischen den beiden Völkern waren.[16] „Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Arusha (Tansania) im August 1993 schien der Bürgerkrieg vorerst beendet. Das Abkommen sah unter anderem eine breit angelegte Übergangsregierung unter Einbeziehung der RPF sowie die Einführung eines Mehrparteiensystems vor.”[17] Daraufhin beschloss der Sicherheitsrat der UN die Resolution 872, um bei der Stabilisierung des Landes zu helfen. Diese Resolution erteilte jedoch keine Legitimation für ein militärisches Eingreifen. Radikale Hutu akzeptierten diese Resolution aber nicht, sie radikalisierten sich stattdessen weiter und gründeten Milizen. Der Rassenhass wurde immer weiter angeheizt, insbesondere durch Radiosendungen, in denen die Tutsi-Minderheit diffamiert wurde. Doch auch öffentliche Todeslisten führender Tutsi waren tägliche Praxis der Diskriminierung.[18] Als konkreter Auslöser des Völkermordes wird der Abschuss des Flugzeugs von Machthaber Habyarimana gewertet. Als direkte Konsequenz wurden bereits eine halbe Stunde später moderate Hutu-Politker*innen und zahlreiche Tutsi ermordet. Diese Mordserie nahm in den folgenden hundert Tagen Fahrt auf und die Weltbevölkerung sah zwischen April und Juni 1994 zu, wie fast die gesamte Minderheit der Tutsi und zahlreiche gemäßigte Hutu ermordet wurden.[19] Der Genozid endete, nachdem es der RFP gelang, ganz Ruanda zu erobern. Daraufhin wurde eine Übergangsregierung gegründet, maßgeblich bestehend aus Bizimungu, einem Hutu, als Präsident und Paul Kagame, einem Tutsi und Anführer der RPF, als Vizepräsident. [20]

Das Land war zerrüttet und die Aufarbeitung des Völkermordes dauert bis heute an. Da besonders Frauen von Gewalttaten betroffen waren, gründeten sich unterstützende Netzwerke. Die Frauen bekommen dort Unterstützung bei der Gesundheitsvorsorge, der Traumaverarbeitung und bei der Erfahrung aktueller sowie vergangener Gewalt.[21]

Geschlechtliche Gewalt während des Völkermords

Der Völkermord versetzte ein ganzes Land in Angst und Schrecken, die Einwohner*innen wurden Zeug*innen eines unvergleichlichen Blutbades. Während ehemals Verbündete zu Feind*innen wurden, fürchteten Tutsi um ihr Leben. Doch gerade in den ersten Tagen der Gewalteskalation wähnten sich viele Tutsi-Frauen in Sicherheit, da bei vergangenen Pogromen meist ausschließlich Tutsi-Männer angegriffen wurden. Diese falsche Einschätzung hatte verheerende Folgen, denn die Frauen entschieden sich sehr spät, ihre Häuser zu verlassen.[22] Auf ihrer Flucht werden viele Tutsi-Frauen nach Ausweisdokumenten gefragt, deren Herausgabe sie meist kollektiv verweigern. Die dem zugrunde liegende Hoffnung, nicht als Tutsi identifiziert werden zu können, wird zuhauf durch eine stereotype Zuordnung aufgrund physiognomischer Merkmale zunichte gemacht.

So müssen tausende Frauen schwere Vergewaltigungen ertragen, bei denen die Penetration oftmals auch durch Gegenstände wie abgeschlagene Flaschen erfolgt. Die Täter[23] lassen die Frauen schwer verletzt zurück, nicht selten werden Genitalien verstümmelt und Brüste oder Nasen abgeschnitten.[24]

Abgesehen von den direkten, schweren Verletzungen müssen die circa 500.000 Opfer der Vergewaltigungen noch viele langfristige Schäden erleiden. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert, der Zugang zu psychologischer Hilfe wird ihnen jedoch auch nach 1994 oft verwehrt. Außerdem infizieren sich viele Frauen mit HIV. Die vielen Kinder, die aus den Vergewaltigungen hervorgingen, werden als „vergessene Opfer” des Völkermordes bezeichnet. Sie müssen sich nicht nur der Stigmatisierung der Gesellschaft aussetzen, sondern haben oftmals ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihren Müttern. Da sie in den meisten Fällen nach 1994 geboren sind, wird ihnen die staatliche Unterstützung zur Verarbeitung des Völkermordes nicht zuteil.[25]

Frauen als Täter*innen

Während Tutsi-Frauen Opfer unvorstellbarer Verbrechen wurden, beteiligten sich auch tausende Frauen als Täterinnen am Völkermord. Zwar gibt es keine Zahlen dafür, wie viele Frauen Gewaltverbrechen ausübten, doch der Anteil der weiblich Inhaftierten belief sich auf circa 6%. Die Dunkelziffer an Frauen, die nicht nur direkte körperliche Gewalt ausübten, sondern auch Verstecke verrieten oder zum Morden aufhetzten, ist vermutlich deutlich höher.

Auch wenn die Anzahl der Täterinnen in verschiedenen Berichten stark variiert, wird meist deutlich: Der Großteil aller Täterinnen nahm eine führende oder Machtposition innerhalb der ruandischen Gesellschaft ein.

Die von den Frauen verübten Taten stehen im Widerspruch zu gängigen feministischen Theorien, die Frauen eine gewaltfreie Neigung zuschreiben. Es wurde also versucht, verschiedene Handlungsmotivationen der Frauen auszumachen. Die Antworten scheinen alle eindimensional und nicht alle Faktoren beachtend. So wird einigen Täterinnen ihr Frau-Sein abgesprochen, während andere Erklärungen die Täterinnen als Ungeheuer bezeichnen. Dabei wird sich darauf berufen, dass Frauen, die gegen Stereotype verstießen, keine richtigen Frauen sein könnten, weshalb sie Ungeheuer sein müssten. Außerdem ist oft die Sprache von männlicher Einflussnahme, welche die Frauen zu Täterinnen mache.[26] Es kann also keine alleinige Handlungsmotivation festgestellt werden. “Sowohl der Versuch, [das] Verhalten [der Frauen] zu entschuldigen, als auch, es als Bruch der üblichen Geschlechterrollen zu verurteilen, führt zu einem stereotypen Frauenbild und wird der Vielschichtigkeit, in der Frauen Gewalt erfahren und ausüben, nicht gerecht.”[27]

Auswirkungen auf die langfristige Entwicklung

UN Sicherheitsresolution 1325

Der Völkermord in Ruanda hinterließ viele Frauen mit schweren Traumata, deren Folgen weitreichend sind. Dennoch gibt es in der feministischen Forschung immer wieder Stimmen, welche die zeitlich folgenden progressiven Entwicklungen direkt mit dem Völkermord verbinden. Denn erstmals erkannte die Weltbevölkerung geschlechtsspezifische Gewalt als ein Kernelement der Kriegsführung gegenüber der Zivilgesellschaft an. So wurden auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking Frauen in bewaffneten Konflikten zum zentralen Thema gemacht. Anschließend forderte der UN-Botschafter Anwarul Chowdhury aus Bangladesch, dass sich auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit dem Thema auseinandersetzen müsse. Eine Resolution des Sicherheitsrats ist vor allem deswegen entscheidend, da sie völkerrechtlich bindend ist. Auf den Vorschlag Chowdhurrys hin formulierten mehrere NGOs und Kanada einen Gesetzesentwurf, der nach intensiver Lobbyarbeit schließlich abgestimmt wurde. Seit dem 31. Oktober 2000 sind somit die Rechte von Frauen explizit niedergeschrieben und rechtlich bindend.[28]

„Wesentliche Elemente der Resolution 1325 sind der besondere Schutz von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten sowie die Stärkung der Teilhabe von Frauen an politischen Prozessen und Institutionen bei der Bewältigung und Verhütung von Konflikten.”[29] Dabei wird anerkannt, dass Frauen in Konflikten nicht nur Opfer sind, sondern sie auch einen aktiven Beitrag in friedensschaffenden Prozessen leisten.[30]

Frauenrechte in Ruanda heute

Zwei Jahrzehnte nach dem Völkermord wurde Ruanda häufig als sehr fortschrittliches Land hinsichtlich der Gleichberechtigung bezeichnet und verdiente sich Beinamen wie “Paradies für Frauen”. Das lag vor allem an der 2005 gesetzlich eingeführten Quotenregelung, die Frauen mehr Führungspositionen ermöglichen sollte. Diese erwies sich als erfolgreich und so waren 2019 61,3% des Parlaments weiblich besetzt. Insbesondere zivilgesellschaftliche Akteure (vor allem Menschenrechtsorganisationen) kritisierten jedoch die vermeintliche Progressivität des Landes und taten sie als reine Symbolpolitik ab.[31] Der größte Kritikpunkt ist dabei die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Rolle der Frau. Während Frauen in öffentlichen Positionen nicht nur repräsentative Macht haben, sind im häuslichen Umfeld patriarchale Strukturen fest verankert. Es wird als gegeben vorausgesetzt, dass Frauen die Care-Arbeit erledigen, während Männer als unbestrittenes Familienoberhaupt angesehen werden.[32] Im jüngsten Global Gender Gap Report (2023) zeigt sich zudem, dass das Land auf dem Weg zur Parität Rückschritte macht. Während Ruanda im Vorjahr noch Platz 6 der 146 bewerteten Länder belegte, liegt es 2023 nur noch auf Platz 12. Begründet ist dieser Rückschritt vor allem in der Covid-Pandemie und ihren wirtschaftlichen sowie sozialen Auswirkungen.[33] Der Sustainable Development Report postuliert bei SDG 5[34], dass bei diesem Ziel weiterhin signifikante Herausforderungen bestünden, der Wert verbessere sich jedoch.[35]

Fazit

Frauen werden zu Frauen[36] gemacht, auch und gerade in Konflikt- und Kriegssituationen. Diese stellen Frauen vor besondere Herausforderungen. Abgesehen von im Krieg üblichen Gefahren, sind Frauen starker Diskriminierung ausgesetzt. Meist haben Frauen auch abseits von Krisensituationen eine niedrige soziale Stellung, weshalb sie die Auswirkungen von Kriegen in besonderer Härte erleben müssen. Bereits gängige und veraltete Rollenbilder werden verstärkt gelebt und Frauen müssen sich diesen unterordnen. Die größte Gefahr für Frauen stellt geschlechtliche Gewalt dar. Frauen erfahren nicht nur massive körperliche Verletzungen, sondern werden auch psychisch erniedrigt. Der Einsatz geschlechtlicher Gewalt erfolgt oft systematisch und die betroffenen Frauen haben kaum Widerstandsmöglichkeiten.[37]

Insbesondere nach Kriseneskalationen muss das Augenmerk in friedensfördernden Prozessen auch auf der Geschlechtergerechtigkeit liegen. Ruanda kann hier als Positivbeispiel dienen: Trotz der unvergleichbaren Gewalt, der Frauen ausgesetzt waren, nahm das Land eine Vorreiterrolle hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit ein und konnte schnell enorme Fortschritte verzeichnen. Auch Jahrzehnte nach dem Völkermord gibt es politische Programme, die dem Erreichen der Geschlechtergerechtigkeit dienen. Dennoch muss an dieser Stelle auch betont werden, dass in Ruanda allen positiven Entwicklungen zum Trotz auch Jahre nach dem Völkermord noch ungerechte Gesellschaftsverhältnisse herrschen, in denen geschlechtliche Diskriminierung Gang und Gäbe ist. Menschenrechtsorganisationen berichten regelmäßig von Menschenrechtsverletzungen. So lässt sich zwar sagen, dass Frauenquoten und weibliche politische Teilhabe das politische Geschehen maßgeblich ändern – doch um Geschlechtergerechtigkeit tatsächlich zu erreichen, müssen auch gesellschaftliche Strukturen gewandelt und Stereotype aufgebrochen werden.

Frauen werden in Kriegen zu Frauen gemacht. Neben besonderen Gefahren bedeutet das auch, dass Frauen friedensfördernde Prozesse anstoßen und insbesondere nach Krisensituationen zur Erstellung rechtlicher Leitlinien beitragen.

Literaturverzeichnis

Internetquellen

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[1] vgl. Hrsg.: World Economic Forum, Global Gender Gap Report. 2023,  S. 5 https://www3.weforum.org/docs/WEF_GGGR_2023.pdf (02.08.2023)

[2] Arne Wiechman: gender. In: Lexikon der Entwicklungspolitik, o.A. https://www.bmz.de/de/service/lexikon/gender-14414 (28.07.2023)

[3] vgl. Arn Sauer, Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung: Geschlecht, biologisches, 2018 Geschlecht, biologisches | Geschlechtliche Vielfalt – trans* | bpb.de (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[4] vgl. Dagmar Richter:  Gender in Bildungsthemen, 19.03.2015 https://www.bpb.de/lernen/politische-bildung/193100/gender/ (letzter Zugriff: 28.07.2023)

[5] vgl. o.A.: gender and health, in: Overview, o.A. Gender (who.int) (letzter Zugriff: 28.07.2023)

[6] vgl.Anne-Sophie Friedel: Editorial, Moderne Kriegführung, in: ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG. 35–36/2016. S. 3 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/232975/moderne-kriegfuehrung/ (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[7] vgl. Robin Faißt (CARE Deutschland), Marieke Fröhlich (Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit), Dr. Ines Kappert (Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-BöllStiftung: Annäherung an eine feministische Außenpolitik Deutschlands. 2022 https://www.frauenrat.de/wp-content/uploads/2022/08/E-Paper-Feministische-Aussenpolitik-FINAL-Netzwerk-1325.pdf (02.08.2023)

[8] vgl.Hrsg.: UN Women and CARE International: RAPID GENDER ANALYSIS OF UKRAINE. o.A., 2022, S.7

[9] Victoria Scheyer und Simone Wisotzki: Feministische Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung. 2022 Feministische Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung – PRIF BLOG (02.08.2023)

[10] vgl. Hrsg.: Amnesty International: GEWALT GEGEN FRAUEN IN UND NACH BEWAFFNETEN KONFLIKTEN. o.A Frauenrechte: Gewalt gegen Frauen in und nach bewaffneten Konflikten — amnesty.ch (02.08.2023)

[11] Hrsg.: Amnesty International: GEWALT GEGEN FRAUEN IN UND NACH BEWAFFNETEN KONFLIKTEN. o.A. https://www.amnesty.ch/de/themen/frauenrechte/gewalt-gegen-frauen-im-krieg/gewalt-gegen-frauen-nach-dem-krieg (02.08.2023)

[12] vgl. Thorsten Schilling, Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung: Gedenken an den Völkermord in Ruanda. 2020 Gedenken an den Völkermord in Ruanda | Hintergrund aktuell | bpb.de (02.08.2023)

[13] vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[14] vgl. Thorsten Schilling, Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung: Gedenken an den Völkermord in Ruanda. 2020 Gedenken an den Völkermord in Ruanda | Hintergrund aktuell | bpb.de (02.08.2023)

[15] vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[16] vgl. vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[17] Thorsten Schilling, Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung: Gedenken an den Völkermord in Ruanda. 2020 Gedenken an den Völkermord in Ruanda | Hintergrund aktuell | bpb.de (02.08.2023)

[18]vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[19]vgl.Hrsg.: Deutscher Bundestag: Entstehung und Entwicklung des Genozids in Ruanda 1994 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Nicht-Intervention. 2007 wd-2-029-07-pdf-data.pdf (bundestag.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[20] vgl. Thorsten Schilling, Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung: Gedenken an den Völkermord in Ruanda. 2020 Gedenken an den Völkermord in Ruanda | Hintergrund aktuell | bpb.de (02.08.2023)

[21] vgl.  Dörte Hinrichs: Der lange Weg zur Versöhnung. 2020 Ruanda nach dem Völkermord – Der lange Weg zur Versöhnung (deutschlandfunk.de) (letzter Zugriff: 03.08.2023)

[22] Hier muss betont werden, dass diese Fehleinschätzung keine Korrelation zur Verantwortung für alle folgenden Taten hat. Was den Tutsi-Frauen angetan wurde, ist unabhängig ihrer Handlungen zu bewerten und zu betrachten.

[23] Das generische Maskulinum wird hier bewusst verwendet.

[24] vgl. Karen Krüger: Die Vergewaltigung von Tutsi-Frauen im rwandischen Genozid 1994. In: Feministische Studien, Band 22, 2004, S. 282

[25] vgl. Eva de Vries: Ruandas “vergessene Opfer”. 2011 Ruandas „vergessene Opfer“ – DW – 10.08.2017 (02.08.2023)

[26] vgl. Nicole Hog: Frauen im Völkermord in Ruanda: Mütter oder Monster?. 2011 Frauen im Völkermord in Ruanda: Mütter oder Monster? | Heinrich-Böll-Stiftung (boell.org) (02.08.2023)

[27] ebd.

[28] vgl. Bettina Metz, Hrsg.: UN Women: Die Resolution 1325 mit der Agenda „Frauen, Frieden Und Sicherheit“,

 2021 Die Resolution 1325 mit der Agenda „Frauen, Frieden Und Sicherheit“ – !UN Women Deutschland (02.08.2023)

[29] ebd

[30]vgl. ebd.

[31] vgl. Antonio Cascais: Ruanda: Ein Paradies für Frauen?.  in: Deutsche Welle Politik, 2019. Ruanda: Ein Paradies für Frauen? – DW – 07.03.2019

[32] vgl. Marlene Eichhorn: RUANDA ALS VORBILD? WIE FREI IST DIE FRAU WIRKLICH?. In Zeitgeist.de, 2022. Ruanda als Vorbild? Wie frei ist die Frau wirklilch? – Zeitgeister – Internationale Perspektiven aus Kultur und Gesellschaft – Goethe-Institut  (letzter Zugriff: 02.08.2023)

[33] vgl. Hrsg.: World Economic Forum, Global Gender Gap Report, 2023,  S. 11 https://www3.weforum.org/docs/WEF_GGGR_2023.pdf (letzter Zugriff: 02.08.2023)

[34] Die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs) sind Teil der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Diese Agenda bildet den Rahmen für Umwelt- und Entwicklungspolitik weltweit. Ziel 5 der Agenda ist das Erreichen der Geschlechtergerechtigkeit. (vgl. Jens Martens und Wolfgang Obenland: Globale Zukunftsziele für nachhaltige Entwicklung. 2017, S. 7)

[35] vgl. Jeffrey D. Sachs, Guillaume Lafortune, Grayson Fuller and Eamon Drumm: SUSTAINABLE DEVELOPMENT REPORT 2023 Implementing the SDG Stimulus Includes the SDG Index and Dashboards: 2023, S. 4 Sustainable Development Report 2023 (sdgindex.org)

[36] Auch in Kriegen sind Frauen keine homogene Gruppe. Die der Aussage zugrunde liegende These geht davon aus, dass Frauen anders an und in Kriegen leiden als Männer.  (vgl. Jana Arloth und Frauke Lisa Seidensticker, Hrsg.:  Deutsches Institut für Menschenrechte: Frauen als Akteurinnen in Friedensprozessen. Berlin, 2011, S.10)

[37] vgl. Jana Arloth Frauke und Lisa Seidensticker, Hrsg.: Deutsches Institut für Menschenrechte: Frauen als Akteurinnen in Friedensprozessen. Berlin, 2011, S.10


Quelle: Paula Härtge, Frauen in Konflikt- und Kriegssituationen: Beiträge, Herausforderungen und Potentiale, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 23.01.2024, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=430

Mental Load – feministischer Kampfbegriff oder fruchtbares Konzept, um Geschlechtergerechtigkeit neu zu denken?

Eva Schießl (WiSe 2022/23)

„You should´ve asked!“[1] – sagt der Familienvater zur Familienmutter im gleichnamigen Comic der feministischen Bloggerin und Comicautorin Emma in der englischen Übersetzung des französischen Originals. „I would´ve helped!“[2], schiebt er hinterher. Die Situation ist die folgende: Die Mutter versucht, die beiden Kinder abendessenstechnisch zu versorgen und gleichzeitig für die Gästin des Paars zu kochen – mit allem, was dazu gehört. Dabei passiert es, dass das Essen überkocht. Auf den Ausruf des Mannes, was sie denn nur getan hätte, antwortet sie wütend, dass sie eben alles mache, woraufhin das oben genannte Zitat fällt.

So weit, so vertraut? Vor allem in heterosexuellen Partner:innenschaften mit Kindern tritt dieses Phänomen auf, doch auch von Freund:innen in ebensolchen Beziehungen ohne Nachwuchs haben sicher viele Frauen* voneinander schon den Satz “Sieht der denn einfach nicht, was alles getan werden muss?“ gehört. Einen Namen hat dieses Phänomen auch: Mental Load. Der Begriff beschreibt hauptsächlich die „Last der alltäglichen, unsichtbaren Verantwortung für das Organisieren von Haushalt und Familie“[3], die Initiative Equal Care Day nimmt aber auch die Gedankenarbeit für die Koordination beruflicher Aufgaben, sowie die Beziehungsarbeit in beiden Lebensbereichen in die Definition mit auf.[4] Diese Last übernehmen meist die Frauen*. Die Diskussion um Mental Load nahm anlässlich von Covid-19, in Verbindung mit dem Diskurs um Care-Arbeit und vermuteter Re-Traditionalisierung der Familie, medial an Fahrt auf. Zum Beispiel in der Studie Parenthood in a Crisis 2.0 erwies sich die subjektiv wahrgenommene, vermehrte Überbelastung von Frauen* in der Pandemie als wesentlich höher als die der Männer, ganz unabhängig davon, ob Kinder mit im Haushalt lebten.[5] Die Autorinnen vermuten als Begründung neben dem auch schon vor der Pandemie bestehenden Gender Care Gap die ungleiche Verteilung des größer gewordenen Mental Loads.

Was ist das nun schon wieder für ein neu ersponnenes Modewort, lediglich erfunden, um Futter für die Feuilletons zu liefern? Ein weiterer feministischer Kampfbegriff, der die angebliche Benachteiligung von Frauen* beweisen soll? Oder ist Mental Load schlicht und einfach ein sehr brauchbares Konzept, um die unsichtbare Mehrbelastung von Frauen* sichtbar zu machen und anhand dessen die Gleichstellung der Geschlechter neu zu denken? So viel lässt sich schon verraten: Neu ist die Idee nicht. Bereits in den 1950ern beschäftigte sich das Müttergenesungswerk damit, nur nicht unter diesem Namen – der entstammt den 70ern, kommt aber erst jetzt im öffentlichen Diskurs vor.[6] Und dass Mental Load für den Feminismus und die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit absolut notwendig ist, statt Kampf- oder Modebegriff zu sein, soll dieser Essay verdeutlichen.

Der Begriff Mental Load lässt sich, wie bereits angeklungen, im größeren Feld der Care-Arbeit verorten. Bekannt ist mittlerweile, dass Sorgearbeit auch Arbeit ist – und zwar unbezahlte. Sehen wir uns nun (leider sehr heteronormativ) die heterosexuellen Beziehungen mit und ohne Kinder an, denn hier wird das Mental-Load-Ungleichgewicht besonders markant deutlich (was nicht heißt, dass es in anderen Beziehungsformen nicht auch auftreten kann und dort ebenfalls untersucht werden muss – Mental Load ist für sich genommen zuerst einmal nicht geschlechtsspezifisch).

In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wird die Erwerbsarbeit weitgehend noch immer den Männern zugeordnet. Alle Arbeit, die die sogenannte Reproduktion betrifft, wird den Frauen* überlassen.[7] Obwohl die Befürwortung dieses Modells abnahm und -nimmt, stellt es sich in der Realität vielerorts noch ziemlich genau so dar.[8] Selbst, wenn Frauen* ebenfalls einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ändert sich das Verhältnis in der Reproduktionsarbeit nicht.[9] Allein hier müssten schon alle Alarmglocken schrillen. Bereits 1989 veröffentlichte Arlie Hochschild eine Studie, die die schon im Vorhinein vermutete Second Shift der Frauen* nach der Lohnarbeit Zuhause bestätigte.[10] Regina Becker-Schmidt spricht von der doppelten Vergesellschaftung der Frau*, was bedeutet, dass sie sowohl erwerbstechnisch als auch auf Sorgearbeit bezogen ihre Arbeitskraft einsetzen muss.[11] Entscheidend ist, dass es sich hierbei wohl kaum um eine individuelle Problematik handelt. Vielmehr spielt sich das Ganze auf gesellschaftlicher bzw. struktureller Ebene ab.[12]

Nun hat sich in den letzten Jahren sicherlich einiges getan. Die Verteilung der Care-Arbeit wird zumindest zunehmend verhandelt, neue Vaterrollen werden definiert, Männer sind zunehmend bereit, sich zu kümmern. Und trotzdem: Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wenden Frauen* im Schnitt täglich immer noch 52,4 Prozent mehr Zeit für Care-Arbeit auf. Haben sie Kinder, sind es ganze 83,8 Prozent mehr.[13] Durch den Mental Load kommt außerdem die Komponente der Gedankenarbeit dazu, die auch in emanzipierten Haushalten oft nicht mitgedacht wird. In ihrer Studie zu diesem Thema von 2019 stellt Allison Daminger fest, dass immerhin die Höhe der jeweiligen Gesamtarbeitsstunden von Eltern, wenn man Lohn- und Sorgearbeit jeweils aufrechnet, nicht mehr signifikant geschlechtsspezifisch ist.[14] Die Daten ihrer Studie legen aber nahe, dass die Erklärung hierfür ist, dass die kognitive Arbeit, wie sie sie nennt, bisher in Studien nicht miteinbezogen wurde.[15] Das zeigt, wie wichtig es ist, sich nun endlich damit zu beschäftigen.

Bekannt wurde das Phänomen Mental Load durch Comics, wie den oben erwähnten der Autorin Emma, sowie in Deutschland durch das Buch Raus aus der Mental-Load-Falle von Patricia Cammarata.[16] Zusammenfassend kann man Mental Load drei Eigenschaften beziehungsweise Mechanismen zuschreiben: Er ist erstens unsichtbar, weil er innerlich stattfindet und abstrakt ist, zweitens ist er zeitlich und räumlich unbegrenzt, und drittens dauerhaft, da es um das (emotionale) sich Kümmern von nahen Menschen geht.[17] Diese Charakteristika machen es nicht verwunderlich, dass Mental Load auch von den Leittragenden selbst oft nicht erkannt wird. Im Folgenden werden einige Einwände skizziert, die so oder so ähnlich erhoben werden, um der Bedeutung von Mental Load den Wind aus den Segeln zu nehmen oder, um Mental Load in eine Ecke vermeintlich unnötiger feministischer Erfindungen zu stellen. Ich möchte zeigen, wie die Argumente recht schnell entkräftet werden können. So soll auch das Konzept Mental Load noch klarer werden.

„Das bisschen Hausarbeit – Müll runterbringen dauert grad mal eine Minute! Und denken muss man da nun wirklich nicht.“ Zuerst also eine ganz klassische Aussage, die eine recht unreflektierte Sicht auf Care-Arbeit allgemein widerspiegelt. In der Summe sind es aber eben viel mehr Dinge als der Müll, kann man direkt erwidern. Und selbst an den muss man denken bzw. bemerken, dass der Mülleimer voll ist und ihn dann auch wirklich leeren. Tatsächlich umfasst Care-Arbeit sehr viel mehr: Kindererziehung und die dazugehörigen Entscheidungen, alle Arbeiten im Haushalt wie Einkaufen, Kochen, Putzen, Aufräumen, Waschen, um nur eine Auswahl zu nennen. Zusätzlich, und genau da kommt Mental Load ins Spiel, geht es um die Gesamtorganisation und darum, den Überblick zu behalten, sowie die Bedürfnisse aller abzudecken und für alle ein offenes Ohr zu haben. Nur ein Beispiel: Bei einem Termin bei dem:r Zahnärzt:in geht es eben nicht nur um die Begleitung des Kindes dorthin, also den eigentlichen Vorgang. Tatsächlich beinhaltet ein solcher Termin das rechtzeitige Vereinbaren des Termins, wenn wieder eine Kontrolle ansteht. Es geht um die Absage des parallel stattfindenden Fußballtrainings, darum, die Krankenkassenkarte mitzunehmen (und zu wissen, wo sie sich befindet) und das Kind und den Partner, der es begleiten soll, daran zu erinnern, dass der Termin morgen stattfindet und vorher die Zähne geputzt werden müssen. Von der emotionalen Begleitung des Kindes, die ein solches Vorhaben erforderlich machen kann, mal ganz zu schweigen.

Daran lässt sich schon erkennen: Dieser eine vermeintlich kleine Vorgang hat ganz schön viele Unteraufgaben und ist mit Sicherheit nicht der einzige, der bedacht werden muss. Die Überbelastung von Frauen*, die diese Arbeiten größtenteils alleine übernehmen, kann gesundheitliche Auswirkungen haben. Physisch können sie Schlafprobleme, Kopf- oder Rückenschmerzen verursachen, psychisch zu Erschöpfung, Depression und Angst führen.[18]

Was der Aussage zum Thema Müll des Weiteren entnehmbar ist: Eine fehlende Wertschätzung für die Aufgaben der Sorgearbeit. Wird hingegen anerkannt, was und wie viel da geleistet wird, steigt das Selbstwertgefühl, wodurch der Mental Load abnimmt.[19] Und um diese Anerkennung zu erreichen, die ihnen eben meist nicht erwiesen wird, verausgaben Mütter sich dann oft noch mehr.[20] Dabei geht es ja nicht nur um individuelle Wertschätzung, sondern vielmehr um die gesellschaftliche Anerkennung der Leistung. Interessant ist in diesem Zusammenhang zudem, was Franziska Schutzbach in Bezug auf die Forschung von Lisbeth Bekkengen unter „Paradoxie der Anerkennung“[21] zusammenfasst: Beteiligen sich Männer an Sorgearbeit, werden sie gelobt, bei Frauen* wird sie vorausgesetzt.[22] All das darf aber natürlich nicht zu der irrigen Annahme führen, dass mit ein bisschen Klatschen alles erledigt wäre.

„Frauen* können das doch auch besser mit dem Kümmern um alle, liegt irgendwie in ihrer Natur.“– darauf lässt sich einfach und klar antworten: Nein. Doing gender wird nun wirklich lang genug diskutiert, sodass ein solches Argument eigentlich nicht mehr existieren dürfte. Statt Genetik geht es um Sozialisation. Den Menschen wird überall und vom ersten Atemzug an vermittelt, wie eine gute Mutter zu sein hat, und durch die ständige Präsenz dieses Bildes wird es Gesellschaft und Individuum eingebrannt.[23] Haben Frauen* einen Job, so stehen sie im Generalverdacht, die Familie zu vernachlässigen, kümmern sie sich nur um die Familie, leisten sie angeblich nicht genug. Außerdem flüstert ihr gesamtes Umfeld ihnen konstant ins Ohr, dass sie emotionaler seien, mehr Empathie hätten – klar, dass man dann denkt, dass man dieser Erwartung entsprechen muss. Auch die Erziehung ist weit davon entfernt, geschlechtsneutral zu sein und sieht für kleine Mädchen* Puppen, um die man sich zu kümmern hat, vor. Aus Sicht der Rollentheorie übernehmen in heterosexuellen Paaren, die Kinder erwarten, Mütter und Väter diejenigen Rollen, die ihnen vorgelebt wurden, mit allen Normen, Werten und Erwartungen.[24] Es gibt wahrlich nicht viele Fälle, in denen diese nicht dem Klischee entsprachen. Und auf die Person, die weniger Lohnarbeit leistet, um mehr Sorgearbeit zu übernehmen, fällt meist auch der Mental Load zurück.[25] Das muss nicht die Frau* sein, ist aber bekanntermaßen in der Regel die Frau*. Und natürlich, wenn Frauen* dann alle diese Aufgaben übernehmen und quasi in sie hineinwachsen, selbstverständlich werden sie dann auch besser darin sein als Menschen, die dies viel weniger tun. Es geht also um Übung und nicht um naturgegebene Fähigkeiten. Und zwar sowohl beim Windeln wechseln oder Kinder ernähren als auch dabei, die Gesamtverantwortung in einer Familie zu übernehmen. In ihrem Beruf können Männer das ja übrigens auch meistens mit dieser Verantwortung.

„Alles, was mir meine Frau* aufträgt, erledige ich zuverlässig! Wir teilen uns das gerecht auf.“ Und genau hier liegt der springende Punkt, warum das hier keine faire Arbeitsteilung ist: Weil nicht beide gleichermaßen die Verantwortung tragen, und der Mann oft nur Aufträge, an die die Frau* denken muss, erfüllt – das heißt der Mental Load bleibt ungeteilt. Frauen* bleiben die Manager:innen, die durch ihre Position dauerhaft mit der inneren To-Do-Liste konfrontiert sind.[26] Aus der Aussage lässt sich herauslesen, dass eine Auftragserteilung erwartet wird, und zu erledigende Vorgänge von selbst gegebenenfalls nicht erkannt oder erledigt werden. Das zementiert die Gesamtverantwortung der Frau* und wenn sie dann, wie Emma in ihrem Comic schreibt und zeichnet, auch noch einen großen Teil der Anforderungen selbst absolvieren soll, übernimmt sie insgesamt ¾ der Arbeit.[27] Problematisch ist außerdem, dass Paare, die sich die Sorgearbeit vermeintlich gerecht aufteilen und auch sehr explizit und überzeugt die Gleichberechtigung verfolgen, auf diese Weise manchmal sogar die kognitive Mehrarbeit der Frauen* verschleiern.[28] Es klingt absurd, und doch ist dieser Punkt sehr einleuchtend: Nur weil man an die Gleichstellung aller Menschen als Ideal glaubt, heißt das nicht, dass man nicht auch in einer Welt sozialisiert wurde, die einem etwas anderes unterjubeln will. Und deshalb ist es zentral, sich konstant zu fragen, ob man die Werte, die man vertritt, auch wirklich so lebt. Dafür muss nicht zuletzt das Selbstbild immer und immer wieder mit der gelebten Praxis abgeglichen werden. Die Faktenlage zeigt, dass das notwendig ist: Partner:innen, die sich beide kümmern und Sorgearbeit übernehmen, teilen sich noch lange nicht den Mental Load.[29] Interessant ist auch, dass Entscheidungen trotzdem fast immer unter der gleichen Beteiligung beider gefällt werden, das liegt laut Studie daran, dass diese mit Geltungsbewusstsein und Ansehen assoziiert werden.[30] Wer aber tendenziell die Vorarbeit für die Entscheidung auf sich nimmt, kann man sich denken.

„Um die Kinder kümmere ich mich wirklich sehr viel. Das ist auch Mental Load nach einem langen Arbeitstag!“ Auch wenn das nicht als Mental Load bezeichnet werden kann, ist das an sich ein guter Anfang. Dennoch erweist sich die Angelegenheit als ähnlich wie oben: Sich um Nachwuchs zu kümmern bedeutet nicht, die Absolution erteilt zu bekommen, sich auch in anderen Care-Arbeits-Bereichen einzubringen. Denn oft verschiebt sich in einer solchen Konstellation die Verantwortlichkeit nur. Über Haushaltsaufgaben, die Frauen* in der Folge der abgegebenen Kinderbetreuung zu einem noch größeren Teil übernehmen, wird nicht mal mehr verhandelt – was wiederum die Belastung der Frauen* abermals unsichtbarer macht.[31] Darüber hinaus kriegen Väter dann meist die Sahnehäubchen der Zeit mit den Kindern ab, wie zum Beispiel Ausflüge.[32]

„Die wollen ja auch alles managen und selbst machen, meine Hilfe wird gar nicht angenommen!“ Väter haben also in diesem Argument aufgrund der angeblich gluckenhaften Mutter gar keine Möglichkeit, sich einzubringen, auch wenn sie es wollen. Hier kommt der Begriff maternal gatekeeping ins Spiel, der klassischerweise so viel bedeutet wie die mütterliche Befähigung dazu, die väterliche Beschäftigung mit den Kindern zu beschneiden.[33] Ohne nun genauer auf den Begriff eingehen zu können, da dies den Rahmen hier sprengen würde, klingt er doch recht gegensätzlich zum Konzept von Mental Load. Dass es dieses Phänomen geben mag, dass Mütter die Hilfe von Vätern abweisen, mag sein, aber es kann fälschlicherweise natürlich auch missbraucht werden, indem man so die männliche Nicht-Beteiligung an Care-Arbeit rechtfertigt. Und maternal gatekeeping ignoriert zudem komplett den bereits erwähnten Einfluss von Sozialisation und Erwartung an die Frauen*. Auch Franziska Schutzbach entkräftigt dieses Begründungsmuster recht bündig, indem sie auf Patricia Cammarata verweist: Einerseits, sagt sie, wird nicht erledigte Sorgearbeit auf die Frauen* zurückgeführt – und nicht auf die Männer.[34] Statistisch viel bedeutsamer als das maternal gatekeeping sei aber die geringe Anstrengung von Männern, sich für Haushaltsdinge verantwortlich zu fühlen. [35] Das wiederum hat natürlich auch mit dem Abgeben von jahrtausendealten Privilegien zu tun. Und seine Privilegien abgeben muss man eben wirklich wollen und setzt voraus, sich dieser und der damit verbundenen Machtungleichgewichte schmerzlich bewusst zu werden.

Wie kann das Konzept Mental Load nun weitergedacht werden, in die alltäglichen Überlegungen eingebettet werden und was ist der größere Rahmen, in dem das Thema betrachtet werden muss? Zunächst ist es wichtig, Care-Arbeit und damit auch den Mental Load intersektional zu denken. Strukturelle Diskriminierung spielt hier eine entscheidende Rolle – wird man marginalisiert, wird selbstverständlich auch die emotionale Last höher.[36] Um Care-Arbeit outzusourcen, damit Frauen* eben nicht überlastet sind, werden migrantisierte Frauen* dafür geringfügig entlohnt eingestellt.[37] Care-Ketten wie diese reproduzieren nicht nur transnationale Ungleichheiten, sie verursachen logischerweise ebenfalls einen großen Mental Load für die Betroffenen, die die kognitive Arbeit für eine andere Familie erledigen und sich nicht um ihre gegebenenfalls eigene kümmern können.

Praxistauglich gemacht hat Patricia Cammarata das Thema Mental Load, indem sie konkrete Tipps gibt: Man sollte ganz genau aufdröseln, welche Unterpunkte einzelne Aufgaben beinhalten.[38] Darauf aufbauend können ganzheitliche Aufgabenbereiche verteilt werden, für die komplett nur die jeweilige Person verantwortlich ist, inklusive des Mental Loads.[39] Helfen können dabei die Tests der Initiative Equal Care Day, um herauszufinden, wer bisher wie viel Arbeit übernimmt.[40] Schaut man auf eine größere Ebene, so wird leider auch klar: das Problem ist systemimmanent, denn nur aufgrund von unbezahlter Sorgearbeit kann der Kapitalismus bestehen. Ein Wandel des wirtschaftlichen Systems und eine ganz grundlegende Macht- und Ressourcenumverteilung sind aus aktueller feministischer Perspektive unabdingbar.[41] Dazu möchte ich kurz die konkrete Idee der Soziologin Frigga Haug erwähnen. Sie stellte 2008 ihre Vier-in-eine-Perspektive vor, die die Sinnhaftigkeit der großen Bedeutung, die der Erwerbsarbeit in unserer jetzigen Zeit zukommt, hinterfragt.[42] Sie schlägt vor: Von den 16 Stunden, die Menschen am Tag circa wach sind, sollen je vier für Lohn-, Care-, kulturelle Selbstverwirklichung und politisches Engagement zur Verfügung stehen.[43] Wie diese visionäre Utopie umgesetzt werden könnte, sei dahingestellt, aber eines steht fest: Ein Umdenken in Bezug auf die Lohnarbeit brauchen wir jedenfalls, wenn wir Care-Arbeit mehr Anerkennung verschaffen und gerechter verteilen wollen.

Diese genauere Betrachtung von Mental Load hat gezeigt, dass er kein sinnfreies Konzept sein kann, um die Gleichstellung der Geschlechter in Sachen Care-Arbeit zu fokussieren – im Gegenteil: Durch seine Unsichtbarkeit ist das Phänomen zwar schwer erkennbar, spiegelt aber sehr klar unsere Sozialisation wider, nach der Frauen* sich wie Projektleiterinnen um Kinder, Haushalt und Emotionen zu kümmern haben. Das muss sich ändern, indem wir versuchen, den Mental Load sichtbar zu machen, ihn produktiv zu nutzen und so Frauen* zu entlasten. Es lohnt sich anhand des Begriffs für eine wirklich faire Aufteilung von Sorgearbeit zu kämpfen, um so auch unseren eigenen Kindern ein anderes Modell vorzuleben und dabei aufzuhören, uns selbst auszubeuten. Das wäre zumindest ein kleiner Schritt in Richtung der Abschaffung des Patriarchats. Doch die abschließende Beobachtung, dass gefühlt circa 99% der Literatur über Mental Load von Frauen* geschrieben wurde (als natürlich nicht repräsentativer, kleiner Anhaltspunkt kann zumindest das Literaturverzeichnis dieses Essays gelten), zeigt das unbändige (wissenschaftliche) Interesse der männlichen Seite, die Dinge wirklich anzugehen. Eines steht fest: Es bleibt noch viel zu tun.

Literatur

Becker-Schmidt, Regina: Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften, 65-74.

Bücker, Teresa: Ist es radikal, sich die Gedankenarbeit zu teilen? In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 08.12.2020. Online verfügbar unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/mental-load-teilen-teresa-buecker-89594, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-gleichstellung-137294, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

Daminger, Allison: The Cognitive Dimension of Household Labor. In: American Sociological Reciew (2019), Vol. 84(4). Los Angeles, USA: Sage Publications, 609-633.

Dean,Liz/Churchill, Brendan/Rupanner, Leah: The mental Load. Building a deeper theoretical understanding on how cognitive and emotional labor overload women and mothers. In: , Vol. 25, (2022), online verfügbar unter: https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/13668803.2021.2002813, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

Emma (2018): The mental Load. A feminist comic. New York/Oakland/London: Seven Stories Press. Online verfügbar unter: https://english.emmaclit.com/2017/05/20/you-shouldve-asked/, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

https://www.equalcareday.de/mental-load/, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

https://www.gender-mediathek.de/de/care-arbeit, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

Land, Louise: „Mental Load ist unsichtbar, kann aber krank machen“. Interview mit Simone Frohwein und Elke Hüttenrauch. In Süddeutsche Zeitung Magazin vom 31.01.2023. Online verfügbar unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/mental-load-stress-belastung-burn-out-muetter-frauen-92354, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

Lange, Bianca/Ohlbrecht, Heike: Parenthood in a crisis 2.0. Motherhood in the Tension Between Homeschooling and Home Office. A Comparison After 1 Year of Pandemic. In: International Dialogues on Education Journal, 8(1/2), 36–50 (2022). Online verfügbar unter: https://doi.org/10.53308/ide.v8i1/2.252, zuletzt aufgerufen am 09.03.2022.

Lutz, Helma/Benazha, Aranka Vanessa: Transnationale soziale Ungleichheiten. Migrantische Care- und Haushaltsarbeit. In: Biele Mefebue, Astrid/Bührmann, Andrea D./ Grenz, Sabine (Hrsg.) (2022): Handbuch Intersektionalitätsforschung, Wiesbaden: Springer VS, 289-302.

Notz, Gisela: Arbeit. Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsarbeit. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften, 480-488.

Puhlman, Daniel J./Pasley, Kay: Rethinking Maternal Gatekeeping. In: Journal of family theory & review (2013), Vol.5 (3). Hoboken, USA: Wiley, 176-193.

Schrammel, Barbara: Mental-Load. Ein psychodramatischer Blick auf die ungleiche Verteilung der Care-Arbeit. In Psychodrama Soziom (2022) 21, 369-379.

Schutzbach, Franziska (2021): Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. München: Droemer, 239-267.


[1] Emma 2018, https://english.emmaclit.com/2017/05/20/you-shouldve-asked.

[2] Ebd.

[3] https://equalcareday.de/mental-load/.

[4] Vgl. ebd.

[5] Vgl. Lange/Ohlbrecht 2022, 45.

[6] Vgl. Frohwein in Land 2023, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/mental-load-stress-belastung-burn-out-muetter-frauen-92354.

[7] Vgl. Notz 2010, 480-481.

[8] Vgl. ebd., 481.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. Schutzbach 2021, 245.

[11] Vgl. Becker-Schmidt 2010, 66.

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-gleichstellung-137294.

[14] Vgl. Daminger 2019, 628.

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. Hüttenrauch in Land 2023.

[17] Vgl. Dean/Churchill/Rupanner 2022, 20-22.

[18] Vgl. Frohwein/Hüttenrauch in Land 2023.

[19] Vgl. Frohwein in Land 2023.

[20] Vgl. Bücker 2020, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/mental-load-teilen-teresa-buecker-89594

[21] Schutzbach 2021, 249.

[22] Vgl. ebd.

[23] Vgl. Hüttenreich in Land 2023.

[24] Vgl. Schrammel 2022, 372-373.

[25] Vgl. ebd., 373.

[26] Vgl. Schutzbach 2021, 246.

[27] Emma 2018.

[28] Vgl. Schutzbach 2021, 250-252.

[29] Vgl. Daminger 2019, 609.

[30] Vgl. ebd.

[31]  Vgl. Schutzbach 2021, 249-250.

[32] Vgl. Schutzbach 2021, 250.

[33] Vgl. Puhlman/Parsle 2013, 176. Die Autor:innen weiten in ihrem Artikel den Begriff allerdings aus und wollen ihn neu konzeptualisieren, das würde hier aber zu weit vom Thema wegführen.

[34] Vgl. Schutzbach 2021, 252-253.

[35] Vgl. ebd., 253.

[36] Vgl. https://www.gender-mediathek.de/de/care-arbeit.

[37] Vgl. Lutz 2022, 293-294.

[38] Vgl. Schutzbach 2022, 253-254.

[39] Vgl. Hüttenrauch in Land 2023.

[40] Vgl. https://equalcareday.de/mental-load/.

[41] Vgl. Schutzbach 2021, 259.

[42] Vgl. ebd., 261.

[43] Vgl. ebd.


Quelle: Eva Schießl, Mental Load – feministischer Kampfbegriff oder fruchtbares Konzept, um Geschlechtergerechtigkeit neu zu denken? in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/mental-load-feministischer-kampfbegrif