Die soziale Konstruktion von Krankheit

Hysterie als Beispiel für die Reproduktion von Stereotypen in der Medizin

Julika Likus (WiSe 2023/24)

Einleitung 

Gesundheit und Krankheit spielen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine große Rolle im alltäglichen Leben. Im Diskurs über Gesundheit und Krankheit überschneiden sich medizinische, biologische und soziale, aber auch politische und historische Ansätze, obwohl häufig zunächst die medizinischen[1] Aspekte im Vordergrund stehen, diskutiert und als heilungsbedürftig empfunden werden. Dabei werden ebenfalls häufiger körperliche Abweichungen einer Norm stärker mit der Sphäre von Krankheit und Gesundheit verknüpft als geistige Beeinträchtigungen, die von physischen Konditionen oft als abgrenzbar dargestellt werden. Eine erweiterte Betrachtung des Feldes Krankheit und Gesundheit betrachtet Krankheit jedoch nicht als „rein-medizinischen“ Zustand, sondern als soziales Ereignis (Dross/Metzger 2018). Einerseits ist die Medizin in Bezug auf Beurteilung, Diagnose und Behandlung von Krankheit und Gesundheit von gesellschaftlichen Normen geprägt, die sich stetig wandeln, und andererseits folgt auf eine medizinische Diagnose von Krankheit und Gesundheit eine soziale Wirkung/Reaktion, die die Teilnahme an einem sozialen Alltag beeinflusst. So sind also auch gesundheitliche Unterschiede zwischen Gruppen nicht ausschließlich durch biologische Unterschiede verursacht, sondern werden durch soziale Strukturen, die mit Hierarchie und Macht zusammenhängen und Menschen privilegieren und unterdrücken, konstruiert (Short/Zacher 2022). 

In der vorliegenden Arbeit wird sich hauptsächlich auf Machtgefällen und diskriminierenden Strukturen im medizinischen Bereich beschränkt, die aufgrund des Geschlechts[2] existieren, wobei eine ganzheitliche, feministische Perspektive immer auch andere -ismen und Merkmale wie Klasse oder Race einbeziehen muss und intersektional gedacht werden muss. 

Daten wissenschaftlicher Forschungen, die zur Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien verwendet werden, wurden jahrhundertelang anhand einer hauptsächlich cis-männlichen[3] Untersuchungsgruppe gewonnen und deren Erkenntnisse dann geschlechts- und gruppenübergreifend angewandt. Die Abwesenheit von Frauen in klinischen Studien bedeutet das Zuschneiden des Wissens auf Männer und festigt die Norm eines cis-männlichen Körpers. Die Aufschlüsselung nach Geschlecht[4] wurde zunehmend in medizinischer Forschung etabliert, weitere soziale Realitäten und intersektionale Perspektiven werden jedoch weiterhin größtenteils außer Acht gelassen (Kuhlmann 2016). 

Frauen erhalten auch heute noch regelmäßig andere Diagnosen und Behandlungsempfehlungen wie Männer, bei ihnen werden zum Beispiel häufiger psychische Dinge als Ursache für Symptome angesehen und körperliche Probleme dadurch übersehen (Short/Zacher 2022). Ein historisch interessanter Fall, der die Verflechtung von Stereotypen, Krankheit und Gesundheit aufzeigt und zur Reproduktion patriarchischer Strukturen führt, ist die hauptsächlich Frauen zugeschriebene und lange als Krankheit angesehene Hysterie. In den nächsten Kapiteln wird zunächst die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit näher erläutert und anschließend die Entstehung und Konzeption der Hysterie als Beispiel für die Verknüpfung sozialer Norm und Geschlechtsvorstellungen mit medizinischer Diagnostik und Behandlung thematisiert. Es wird sich zeigen, dass sich die Symptomatik und Behandlungsmethoden der Symptome mit sich verändernden Werten und zugeschriebenen Eigenschaften und Erwartungen an Geschlechter ebenfalls verändert haben und besonders die Benachteiligung im medizinischen Bereich für diskriminierte Gruppen der Gesellschaft folgenschwere Auswirkungen hat. 

Krankheit als soziales Konstrukt 

Das Verständnis von Krankheit und Gesundheit beruht auf sozialen Vorstellungen über den Zustand von Personen oder Dingen. Die Medizin nimmt in der Gesellschaft eine Art Doppelrolle ein, die als Hauptinstanz zur Trennung von Krankheit und Gesundheit gilt, dadurch aber gleichzeitig auch ihr eigenes Handeln begründet (Dross/Metzger 2018). Krankheit wird in der Literatur ursprünglich häufig als Abweichung eines als „normal“ betrachteten Körpers definiert, der das Einwirken von Mediziner:innen zur Stellung einer Diagnose und eines Behandlungskonzepts mit dem grundsätzlichen Ziel der Heilung und Wiederherstellung von Gesundheit erfordert. Einem strukturfunktionalistischem Ansatz nach gilt körperliche und geistige Gesundheit als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur. Krankheit wurde zunehmend als Prozess verstanden, der keine klare Grenze zu „Gesundheit“  hat (Ullrich 2014). Einige Krankheitsbilder hängen stark mit der gesellschaftlichen Konstruktion und Vorstellung von Körper, Geschlecht und Sexualität zusammen, die Geschichte bestimmter Krankheitsbilder zu verstehen, erfordert deshalb die Auseinandersetzung mit der Veränderung klinischer und psychologischer Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht (Kleinplatz 2018, Schroer/Wilde 2016). Werte und Normen enthalten oft stereotypische Vorstellungen von Menschen, die in der Medizin zu ausbleibender oder fehlerhaften Diagnostik und Behandlung führen. Neben der medizinischen Komponente greifen diverse sozio-politische Aspekte in den Bereich von Krankheit und Gesundheit; soziale Beziehungen, Abhängigkeitsverhältnisse und politische Setzungen, die von gesellschaftlichen Normen geprägt sind (Ullrich 2014). Erkrankungen prägen soziale Beziehungen und Konnotationen von Krankheiten wirken sich auf den gesellschaftlichen Umgang mit einer erkrankten Person aus. Besonders schwerwiegende oder ansteckende Krankheiten werden zum Beispiel häufig mit Armut in Verbindung gebracht und können zur sozialen Ächtung, Abscheu, Ausgrenzung oder ,Aussatz‘ führen. Allgemeine Definition von Krankheiten, die auf der ,Norm‘ basieren, ignorieren Gesundheit- und Lebensrealitäten vieler marginalisierter und diskriminierter Gruppen wie zum Beispiel BIPoCs, LGBTQIA+-Menschen und Frauen, da aufgrund von Stereotypen und tatsächlichem Ausschluss aus medizinischer Betrachtung und Forschung unterschiedliche Maßstäbe zur Bewertung und Behandlung gleicher Umstände je nach Patient:in angelegt werden (Dross/Metzger 2018). „[S]oziale Strukturen werden durch wissenschaftliche Autorität im Körper der Betroffenen veranker[t]“ (Dross/Metzger 2018), was folgenschwere Auswirkungen für die Personen haben kann. 

Hysterie als Beispiel für stereotypisierte medizinische Diagnostik und Behandlung 

Hysterie[5] ist ein historischer medizinischer Begriff, der im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen hatte und in der modernen Medizin nicht mehr als diagnostische Kategorie verwendet wird. Ein Blick auf die Geschichte der Hysterie ist dennoch hilfreich, um die Entwicklung medizinischer Konzepte und Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu verstehen und wie gesellschaftliche Vorstellungen von Frauen und ihrer Rolle in der Medizin sich im Laufe der Zeit verändert haben. 

Die Hysterie leitet sich aus dem altgriechischen Wort für Gebärmutter histéra ab (Günther 2023).

Lange Zeit galt die produktive Gebärmutter als Hauptmerkmal einer körperlich und geistig gesunden Frau und als ursächliches Organ für psychiatrische Krankheiten im Zusammenhang mit Hysterie, die sich allgemein durch ein sozial unerwünschtes Verhalten äußerten (Short/Zacher 2022). Das zugrundeliegende Frauenbild ist das der Frau als Mutter und Hausfrau für den Mann. 

Als typische Symptome der Hysterie wurden einerseits ein bestimmtes „theatralisches“/ „dramatisches“ Verhalten angesehen, aber auch sensorische Ausfälle wie Krämpfe, plötzliche Blindheit, Ohnmacht oder chronischer Müdigkeit (Dross/Metzger 2018). Der Psychiater Richard von Kraft-Ebing beschreibt Hysterikerinnen als Frauen, die

„ihre Leiden übertreiben, zu simulieren, sich um jeden Preis interessant […] machen [,] wobei ihre krankhaft gesteigerte Phantasie gute Dinge leistet und ihre geschwächte Sittlichkeit vor keinem Betrug und keiner Lüge zurückschreckt.“

Kraft-Ebing 1883, S.212

Der Diskurs über Hysterie beschäftigte sich zunächst hauptsächlich mit Frauen, erweiterte sich aber zunehmend auch auf Männer, die anhand ,zu weiblicher Eigenschaften‘ oder ,Feigheit‘ durch die Diagnose der Hysterie ebenfalls stark abgewertet wurden (Westhoff 2013). Bereits in der Antike wurde Hysterie als eine 

„Veränderung der Position der Gebärmutter gesehen, welche, durch sexuelle Abstinenz hungrig geworden, auf der Suche nach Befriedigung die Reise durch den Körper antrat und auf ihrem Weg andere Organe in Unordnung brachte.“

Zaudig 2015, S.28

Platon sagt über die Gebärmutter: 

„Die Gebärmutter ist ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten.“

Zaudig 2015, S.28

Es wurde davon ausgegangen, dass die Verlagerung der Gebärmutter die mentale Situation einer Frau verändert und das Nichtnachkommen Können oder Wollen ihrer ,natürlichen‘ Aufgaben eine Frau, zum Beispiel Mutterschaft oder Tätigkeiten im Haushalt, krank macht. Die antike Säftelehre besagt, dass weibliches Blut einer monatlichen Reinigung (Periode) unterzogen wird und beim Ausbleiben der Periode richtet die Materie im Inneren Unheil an (Westhoff 2013). Trotz der historischen Fokussierung auf die Gebärmutter und die Reproduktionsfähigkeit der Frau wurden tatsächliche, schmerzhafte und lebensverändernde Krankheiten der Gebärmutter wie Endometriose in der Forschung und Gesellschaft wenig beachtet und erhalten auch heute im Vergleich zu nicht „nur Frauen betreffenden Krankheiten“ wenig Aufmerksamkeit (Westhoff 2013). 

Im viktorianischen Zeitalter dominierte ein Geschlechterideal, das die Rolle der Frau stark von traditionellen Normen und den Bedürfnissen des Ehemanns abhängig machte. Weibliche Sexualität galt als kontrollierbar und sollte vorrangig die Bedürfnisse des Mannes befriedigen, Abweichungen von diesem normativen Verhalten wurden als sexuelle Störung betrachtet. Die psychologischen Probleme von Frauen wurden häufig auf angebliche Störungen der Fortpflanzungsorgane zurückgeführt, insbesondere durch die Diagnose der „Hysterie“, was die Kontrolle über weibliche Psyche und Sexualität weiter institutionalisierte (Kleinplatz).

“The underlying assumption that women were dominated by their reproductive organs led some physicians to blame virtually all women’s diseases and complaints on disorders of these organs.”  

Groneman 1994, zitiert nach Kleinplatz 2018 S.33

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hält Hysterie für den Ausdruck verdrängter, unterdrückter Wünsche aufgrund eines ungelösten Traumas, häufig sexueller Missbrauch im Kindesalter (Kleinplatz 2018, Westhoff 2013). Frauen mit Hysterie seien unwillig/unfähig, „weiblicher“ Pflichten nachzukommen und hätten keine familiären Gefühle (Dross/Metzger 2018). Im 19. Jahrhundert waren Methoden wie ballaststoffreiche Diäten, Aderlass, kalte Einläufe, Ovarektomien (Entfernung der Eierstöcke), Klitorisablation, Auslösung paroxysmaler Krämpfe (Orgasmen) durch den Arzt üblich zur Behandlung von Hysterie.

„What is interesting, however, is the surprising manner in which the uterus is at the same time considered an essential component to womanhood and also easily removable.“

Jones 2015, S.1108

Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot „führte seine hysterischen Patientinnen öffentlich vor und demonstrierte an ihnen die aberwitzigsten, martialischen Behandlungsmethoden wie zum Beispiel eine ,Ovarienpresse‘ oder Vibratoren ,zur Beruhigung‘.“ (Westhoff 2013). Eltern oder Ehemänner von ,hysterischen Frauen‘ veranlassten häufig Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten zur Linderung der Symptome und Heilung (Dross/Metzger 2018).

„No one knew for certain how to prevent this from happening, but one cure was to anchor the uterus. This could easily be accomplished through either impregnating the woman or keeping the uterus moist through intercourse so it would not seek out the moisture of other organs.“

Meyer 1997, S.1

Im 20. Jahrhundert wurde die zunehmende diagnostische Ungenauigkeit des Begriffs Hysterie erkannt und die vielfältigen Symptome in neue Begriffe präziser klassifiziert. Der Begriff „Histrionische Persönlichkeitsstörung“ (von lat. „histrio“: Schauspieler) betonten die (intentionale) Dramatisierung von Konflikten, während die „Dissoziative Störung“ einen Zerfall der Persönlichkeit, insbesondere nach traumatischen Ereignissen, beschrieb.

Im Gegensatz zur klassischen Hysterie standen bei diesen Diagnosen psychologische Aspekte im Vordergrund, und sie wurden zunehmend unabhängig von körperlichen Symptomen betrachtet (Westhoff 2013). 

Die Zuschreibung und Interpretation bestimmter Verhaltensweisen als ,typisch weiblich‘ und die gleichzeitige Vernachlässigung körperlicher Ausfallserscheinungen führt zu einer Pathologisierung des seelischen und körperlichen Leidens von Frauen. Die Konzeption einer ,überemotionalen‘ Frau festigt historische Stereotypen, die häufig eine vermeintliche Instabilität und Irrationalität weiblicher Emotionen betonen. Hysterie als konstruierte Krankheit führte zur sozialen Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen, insbesondere solchen, die überwiegend Frauen zugeschrieben wurden, und muss auch heute noch bei der Diskussion über Gleichberechtigung und Gesundheitsversorgung mitbedacht werden.  Die heutigen therapeutischen Ansätze, denen Frauen mit sexuellen Problemen begegnen, variieren in Abhängigkeit von der aufgesuchten medizinischen Fachkraft, wobei häufig immer noch eine unzureichende interdisziplinäre Betrachtung besteht. Es bedarf einer Herangehensweise, die organische, psychische und psychosoziale Ursachen gemeinsam betrachtet und behandelt, um eine effektive Therapie zu gewährleisten (Kleinplatz 2018). 

Aktuelle Debatten 

„Not only was hysteria itself all of those things—irrational, capricious, unpredictable, and most importantly, unsolvable—but it also pathologized, sexualized, and eroticized womanhood.“

Jones 2015, S.1095

In der Medizin ist der Begriff der Hysterie aus dem wissenschaftlichen/medizinischen Sprachgebrauch größtenteils verschwunden und wird hauptsächlich alltäglich und medial verwendet. Mit „hysterisch“ wird bis heute ein bestimmtes stereotypisches Verhalten wahrgenommen, wie beispielsweise Kreischen, Weinen oder hohe Emotionalität; Eigenschaften, die vorrangig immer noch weiblichen Personen zugeschrieben werden. 

„Wer heute etwa über Krankheitssymptome klagt wird noch immer schnell mal als ,hysterisch‘ bezeichnet. Auch wenn man als Frau die Stimme erhebt oder mal so richtig ,ausrastet’, ist das vorbestrafte H-Wort nicht weit.“

Günther 2023

Auch die mediale Weiterverwendung führt also zur Reproduktion geschlechtsstereotypischen Verhaltens, wertet Eigenschaften und Verhaltensweisen ab und erinnert an historisch überholte Vorstellungen einer Frau, deren Gesundheit allein von einer produktiven Gebärmutter und dem Einfügen in gesellschaftliche Rollenbilder abhängt. Der Begriff muss sich eindeutig davon abgrenzen, dass mit ihm ein meist weiblich zugeschriebenes Verhalten als ,krankhaft‘ bezeichnet wurde und zu entmündigenden sowie menschen- und frauenfeindlichen Behandlungsmethoden geführt hat. 

Einem Ansatz der amerikanischen Professorin für Women´s and Gender Studies Cara E. Jones nach weist zum Beispiel die heutige Lebensrealität von Frauen mit Endometriose einige Parallelen zum historischen Konzept der Hysterie auf: 

„I argue that […] endometriosis has taken up a diagnostic and cultural location once occupied by hysteria: each disease pathologizes not only certain physical symptoms, but also social and cultural deviations from female gender norms.“

Jones 2015, S.1084

Jones argumentiert, dass die medizinischen Behandlungsmethoden für sogenannte ,weibliche‘ Krankheiten wie Endometriose immer noch auf veralteten Vorstellungen über die Gebärmutter beruhen und auf die ungehinderte Reproduktion von Frauen abzielt (Jones 2015).

In ihrem Beitrag liefern Short und Zacher einige Ansätze zu geschlechtersensiblerer medizinischer Diagnostik und Behandlungsmethoden. Die Betrachtung der Frauengesundheit sollte sich von der reinen Fokussierung auf Fortpflanzung und Kindergesundheit lösen, um den Frauenkörper nicht ausschließlich auf die Funktion des Kinderkriegens zu reduzieren. Es ist wichtig, die binäre Geschlechtervorstellung zu überwinden und sich nicht ausschließlich auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu konzentrieren. Geschlechter sollten als sozial konstruierte Konzepte betrachtet werden und auch geschlechtsspezifischer Unterschiede sollten nicht auf biologische Faktoren geschoben werden, sondern unter Berücksichtigung zugrundeliegender biosoziale Strukturen und Mechanismen. Es ist entscheidend, intersektionale Ansätze einzubeziehen, die die Wechselwirkungen verschiedener sozialer Benachteiligungen oder Privilegien berücksichtigen. Dazu gehören Merkmale wie Geschlecht,Sexualität, Fähigkeiten, Race, Klasse, Bildung und andere relevante Parameter (Short/Zacher 2022).  Ungleichheiten in der Medizin müssen von den treibenden Kräften der Forschung anerkannt und gezielt behoben werden. Short und Zacher berichten in ihrem Artikel über eine Studie aus dem Jahr 2021, die zeigt, dass die Forschung zu Krankheiten, von denen Männer überproportional betroffen sind, von den nationalen Gesundheitsinstituten eher überfinanziert wird, während die Forschung zu Krankheiten, von denen hauptsächlich Frauen betroffen sind, im Verhältnis zur Krankheitslast in der Bevölkerung eher unterfinanziert ist (Short/Zacher 2022).

Fazit 

Krankheit und Gesundheit sind keine rein biologischen oder medizinischen Phänomene, sondern werden stark von sozialen Strukturen und Machtverhältnissen beeinflusst. Die Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien basierte historisch oft auf Forschungsdaten, die hauptsächlich an cis-geschlechtlichen Männern gewonnen wurden, was zu einer unzureichenden Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede führte. Frauen erhielten und erhalten immer noch unterschiedliche Diagnosen und Behandlungsempfehlungen im Vergleich zu Männern, wobei stereotype Vorstellungen über weibliche Emotionalität und Sexualität die medizinische Praxis beeinflussen.

Das historische Beispiel der Hysterie verdeutlichte, wie gesellschaftliche Normen und Geschlechtsvorstellungen in medizinische Diagnosen eingeflossen sind. Frauen wurden als hauptsächlich von der Gebärmutter gesteuert betrachtet, was zu pathologisierenden und oft dehumanisierenden Behandlungsmethoden führte. Obwohl der Begriff der Hysterie heute aus dem medizinischen Vokabular verschwunden ist, bleiben stereotype Vorstellungen über „hysterisches“ Verhalten im gesellschaftlichen Diskurs präsent.

Ungleichheit in medizinischen Strukturen betonen die Notwendigkeit geschlechtersensiblerer medizinischer Ansätze, die nicht nur auf Fortpflanzung fokussiert sind. Frauenkörper dürfen nicht ausschließlich auf reproduktive Funktionen reduziert werden und binäre Geschlechtervorstellung überwunden werden. Die Einbeziehung intersektionaler Ansätze, die die Vielschichtigkeit sozialer Benachteiligungen berücksichtigen, ist entscheidend, um diverse Ungleichheiten in der Medizin anzugehen und eine gerechtere Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten.    

Literatur- und Quellenverzeichnis 

Dross, Fritz und Nadine Metzger (2018). Krankheit als Werturteil. In: bpb. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/270305/krankheit-als-werturteil/ (letzter Aufruf: 30.01.2024).

Günther, Paula (2023). Von Männern erfunden: Diagnose Hysterie als Machtmittel gegen das weibliche Geschlecht. In: Qiio Magazin. https://www.qiio.de/von-maennern-erfundendiagnose-hysterie-als-machtmittel-gegen-das-weibliche-geschlecht/ (letzter Aufruf 30.01.2024).

Jones, Cara E. (2015). Wandering Wombs and “Female Troubles”: The Hysterical Origins, Symptoms, and Treatments of Endometriosis, Women’s Studies, 44:8, 1083-1113 https://doi.org/10.1080/00497878.2015.1078212

Kleinplatz, Peggy J. (2018). History of the Treatment of Female Sexual Dysfunction(s). In: Annual Review of Clinical Psychology. 14:1, 29-54.

Krafft-Ebing, Richard von (1883). Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende (Bd. 1-2). Stuttgart: Enke.

Kuhlmann, Ellen (2016). Gendersensible Perspektiven auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 183–196. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11010-9_12

Meyer, Cheryl L. (1997). The Wandering Uterus: Politics and the Reproductive Rights of Women. In: New York University Press. 1997. https://doi.org/10.18574/nyu/9780814763209.001.0001

Schroer, Markus und Jessica Wilde (2016). Gesunde Körper – Kranke Körper. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 257-271.

Short, Susan E. und Meghan Zacher (2022). Women’s Health: Population Patterns and Social Determinants. In: Annual Review of Sociology. 48:1, 277-298. 

Ullrich, Charlotte (2014). Die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit. In: Medikalisierte Hoffnung?. Deutschland: transcript. 31–58. 

Westhoff, Andrea (2013). Hysterie.In: Deutschlandfunk https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-hysterie-100.html.

Zaudig, Michael (2015). Entwicklung des Hysteriekonzepts und Diagnostik in ICD und DSM bis DSM-5. In: Hysterie. Verständnis und Psychotherapie der hysterischen Dissoziationen und Konversionen und der histrionischen Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien. 20:1, 27-49 https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/03.-Zaudig.pdf.


[1] Im Verlauf des Textes wird „medizinisch“ für die Beschreibung klassischer, schulmedizinischer Vorstellungen verwendet, die häufig für unveränderbar gehalten werden und aktuell die größte wissenschaftliche Deutungshoheit in der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit haben. Die Verwendung des Wortes „medizinisch“ muss jedoch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass „Medizin“ nicht gleich frei von Normen bedeutet und Prioritäten, Durchführung und Auswertung wissenschaftlicher Forschungen immer durch soziale Strukturen geprägt sind. 

[2] Geschlecht ist keine biologische, neutrale Tatsache, sondern eine aufgrund von körperlichen Merkmalen bei oder sogar schon vor der Geburt vorgenommene Zuweisung, die häufig auf der Vorstellung binärer Geschlechterkategorien beruht. 

[3] Zur Vereinfachung werden im Verlauf der Arbeit zwar die binären Begriffe Mann und Frau verwendet zur Beschreibung cis-geschlechtlicher Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen, wobei bei jeder Verwendung mitbedacht werden soll, dass Geschlecht, und vor allem die binäre Betrachtung davon, konstruiert sind.

[4] Eine Aufschlüsselung nach Geschlecht bedeutet in der Wissenschaft eine Trennung von cis-weiblichen und cis-männlichen Personen, was auf einer binären Geschlechterkonstruktion beruht und diskriminierend gegenüber allen anderen Geschlechtsidentitäten ist.

[5] Bei der Verwendung des Wortes Hysterie wird sich ausschließlich auf die historischen Konzepte in Abgrenzung von einer medizinischen Diagnose bezogen, da der Begriff historisch stark mit stereotypen Vorstellungen von Frauen verbunden ist und ihre psychischen Gesundheitszustände auf veraltete, kulturell geprägte Vorstellungen reduziert. 


Quelle: Julika Likus, Die soziale Konstruktion von Krankheit – Hysterie als Beispiel für die Reproduktion von Stereotypen in der Medizin, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin,29.02.2024,

Die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit von trans* Personen

Elise Ferdoun Kedik (SoSe 2023)

1. Einleitung

In den letzten Jahren rücken die Themen Geschlechtsidentität und -vielfalt verstärkt in das öffentliche Bewusstsein. In diesem Zusammenhang hat die Trans*-Community, bestehend aus Menschen, die nicht das Geschlecht sind, dem sie bei der Geburt zugewiesen wurden (Queer-Lexikon, 2023), zunehmend Aufmerksamkeit erhalten. Trotz dieser wachsenden Sichtbarkeit, viel Engagement und Aufklärungsarbeit sehen sich trans* Menschen oder Menschen, die als trans* wahrgenommen werden, immer noch mit Trans*feindlichkeit konfrontiert. Diese manifestiert sich in vielfältigen Formen, sei es in der medialen Berichtserstattung, in gesetzgeberischen Entscheidungen oder im Alltag der Individuen. Die Rechte und das Wohlbefinden von trans*-Personen sind grundlegende Menschenrechtsfragen. Trans*feindlichkeit widerspricht den Prinzipien der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, die in vielen nationalen und internationalen Gesetzen verankert sind.

Im Rahmen der Ausarbeitung des Referatsthemas „Trans*feindlichkeit und die Realität der vielfältigen Diskriminierung“ im Seminar „Gender, Diversity, Gender Mainstreaming“ bin ich auf die verheerenden Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von trans* Menschen gestoßen. Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität, Stigmatisierung und Ablehnung scheinen zu einer relevanten psychischen Belastung beizutragen (OttRegli, Znoj, 2017).

Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Thema Trans*feindlichkeit und die Auswirkungen dieser auf die mentale Gesundheit von trans* Menschen. Die Begriffserklärungen und das Minority Stress Modell liefern hierbei den theoretischen Rahmen, um die Ursachen und die Mechanismen hinter diesen Auswirkungen zu verstehen. Durch die Analyse von ausgewählten Studien und Forschungsarbeiten wird versucht die negativen Folgen auf die psychische Gesundheit zu beleuchten und notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung aufzuzeigen. Schließlich werden mögliche Ansätze zur Bewältigung, Prävention und zur Verbesserung der psychischen Gesundheit von trans* Personen diskutiert.

2. Theoretischer Hintergrund

Um einen besseren Einblick in die Hausarbeit zu erlangen, werden im theoretischen Hintergrund die für das Verständnis relevanten Begriffe Geschlechtsidentität, trans* und Trans*feindlichkeit erklärt. Im weiteren Verlauf wird eine Einführung in das Minority Stress Modell gegeben und seine Relevanz für das Verständnis der psychischen Gesundheit von trans* Personen dargestellt.

2.1 Begriffserklärungen

Die Geschlechtsidentität beschreibt die innere Überzeugung, einem Geschlecht anzugehören (Lexikon der Psychologie, 2023). Man bekommt bei der Geburt ein Geschlecht zugeschrieben. Bis 2013 wurde im Geburten-Register anhand körperlicher Anzeichen zwischen „männlich“ oder „weiblich“ entschieden. Danach wurde vor allem für Neugeborene, die beide Merkmale der Geschlechter tragen, also „zwischen-geschlechtliche“ Menschen, die Bezeichnung „keine Angabe“ eingeführt. Viele Menschen fanden die neu eingeführte Bezeichnung nicht passend und klagten deshalb. Das Verfassungs-Gericht beschloss daraufhin eine Änderung. Seit 2018 sind die zur Auswahl stehenden Geschlechter in Deutschland ,,weiblich‘‘, ,,männlich‘‘ und „divers“ (Personenstandsgesetz, 2023). ,,Divers“ beinhaltet mehrere Geschlechtsbezeichnungen.

Laut Scheithauer & Niebank (2022) werden im Kleinkindalter bedeutsame Erfahrungen gesammelt, die zu einer Unterscheidung zwischen ,,männlich“ und ,,weiblich“ führen. Des Weiteren beschreiben sie, dass man bei unter Zweijährigen schon eine Geschlechtssterotype-Aneignung beobachten kann. Damit ist gemeint, dass sie sozial geteilte Vorstellungen darüber haben, welche Eigenschaften typisch ,,männliche“ und ,,weibliche“ Personen haben. Das kann sich äußern durch geschlechtstypisierte Kleidung, Spielzeuge oder Verhaltensweisen. Ungefähr im Alter von zweieinhalb Jahren formt sich daraufhin die Geschlechtsidentität. Man kann sich ab diesem Alter einem Geschlecht zuschreiben, dass bei einem Großteil von Personen lebenslang erhalten bleibt (ebd., 2022).

Einige Menschen erleben eine Diskrepanz zwischen ihrem bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht und ihrer eigenenGeschlechtsidentität. In der vorliegenden Hausarbeit liegt der Fokus auf trans* Menschen. Dabei ist zu erwähnen, dass trans* nicht nur auf die binären Geschlechter beschränkt ist, sondern auch das nichtbinäre Geschlecht beinhaltet (Queer-Lexikon, 2023).

Transgeschlechtliche Menschen erleben durch das geschlechterbinäre Denkmuster vermehrt Diskriminierung (Vanagas & Vanagas, 2023). Früher wurde dafür der Begriff Transphobie eingeführt. Allerdings definiert eine Phobie eine Angststörung, weshalb sich der Begriff ,,Trans*feindlichkeit‘‘ bewährte, der den diskriminierenden Charakter hervorhebt (ebd., 2023). Die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit werden im Folgenden herausgearbeitet.

Das Ziel einer Einführung in das Minority Stress Modell besteht darin, die Bedeutung dieses Modells für das Verständnis der psychischen Gesundheit von Menschen mit einer geschlechtlichen Vielfalt zu verdeutlichen.

2.2 Minority Stress Modell

Das Minority Stress Modell (Meyer, 2003) bietet einen theoretischen Rahmen für das Verständnis von Auswirkungen auf die mentale Gesundheit im Sinne von Minderheitenstress. Es wurde im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit von homosexuellen und bisexuellen Menschen entwickelt. Minderheitenstress bezeichnet das erhebliche Ausmaß an Stress, dem Mitglieder*innen stigmatisierter Minderheitengruppen (b) ausgesetzt sind. Es erklärt, dass Stigmatisierung, Vorurteile und Diskriminierung ein feindliches und stressiges soziales Umfeld schaffen, das psychische Gesundheitsprobleme verursacht.

Abbildung 1

Stress durch Minderheiten ist in die Umweltbedingungen (a) eingebettet, zu denen Vorteile und Nachteile im Zusammenhang mit Faktoren wie dem sozioökonomischen Status gehören können. Kästchen (a) und Kästchen (b) sind überschneidend dargestellt, um deren enge Wechselwirkung aufzuzeigen. Der Minderheitenstatus führt zu einer persönlichen Identifikation mit dem eigenen Minderheitenstatus (e). Im dargestellten Stressprozess spielen auch die Merkmale der Minderheitenidentität (h) eine unterschiedliche Rolle. Sie können verstärkend oder abschwächend auf die psychische Gesundheit auswirken, z.B. je nach individueller Valenz. Das Modell beleuchtet verschiedene Stressprozesse, einschließlich der Erfahrung von Vorurteilen, der Erwartung von Ablehnung, das Verbergen der eigenen Identität, die internalisierte Diskriminierung und Bewältigungsmechanismen auf sozialer und individueller Ebene (h) (ebd., 2003).

Das Modell teilt separate, aber miteinander verknüpfte Aspekte von Erfahrungen in allgemeine Stressoren (c), wie Arbeitsplatzverlust oder Tod eines nahestehenden Menschen, in distalen Stress (d) und in proximalen Stress (f) ein. Distaler Stress ist externer Stress, der sich aus Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt ergibt, wie Trans*feindlichkeit. Proximaler Stress ist interner Stress, der mit selbstkritischen Überzeugungen zusammenhängt, die sich auf die psychische Gesundheit auswirken (i) können. Auch diese Kästchen sind anliegend dargestellt, um ihre Abhängigkeit dazustellen (ebd., 2003).

Trans* Menschen erleben diese vorher aufgezählten Punkte und sind Teil einer marginalisierten Gruppe, wodurch das Modell für die Beschreibung der Auswirkungen auf die mentale Gesundheit genutzt werden kann.

Im Folgenden wird darauf eingegangen welche möglichen Ursachen existieren, die zur Entstehung von Trans*feindlichkeit beitragen.

3. Ursachen von Trans*feindlichkeit

46 Prozent von 20.271 befragten Lesben, Schwulen, Bi* und Trans* Menschen (LSBT) in Deutschland geben Diskriminierungserfahrungen an (FRA – European Union Agency for Fundamental Rights, 2013). Dabei findet die Ausgrenzung in der Öffentlichkeit, der Freizeit und am Arbeitsplatz statt. (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016)

Politische Einstellungen können eine Ursache hierfür sein: linkseingestellt Menschen stehen LSBT-Menschen eher positiv gegenüber als Menschen, die sich politisch eher mittig oder recht einordnen (Klocke, 2017). Ebenfalls scheint die religiöse beziehungsweise kulturelle Herkunft eine Rolle für das Auftreten feindlicher Einstellungen zu sein (ebd., 2017). Menschen mit Migrationshintergrund scheinen negativer eingestellt zu sein als Menschen ohne Migrationshintergrund, wobei zu erwähnen ist, dass in vielen Studien unterschiedliche Herkunftsländer zusammengefasst wurden. Vor allem zeigen Menschen mit Hintergrund aus islamischen Ländern und teilweise aus ehemalige UdSSR- Staaten diese negativen Einstellungen. (ebd., 2017)

Menschen neigen dazu, zu kategorisieren, wodurch Stereotypen entstehen und suggeriert werden (Vanagas & Vanagas, 2023). ,,[…] Die vorgegebenen gesellschaftlich anerkannten Kategorien – im Falle des Geschlechts die Kategorien männlich/weiblich – [sind] an gesellschaftliche Erwartungen gebunden wurden, die bei Erfüllung Anerkennung und Inklusion bedeuteten und bei Nicht-Erfüllung in der Regel zu Missachtung und Exklusion führten […]‘‘ (ebd., 2023, S.318). Auch stehen in diesem Zusammenhang Unsicherheiten, da durch trans* Identitäten die soziale Rollenvorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit hinterfragt wird (Friedrich, 2023). Somit sind soziale Privilegien und Rechte nicht am biologischen Geschlecht festzumachen (ebd., 2023).

Die Ursachen für trans*feindliche Einstellungen sind vielfältig und das Thema rückt zunehmend in den Fokus, weshalb die Forschung in diese Richtung weiterhin voranschreitet. Im Folgenden sind die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit dargestellt.

4. Auswirkungen von Transfeindlichkeit auf die psychische Gesundheit

Im Minority Stress Modell spielen die verschiedenen Arten von Stress eine entscheidende Rolle, um die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit gegenüber marginalisierten Gruppen zu verstehen. Im Folgendem wird anhand von Ergebnissen und Erkenntnissen aus verschiedenen Studien und Forschungsarbeiten dargestellt, inwiefern Trans*feindlichkeit negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat.

Trans*feindlichkeit lässt sich nicht klar einordnen. Klassisch könnte man sagen, dass es sich um eine Diskriminierungsform handelt und somit als distaler Stress beschrieben wird. Dieser hat jedoch auch Einfluss auf proximalen Stress.

In der Studie von Timmins, Rimes & Rahman (2017) wurden direkte und indirekte Zusammenhänge zwischen Stressoren der Minderheit und psychischer Belastung an einer großen und geographisch vielfältigen Stichprobe (N= 1207) untersucht. Die Erwartung der Ablehnung, die Selbststigmatisierung und die Vorurteilserlebnisse waren alle mit psychischer Belastung verbunden. Die Beziehungen wurden teilweise durch das Grübeln erklärt und zeigte 54,5 Prozent der Varianz der psychischen Belastung und 29,3 Prozent des Grübelns. Die Ergebnisse verdeutlichen die starke Beziehung zwischen den Minderheitsstressoren und psychischen Belastungen von trans* Menschen.

Eine weitere Untersuchung zum Wohlbefinden von trans* Menschen (N= 90) in der Schweiz veranschaulicht Befragungen zu erlebter Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität, internalisierter Trans*feindlichkeit, Lebenszufriedenheit und psychischer Belastung (Ott, Regli & Znoj, 2017). Die Auswertung zeigt eine hohe Prävalenz an psychischer Belastung und eine starke negative Korrelation zwischen Minderheitenstress und Wohlbefinden. Internalisierte Trans*feindlichkeit vermittelt einen Zusammenhang zwischen Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität und dem Wohlbefinden. Diese Ergebnisse stützen das Minority Stress Modell.

Eine andere Studie zum Thema Genderidentität und sexuelle Orientierung untersucht Opfer in einer Stichprobe von 641 Menschen, die Gewaltverbrechen erlebt haben und eine medizinische Notfallbehandlung in einem öffentlichen Krankenhaus in Anspruch nehmen mussten (Cramer, McNiel, Holley, Shumway & Boccellari, 2012). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass lesbische, schwule, bi* und trans* (LSBT) Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer sexueller Übergriffe wurden. Außerdem leiden LSBT-Menschen signifikant mehr unter akutem Stress und allgemeinen Ängsten (ebd., 2012). Außerdem machen die Forschenden (2012) die Beobachtung, dass die Genderidentität der Opfer den Zusammenhang zwischen Art der Gewalt und dem Auftreten von Paniksymptomen und den Zusammenhang zwischen Traumageschichte und allgemeinen Angstsymptomen moderiert.

Eine weitere Studie (Jefferson, Neilands & Sevelius, 2013) aus diesem Bereich stellt dar, inwieweit der Zusammenhang besteht zwischen trans* Frauen of Colour, die von vielfältiger Diskriminierung betroffen sind, und Depressionen. In dem einfachen logistischen Regressionsmodell mit Exposition gegenüber trans*feindlichen Ereignissen an ein Depressionssymptom-Ergebnis angepasst, bedeutet jede Einheit Anstieg der Exposition trans*feindlichen Ereignissen eine um 3 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit Depressionssymptome zu erleben.

Zu einem signifikanten Ergebnis kommt auch die Online-Umfrage von 2003 mit einer Stichprobe von 1093 trans* Teilnehmenden. Eine hohe Prävalenz von klinischen Depressionen (44,1 %), Angstzuständen (33,2 %) und Somatisierung (27,5 %) werden dokumentiert. Des Weiteren zeigt sich, dass soziale Stigmatisierung in einem positiven Zusammenhang mit psychischer Belastung steht (ebd., 2003).

Ein Erklärungsmodell von Plöderl (2016) legt viele Studien dar, die ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit lesbischen, schwulen, bi*, trans* und inter* Menschen sehen. Dabei arbeitet er heraus, dass die Datenlage für die Gruppe der trans* Menschen noch nicht ausreichend ist. Die Ergebnisse lassen jedoch auf ein erhöhtes Risiko schließen.

Aufbauend auf diesen Informationen gibt es Präventions- und Interventionsstrategien, die vor allem den negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit abschwächen oder verhindern können. Diese werden im Folgenden dargestellt.

5. Präventions- und Interventionsstrategien

Eine Strategie ist es, die Sichtbarkeit von trans* Menschen grundlegend zu erhöhen (Klocke, 2017). Der sogenannte Mere exposure-Effekt, den man auch aus dem Bereich der Werbung kennt, kann dazu führen, dass sich Einstellungen ändern. Es wird positiver auf vertraute Personen reagiert. Aufbau von Vertrautheit durch das Kennenlernen von trans* Persönlichkeiten kann deshalb ein wichtiger Schritt sein (ebd., 2017). Umsetzen kann man das durch Aufklärungsprojekte, Aufklärungsarbeit und Kontaktinterventionen, die vor allem von Autoritäten oder Institutionen gestützt werden (Allport, Clark & Pettigrew, 1954).

Um trans*feindliche Angriffe von vornherein abzuwenden, können geschützte Räume erschaffen und genutzt werden, in denen die Identität selbstverständlich akzeptiert wird (Franzen, 2011). Auch die Einführung von einem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und Transphobie am 17. Mai 2009 führt zu mehr Sichtbarkeit. Und auch Demonstrationen wie der transgeniale CSD in Berlin sind Wege, um Unsicherheit und Unsichtbarkeit abzubauen.

Eine andere Möglichkeit ist, sich über einen respektvollen zwischenmenschlichen Umgang mit trans*Personen zu informieren (Kailey, 2013). Man kann verschiedenste Literatur nutzen, die für unpassende Fragen sensibilisiert und Unwissende darauf hinweist, welche Bedürfnisse die trans* Community hat. Bespiele hierfür sind, nicht nach Operationen, Geschlecht oder Erfahrungen über Ausgrenzung zu fragen, Personen nicht ungewollt zu outen und die korrekten Pronomen und Namen zu verwenden (ebd.,2013).

Auch institutionell ist es wichtig für trans* Menschen eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, wobei eine Reform zum Transsexuellengesetz (TSG) auf den Weg gebrachten werden soll. 2011 wurde vom Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. Aktuell stehen diese Reform und neue Gesetzesentwürfe in Diskussion.

Ebenfalls von großer Bedeutung sind pädagogische Einrichtungen, wie Schulen, um aufzuklären, die Lebenswirklichkeit von trans* Menschen in Schulbüchern darzustellen und das Thema Genderidentität im Allgemeinen einen Raum zu geben, um Vorurteile frühzeitig abzubauen, aber auch positive Erfahrungen zu schaffen (Krell, 2019).

Die vorangegangenen Strategien zur Prävention und Intervention zielen vor allem auf den Abbau von Vorurteilen ab und auf den Schutz vor Trans*feindlichkeit. Haben Menschen diese feindlichen Erlebnisse in ihrem Leben durchgemacht, ist es wichtig, auch hier Schutz und Hilfe anzubieten, um die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit einzudämmen. Allerdings haben viele trans* Menschen Vorbehalte gegen eine psychotherapeutische Behandlung, da sie auch immer noch von der Krankenkasse in Deutschland gefordert wird, um eine geschlechtsangleichende Behandlung zu übernehmen. Auch wird in Therapien eher geprüft und versucht umzustimmen, da früher das Trans*-Sein als psychische Störung eingeordnet wurde. Dabei sollte die Entscheidung zu einer psychotherapeutischen Behandlung individuell getroffen werden und nicht als Grundlage für die Auslebung einer eigenen Identität genutzt werden.

Die trans* Community stellt ebenso eine große Ressource für die mentale Gesundheit da, worauf in der Hausarbeit aufgrund von Limitationen nicht weiter eingegangen wird.

6. Zusammenfassung/Diskussion

Zusammenfassend kann bezüglich der in der Hausarbeit gewonnenen Erkenntnisse gesagt werden, dass obwohl ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen bei trans* Personen zum Teil auf Geschlechtsdysphorie zurückzuführen sein kann (Leiden, das aus der Inkongruenz zwischen dem zugewiesenen und dem erlebten Geschlecht), trans* Personen einem sozialen Umfeld mit Vorurteilen gegen trans* und soziale Stigmatisierung, bekannt als Trans*feindlichkeit, ausgeliefert sind (Norton & Herek, 2013).

Das Wohlbefinden spielt eine entscheidende Rolle bei der psychischen Gesundheit jedes Individuums. Trans* Menschen haben mit einer Vielzahl von Belastungen zu kämpfen, die das Wohlbefinden beeinträchtigen und somit auch ihre mentale Gesundheit. Dazu gehören soziale Stigmatisierung, Diskriminierung, Vorurteile, Gewalt und Trans*feindlichkeit, die diese Probleme erheblich verschärfen. Die permanente Angst vor Diskriminierung und Gewalt, die viele trans* Personen begleitet, belastet ihre psychische Gesundheit. Depressionen, Angstzustände, Suizidalität, posttraumatische Belastungsstörungen und Selbstverletzung sind einige der Auswirkungen.

Das in der Literatur gefundene Minority Stress Modell ließ sich anhand der vorgestellten Studien belegen und stellt eine wichtige Grundlage da, um zu verstehen, wie es durch täglich erlebten Stress zu psychischen Belastungen bei trans* Menschen kommen kann.

Es ist unerlässlich, trans* Menschen auf unterschiedlichen Ebenen zu unterstützen, Trans*feindlichkeit zu bekämpfen und für betroffene Menschen einzustehen.

7. Resümee

In meiner zukünftigen Arbeit als Psychotherapeutin möchte ich besonders auf die Bedürfnisse von trans* Menschen achten. Es ist besorgniserregend, was Menschen erleben müssen, die sich nicht ihrem zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen. Ich denke, dass es eine sehr wichtige Aufgabe ist, die Psychotherapie hier weiter auszubauen und auf das Individuum anzupassen. Das sehe ich auch in meiner aktuellen Beschäftigung speziell mit suchterkrankten Menschen. Sie erleben soziale Stigmatisierung durch ihre Erkrankung und bei einer anderen Geschlechtsidentität zusätzliche Diskriminierung, was zum Teil ihre Grunderkrankung beeinflussen kann. In diesem Bereich ist die Forschung noch ganz am Anfang und ich denke, dass vor allem Mehrfachdiskriminierung zunehmend einen Bereich in der psychologischen Forschung einnehmen wird.

Des Weiteren braucht es mehr Strategien, um Trans*feindlichkeit zu verhindern.

Auch habe ich in meiner Literaturrecherche gesehen, dass die Forschung im Bereich der Genderidentität weiter ausgebaut werden sollte, auch da das Thema zunehmend an Relevanz gewinnt und mehr Menschen zu ihrer Geschlechteridentität stehen.

Literaturverzeichnis

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Cramer, R. J., McNiel, D. E., Holley, S. R., Shumway, M., & Boccellari, A. (2012). Mental health in violent crime victims: Does sexual orientation matter? Law and Human Behavior, 36(2), 87–95. https://doi.org/10.1037/h0093954

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Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite

Atanasova Polina (S0Se 2023)

Einleitung

Die Gesundheitsversorgung ist ein grundlegendes Menschenrecht, das jedem Individuum unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft gleichermaßen zugänglich sein sollte. Dennoch offenbart die Realität, dass die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Defiziten konfrontiert ist.          
Historisch gesehen hat die Medizin den männlichen Körper als universelles menschliches Modell verwendet.[1] Dabei wurden anatomische Abbildungen, Symptom-Beschreibungen, diagnostische Verfahren und Therapien ohne Berücksichtigung anderer Geschlechter entwickelt. Dies führte zu einer unangemessenen medizinischen Versorgung für Frauen*[2] und Minderheitsgruppen[3], die häufig vernachlässigt oder stigmatisiert wurden.         
Obwohl es Fortschritte bei der Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Reduzierung der Stigmatisierung gibt, sind Frauen* und LGBTQ*-Personen nach wie vor einem besonderen Maß an Unsichtbarkeit, Diskriminierung und Ungerechtigkeit ausgesetzt.

Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu schildern, denen Frauen* und LGBTQ*-Personen gegenüberstehen. Dabei liegt der Fokus auf den verschiedenen Faktoren und Erfahrungen von Frauen* und LSBTQ*-Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt.

1. Die medizinische Pathologisierung von Frauen*

Traditionelle Annahmen über Männlichkeit und Weiblichkeit haben im gesellschaftlichen Bewusstsein gewisse Asymmetrien in den Vorstellungen über beide Geschlechter gefestigt. Diese Geschlechterasymmetrien äußern sich hauptsächlich in stereotypen Geschlechterbildern, die sowohl negative Vorstellungen über das andere Geschlecht als auch positive Selbstbilder auf der Grundlage bestimmter Merkmale einschließen können. Solche stereotypen Vorstellungen über das Verhalten beider Geschlechter sind das Ergebnis historisch gewachsener sozialer Rollenverteilungen.[4] Historisch betrachtet wurde der männliche Körper als Norm angesehen, während der weibliche Körper als abweichend und pathologisch erklärt wurde.[5]    
Wie von Karin Nolte betont wird, bleibt diese Wahrnehmung auch in der Gegenwart hartnäckig bestehen:

„Bis heute prägen Geschlechterkonzeptionen der Medizin des 19. Jahrhunderts Wahrnehmungen von Weiblichkeit und Krankheit in unserer Gesellschaft, die nach wie vor auf der Vorstellung einer dichotomen Geschlechterordnung basieren.“

[6]

Die Pathologisierung von Frauen* in der Medizin hatte verschiedene Konsequenzen: Fehl- oder Überversorgung im Bereich der Medikalisierung durch Psychopharmaka; Vernachlässigung spezifischer Gesundheitsbedürfnisse; Stigmatisierung, sowie Unterrepräsentation von Frauen* in klinischen Studien.[7] In der Tat, obwohl geschlechtsspezifische Unterschiede in Symptomatik und Krankheitsverlauf nachgewiesen sind, werden klinische Studien häufig nur an männlichen* Probanden durchgeführt und Diagnosekriterien, Behandlungsmöglichkeiten sowie Medikamentendosierungen sind hauptsächlich auf Männer* ausgerichtet.[8] Weiterhin zeigen internationale Studien[9], dass Schmerzen bei Frauen* häufig unterschätzt oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn die Schmerzen nicht mit anderen Symptomen einhergehen.[10]   
Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der medizinischen Praxis werden nicht alle Körper gleichwertig behandelt. Besonders betroffen von dieser Ungleichbehandlung sind Frauen*, die als nicht weiß gelesen werden: bei ihnen überlagern sich sexistische und rassistische Vorurteile, was oft zu einer besonders schlechten medizinischen Versorgung führt.[11]  
Weitere Diskriminierungsrisiken aufgrund der sexuellen Identität betreffen vor allem nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Menschen. Dies kann auf mangelnde Sensibilität und Stereotypen seitens medizinischen Personals, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie Zugangsbarrieren zu speziellen medizinischen Dienstleistungen zurückgeführt werden.[12]

All diese Aspekte werden genauer erläutert, und es wird auf die spezifischen Erfahrungen von Frauen* und LGBTQ*-Menschen in Deutschland eingegangen. Zuvor ist es jedoch wichtig, kurz zu definieren, was unter geschlechtsspezifischer Medizin zu verstehen ist.

2.     Geschlechtsspezifische Medizin

Die geschlechtsspezifische Medizin (auch als Gendermedizin bekannt) untersucht die Auswirkungen von biologischen und soziokulturellen Geschlechteraspekten auf Prävention, Entstehung, Diagnose, Therapie und Forschung von Krankheiten. Ihr Hauptziel besteht darin, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu optimieren.[13]
Dieses Teilgebiet der Humanmedizin entstand in den 1970er Jahren als Reaktion auf die internationale Frauengesundheitsbewegung. Anfangs lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf den Gesundheitsproblemen von Frauen*, doch im Laufe der Zeit hat sich ein ausgewogenes Interesse an der Erforschung anderer Geschlechter etabliert.[14]       
Dank der geschlechtsspezifischen Medizin konnte ein stark ausgeprägter Geschlechterunterschied bezüglich des Gesundheitsgeschehens nachgewiesen werden, d. h., in der Morbidität (Krankheitshäufigkeit) und der Mortalität (Sterberate). In den Entstehungsprozessen von Krankheiten sowie den Krankheitsverläufen und im Gesundheitsverhalten scheinen Männer* und Frauen* sich signifikant zu unterscheiden.
Es muss jedoch beachtet werden, dass die Medizin in ihrer Definition von Gender[15] immer noch ein dichotomes, normiertes zweigeschlechtliches Verständnis nutzt: das Forschungsfeld konzentriert sich vorrangig auf die Binarität der Geschlechter Mann* und Frau*. Studien zu trans* und queeren Personen sind in diesem Bereich selten anzutreffen.[16]              

Es lässt sich also konstatieren, dass die geschlechtsspezifische Medizin eine bedeutsame und vielversprechende Disziplin darstellt, welche das Potenzial besitzt, die Gesundheitsversorgung erheblich zu optimieren. Indem geschlechtsspezifische Unterschiede in Betracht gezogen werden, können genauere Diagnosen und individualisierte Behandlungen ermöglicht werden, was zu verbesserten Ergebnissen für die Patienten führt. Des Weiteren trägt die geschlechtsspezifische Medizin dazu bei, gezieltere Präventionsstrategien zu fördern.
Dennoch ist es auch unbestreitbar, dass der geschlechtsspezifischen Medizin gewisse Herausforderungen gegenüberstehen. Eine nähere Erläuterung dieser Herausforderungen folgt im anschließenden Abschnitt.

3. Probleme und Barrieren der gesundheitlichen Versorgung  

In unserem alltäglichen Wissen wird die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen sowie die von Geburt an festgelegte Geschlechtszugehörigkeit (und größtenteils die damit verbundene Heterosexualität) in der Regel als selbstverständlich und natürlich akzeptiert und praktiziert.[17] Dennoch handelt es sich bei der Geschlechtskategorie um ein sozial strukturelles und sozial konstruiertes Phänomen, das historisch und gesellschaftlich geformt ist und in sozialen und alltäglichen Interaktionen sowie Handlungen reproduziert wird.            
Geschlecht klassifiziert Individuen in zwei unterschiedliche Gruppen, basierend sowohl auf biologischen Zuordnungen als auch auf gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen.
Demzufolge liegt das Problem dieser Ausrichtung an zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Normen in der Gesundheitsversorgung hauptsächlich darin, dass es spezifische Benachteiligungen aufgrund der geschlechtlichen und sexuellen Identität verursacht.[18]        
Wie bereits zuvor kritisch angemerkt wurde, werden Frauen* in medizinischen Studien oft nicht angemessen berücksichtigt, während nicht-binäre Personen, die sich außerhalb des traditionellen Geschlechterspektrums identifizieren, mit unzureichender Anerkennung und Sensibilisierung seitens Gesundheitsdienstleistern konfrontiert sind. Dies führt zu geschlechtsbezogenen Datenlücken, erschwertem Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, Schwierigkeiten bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen, psychischen Gesundheitsproblemen und sozialer Stigmatisierung.            
Diese Probleme verdeutlichen die Notwendigkeit einer geschlechtsbewussten und LGBTQ* inklusiven Herangehensweise in der Medizin, um eine gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung für Frauen* und LGBTQ*-Menschen sicherzustellen.

Im Folgenden werden wir uns in den kommenden beiden Abschnitten konkret mit Daten und Erfahrungen bezüglich der Gesundheitsversorgung von Frauen und LGBTQ*-Menschen in Deutschland auseinandersetzen.

3.1 Erfahrungen von Frauen*

Laut des RKI-Berichtes zur gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland[19] von 2020 sind Frauen* häufiger von psychischen Störungen – vor allem von Depression, Angststörungen und Essstörungen – betroffen als Männer*:

„Bei der Entstehung psychischer Störungen spielen biologische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle und werden als Gründe für bestehende Geschlechterunterschiede diskutiert. Aber es scheint auch Unterschiede in der ärztlichen Diagnosestellung zu geben: so wird bei gleicher Symptomatik bei Frauen häufiger eine psychische, bei Männern eine körperliche Erkrankung diagnostiziert.“

[20]

Forschungsergebnisse[21] belegen, dass Frauen* im Vergleich zu Männern* seltener Schmerzmittel verschrieben bekommen, wenn sie unter Schmerzen leiden, und stattdessen häufiger an Psycholog*innen überwiesen werden.[22]       
Hier lässt sich argumentieren, dass es sich bei den festgestellten gesundheitsspezifischen Unterschieden um naturgegebene Phänomene handelt, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch ist es wichtig zu beachten, dass viele der gesundheitlichen Probleme von Frauen* nicht unmittelbar mit ihren spezifischen biologischen Eigenschaften in Verbindung stehen. Vielmehr sind sie das Ergebnis oder die Folge anhaltender Diskriminierung oder Benachteiligung.[23]        
Es kann festgestellt werden, dass die geschlechtsspezifische Medizin in der Realität nicht immer das gewünschte Maß an Inklusivität aufweist. Studien weisen darauf hin, dass ärztliches Fachpersonal männliche* Beschwerden ernster nehmen. Dagegen werden bei dem weiblichen Geschlecht anscheinend häufiger psychisch bedingte Leiden vermutet und die Behandlung dementsprechend ausgerichtet.[24] 
Deutliche Geschlechterunterschiede zeigen sich auch im Bereich der Gesundheitsversorgung, z.B. bei der Einnahme von Arzneimitteln. Sie betreffen zum einen die Verstoffwechselung und Wirkung von Arzneimitteln, einschließlich der Nebenwirkungen. Zum anderen gibt es Unterschiede in der Inanspruchnahme: Frauen* wenden häufiger Arzneimittel an als Männer*, sowohl mit ärztlicher Verordnung als auch in Selbstmedikation.[25]   
Besonders ausführlich belegt sind Behandlungsunterschiede nach Geschlecht bei Herzinfarkten. Nach Berücksichtigung der vorhandenen Symptome und des kardialen Risikos wurden weibliche Patientinnen, die mit Brustschmerzen die Notaufnahme aufsuchten, im Vergleich zu männlichen Patienten seltener auf Herzkrankheiten getestet.[26]   
Zusätzlich erfuhren Frauen* mit Brustschmerzen in der Notaufnahme längere Wartezeiten im Vergleich zu Männern*. Diese Beobachtung wurde in vier Berliner Krankenhäusern bestätigt.[27] Des Weiteren ergab eine Studie, dass kardiologische Untersuchungen bei Frauen* deutlich häufiger fehlerhaft durchgeführt wurden als bei Männern*, insbesondere wenn diese von männlichen Ärzten vorgenommen wurden.[28]            
Armut und soziale Ungleichheit haben ebenso  zentrale Auswirkungen auf die Gesundheit: Immer noch bekommen Frauen* im Durchschnitt 21 % weniger Gehalt als Männer*.
Diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten haben einen deutlichen Einfluss auf das Gesundheitswesen und stellen Barrieren dar, die zu Unterschieden in den Zugangschancen von Männern* und Frauen* führen.[29]

3.2 Erfahrungen von LGBTQ*-Menschen

Eine andere von Diskriminierung im Gesundheitswesen betroffene Gruppe sind LGBTQ*-Menschen. Trotz gesellschaftlicher Fortschritte in Richtung Akzeptanz und Gleichstellung bestehen weiterhin pathologisierende und stigmatisierende Perspektiven auf nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Lebensweisen. LGBTQ*-Menschen sind nach wie vor einem erhöhten Risiko von Vorurteilen, Stereotypen und ungleicher Behandlung durch medizinisches Fachpersonal ausgesetzt. Diese Problematik wirkt sich nicht nur auf individuelle Gesundheitsergebnisse aus, sondern beeinträchtigt auch das Vertrauen und die Bereitschaft der LGBTQ-Gemeinschaft, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.[30]      
Insgesamt berichteten acht von zehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen (82%), mindestens einmal Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität an mindestens einem Ort erlebt zu haben. Bei jungen trans* und gender*diversen Menschen sind es gut neun von zehn (96%).[31] 
Die Erkenntnisse der Europäischen Union Agentur für Grundrechte zeigen, dass jeder fünfte Trans*Mensch im Gesundheitswesen Diskriminierung erfährt. Der Bericht enthüllt, dass Trans*Menschen oft mit einem Mangel an Fachwissen über Transgender-Anliegen seitens der Gesundheitsdienstleister konfrontiert werden, unangemessene Fragen gestellt bekommen, ihr Geschlecht wiederholt fehlerhaft interpretiert wird, sie nicht ernst genommen oder beschimpft werden und ihnen sogar die Behandlung verweigert wird.[32]   
Ein weiteres Beispiel in Hinblick auf die Verweigerung von gleichen Zugängen findet sich im Gesundheitsbereich, da der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Menschen mit einer HIV-Erkrankung deutlich erschwert ist. Ein konkretes Problem besteht darin, dass HIV-positive Menschen Schwierigkeiten bei der Terminvereinbarung in Arztpraxen haben.[33]     
Zwei Studien[34] zur Gesundheit von lesbischen Frauen liefern ebenfalls klare Hinweise darauf, dass es im deutschen Gesundheitssystem Barrieren gibt.         
Insgesamt hatten über 20% aller Befragten Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitssystem aufgrund ihrer lesbischen oder bisexuellen Lebensweise; ebenso viele gaben an, ihre soziosexuelle Identität aus Furcht vor Stigmatisierung und Ausgrenzung im medizinischen Bereich nicht offen gelegt zu haben: „Ich habe es nie öffentlich gemacht, um nicht schlechter behandelt zu werden.“[35]  
Oftmals wurden Frauen* fälschlicherweise als heterosexuell gelesen, sogar nachdem sie ihr Coming-out hatten, bis sie aktiv diese Annahme korrigierten. Die betroffenen Frauen* kritisierten die Verwendung nicht-einschließender Fragen, die ein „Zwang zum Selbst-Outing“ darstellten. Solche Fragen bezogen sich zum Beispiel auf Verhütung oder den letzten Geschlechtsverkehr, wobei nur heterosexueller Geschlechtsverkehr angenommen wurde.
Wenn sich Frauen nicht offenbarten, führte dies vor allem in der gynäkologischen Versorgung zu Verwirrung auf Seiten der ÄrztInnen und sogar zu fehlerhaften Differentialdiagnosen und Therapieempfehlungen.[36]
Aus den Erkenntnissen über die gesundheitliche Situation von LGBTQ*-Menschen wird ersichtlich, dass sozialer Ausschluss und Diskriminierung den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung behindern. Um das Ziel des universellen Zugangs zu erreichen, ist es unerlässlich, angemessene Ressourcen bereitzustellen, um diese Barrieren zu überwinden.

Fazit

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gesundheitsbranche und die Forschungsgemeinschaft weiterhin in die geschlechtsspezifische Medizin investieren und sie als integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung etablieren. Durch eine verstärkte Sensibilisierung, Bildung und Zusammenarbeit kann sichergestellt werden, dass geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen berücksichtigt werden und alle Patienten von den Vorteilen einer personalisierten und geschlechtsgerechten Medizin profitieren.

Letztendlich bietet die geschlechtsspezifische Medizin eine vielversprechende Perspektive für eine inklusivere, gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung. Es besteht daher ein dringender Bedarf an Maßnahmen, um diese Herausforderungen anzugehen und die Versorgung dieser spezifischen Minderheitsgruppen zu verbessern.


[1] Vgl. Schiebinger, Londa. 1993. Schöne Geister: Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 291; sowie vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018). Medizin: Gendermedizin im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Tradition. In: Kortendiek, B., Riegraf, B., Sabisch, K. (eds) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, vol 65. Springer VS, Wiesbaden.

[2] Durch die Verwendung des Symbols „*“ wird betont, dass die Kategorie Geschlecht konstruiert ist. Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck sind keine fest definierten Kategorien. Sie gehen über die binären Bezeichnungen weiblich und männlich* bzw. Frau* und Mann* hinaus und umfassen eine Vielfalt von Identitäten.

[3] Mit dem Begriff sind: ethnische Minderheiten, LGBTQ+-Personen und Menschen mit Behinderungen gemeint.

[4] Vgl. Khrystenko, O. (2016). Die Manifestierung von Geschlechterstereotypen in Metaphern der deutschen Jugendsprache. Linguistik Online75(1). S.84-85.

[5] Vgl. Nolte, K. (2020). „Medizin und Geschlecht“ – Medizinhistorische Perspektive. Schwerpunkt: Gender & Medizin. In: Dr. med. Mabuse 247 September/Oktober 2020, S. 39.

[6] Ebenda, S. 39.

[7] Vgl. Maschewsky-Schneider U. (2002). Gender Mainstreaming im Gesundheitswesen — die Herausforderung eines Zauberwortes. In: Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis 34(3). S. 493.

[8] Vgl. Bartig et al. (2021): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. S. 32.

[9] Verweis auf Chen et al. 2008; Hoffmann und Tarzian 2001; Pierik et al. 2017; Samulowitz et al. 2018

[10] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[11] Vgl. Süess, M. Medizin: Wer hat Angst vor der gesunden Frau? WOZ Die Wochenzeitung. https://www.woz.ch/2236/medizin/medizin-wer-hat-angst-vor-der-gesunden-frau/!GGDTEYEPQ0RZ

[12] Vgl. K. Oldemeier, Kerstin: Sexuelle und geschlechtliche Diversität aus salutogenetischer Perspektive: Erfahrungen von jungen LSBTQ*-Menschen in Deutschland, In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2-2017, S. 146.

[13] Vgl. Meinert, T. (2023): Geschlechtsspezifische Medizin. In: Deutscher Bundestag Nr. 09/23, S. 1.

[14] Vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018).

[15] Mit dem Begriff Gender ist das gesellschaftlich zugewiesene und sozial konstruierte Geschlecht gemeint.

[16] Vgl. Keim-Klärner, S. (2019). Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Kontext verschiedener Ungleichheitsdimensionen. In: Neue Ideen für mehr Gesundheit. Georg Thieme Verlag KG. S. 276.

[17] Verweis auf die Studie von Wetterer, 2004.

[18] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 56.; sowie Verweis auf die Studie von Pöge et al. 2020.

[19] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, aufrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/11_Zusammenfassung_Fazit.pdf?__blob=publicationFile.

[20] Ebenda, S. 377.

[21] Verweis auf Naamany et al. 2019; Samulowitz et al. 2018.

[22] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[23] Vgl. Riggers, M.: Gender Mainstreaming in Niedersachsen. In: Gesundheitswesen. 12. Tagung des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen am. 7. Dezember 2000 in Hannover, SS.4-5.

[24] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[25] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, S. 378.

[26] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chang et al. 2007.

[27] Verweis auf Jungehulsing et al. 2006.

[28] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chakkalakal et al. 2013.

[29] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[30] Verweis auf Oldemeier (2017).

[31] Ebenda, S.56.

[32] Vgl. Karsay, D. (2017, October 10). Gesundheitliche Diskriminierung von Menschen außerhalb des binären Geschlechtersystems | Heinrich-Böll-Stiftung. Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/de/2017/10/10/gesundheitliche-diskriminierung-von-menschen-ausserhalb-des-binaeren-geschlechtersystems.

[33] Vgl. Kalkum, Dorina; Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland anhand der sexuellen Identität: Ergebnisse einer quantitativen Betroffenenbefragung und qualitativer Interviews. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes. S. 88.

[34] Verweis auf Dennert 2005; Wolf 2004.

[35] Vgl. Dennert, G.; Wolf, G. Gesundheit lesbischer und bisexueller Frauen. Zugangsbarrieren im Versorgungssystem als gesundheitspolitische Herausforderung. In: Femina Politica 1 | 2009, S.50.; Zitate aus dem offenen Frageteil der Fragebogenerhebung. Sie werden hier z.T. gekürzt und in neuer Rechtschreibung wiedergegeben; Dennert 2005, 75-82.

[36] Ebenda.


Quelle: Atanasova Polinda, Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=399

Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?

Nele Lorenz (SoSe 2023)

1. Einleitung

Das Erkranken an einer Depression stellt in der heutigen Gesellschaft ein zunehmendes Risiko dar. Insbesondere Frauen scheinen vermehrt betroffen. Sie erkranken häufiger an Depressionen und weisen ausgeprägtere depressive Symptome auf. Werden allerdings die geschlechterspezifischen Suizidraten miteinander verglichen, kann ein Paradoxon festgestellt werden. Obwohl Männer seltener mit einer Depression diagnostiziert werden, suizidieren sie sich fast doppelt so häufig wie Frauen (Wolfersdorf et al., 2006). Schlussfolgernd kann von einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern ausgegangen werden. Es stellt sich die Frage inwieweit sich traditionelle Bilder von Männlichkeit auf dieses Phänomen auswirken und eine Ursache darstellen.

Die vorliegende Ausarbeitung wird sich im Folgenden auf den derzeitigen Literaturbestand und die Forschung, in Hinblick auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Konzepten von Männlichkeit und einer depressiven Erkrankung bei Männern, beziehen. Die anfängliche Darstellung von traditionellen Männlichkeitsbildern, sowie die darauffolgende Beschreibung einer depressiven Erkrankung anhand des ICD-10 fungiert als Grundlage der Analyse. Der Hauptteil umfasst die Betrachtung eines männerspezifischen Depressionsverständnisses mit vier verschiedenen Schwerpunkten. Es werden die grundlegenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Prävalenz von Depressionen aufgeführt. Anschließend werden die Artefakttheorie, sowie der Begriff der Maskierten Depression und die Thematik des Hilfesuchverhaltens als Verständnis einer männerspezifischen Depression veranschaulicht. Den Schluss bildet ein Resümee.

Die Literatur, sowie die Forschung, die sich mit der beschriebenen Thematik befasst, geht oftmals von einem binären System der Geschlechter aus. Zusätzlich wird größtenteils nicht ausreichend konkret zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen (gender) Geschlecht unterschieden. Im Folgenden werde ich demnach ausschließlich auf die binären Konzepte von Frau und Mann eingehen können. Da sich die Ausarbeitung insbesondere mit gesellschaftlich vermittleten Geschlechterbildern auseinandersetzt, werde ich mich mit dem Begriff „Geschlecht“ auf das soziale Geschlecht beziehen. Ich werde versuchen diesen Begriff zu vermeiden und stattdessen „Gender“ zu verwenden.

2. Männlichkeitskonzepte

Die folgenden Unterkapitel befassen sich mit grundlegenden traditionellen Bildern von Männlichkeit, sowie der hegemonialen Männlichkeit als konkretes Konzept.

2.1. Traditionelle Männlichkeit

Die Idee der traditionellen Männlichkeit lässt sich mit den Begriffen der Genderrolle und Gendernorm weiter ausführen und konkretisieren.

Die männliche Genderrolle beinhaltet Erwartungen an die Rolle als Mann, die im Verlauf des Sozialisationsprozesses von Individuen erlernt und auf diesem Weg von einer Generation in die nächste weitergegeben werden (Addis & Mahalik, 2003; Branney & White, 2008). Traditionell männliche Normen beeinflussen diese idealisierte männliche Genderrolle, die somit keine angeborene Eigenschaft darstellt (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003). Die Gendernormen beinhalten soziale Normen, die vorgeben, welche Verhaltensweisen, Eigenschaften, Gedanken und Emotionen bei den binären Konstrukten von Geschlecht, demnach bei Männern und Frauen erwünscht sind und erwartet werden (Syzdek & Addis, 2010). Idealisierte Eigenschaften wie körperliche Stärke, kompetitives Verhalten in Zusammenhang mit Erfolg, dem Interesse an Macht, emotionaler Gleichmut oder Anti-Feminität zählen zu der männlichen Gendernorm (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003).

2.2. Hegemoniale Männlichkeit

Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit findet sich erstmals in der marxistischen Literatur des italienischen Autors Gramsci wieder (Connell, 1987; Donaldson, 1993). Der Gedanke der hegemonialen Männlichkeit geht davon aus, dass Frauen schwächer und vulnerabler als Männer sind und ihnen außerdem körperlich unterlegen sind. Das Bitten um Hilfe hingegen, also auch sich um seine*ihre Gesundheit zu kümmern, ist weiblich konnotiert. Es besteht die Annahme, dass Männer strukturell leistungsfähiger sind und auch, dass Gesundheit und Sicherheit keine Rolle für einen Mann spielen sollen, wenn er dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit entsprechen will (Courtenay, 2000).

Das Konzept definiert eine Form von Männlichkeit und vermittelt ein dominierendes Bild, das als wünschenswert und erstrebenswert gilt (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005; Donaldson, 1993; Schigl, 2018). Es fungiert als handlungsleitender Grundeinstellung, an der Männer sowohl sich selbst als auch andere Männer messen (Möller-Leimkühler, 2010). Es wird von der Existenz einer Vielzahl unterschiedlicher Männlichkeit innerhalb einer bestimmten Kultur ausgegangen. Die hegemoniale Männlichkeit stellt allerdings das vorherrschende Modell der Männlichkeit, als Ausdruck von Macht, Prestige und Überlegenheit dar, dem andere Formen untergeordnet werden (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005). Ausschließlich für eine Minderheit von Männern ist dieses Idealbild realisierbar (Möller-Leimkühler, 2010). Die Aufrechterhaltung der hegemonialen Männlichkeit wird mit der Interaktion zwischen Männern sichergestellt. Die Männlichkeit eines Mannes wird von anderen Männern bestätigt (Schigl, 2018). Männer, die dem Bild der hegemonialen Männlichkeit nicht entsprechen laufen also Gefahr, von anderen Personen einer der „untergeordneten“ Form von Männlichkeit zugeordnet zu werden.

3. Depressionen

Die Diagnosekriterien einer Depression sind im ICD-10 unter dem Überbegriff der depressiven Episode festgehalten. Es werden eine gedrückte Stimmung und ein vermindertes Antriebs- und Aktivitätsverhalten beschrieben. Es können Schlafstörungen, eine Verminderung des Appetits und der Konzentration, sowie ausgeprägte Müdigkeit, auch nach nur kleinen Anstrengungen, auftreten. Zusätzlich sind Depressionen durch ein geringes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gekennzeichnet, das mit einem Gefühl der Wertlosigkeit einhergeht. Anhand der Anzahl und Schwere der Symptome findet eine Zuordnung zu einer leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Episode statt (ICD-code, o.J.).

4. Männerspezifische Depression

Die aufgeführten Unterkapitel stellen Argumentationspunkte in Bezug auf ein männerspezifisches Depressionsverständnisses dar und führen die Hintergründe für eine Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern auf. Grundlage ist der aktuelle Literatur- und Forschungsstand.

4.1. Datenlage zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen

Die Anzahl der depressiv diagnostizierten Männer und die Zahl der männlichen Suizidopfer weist in der Literatur eine Inkongruenz auf. Es wird davon ausgegangen, dass mehr Männer an Depressionen leiden, als die klinische Prävalenzrate vorhersagt. Begründet wird dies an der Feststellung, dass Frauen häufiger mit Depressionen diagnostiziert werden, Männer allerdings in der Relation viermal häufiger Suizid begehen (Addis & Cohane, 2005; Cochran & Rabinowitz, 2003; Fields & Cochran, 2011). Das Robert Koch Institut stellte in einer Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGD1) aus den Jahren 2008 bis 2012 eine 12-Monats-Prävalenz von 8,1% diagnostizierter Depressionen bei Frauen und 3,8% bei Männern fest (Müters et al., 2013). Bei Frauen werden demnach mehr als doppelt so häufig Depressionen diagnostiziert als bei Männern. Bei depressiven Frauen bewegen sich die Themen besonders in ihrem engeren Verpflichtungsfeld der Familie, Partnerschaft und Kinder, während bei männlicher Depression der Themenschwerpunkt vermehrt, egozentrisch, auf der eigenen Person liegt (Wolfersdorf et al., 2006). Depressive Frauen geben in einer Selbstbeurteilung außerdem signifikant höhere Werte in Bezug auf eine Selbstbeschreibung von Angst und Ärger-Äußerungen an. Außerdem berichten Frauen konstant von mehr Symptomatik hinsichtlich der Beschwerdeliste. Im Freiburger Erregbarkeitsinventar und im STAIG-Angstfragebogen erreichen Männer signifikant höherer Werte in dem Item der Erregbarkeit versus Hemmung (Wolfersdorf et al., 2006).

In Kulturen, in denen Alkoholkonsum und Suizid gesellschaftlich tabuisiert werden, wie beispielsweise in der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinde unterscheidet sich die Depressionsrate und -symptomatik zwischen Frauen und Männern nicht. Dieses Phänomen lässt sich auch in der Kultur der Amish People beobachten, in der die Geschlechterrollennormen streng egalitär sind (Möller-Leimkühler, 2008).

4.2. Artefakttheorie

Eine Studie von Mahalik und Cournoyer (2000) untersuchte den Einfluss von Männlichkeitsvorstellungen auf Männer mit Depressionen. Es wurde ein Vergleich der Testergebnisse der Gender Role Conflict Scale von depressiven und nicht depressiven Männern durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass Männer, die depressiv erkrankt waren, bei 17 Items, die sich auf Genderbilder bezogen, höhere Werte erzielten als Männer, die nicht depressiv waren. Die Autoren formulierten daraufhin die Annahme, dass Männer, die an Überzeugungen der männlichen Genderrolle festhalten, eher von Depressionen betroffen sind als Männer, die diese Überzeugungen nicht vertreten. Diese Überzeugung wird „genderspezifische kognitive Verzerrung“ genannt (Mahalik & Cournoyer, 2000). Folgernd kann von der Theorie ausgegangen werden, dass Männlichkeitsnormen die Entwicklung psychopathologischer Probleme begünstigen (Syzdek & Addis, 2010). Die sogenannte Artefakttheorie führt den Unterschied zwischen den Geschlechtern in der Prävalenz von Depressionen auf „künstliche“ Faktoren zurück. Es wird davon ausgegangen, dass Genderbilder, die über den Sozialisationsprozess vermittelt werden, sich auf die Wahrnehmung und Äußerung der Symptome bei Männern und Frauen auswirken. Es stellt sich die Frage, inwiefern sich Depressionen mit einer anderen Symptomatik bei Frauen und Männern äußern. Anhand einer Studie ließ sich zeigen, dass Symptommuster wie Irritabilität, antisoziales Verhalten und Aggressivität bei Männern häufiger ein Hinweis für eine depressive Erkrankung waren. Bei Frauen handelte es sich dagegen oftmals um eine grundlegende Unruhe, Klagsamkeit, als auch um eine depressive Verstimmung (Müters et al., 2013). Männer berichten außerdem häufiger von atypischen Symptomen als Frauen, die sich nicht den regulären diagnostischen Kriterien einer Depression im ICD-10 zuordnen lassen. Es handelt sich beispielsweise um Alkoholabhängigkeit, feindselige Verstimmungen, Verlangsamung in Bewegung und Sprache, sowie einem Mangel an Gesten (Branney & White, 2008). Die verwendeten Skalen zur Erfassung von Depressionen weisen eine frauenspezifischere Auslegung auf, was zu einer systematischen Unterdiagnostizierung und Unterschätzung von Depressionen bei Männern führen kann (Müters et al., 2013). Demnach lässt sich ein Gender Bias in der Depressionsdiagnostik festhalten.

4.2.1. „Male Depression“

Während eines Suizidpräventionsprogramms auf der schwedischen Insel Gotland wurde das Konzept der „male depression“, mithilfe von psychologischen Autopsien an durch Suizid verstorbenen Menschen und weiteren klinischen Erfahrungen, entwickelt. Nach Weiterbildungen in Bezug auf die Depressionsdiagnostik und -behandlung stellte sich heraus, dass sich die Suizidrate der Frauen auf der Insel um etwa 90% verringerte, während die der Männer allerdings unverändert blieb. Bei den Autopsien der männlichen Suizidopfer zeigte sich, dass diese oftmals sowohl depressiv, als auch teilweise alkoholabhängig waren. Den Ärzt*innen war diese Tatsache, im Gegensatz zu der örtlichen Polizei und Ordnungsbehörden, häufig nicht bekannt. 

Mit der Berücksichtigung der häufig zusätzlich auftretenden Symptome bei Männern wie Aggressivität, Irritabilität, antisoziales Verhalten, Ärgerattacken oder Risiko- und Suchtverhalten während der Therapie, konnte die Suizidrate der Männer reduziert werden.

Diese Erkenntnisse führten zu der Entwicklung der „Gotland Scale for Male Depression“, die als Screening-Instrument explizit nach männlichen Symptomen fragt.

Das Konzept der „male depression“ geht zusammenfassend davon aus, dass die zuvor aufgeführten Symptome, die eigentlichen depressiven Symptome bei Männern maskieren. Diese geschlechtertypische, allerdings depressionsuntypische Symptomatik, ist in den üblichen Depressionsinventaren nicht enthalten. Dies hat eine Unterdiagnostizierung von Männern mit Depressionen zur Folge und führt zu eventuellen Fehldiagnosen (Möller-Leimkühler, 2007).

 4.3. Maskierte Depression

In der Literatur lässt sich oftmals ein Zusammenhang zwischen der Forschung zu Männlichkeit und Depressionen und dem Begriff der „Alexithymie“ finden. Dieser beinhaltet u.a. den Verlust der Fähigkeit Gefühle zu erkennen, zu benennen und zu kommunizieren (Carpenter & Addis, 2000). Zurückhaltung in der Emotionalität wird typischerweise der traditionellen männlichen Norm zugeordnet und somit häufig mit Männern und Männlichkeit in Verbindung gebracht. Wird an diesen Mustern festgehalten, kann nicht adäquat auf eine depressive Erkrankung reagiert werden. Gefühle von Trauer, die mit einer depressiven Erkrankung verbunden werden, gelten als unerwünscht und unmännlich (Cochran & Rabinowitz, 2000). Ein Erreichen der männlichen Idealnorm scheint ausschließlich auf Kosten von weiblich definierten Emotionen und Eigenschaften, wie Angst, Schwäche, Traurigkeit, Unsicherheit und Hilflosigkeit möglich (Möller-Leimkühler, 2010). Es findet eine Externalisierung der einhergehenden Probleme statt. Aufgrund der verdeckten und externalisierten Symptome, die oftmals nicht mit einer Depression in Verbindung gebracht werden, zeigt sich eine depressive Erkrankung bei diesen Männern nicht direkt (Cochran und Rabinowitz, 2000; Addis, 2008). Cochran und Rabinowitz (2000) beschreiben dieses Phänomen in ihrem Buch „Men and Depression: Clinical and Empirical Perspectives“ als „maskierte Depressionen“. Die maskierte Depression schließt sowohl physische Krankheiten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, sexuelle Dysfunktion, als auch Aspekte wie häusliche Gewalt und Selbstsabotage im Beruf oder ähnlichem als mögliche Folgen und Anzeichen ein (Cochran & Rabinowitz, 2000). Rochlen et al. (2010) befragten im Rahmen einer Studie zum Einfluss der männlichen Genderrolle 45 Männer zu ihrer persönlichen Einstellung in Hinblick auf Genderrollen und Depressionserlebnissen. Die Beschreibungen der Probanden deckten sich zu einem Großteil mit dem Begriff der maskierten Depression. Es wird von Erwartungen an die männliche Rolle berichtet, die sich auf das Erleben der Depression auswirkten. Dazu zählten u.a. Erwartungen, wie nach außen hin ein gutes Bild zu vermitteln, keine Schwäche zu zeigen und Schmerzen zu verbergen. Auch die Erzählungen von Problemverhalten deckten sich mit der Theorie der maskierten Depression (Rochlen et al., 2010). Die Studie berichtete auch, dass einige Teilnehmer Depressionen als Gegenstück zum Glücklichsein betrachten, welches gelichzeitig selbst als unmännlich aufgefasst wird. Die Schlussfolgerung daraus ist die normative Betrachtung von Depression bei Männern (Rochlen et al., 2010).

4.4. Hilfesuchverhalten

Neben einem Gender Bias und dysfunktionales Stressverarbeitungsmustern und Umgangsformen lässt sich zusätzlich ein mangelndes Hilfesuchverhalten als Grund der Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern festhalten. Der gemeinsame Nenner dieser drei Faktoren stellt das Konstrukt der traditionellen Maskulinität dar, das eine Depression normativ ausschließt und deren Maskierung durch externalisierendes Verhalten fördert (Möller-Leimkühler, 2008). Traditionelle Männlichkeitsideale implizieren das Abhalten einer Hilfesuche (Addis & Mahalik, 2003; Epstein et al., 2010; Good et al., 1989). Good et al. (1989) fanden in einer Studie mit 401 männlichen Studenten heraus, dass bei Männern, die an traditionellen männlichen Genderrollen festhalten, das Hilfesuchverhalten geringer ausfällt als bei Männern mit einer weniger traditionellen Ausprägungen. Es zeigte sich, dass Männer, die eine negative Einstellung zu offener Emotionalität aufwiesen, weniger geneigt waren, sich psychologische Hilfe zu suchen (Good et al. 1989). Eine weitere Studie von Vogel et al. (2011) fand heraus, dass sich Selbststigmatisierung als ein entscheidender Prädiktor für ein Hilfesuchverhalten erwies. Zusammenfassend kann festgehalten, dass normative Geschlechterrollenerwartungen, die zu einer Nichtwahrnehmung und Verleugnung von Symptomen anleiten, Barrieren für eine Hilfesuche darstellen (Wolfersdorf et al., 2006). Zusätzlich werden psychische oder emotionale Probleme selten von Männern während eines Besuchs eines*r Ärzt*in angesprochen. Vielmehr wird von körperlichen Beschwerden berichtet. Dahinter verbirgt sich ein Vermeidungsverhalten, das die männliche Identität wahren soll (Möller-Leimkühler, 2008). Ein Therapieprozess kann nicht stattfinden, wenn sich ein depressiv erkrankter Mann keine Hilfe sucht.

5. Fazit

Schlussendlich lässt sich festhalten, dass die Unterdiagnostizierung von Depressionen im Vergleich zu der hohen Suizidrate bei Männern eine Problematik darstellt. Dieses Paradoxon lässt sich auf den Hintergrund von gesellschaftlich vermittelten traditionellen Gendernormen, wie der hegemonialen Männlichkeit, zurückführen. Stereotypische Genderbilder, die während eines Sozialisationsprozesses internalisiert werden, können eine maskierte Depression bei Männern hervorbringen. Hegemoniale Gedanken, wie beispielsweise „Männer sind nicht vulnerabel“ werden verinnerlicht und mit Scham verbunden. Symptome, wie ein verringertes Selbstwertgefühl, werden daraufhin von externalisierten Symptomen überdeckt. Diese zeigen sich beispielsweise in einer Alkoholsucht, was wiederrum eine Fehldiagnose zur Folge haben kann. Eine mangelndes Hilfesuchverhalten, das von Genderbildern unterstützt wird, führt zusätzlich zu einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern. Auch der Gender Bias in der Diagnostik lässt sich als eine Ursache für die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zwischen den binären Gendersystemen verordnen. Beurteilungsskalen und Diagnosekriterien weisen insbesondere in Hinblick auf traditionelle Genderrollen einen frauenspezifischen Schwerpunkt in der Symptomatik auf.

Ich möchte abschließend die Kritik aufführen, dass Probanden der wenigen Studien oftmals weiße, heteronormative, cis-männliche Universitätsstudenten aus den USA waren. Die Studien sind demnach nicht repräsentativ für Männer anderer Ethnien oder anderer sexueller Orientierung. Auch der sozioökonomische Hintergrund wurde häufig nicht miteinbezogen. Verallgemeinernd ist zu verzeichnen, dass noch nicht ausreichend wissenschaftliche Evidenz für das Konzept von männlichen Depressionen, sowie Studien zur Thematik von geschlechterspezifischer Wirksamkeit von Antidepressiva oder psychotherapeutischen Verfahren bestehen. Zukünftig werden weitere Untersuchungen, die Studien, wie die auf der Insel Gotland weiter untermauern und stärken, von großer Bedeutung sein, um die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zu reduzieren und Betroffenen umfangreicher behandeln zu können. Es ist von großer Wichtigkeit, ein Bewusstsein und eine Sensibilität für die Lücke in der Forschung, als auch im zwischenmenschlichen Umgang, zu schaffen.

6. Literaturverzeichnis

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Quelle: in: Nele Lorenz, Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=395

Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung

Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz

John Krakow (WiSe 2022/23)

Einleitung

Zur trans* Geschichte gehört auch Pathologisierung und Fremdbestimmung. Einen großen Anteil daran hat das TSG, das sogenannte „Transsexuellengesetz“. Es regelt in Deutschland die Personenstands- und Vornamensänderung für trans* Personen (Stand Mai 2023). Das Gesetz ist seit dem 1. Januar 1980 in Kraft, jedoch längst überholt und mehrfach für verfassungswidrig erklärt worden.[1] Zur trans* Geschichte gehört aber auch Vielfalt, Freude und Kultur, um die es öfter gehen sollte, leider wird sie auch hier wieder zu kurz kommen. Aktuell ist die Frage nach Selbstbestimmung, das Händeringen nach Sichtbarkeit und die Notwendigkeit von Information brennend. Seit dem 09.05.2023 liegt der Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz vor, nun liegt er bei den Interessenverbänden.[2]

In dieser Hausarbeit wird es hauptsächlich um die Erklärung des TSG gehen, auch unter Bezugnahme des Entwurfes zum Selbstbestimmungsgesetz. Dabei fokussiere ich mich auf den Aspekt der Pathologisierung. Zum Schluss habe ich meine eigene Meinung in einem Essay zusammengefasst, das sich mit der Pathologisierung auf der alltäglichen und gesellschaftlichen Ebene beschäftigt.

Begriffe

Zunächst ist eine Begriffsdifferenzierung nötig, da das TSG den veralteten Begriff transsexuell im Namen trägt. Trans* sein hat nichts mit Sexualität zu tun, sondern befindet sich auf der Geschlechtsebene: Trans* Personen können jede Sexualität haben, die cis Personen auch haben können. Transsexualität oder auch Transsexualismus kommen aus einem medizinischen, pathologisierenden Kontext, in dem Transidentität als Krankheit eingestuft wurde. Außerdem hängt der Begriff transsexuell auch mit Gatekeeping und der Vorstellung zusammen, man sei nur wirklich trans*, wenn man sich einer „vollständigen“ Transition unterziehe. Der Begriff Transsexuell wird daher nicht mehr verwendet, sondern stattdessen transident, transgeschlechtlich oder auch transgender, da die Begriffe genauer und wertfreier sind. Es wird auch nicht mehr von Transsexuellen gesprochen, sondern von trans* Personen.

Diese Differenzierungen und Untersuchungen sind wichtig, da hinter den Begriffen auch gesellschaftliche Verständnisse stecken.

Aktuelle Namens- und Personenstandsänderung

Um aktuell als trans* Person Vornamen und/oder Personenstand zu ändern, muss das TSG durchlaufen werden. Unterschieden wurde in der Vergangenheit zwischen „der kleinen Lösung“ und „der großen Lösung“. Die kleine Lösung bestand dabei nur aus der Vornamensänderung und die große Lösung beinhaltete ebenfalls die Anpassung des Personenstandes. Diese Unterteilung, sowie die darin beinhalteten Voraussetzungen, sind als verfassungswidrig eingestuft worden und finden keine Anwendung mehr. Sie sind jedoch immer noch im TSG festgeschrieben.[3]

Um Namen und Personenstand zu ändern, ist für trans* Personen immer noch ein gerichtliches Verfahren Voraussetzung, in dem sie mit zwei voneinander unabhängigen psychologischen Gutachten ihr Geschlecht beweisen müssen. Ein Gericht urteilt anschließend darüber. Die Kosten müssen selbst getragen werden, Prozesskostenbeihilfe ist möglich. Der Arbeitsaufwand für Behörden, Psycholog*innen und Betroffene ist immens. Zudem liegt dem Prozess eine Pathologisierung zugrunde, die zur Entmündigung führt. Das eigene Geschlecht muss bewiesen und fremd beurteilt werden, weil das eigene Urteilsvermögen nicht belastbar scheint. Der Name des Gesetzes spricht also für sich, Fundament für dieses gesetzliche Regelung ist der Irrglaube von Transidentität als Krankheit, als Transsexualismus.[4] In den Gutachtenverfahren sind die Betroffenen der Willkür der Gutachter*innen ausgesetzt. Das Spektrum reicht von wohlwollender Beratung bis hin zu grenzüberschreitenden (Re-)Traumatisierung. Teil dieses Verfahrens sind häufig seitenlange Fragebögen, mit Fragen zu Befindlichkeit und Rollenverständnis aus der Kindheit, beispielsweise „Welche Toilette oder Umkleide benutzen Sie in der Schule? Hatten Sie eine Lieblingssportart?“. Persönlichere, jedoch nicht weniger willkürliche Fragen, beinhalten zum Beispiel „Wie alt war ihre Mutter bei ihrer Geburt?“ oder „Hatten Sie bereits wichtige Freundschaften oder Partnerschaften?“. Manche Betroffene berichten davon, über ihr Liebes- und Sexleben, sowie Masturbationsverhalten ausgefragt worden zu sein, teilweise mit Unterstellungen, die Pädophilie beinhalten. Einige berichten ebenfalls davon, dass sie sich haben ausziehen müssen. Homophobie ist neben der offensichtlichen Transphobie und Übergriffigkeit ein weiteres Problem innerhalb der Verfahren. Betroffene verschweigen ihre Homosexualität, oder andere nicht-heteronormative Sexualitäten, aus Angst ein negatives Gutachten zu erhalten.[5] Es gibt natürlich auch Gutachter*innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben trans* Personen zu unterstützen, zu beraten und vor solchen Situationen zu schützen. Um Einzelpersonen geht es bei der Kritik an den Gutachten jedoch nicht, sondern um die Willkür, Gefährdung und die Entmündigung, die das Verfahren bedeuten. Selbst Gutachter*innen, die diese Verfahren durchführen, halten diese für überholt und schlichtweg unnötig, da Geschlecht keine Kategorie ist, die von außen bestimmbar ist. Einer Beratung steht einer Begutachtung konträr gegenüber.[6]

Der Paragraf zu den Gutachtenverfahren lautet wie folgt:

„Das Gericht darf einem Antrag nach § 1 nur stattgeben, nachdem es die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt hat, die auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind. Die Sachverständigen müssen unabhängig voneinander tätig werden; (…)“

[7]

„(…) in ihren Gutachten haben sie auch dazu Stellung zu nehmen, ob sich nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft das Zugehörigkeitsempfinden des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr ändern wird.“

[8]

Allein die Formulierung gibt Aufschluss darüber, wie trans* sein hier immer noch als Krankheit geframt wird.  Es wird von „besonderen Problemen“ ausgegangen, die Expertise benötigen. Zudem wird hier erneut der pathologisierende Begriff Transsexualismus verwendet. Der zweite Part des Paragrafen ist ebenfalls interessant, da er eine Angst widerspiegelt, die sich immer noch um den Diskurs zur Selbstbestimmung rankt und selbst im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz zu finden ist, in dem eine einjährige Sperrfrist vorgesehen ist bis Name und/oder Personenstand wieder geändert werden können. Zudem gibt es bei dem Selbstbestimmungsgesetz eine dreimonatige Bedenkzeit, bis die Änderung beim Standesamt rechtkräftig wird. Hier ist deutlich die Angst vor Veränderung zu sehen, ebenso wie die Angst von Geschlecht als wandelbare, diverse und komplexe Kategorie, sowie die diffuse Angst vor Missbrauch gesetzlich festgelegter Rechte marginalisierter Gruppen, die den Diskurs prägen. Im Gesetzesentwurf zur Sperrfrist heißt es:

„Dies (die Sperrfrist) soll dazu führen, dass insbesondere volljährige Personen sich der Tragweite ihrer Erklärung bewusst sind, weil klar ist, dass sie an die Erklärung mit den entsprechenden Einträgen mindestens ein Jahr gebunden sind. Die Vorschrift dient damit als Übereilungsschutz und verdeutlicht der erklärenden Person die Ernsthaftigkeit ihrer Erklärung.“[9]

Interessant ist hierbei auch wieder die Formulierung. Ein „Übereilungsschutz“ klingt nach über 40 Jahren TSG nach fehlgeleiteter Pädagogik. Die Tragweite ist durch alltägliche Diskriminierung und Marginalisierung von trans* Personen schlichtweg nicht zu übersehen. Die Festschreibung der Ernsthaftigkeit als Kriterium scheint der Ernsthaftigkeit der Rechtesicherung gegenüber trans* Personen nicht gerecht zu werden.

Mitzuberücksichtigen ist sicherlich die Gerichtsfestigkeit, die solche Entwürfe ebenfalls sichern müssen. Einen mindestens faden Beigeschmack hinterlassen solche Regelungen und Formulierungen trotzdem, auch angesichts der jahrzehntelangen staatlichen Diskriminierung, dem dieses Gesetz genau gegenübertritt.

„(…) sie sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet (…)“

[10]

Ein weiterer problematischer Aspekt ist die geschlechtliche Binarität, auf dem das TSG basiert. Nicht-binäre Personen finden erst seit 2020 Erwähnung, durch die Erweiterung um die Kategorie divers und die Möglichkeit der Streichung der Geschlechtseintragung. Die Kategorie divers steht seit 2018 inter* Personen zur Verfügung. Sie müssen aber eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ attestiert bekommen, welche eine weitere Form der Pathologisierung aufweist und essentialistisch argumentiert. Die sogenannte „Dritte Option“ wurde bis 2019 auch von trans* Personen genutzt, bis diese neu formuliert wurde und trans* Personen kriminalisiert, die diese Option nutzen. Diese Möglichkeit der Personenstandsänderung bezieht sich ausdrücklich nur auf Körperlichkeit und dem Herausfallen aus essentialistischer Zweigeschlechtlichkeit, die offengelegt und offiziell nachgewiesen werden muss.[11]

Im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz sind nicht-binäre Personen ausdrücklich mitbedacht und erhalten die gleiche Rechte wie binäre trans* Personen.[12]

TSG – pausierte Klauseln

Das TSG beinhaltet einige Klauseln, die für verfassungswidrig erklärt wurden, da sie gegen das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung verstoßen und die Menschenwürde missachten.[13] Drei dieser Klauseln sind besonders gravierend.

Bis 2009 ging die Anpassung von Name- und Personenstand auch mit der Zwangsscheidung der eigenen Ehe einher. Das geht zurück auf Homophobie und nationalistische Familienvorstellungen, die ein Abweichen von der cis-hetero Norm nicht vorsahen:

“Ist die Person im Zeitpunkt der gerichtlichen Anordnung verheiratet gewesen und ist ihre Ehe nicht inzwischen für nichtig erklärt, aufgehoben oder geschieden worden, so gilt die Ehe mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes als aufgelöst. (…)“

[14]

Bis 2011 wurden trans* Personen dazu gezwungen „dauerhaft fortpflanzungsunfähig“ zu sein. Das bedeutete die Entscheidung zwischen der Anerkennung der eigenen Identität und Zwangssterilisation. Trans* Personen wurden außerdem zur Transition gezwungen, um sich cis Vorstellungen von Geschlecht anzupassen. Sehr deutlich wird hier die binäre Vorstellung von Geschlecht und der Versuch des Erhalts tradierter Geschlechterrollen:

„(…) sich einem ihre äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist“

[15]

Trans* Personen sollte so zwar ermöglicht werden staatlich anerkannt (und reguliert) zu existieren, jedoch nur in der Anpassung an Heteronormativität und unter Ausschluss von Familienleben. Das bedeutet unsichtbar sein und nicht partizipieren. Deutlich wird hier ein nationalistisches Bild von Familie, in dem der Staat massiv in Reproduktionsrechte eingreift und darüber bestimmen möchte, wer Familien gründet. Auch die Legalität und Information von Schwangerschaftsabbrüchen und die Gleichstellung der Ehe entspringen diesem Motiv.  

Bis heute haben die Betroffenen dieser Zwangssterilisation und Zwangsoperationen keine Entschädigungsleistungen erhalten, die immer wieder von Verbänden und sogar dem UN-Menschenrechtsrat gefordert werden. Die planmäßige Aktenvernichtung nach dreißig Jahren konnte noch verhindert werden, sodass dies weiterhin möglich wäre.[16]

Gesundheit und Selbstbestimmung

Selbstbestimmung hat große, positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Dieser Satz ist nicht nur gültig für trans* Personen, sondern für alle Menschen. Ein selbstbestimmtes Leben ist ein essenzieller Bestandteil für Zufriedenheit, Selbstwirksamkeit und auch Sicherheit. Anerkennung der eigenen Identität hat ebenfalls großen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Die Verwendung von korrekten Pronomen und dem selbstgewählten Namen senkt nachweislich das Depressions- und Suizidrisiko, wie eine Studie über junge trans* Personen aus Texas zeigt[17]. Diskriminierung und Unwissenheit in medizinischen Kontexten sind ein weiteres Problem. Trans* Personen suchen sich möglicherweise viel später Hilfe und bekommen teilweise eine schlechtere Versorgung, weil das Wissen über trans* Körper noch nicht besonders verbreitet ist.[18] Den Beitrag, den das Selbstbestimmungsgesetz dazu leisten könnte, wäre ein Hürdenabbau, durch banal erscheinende Aspekte wie die Anpassung einer Krankenkassenkarte.

Eine Rechtssicherheit und Selbstbestimmtheit bezüglich des eigenen Namens und Pronomens wie es im Selbstbestimmungsgesetz vorgesehen ist, wird riesige Auswirkungen auch auf die Gesundheit von trans* Personen haben. Das Offenbarungsverbot, das vorsieht, Misgendering und Outing strafrechtlich zu verfolgen, könnte ebenfalls ein lang ersehntes Stück Sicherheit für trans* Personen bringen, weißt aber Lücken auf.[19] Den eigenen Personenstand und Namen nicht angepasst zu haben, birgt ständige Unsicherheit im Alltag und kann auch zur Gefahr werden. Diese Art der existenzbedrohenden Unsicherheit bedeutet eine massive Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens. Auch wenn das Selbstbestimmungsgesetz die Angst, die Personen marginalisierter Gruppen alltäglich empfinden, nicht aufheben kann, kann es ein Stück längst überfällige Rechtssicherheit bringen. Die Auswirkungen des Selbstbestimmungsgesetzes wären weitreichend – sie bewegen sich auf dem fundamentalen Level der Anerkennung, der Sicherheit, aber beinhalten auch die Freude darüber, auf der Bankkarte endlich den eigenen Namen zu haben, problemlos(er) einen Job anzufangen und wieder verreisen zu können, weil der Check-in am Flughafen nicht mehr das Aus bedeutet.

Pathologisierung und Selbstbestimmung im gesellschaftlichen, bürgerlichen Kontext

Der folgende Text ist ein Essay, der auf meiner persönlichen Meinung basiert

Im TSG spiegelt sich auch ein gesellschaftliches Verständnis von trans* Personen und deren Realitäten. Gerade im Angesicht eines möglichen Selbstbestimmungsgesetz ist es wichtig, sich das TSG noch einmal genau anzuschauen, auch im gesellschaftlichen, konkret bürgerlich-liberalen Kontext. Die Pathologisierung, die im TSG deutlich zu erkennen ist, findet sich auch im Alltag, mit dem trans* Personen konfrontiert sind, wieder. Fragen nach „Wie weit bist du schon?“ zeichnen trans* sein als Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, als Prozess, der abgeschlossen werden soll, um in eine vermeintliche Normalität zurückzukehren. Die Prozesshaftigkeit, die schon im Wort trans* verankert zu sein scheint, findet immer noch zu selten Beachtung.

Trans* sein verstehe ich auch als Chance der ständigen Transformation und der Wandelbarkeit. Nicht jede trans* Person strebt überhaupt eine Transition an und keine Transition sieht gleich aus. Wenn ich also mal wieder gefragt werde „XY ist aber schon weiter als du, oder?“, kann ich nur fragen: Womit? Mit dieser Hausarbeit? Mit dem Einrichten der eigenen Wohnung?

Trans* sein ist weder als abgeschlossen zu betrachten, noch in Frage zu stellen. Es findet sich auch eine Sicherheit in der Reflexion und der Möglichkeit zur Veränderung, im Verständnis für sich selbst. Die Möglichkeit Grenzen zu ziehen und mehr über sich herauszufinden, bietet auch die Chance, Empathie gegenüber anderen Menschen und deren Realitäten zu entwickeln.

Davon abgesehen, dass solche Fragen durchaus grenzüberschreitend sind, sind sie doch sehr aufschlussreich. Sie geben auch Aufschluss über gesellschaftliche Scham, die, wenn auch nicht nur, als Folge von Pathologisierung zu sehen ist. Auch Krankheit ist nach wie vor ein Tabuthema – auch dies ist problematisch, ist aber zu weitreichend an dieser Stelle.

Worte wie trans*, nicht-binäre Person, trans Mann, trans Frau und Transition sind noch immer schambehaftet. Anstatt also im passenden Rahmen, und nach vorheriger Erlaubniseinholung, zu fragen wie es mir mit meiner Transition geht und wie meine Hormonbehandlung läuft, kommt „Wie weit bist du schon?“. Als sei man ein Payback Punkte Heft, noch zwanzigmal Testogel schmieren und die Teflonpfanne Burgund ist schon zum halben Preis erhältlich.

Eine weitere solcher Fragen ist dann oft „Wie lange musst du das denn noch machen?“, bezogen ist das auf die Zufuhr von Testosteron.

Die Kritik ist eine gesellschaftliche Kritik. Die Unwissenheit von Einzelpersonen, denen ich ehrliches Interesse gar nicht abspreche, ist nur Symptom der fortlaufenden Pathologisierung. Ich werde Testosteron mein Leben lang nehmen, das ist kein Medikament zur Bekämpfung einer Krankheit. Trans* sein ist eine Variante der Existenz, genau wie cis sein. Trans* sein darf und muss ausgesprochen werden, laut ausgesprochen werden. Es ist kein Zufall, dass das TSG Transsexuellengesetz heißt, es immer noch besteht, und die Angst vor dem Selbstbestimmungsgesetz, auf allen Seiten, gerade größer ist denn je. Der pathologisierende Ansatz im Umgang mit trans* Personen findet sich im Alltag und in Institutionen wieder. Im besten Fall durchläuft man die Transition in den sicheren cis-Hafen, im schlechtesten existiert man gar nicht, sondern ist verwirrt, nicht zurechnungsfähig. Trans* muss zur Normalität als Facette hinzugefügt werden, die eine Gleichwertigkeit mit cis hat. Ich werde immer trans* sein und das finde ich schön.

In einer Gesellschaft in der trans* Personen gleichzeitig nicht existieren und eine Bedrohung sind, ist Aufklärung und im Zuge dessen Entpathologisierung essenziell und reichlich verspätet. Bereits Magnus Hirschfeld verfolgte den Ansatz der Entpathologisierung, beispielsweise mit der Einführung des sogenannten Transvestitenscheins. Dieser ermöglichte es trans* Personen, von Polizei und Behörden einigermaßen unbehelligt, selbst über ihren Geschlechtsausdruck zu bestimmen. Dieser Schein, eine der ersten Umsetzungen zur Entpathologiserung, wurde 1909 eingeführt.[20] „Transsexualismus“ fiel erst mit der Einführung des ICD 11, der immer noch keine großflächige Anwendung findet, aus dem Katalog der Persönlichkeitsstörungen, 2019.[21] Knapp 114 Jahre später liegt nun auch schon ein Gesetzesentwurf vor, der aus Transsexualität Transidentität macht und für Selbstbestimmung sorgen soll. Selbstbestimmung scheint greifbar, endlich möglich. Aber die noch so hoffnungsvollen Stimmen, die selbst nach 2021, der ersten Ablehnung der Abschaffung des TSG[22], werden stetig leiser und sorgenvoller. Hausrecht, Verteidigungsfall. Was ist denn jetzt mit meinen trans* Schwestern? Warum muss in einem Gesetz, das für uns gemacht wird, erwähnt werden, dass sich am allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz rein gar nichts ändern wird? Die Formulierungen sprechen Bände: Das dient nicht dem Schutz von Frauen, weder trans* noch cis. Die Beruhigung der Angst vor mindestens konservativen Stimmen, während man die Strohfrau wieder aufstellt und das einfachste Feindbild bedient: die bedrohliche trans Frau. Als ginge Gewalt nicht immer und immer wieder von Männern aus, meistens cis Männern und als bräuchten sie eine weitere staatliche Erlaubnis übergriffig zu sein, das hat das Patriachat doch gar nicht nötig. Die Aufmerksamkeit ist da, zusätzlicher Schutz nicht. Es muss darüber geredet und gestritten und informiert werden. Ich kann keinen Text, keine Arbeit über Selbstbestimmung schreiben, ohne darüber zu reden, doch die Emotionalität ist vorhanden, das will in keine streng wissenschaftliche Form. Die Emotionalität ist wichtig, hier geht es um Existenzen, und Sensibilität macht Aspekte nicht weniger wichtig, es unterstreicht sie.

Noch immer werden trans* Personen mit gedämpfter Stimme und unangebrachten Detailwünschen nach der Transition gefragt, als sei diese mit trans* sein gleichzusetzen und als sei trans* nur eine Zwischenstufe zurück in die Normalität hinein in eine Bürgerlichkeit. So ähnlich, als habe man in den 1980ern einen Vokuhila gehabt.

Und wenn das Bewusstsein über die Tragweite als Kriterium im Entwurf bereits sieben Mal erwähnt wird, frage ich mich langsam ernsthaft nach der Ernsthaftigkeit und dem Verständnis der Tragweite, wenn nach 114 Jahren das erste Mal ernsthaft Aussicht auf Selbstbestimmung in Deutschland besteht.

Literaturverzeichnis

Antidiskriminierungsstelle des Bundes https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html (letzter Aufruf 15.05.23)

Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Bundestag Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738 (letzter Aufruf 15.05.23)

Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com (letzter Aufruf 15.05.23)

ICD-10 https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus (letzter Aufruf 15.05.23)

Jstor Daily Artikel zum Transvestitenschein https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Queer.de Artikel Entschädigungsfonds https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769 (letzter Aufruf 15.05.23)

Referentenentwurf Selbstbestimmungsgesetz des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums der Justiz – Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften https://www.bmfsfj.de/resource/blob/224548/ee3826a31ca706aed23053b633ff5c60/entwurf-selbstbestimmungsgesetz-data.pdf (letzter Aufruf 15.05.23)

Schwulenberatung Berlin, Studie – „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ – „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“

Sven Lehmann Interview zum Entwurf des SBGG https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/hausrechtsparagraf-lost-angste-aus-queerbeauftragter-will-anderungen-an-selbstbestimmungsgesetz-9790259.html (letzter Aufruf 15.05.23)

TSG – Gesetze im Internet Gesetzestext Einsicht https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html (letzter Aufruf 15.05.23)

University of Texas at Austin, Studie über psychische Gesundheit von jungen trans* Personen https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

Private Quellen: Eigene Erfahrung, Erfahrung anderer trans* Personen, allgemeines Wissen, das Teil von queeren und trans* Diskursen ist und nicht auf eine spezielle Quelle zurückzuführen sind

Weiterführende Links zu Stellungsnahmen (letzter Aufruf 05.06.23)

dgti* (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V) https://dgti.org/2023/05/10/selbstbestimmungsgesetz/

transinterqueer e.V.: https://www.instagram.com/p/Cs3i5fqMitW/?igshid=MzRlODBiNWFlZA%3D%3D (Stellungnahme auf Website folgt noch https://www.transinterqueer.org)

Deutscher Juristinnenbund: https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-16

Frauen gegen Gewalt e.V.: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles/nachrichten/nachricht/stellungnahme-zum-referentenentwurf-des-bmfsfj-und-des-bmjv-zum-selbstbestimmungsgesetz.html

Stellungnahme von Sven Lehmann (Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt) : https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf


[1] TSG https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[2] Stellungnahmen von Interessenverbänden liegen seit dem 31.05 vor, diese Hausarbeit entstand davor, weiterführende Links zu Stellungnahmen finden sich im Literaturverzeichnis. Insgesamt begrüßen die meisten Interessenverbände ein Selbstbestimmungsgesetz, kritisieren jedoch die Umsetzung. Die meistgenannten Punkte sind dabei die unzureichenden Möglichkeiten der Selbstbestimmung für Minderjährige (teilweise Forderung nach selbstständiger Änderung ab 14 Jahren), das nicht ausreichend schützende Offenbarungsverbot (Ehepartner*innen werden hier zum Beispiel ausgenommen), die Diskriminierung von trans* Eltern durch falsche Einträge im Geburtenregister, die Diskriminierung von trans* Frauen und trans* femininen Personen durch die unnötige Nennung des AGG und die fragwürdige Regelung im Verteidigungsfall, sowie fehlender gesetzlicher Schutz, außerdem die Forderung nach Stärkung und Förderungen von peer-to-peer Beratung und die Einrichtung von Entschädigungsfonds.

[3] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter Begründung A. Allgemeiner Teil, Seite 17

[4] ICD-10 Transidentität klassifiziert als Persönlichkeitsstörung https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus

[5] Teils private Quellen; basierend auf Erfahrungen von verschiedenen trans* Personen, außerdem interessant  ZDF Magazin Royale vom 2. Dezember 2022 https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-2-dezember-2022-100.html

[6] Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com, private Quellen

[7] TSG Erster Abschnitt Vornamenänderung §4 (4) Gerichtliches Verfahren https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[8] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (2) Voraussetzungen

[9] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter §5 Sperrfrist; Vornamen bei Rückänderung Seite 41

[10] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (1) Voraussetzungen

[11]Antidiskriminierungsstelle des Bundes; Dritte Option und AGG    https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html

[12] Referentenentwurf SBGG zum Beispiel auf den Seiten 20, 25, 34  

[13] Unter anderem Referentenentwurf SBGG Seite 1 A. Problem und Ziel

[14] TSG §16 (2) Übergangsvorschrift

[15] TSG §8 (4) Voraussetzungen

[16] https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769

[17] „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“ Studie der Schwulenberatung in Berlin, Seiten 8, 9

[18] Studie der University of Texas at Austin https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

[19] Referentenentwurf SBGG §13 Offenbarungsverbot und §14 Bußgeldvorschriften Seite 9 und Stellungnahme von Sven Lehmann  https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf

[20] Jstor Daily Artikel https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/

[21] Artikel Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/

[22] Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738


Quelle: John Krakow, Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung – Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.06.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=375

Geschlechtssensible Medizin

Hintergrund und Notwendigkeit am Beispiel der Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

Lara Alexandra Bellu (SoSe 2022)

1. Begriffsklärungen und Hintergründe

Unter sex wird das biologische Geschlecht einer Person verstanden (Muehlenhard & Peterson, 2011). Damit zusammenhängend sind Geschlechtschromosomen, Keimanlagen, primäre und sekundäre Geschlechtsorgane (Muehlenhard & Peterson, 2011). Menschen, die sich der Binarität von weiblich/männlich zuordnen, werden als endogeschlechtlich bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Kann keine binäre Geschlechterzuordnung erfolgen, spricht man von Intergeschlechtlichkeit (Debus & Laumann, 2020). Dabei handelt es sich eigentlich um eine natürliche Variation (Hechler & Baar, 2020). Allerdings erleben intergeschlechtliche Menschen dennoch Diskriminierung, weil gesellschaftlich – entgegen des natürlichen biologischen Vorkommens – eine binäre Unterteilung in biologische Männer und Frauen konstruiert wurde (Hechler & Baar, 2020).

Als gender wird das soziale Geschlecht und die Geschlechtsidentität bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Das Konzept gender beinhaltet typische Merkmale, Verhaltensweisen und Erwartungen, die der binären Geschlechterkonstruktion von Frauen und Männern zugeschrieben werden (Pryzgoda & Chrisler, 2000). Das Konzept gender geht also davon aus, dass diese Unterschiede sozial konstruiert sind (Pryzgoda & Chrisler, 2000). Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht (meist interpretiert aufgrund der Geschlechtsorgane) übereinstimmt, bezeichnen sich als trans*, transgeschlechtlich, transgender oder transident (Debus & Laumann, 2020). Menschen, bei denen die Geschlechtsidentität mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, werden als cis-geschlechtlich bezeichnet (Debus & Laumann, 2020). Menschen, die sich nicht den binären Geschlechterrollen von Männern oder Frauen zuordnen, verstehen sich als non-binary, nicht-binär, genderqueer, agender oder auch trans* (Debus & Laumann, 2020).

Der Begriff Heteronormativität meint eine Kultur und Struktur, die Endogeschlechtlichkeit, eine binäre Geschlechtsidentität, cis-Geschlechtlichkeit und heterosexuelle Beziehungen als Norm begreift (Debus & Laumann, 2020). Menschen, die also nicht in dieses Schema passen, erleben in einer heteronormativen Gesellschaft Nachteile und Diskriminierung (Debus & Laumann, 2020).

Die geschlechtssensible Medizin (GSM) beschäftigt sich mit dem Einfluss von sex und gender auf das Gesundheitsbewusstsein, Krankheitssymptomatik und Therapie (Regitz-Zagrosek, 2018). Ziel ist es, die bestmögliche Diagnose und Therapie unter Berücksichtigung des Geschlechts zu finden (Latz & Welzel, 2021). Wichtig ist anzumerken, dass im Rahmen der GSM häufig der Begriff gender genutzt wird, obwohl eigentlich sex gemeint ist (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Zusätzlich beschäftigt sich die GSM aktuell lediglich mit den Unterschieden zwischen Frauen und Männern, Abweichungen der Heteronormativität werden also nicht berücksichtigt (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019).

Die GSM hat ihren Ursprung in der internationalen Frauenrechtsbewegung in den 1960er und 70er Jahren, die sich auf die körperliche und sexuelle Freiheit von Frauen konzentriert hat (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Anfang der 1980er Jahre wurde erstmals genauer beobachtet, dass Herzinfarkte sich bei Frauen und Männern mit unterschiedlichen Symptomen äußern – jedoch wurden standardmäßig nur die „männlichen“ Symptome gelehrt (Latz & Welzel, 2021). 2001 veröffentlichte das US-amerikanische Institute of Medicine einen Report, der erstmals Geschlechterunterschiede in der Medizin beleuchtete (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Erst dadurch kam die GSM tatsächlich ins Rollen (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Allerdings ist sogar heute – 20 Jahre später – die Lehre der GSM keine Verpflichtung an den Universitäten (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019). Zusätzlich fehlt die Implementierung in Forschung und Praxis, weil die Arbeit und Anerkennung in den entsprechenden Gremien (Fachgesellschaften, Ärztekammern, Forschungsgremien etc.) nur schleppend läuft (Oertelt-Prigione & Hiltner, 2019).

2. Zusammenhang zwischen gender, sex und Gesundheit

Die Relevanz der GSM wird deutlich, wenn biologische, psychosoziale und epigenetische Einflussfaktoren auf Gesundheit betrachtet werden.

Auf biologischer Ebene betrachtet tragen X-Chromosomen mehr als 1500 Gene mit regenerativen Funktionen, Y-Chromosomen hingegen nur ca. 100 Gene (Regitz-Zagrosek, 2018). Bei Menschen mit XX-Chromosomensatz ist das zweite X-Chromosom nur zum Teil inaktiv. Deshalb haben diese Menschen etwa Vorteile bei x-chromosomal vererbten Erkrankungen (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich beeinflusst der Geschlechtschromosomensatz die Ausschüttung von Geschlechtshormonen (Testosteron, Östrogen und Gestagen; Regitz-Zagrosek (2018)). Geschlechtshormone haben wiederum einen Einfluss auf das Immunsystem, die Körperzusammensetzung, das Herz-Kreislauf-System und andere Stoffwechselprozesse (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich ist inzwischen bekannt, dass sich die Organe von Männern und Frauen in ihrer Feinbauweise und Zellaktivität unterscheiden (Regitz-Zagrosek, 2018). Daraus wird klar, dass sich sowohl Krankheitssymptome als auch die Wirkung von Medikamenten geschlechtsspezifisch unterscheiden müssen. Therapien und Krankheitsverläufe des prototypischen 75kg schweren cis-Manns können also nicht für Menschen, die auf biologischer Ebene von dieser Norm abweichen, einfach übernommen werden (Weyrerer, 2021).  

Auch die sozial konstruierten Geschlechterrollen (gender) haben Einfluss auf Krankheit, Gesundheitsverhalten und Vorsorge. So ist zum Beispiel die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen (Brandt, 2019). Gleichzeitig nehmen Männer weniger Psychotherapie in Anspruch (Sonnenmoser, 2011). Insgesamt zeigen Männer häufiger schädliches Gesundheitsverhalten wie Rauchen, ungesunde Ernährung und weniger Bewegung (Regitz-Zagrosek, 2018). Bei ihnen ist die Lebenserwartung auch geringer als bei Frauen (Luy, 2011). Gleichzeitig sind Frauen dadurch bei Krankenhauseinweisungen im Durchschnitt älter als Männer und erhalten weniger häufig Rehabilitationsmaßnahmen (Regitz-Zagrosek, 2018). Deshalb haben sie eine höhere Gefahr chronisch in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt zu werden und eine Pflegebelastung für ihr Umfeld zu werden (Regitz-Zagrosek, 2018). Zusätzlich unterscheidet sich die Stressbelastung bei Männern und Frauen. So handelt es sich bei Männern vor allem um chronischen arbeitsbedingten Stress, der zum Feierabend abfällt (Kautzky-Willer, 2014). Bei Frauen hingegen steigt dieser aufgrund der häufigen Doppelbelastung von Beruf und familiären Verpflichtungen (z.B.: Pflege von Angehörigen) nach Feierabend noch weiter an (Kautzky-Willer, 2014). Chronischer Stress ist wiederum mit einer Reihe von Erkrankungen wie depressiven Störungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ 2 assoziiert (Kautzky-Willer, 2014). Dieses Phänomen nennt sich Lebenserwartungs-Lebensqualitäts-Geschlechter-Paradoxon: Frauen leben zwar länger als Männer, haben aber weniger gesunde Jahre und empfinden ihre Lebensqualität als subjektiv geringer (Kautzky-Willer, 2014). Wird dabei um die psychosozialen Faktoren korrigiert, ist dieser Unterschied deutlich geringer (Kautzky-Willer, 2014).  Fernab dieser binären Betrachtung ist zu betonen, dass etwa inter* oder trans* Menschen aufgrund ihres depriviligierten Status und der damit einhergehenden Diskriminierung zusätzliche gesundheitliche Risiken haben, zum Beispiel ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen (Pöge et al., 2020).

Zuletzt ist die Ebene der Epigenetik zu betrachten. Epigenetik bezieht sich auf die Beeinflussung oder Beschädigung bei der Verpackung von Genen durch Umwelteinflüsse, wie beispielsweise Ernährung, Rauchen, Stress und Umwelttoxine (Regitz-Zagrosek, 2018). Auch hierbei spielen sex und gender eine unterschiedliche Rolle (Kautzky-Willer, 2014). So zeigen beispielsweise bereits die Plazenten von Embryonen aufgrund unterschiedlicher Geschlechtshormone unterschiedliche Bewältigungsstrategien und Wachstumsmechanismen auf Unter- oder Überernährung (Kautzky-Willer, 2014). Weiterführend werden diese Strategien mit Immunität, Transplant-Wirt-Reaktionen und Entzündungen assoziiert (Kautzky-Willer, 2014). Gender bzw. die Geschlechterrolle hingehen bedingt zum Beispiel die Exposition mit Umwelttoxinen und Stress. So könnte die höhere Inzidenz von depressiven Störungen bei Frauen auf den erhöhten mütterlichen Überschuss von Glukokortikoiden (z.B.: das Stresshormon Cortisol) zurückzuführen sein (Kautzky-Willer, 2014). Dieser beeinflusst nämlich insbesondere bei den weiblichen Nachkommen die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse und die dazugehörige Neurotransmitterausschüttung, welche sowohl mit Stimmung als auch mit Stressregulation assoziiert ist (Kautzky-Willer, 2014).

3. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

3.1 Symptomatik

Die Kernsymptome der ADHS sind (1) Aufmerksamkeitsstörungen (insbesondere vorzeitiges Abbrechen von fremdbestimmten Aufgaben, hohe Ablenkbarkeit, Nichtbeenden von Tätigkeiten), (2) Impulsivität auf emotionaler, kognitiver und motivationaler Ebene (z.B.: übereilte Entscheidungen, geringe Frustrationstoleranz, Unterbrechen von anderen) und (3) Hyperaktivität (mangelhaft regulierte, überschießende motorische Aktivität und Ruhelosigkeit; Petermann and Ruhl (2011)). Allerdings unterscheiden sich das ICD-10 und DSM-IV in ihrer Kombination von Symptomen zu verschiedenen Subtypen. So wird nach ICD-10 eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F 90.0) diagnostiziert, wenn die Symptome der Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität vorliegen (Petermann & Ruhl, 2011). Eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F 90.1) wird diagnostiziert, wenn zusätzlich noch Störungen des Sozialverhaltens vorliegen (Petermann & Ruhl, 2011). Das DSM-IV hingegen differenziert zwischen drei verschiedenen Typen (Petermann & Ruhl, 2011). Bei der (a) Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung vom Mischtyp liegen sowohl die Aufmerksamkeitsstörung als auch Impulsivität und Hyperaktivität vor. Bei dem (b) vorwiegend unaufmerksamen Typ liegt die Aufmerksamkeitsstörung im Vergleich zur Hyperaktivität und Impulsivität deutlich im Vordergrund. Die Symptomatik des (c) vorwiegend hyperaktiven Typs ist hingegen vorwiegend durch Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, Aufmerksamkeitsstörungen sind eher im Hintergrund (Petermann & Ruhl, 2011).

Abbildung 1: Klassifikation der ADHS in ICD-10 und DSM-IV (Petermann & Ruhl, 2011, S. 679)

Zusätzlich müssen nach ICD-10 und DSM-IV folgende Kriterien erfüllt sein: „Die Symptome müssen mindestens 6 Monate lang vorliegen, in einem mit dem Entwicklungsstand nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß, vor dem Alter von 7 Jahren auftreten und zu Beeinträchtigungen in zwei oder mehr Lebensbereichen führen. Es bestehen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen. Andere psychische Störungen, geistige Behinderung oder psychosoziale Problemen, die die Verhaltenssymptome besser erklären können, sind ausgeschlossen“ (Petermann & Ruhl, 2011, S. 678).

3.2  Diagnostik

Die Diagnostik der ADHS läuft multimodal ab, was insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Symptomausprägungen notwendig ist (Petermann & Ruhl, 2011). Die Diagnostik lässt sich in drei Stufen einteilen: Erstes Screening, orientierende und weiterführende Diagnostik (Petermann & Ruhl, 2011). Wichtig ist zu betonen, dass im Zuge des ersten Screenings nicht nur Testverfahren mit den potenziell Betroffenen selbst, sondern üblicherweise auch Beurteilungen von Eltern und Lehrkräften miteingeschlossen werden. Oftmals sind sogar Hinweise der Lehrkräfte der erste Schritt, um überhaupt das Screening einzuleiten (Petermann & Ruhl, 2011). Zeigen sich im Rahmen des ersten Screenings Hinweise auf eine ADHS, so wird weiterfolgend eine orientierende und weiterführende Diagnostik durchgeführt (Petermann & Ruhl, 2011). Dabei werden üblicherweise diagnostische Interviews und Tests (z.B.: Intelligenz- und Aufmerksamkeitstests) mit den Betroffenen selbst und den Eltern durchgeführt. Außerdem kommen auch hier Verhaltensbeobachtungen im Klassenraum, in der diagnostischen Situation und zu Hause zum Einsatz (Petermann & Ruhl, 2011).

4. Zusammenhang zwischen ADHS-Diagnostik, sex und gender

 Die Prävalenz der ADHS beläuft sich auf zwischen 2 und 7%, je nach verwendeten Diagnosekriterien und Altersgruppe (Bruchmüller et al., 2012; Nøvik et al., 2006). Auffällig dabei ist, dass das Geschlechterverhältnis teils stark unausgeglichen ist. So liegt es bei nicht klinischen Populationen bei 3:1 (Jungen vs. Mädchen), bei klinischen Populationen sogar bei zwischen 6 und 16:1 (Bruchmüller et al., 2012; Nøvik et al., 2006; Young et al., 2020). Daraus lässt sich also schließen, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen überhaupt in den diagnostischen und therapeutischen Prozess der ADHS eingebunden werden (Bruchmüller et al., 2012). Hier stellt sich nun die Frage: Kommt die ADHS tatsächlich häufiger bei Jungen vor oder wird es bei Mädchen schlichtweg weniger erkannt? Und falls ja, woran liegt das?

 Möglicherweise kann der Geschlechterunterschied in der ADHS-Prävalenz neurophysiologisch und endokrinologisch erklärt werden (Davies, 2014; Gawrilow, 2020). So wurden teilweise in Untersuchungen geringere Aktivierungen bei Jungen vs. Mädchen mit ADHS in frontalen, parietalen und cerebralen Hirnregionen gefunden (Davies, 2014). Diese werden unter anderem mit Exekutivfunktionen (z.B.: Inhibitionskontrolle) assoziiert, welche wiederum bei einer ADHS eingeschränkt sind (Gawrilow et al., 2011). Darüber hinaus spielt auch möglicherweise eine geringere Dopamin-Rezeptoren-Dichte bei Jungen eine Rolle (Gawrilow, 2020). Weiterführend wird auch diskutiert, ob das höhere Testosteronlevel durch einen XY-Chromosomensatz zu neurobiologischen Entwicklungen führt, welche die Entstehung einer ADHS begünstigen (Davies, 2014). Allerdings konnte bisher zu keinem Ansatz ein ausreichender wissenschaftlicher Konsens erreicht werden (Davies, 2014; Gawrilow, 2020).

Mehr erforscht und viel wahrscheinlicher ist dagegen, dass Mädchen andere Symptome und Komorbiditäten zeigen und weniger häufig bzw. falsch diagnostiziert werden (Fraticelli et al., 2022). Beispielsweise fassen Young et al. (2020) und Fraticelli et al. (2022) zusammen, dass Mädchen mit ADHS zwar auch hyperaktiv-impulsive Symptome aufweisen, jedoch stehen die Symptome der Unaufmerksamkeit und Desorganisation im Vordergrund. Bei Mädchen scheint also der unaufmerksame Typ häufiger vorzukommen, welcher oftmals als depressive oder Angststörung interpretiert wird (Fraticelli et al., 2022). Zusätzlich ist eine komorbide Angst- oder depressive Störung tatsächlich häufig bei Mädchen (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020). Das resultiert in eine noch stärker internalisierte Symptomatik, wodurch die ADHS leicht übersehen wird (Fraticelli et al., 2022). Mädchen zeigen also weniger offensichtliche oder sozial störende Verhaltensweisen. Dafür haben sie deutlichere Aufmerksamkeitsdefizite, sowie Probleme bei der Selbst- und Emotionsregulation (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020).

Außerdem scheint es eine Verzerrung bei den Diagnostizierenden selbst zu geben, die Mädchen grundsätzlich weniger häufig als Jungen diagnostizieren (Quinn & Madhoo, 2014). Hinweise darauf liefern eine Vielzahl an Studien (z.B.: Bruchmüller et al., 2012; Groenewald et al., 2009; Ohan & Visser, 2009; Sciutto et al., 2004). In einer Untersuchung von Bruchmüller et al. (2012) wurden insgesamt 1000 Psychiater*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen dazu aufgefordert, eine diagnostische Einschätzung für hypothetische Fallbeispiele abzugeben. Dabei erhielt der identische Fall häufiger eine ADHS-Diagnose, wenn dieser mit einem typischen Jungen-, statt Mädchennamen benannt wurde. Ähnliche Ergebnisse fanden auch Sciutto et al. (2004) mit einer Stichprobe von 199 Grundschullehrkräften, die ebenfalls hypothetische Fälle von Kindern mit ADHS vorgelegt bekamen. Dabei wurde bei den Fällen mit Jungennamen häufiger zu einem ersten ADHS-Screening geraten als bei den mit Mädchennamen. Insgesamt wurden die Fälle mit Symptomen des hyperaktiv-impulsiven Typs häufiger als auffällig eingestuft. Jedoch zeigte sich auch hier ein geschlechtsspezifischer Effekt: Bei den Fällen des hyperaktiv-impulsiven Typs mit Jungennamen wurde 1.5-mal häufiger zu einem ersten Screening geraten als bei den Mädchen.

Insgesamt betrachtet sind Mädchen also gar nicht per se weniger häufig von der ADHS betroffen. Es scheint eher so, dass Mädchen insgesamt unauffälliger sind, weil sie sich besser anpassen und ihre Symptome weniger externalisiert sind (Fraticelli et al., 2022; Young et al., 2020). Zusätzlich scheint ein Bias bei Diagnostizierenden, sowie Lehrkräften und Eltern zu bestehen (Quinn & Madhoo, 2014). Das „typische AHDS-Kind“ ist demnach ein unruhiger, zappeliger Junge und weniger ein verträumtes, unaufmerksames Mädchen. In Anbetracht der Sozialisation und Geschlechterrollen von Jungen vs. Mädchen ist das allerdings nicht überraschend. So wird von Mädchen gesellschaftlich eher erwartet, sich freundlich, zuvorkommend und zurückhaltend zu verhalten (Godsil et al., 2016). Die daraus resultierende Anpassung, internalisierten Symptome und verhältnismäßige Unauffälligkeit von Mädchen mit ADHS erscheinen entsprechend wie logische Konsequenzen.

Problematisch dabei ist, dass Mädchen, die unter das diagnostische Radar fallen, keine oder nur unpassende Therapien erhalten (Young et al., 2020). Gleichzeitig ist die Ausprägung von ADHS Symptomen negativ mit der Lebensqualität in Adoleszenz und Erwachsenenalter assoziiert (Tischler et al., 2010). Zusätzlich haben Menschen mit ADHS ohnehin ein höheres Risiko, andere psychische oder somatische Erkrankungen zu entwickeln (Fraticelli et al., 2022; Tischler et al., 2010). Außerdem leiden sie häufiger unter einem negativen Selbstkonzept und Selbstwert (Young et al., 2020). Deshalb stellt eine ADHS-Diagnose für insbesondere erwachsene Betroffene eine Erleichterung dar, weil somit die lebenslangen Schwierigkeiten, Einschränkungen und Defizite erklärt werden können (von der Brelie, 2021). Nicht diagnostizierte Mädchen mit ADHS haben also ein höheres Risiko für vermeidbare gesundheitliche Einschränkungen und spätere Schwierigkeiten in essenziellen Lebensbereichen (z.B.: Ausbildung und Arbeit; Young et al. (2020)), welche durch eine adäquate Therapie zumindest gelindert werden könnten (Petermann & Ruhl, 2011). Insgesamt betrachtet braucht es also dringend mehr gendersensible Forschung im Bereich der ADHS, sowie die Implementierung der Erkenntnisse in die diagnostische Praxis.  Abschließend ist zu betonen, dass sich die Gendersensibilität in diesem Bereich ausschließlich auf die Binarität von Frauen vs. Männern (sowohl bei sex als auch gender) bezieht. Wünschenswert wäre also auch hier, dass die psychologische Forschung beginnt, außerhalb der Heteronormativität zu denken.

Literaturverzeichnis

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Quelle: Lara Alexandra Bellu, Geschlechtssensible Medizin: Hintergrund und Notwendigkeit am Beispiel der Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 07.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=303

Diskriminierung im Gesundheitssektor

Die Auswirkungen von Medical Gaslighting und Diskriminierung auf Minderheitengruppen und Frauen

Jessica Rorison (SoSe 2022)

Medical Gaslighting ist ein Thema, das in den letzten Monaten zunehmend in die Öffentlichkeit gerückt ist. Von Medical Gaslighting spricht man, wenn die gesundheitlichen Beschwerden einer Person von den behandelnden Ärzt*innen nicht ernstgenommen werden, weil sie oftmals ohne vorhergehende Untersuchung auf bestimmte körperliche Merkmale der Patient*innen zurückgeführt werden. Zu den Merkmalen zählen z. B. Geschlecht, ethnische Herkunft, Gewicht oder sexuelle Orientierung der/des Patient*in. Die Folgen von Medical Gaslighting können schwerwiegend bis tödlich sein. Neben fehlerhaften oder gänzlich ausbleibenden Diagnosen kommt es oftmals zu einer unzureichenden Behandlung mit falschen Medikamenten oder Dosierungen. Auch die psychische Belastung ist enorm und kann u. a. zu Angststörungen sowie Depressionen führen.

Zwar wird die Autorität von Ärzt*innen selten infrage gestellt, jedoch zeigt sich eine zunehmende Gegenbewegung zum Medical Gaslighting. Die Patient*innen tauschen sich beispielsweise online aus oder wenden sich direkt an die Presse, um ihrem Unmut Luft zu machen. Patient*innen schweigen nicht mehr, wenn sie sich fehldiagnostiziert fühlen und/oder wenn sie eine unzureichende Behandlung aufgrund einer offensichtlich rassistischen, misogynen oder anderweitig diskriminierenden Motivation heraus wahrnehmen. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte „Südländersyndrom“ oder „Mittelmeersyndrom“, das in der medizinischen Umgangssprache eine pejorative Umschreibung für die als übertrieben empfundene Schmerzschilderung von Patient*innen, die aus dem Mittelmeerraum stammen, benutzt wird. Die Bezeichnung soll vor allem Schmerzempfinden ohne medizinischen Grund beschreiben oder auch einen „generalisierten Schmerz“ bei einem lokal begrenzten Ereignis.[1] Die Folge daraus kann z. B. eine unzureichende oder späte Behandlung ernsthafter Symptome sein. Auch People of Colour (PoC) erhielten laut Maas und Appelman in den USA [und vielen anderen westlich geprägten Ländern] meist eine schlechtere medizinische Behandlung als nicht-PoCs. Vorurteile und Voreingenommenheit seien in der Medizin also nachweisbar und können Medical Gaslighting begünstigen.[2]

Auch die verschiedenen Geschlechter werden unterschiedlich behandelt. Laut Untersuchungen in den USA werden bspw. Herzerkrankungen bei Frauen später diagnostiziert als bei Männern. Vermutlich liegt das daran, dass die Symptome bei Frauen erstmal unterschätzt werden.[3] Dies passiert offenbar besonders häufig bei Krankheiten, deren Symptome uneindeutig sind, so z. B. auch beim chronischen Erschöpfungssyndrom, der Myalgischen Enzephalomyelitis bzw. dem Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS), das zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führen kann.[4] In der aktuellen Covid-19-Pandemie zeigt sich, dass eine Subgruppe der von Long-Covid betroffenen Personen ME/CFS entwickelt.[5] Einige der Symptome umfassen z. B. Schlafstörungen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Schwindel, Darm- und Blasenstörungen, Wortfindungs- und Konzentrationsstörungen und viele weitere Symptome, die in der Form auch bei zahlreichen anderen Krankheiten auftreten können.[6] Viele Patient*innen befürchten, dass ihre Symptome nicht ernstgenommen, bzw. dass sie für faul und arbeitsunwillig gehalten werden. Kommentare wie „[m]üde bin ich auch öfter mal“ oder „du bist doch viel zu jung, um sowas zu haben“[7], die nicht nur von Ärzten, sondern auch von Angehörigen und Freunden geäußert werden, sind kein Einzelfall.

Eine weitere Gruppe, die fast immer von Medical Gaslighting betroffen ist, betrifft Menschen mit Übergewicht. Die Vorurteile gegenüber übergewichtigen Personen halten sich besonders hartnäckig. So berichtet bspw. Josephin Oehmer gegenüber dem Tagesspiegel von ihren Erfahrungen, wie sie als schwangere Frau „[u]nterernährt und geschwächt“ im Bett einer Universitätsklinik liegt und dem behandelnden Arzt erklären muss, „dass er einfach mit einer Nadel in ihren Bauch stechen und das überschüssige Wasser aus ihrem Magenband ablassen kann.“[8] Sie berichtet, wie sie seit Wochen kaum noch essen und zum Schluss nicht einmal mehr trinken konnte. Offenbar hatte sie sich einer Magenverkleinerung unterzogen, die irgendwann zu Komplikationen führte. Besonders schwierig dabei war, dass ihr ungeborenes Baby nicht ausreichend versorgt wurde, da sie keine Nahrung zu sich nehmen konnte. Der Kommentar der behandelnden Gynäkologin zu dieser Situation lautete: Kein Problem, sie solle ja ohnehin abnehmen.[9] Vielen Personen ist nicht bewusst, dass auch übergewichtige Menschen unter Unterernährung leiden können. Aber wie kann es sein, dass das auch auf Ärzt*innen zutrifft, die es definitiv besser wissen sollten? Es ist richtig, dass Übergewicht zu einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen führen und dass es ein generelles Risiko für Betroffene darstellen kann. Zu den häufigsten Folgeerkrankungen von Adipositas gehören Typ-2-Diabetes, koronare Herzerkrankungen sowie Schlaganfälle.[10] Auch Probleme mit den Gelenken sind keine Seltenheit. Wie im Bericht von Josephin Oehmer festgehalten, tendieren Personen, die Medical Gaslighting erfahren, dazu, Arztbesuche zu vermeiden, wodurch schwere Erkrankungen noch später erkannt werden und es im schlimmsten Fall zur Lebensgefahr kommt. Ein Umstand, der durch eine menschenwürdige Behandlung leicht vermieden werden könnte.

Trans* Personen machen eine weitere Gruppe aus, die stark unter Medical Gaslighting zu leiden hat. Oft rührt dieser Zustand von einem Unverständnis, das man bei Ärzt*innen heutzutage eigentlich nicht erwartet. Die Unwissenheit bezüglich des Umgangs mit trans*Personen unter Ärzt*innen führt teilweise zu unangebrachten Fragen oder der gänzlichen Ablehnung einer Behandlung.[11] Der daraus resultierende identitätsbezogene Missbrauch

[…] can involve physical, emotional, […] and gender presentation. More specifically, this may involve denying that someone is transgender (or that it is possible to be transgender), […] commenting negatively about a person’s appearance or body, intentionally using the wrong pronoun and/or name, asking someone not to disclose they are transgender to others, threatening to tell other people that someone is transgender, withholding medicine, and/or withholding money for medicines or surgery.[12]

Riggs, D. W., Fraser, H. (et al.) (2016), S. 2374–2392

Diese Form von Missbrauch trifft vor allem (aber nicht nur) trans* Frauen und kann schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: „Their study strongly suggests that identity-related abuse is linked to major depression and suicidality for transgender women during adolescence.“[13]

Auch mangelnde Deutschkenntnisse werden als Vorwand genommen, Patient*innen nicht, oder nur unzureichend, zu behandeln. So berichtet eine türkische Künstlerin, die anonym bleiben möchte, dass ihre Psychiaterin ihre Angststörung auf fehlende Deutschkenntnisse zurückführe: „Dafür, dass Sie so lange in Deutschland leben, sprechen Sie aber nicht besonders gut Deutsch. Vielleicht sollten Sie mehr Deutsch lernen, dann geht es Ihnen bestimmt besser.“[14] Das Diagnosegespräch hatte die Psychiaterin vorab nicht auf Englisch führen wollen, später stellte sich jedoch heraus, dass sie durchaus fließend Englisch sprechen kann. Warum also diese Farce? Warum die Situation für eine Frau, die unter einer Angststörung leidet, schlimmer machen als nötig? Die Erklärung zum Mehrwert dieser Behandlungsmethode bleibt die Psychiaterin der Patientin schuldig.

Zeitmangel sei ein weiterer entscheidender Faktor. Johannes Schenkel, medizinischer Leiter der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland, sagt gegenüber Deutschlandfunk Nova: „In einem sehr durchökonomisierten Gesundheitssystem spielt einfach der Faktor Zeit eine große Rolle. Das haben viele nicht. Das sind leider oft die Rahmenbedingungen.“[15] Um einer Fehlkommunikation entgegenzuwirken, empfiehlt Schenkel, das offene Gespräch mit den behandelnden Ärzt*innen zu suchen. Allerdings sei das strukturelle Problem so einfach nicht abzustreiten, sagt Fanny Bartsch, eine angehende Medizinerin, die Medical Gaslighting während ihres medizinischen Praktikums beobachtet habe. Sie erlebte, wie Vorurteile gegenüber Frauen und die Vorverurteilung bestimmter kultureller und ethnischer Gruppen einer zielgerichteten medizinischen Behandlung im Weg stehen können.[16] Des Weiteren berichtet sie, dieses Phänomen vor allem bei Ärzten, weniger bei Ärztinnen, beobachtet zu haben. Interessanterweise führt sie einen Teil des Problems auf eine unzureichende Fehlerkultur zurück, in der gerade Mediziner*innen nicht bereit sind, ihr Unwissen einzugestehen. Die Genfer Deklaration des Weltärztebunds, die der deutschen Berufsordnung für Ärzte voransteht, gibt vor:

Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.[17]

Ich behaupte, dass die meisten Ärzt*innen und das Pflegepersonal mit der Intention in den Beruf einsteigen, genau diesen Vorsatz zu erfüllen. Gerade deshalb stellt sich die Frage, an welchem Punkt und aus welchem Grund sie die Eigenschaft verlieren, nach der Deklaration zu handeln. Ist es ein Problem systematischer Diskriminierung, die die involvierten Personen ihr Leben lang miterlebt haben? Eine Reproduktion von Stereotypen, die sie nie anders kennengelernt haben? Oder vielleicht negative Erfahrungen mit entsprechenden Menschengruppen? Wäre es nicht dennoch die Pflicht einer Ärztin/eines Arztes und den verantwortlichen Pflegepersonen über solchen Einflüssen zu stehen, um ihren Beruf auf eine menschenwürdige Art und Weise ausüben zu können? Oder werden Rassismus, Sexismus, Fett- und Transfeindlichkeit durch ein System begünstigt, „das die Ressourcen so knapp hält [sic!], dass das medizinische Personal nur noch den Mangel verwaltet und dabei den Menschen aus dem Auge verliert?“[18]

Nantke Garrelts kritisiert aus diesem Grund den Begriff Gaslighting, da Gaslighting eine böse Absicht in der Behandlung der Patient*innen unterstelle. Jedoch denke ich nicht, dass der Verdacht so ohne Weiteres abgeschmettert werden kann. Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Gesundheitssystem in Deutschland (und den meisten Ländern der Welt) stark mangelhaft ist. Dennoch kann dieses Argument nicht als alleinstehender Grund dafür genannt werden, dass Menschen ungleich behandelt werden. Gerade im Bereich der LSBTIQ*[19]-Personen gibt es einige Studien, die zeigen, dass die betroffenen Personen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung eine schlechtere Gesundheit sowie Diskriminierungserfahrungen haben, die als Ursache für den gesundheitlichen Zustand miteinkalkuliert werden müssen.[20] Natürlich ist es nicht möglich, die gesamte LSBTIQ*-Bevölkerung im Ganzen zu betrachten. Auch Studien können immer nur einen kleinen Teil einer bestimmten Gruppe abbilden, so dass solche Studien immer mit Bedacht konsultiert werden sollten. Die jeweiligen Erfahrungen können stark voneinander abweichen, je nachdem in welchem Umfeld die betroffenen Personen leben, welcher Ethnie und sozialen Schicht sie angehören sowie zahlreiche andere Faktoren, die das Bild verzerren können, spielen eine Rolle.

Psychische und körperliche Erkrankungen wie Depression und Burnout treten laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) und der Universität Bielefeld bei LSBTIQ*-Personen bis zu dreimal häufiger auf.[21] Auch Einsamkeit sei ein großes Problem, dass doppelt so häufig auftrete, wie in der Mehrheitsgesellschaft. Bei trans* Personen liege diese Zahl sogar bei einem Drittel.[22] Die Folgen davon können sich wiederum in Schlafstörungen und Niedergeschlagenheit äußern. Da diese Erkrankungen stressbedingt seien, leiden LSBTIQ*-Personen doppelt so oft an Herzerkrankungen und auch chronischen Rückenschmerzen seien keine Seltenheit.[23] Die Forscher*innen der Studie stellen fest, dass einer der Hauptgründe für die schlechte Gesundheit von LSBTIQ*-Personen die anhaltende Diskriminierungserfahrung sei,[24] die sich vermutlich nicht nur auf den Alltag, sondern auch auf Arztbesuche zurückführen lässt. Darüber hinaus habe sich die Situation von LSBTIQ*-Personen während der Covid-19-Pandemie noch verschlimmert. Die Forscher*innen schlagen vor, vermehrt „Safe Spaces“ aufzubauen, also sichere Orte wie Vereine, Treffpunkte und kulturelle Angebote, in denen sich LSBTIQ*-Personen immerzu sicherfühlen können.

Auch der Lesben- und Schwulenverband Deutschland e. V. (LSVD e. V.) berichtet umfangreich über die gesundheitliche Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans* und inter* Menschen in der umfangreichen Studie: „Diskriminierung und Minderheitenstress machen krank und führen zu schlechterem gesundheitlichen Befinden.“

Minderheitenstress, bzw. minority stress, zeigt sich dadurch,

that stigma, prejudice, and discrimination create a hostile and stressful social environment that causes mental health problems. The model describes stress processes, including the experience of prejudice events, expectations of rejection, hiding and concealing, internalized homophobia, and ameliorative coping processes.[25]

Vgl. Meyer, Ilan H. (2003), S. 674–697

Ein junges Beispiel für Medical Gaslighting im Bereich der LSBTIQ*-Gesundheit ist sicherlich der Ausbruch des sogenannten „Affenpockenvirus“. Sowohl die Namensgebung als auch der Umgang in den Medien mit diesem Virus war und ist äußert bedenklich. Zum einen hat das Virus nichts mit Affen zu tun, es wurde lediglich das erste Mal in Affen entdeckt. Die Übertragung erfolgt jedoch über Nagetiere. Die Assoziation mit Affen führte in manchen Medien dazu, das Virus mit west- und zentralafrikanischen Ländern, wo das Virus endemisch ist, und den dort lebenden Menschen in Verbindung zu bringen, so dass unweigerlich rassistische Denkweisen gefördert wurden. Auffällig ist, dass das Virus bei Männern weit häufiger auftauche als bei Frauen.[26] Darüber hinaus wurde und wird die Verbreitung mit homosexuellen Männern, bzw. Männern, die Sex mit Männern (MSM) haben, in Verbindung gebracht, da die Infektionszahlen bei diesen Personen angeblich aufgrund häufig wechselnder Partner besonders schnell stiegen. Zwar wurde von vielen Seiten gefordert, eine Stigmatisierung zu unterbinden,[27] jedoch war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät, da entsprechende Berichte in Zeitungen und Nachrichten verbreitet worden waren.

Leider ist an diesen Beispielen zu erkennen, dass Diskriminierung nach wie vor ein großes Problem in unserer modernen Welt ist, ganz gleich, welchen Bildungsstand die Menschen haben und welchen Beruf sie ausüben. Daher ist es besonders wichtig, immer wieder für Aufklärung zu sorgen und den positiven Austausch zwischen Menschen aller Ethnien, sexuellen Ausrichtungen und Glaubensrichtungen zu fördern. Nur Aufklärung und ein positives Miteinander können Diskriminierung stoppen.

Literaturverzeichnis

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[1] Vgl. Definition Mittelmeersyndrom: https://flexikon.doccheck.com/de/Mittelmeersyndrom (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[2] Vgl. Maas, A.H.E.M. und Appelman, Y.E.A.: Gender differences in coronary heart disease. In: Netherlands Heart Journal 18 (2010). S. 598–603.

[3] Ebd.

[4] Siehe hierzu Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/ (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] Vgl. Sturm, Karin: Rea Strawhill & ME/CFS: Episode 1, Aches, Pains & Smiles Podcast, Transkription. Online: https://www.holy-shit-i-am-sick.de/rea-strawhill-me-cfs-episode-1-aches-pains-smiles-podcast/ (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[8] Garrelts, Nantke: Zu dick, zu schwarz, zu weiblich? Wenn der Arzt einfach nicht zuhören will. In: Tagesspiegel (05.09.2022). Online: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/zu-dick-zu-schwarz-zu-weiblich-wenn-der-arzt-einfach-nicht-zuhoren-will-8602855.html (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[9] Ebd.

[10] Vgl. Statistik der Stiftung Gesundheitswesen 2019: https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/wissen/adipositas/ folgeerkrankungen (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[11] Vgl. American Heart Association News: For LGBTQ Patients, Discrimination can Become a Barrier to Medical Care. Online: https://www.heart.org/en/news/2019/06/04/for-lgbtq-patients-discrimination-can-become-a-barrier-to-medical-care (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[12] Riggs, D. W., Fraser, H. (et al.): Domestic Violence Service Providers’ Capacity for Supporting Transgender Women: Findings from an Australian Workshop. In: British Journal of Social Work 46:8 (2016). S. 2374–2392.

[13] Nuttbrock, L. (et al.): Psychiatric Impact of Gender-Related Abuse Across the Life Course of Male-to-Female Transgender Persons. In: Journal of Sex Research 47:1 (2010). S. 12–23.

[14] Vgl. Garrelts, Nantke, Tagesspiegel (13.09.2022).

[15] Vgl. Schottner, Dominik: Medical Gaslighting – Wenn Mediziner*innen uns nicht ernstnehmen. Deutschlandfunk Online: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/medical-gaslighting-wenn-wir-nicht-ernst-genommen-werden (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[16] Ebd.

[17] Vgl. Weltärztebund: Deklaration von Genf – das ärztliche Gelöbnis. Offizielle deutsche Übersetzung der Deklaration von Genf autorisiert durch den Weltärztebund. Online: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/International/bundersaaerztekammer_deklaration_von_genf_04.pdf (letzter Zugriff: 13.09.2022).

[18] Vgl. Garrelts, Nantke, Tagesspiegel (13.09.2022).

[19] LSBTIQ* steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, inter*, Queer und/oder Questioning und jede weitere Form der sexuellen oder geschlechtlichen Identität. Im englischsprachigen Raum wird es als LGBT* abgekürzt und ist oft auch in deutschen Texten unter dieser Abkürzung zu finden.

[20] Vgl. Webseite des DISW: „Echte Vielfalt“: Neue Studie zur Gesundheit von LSBTIQ* in Deutschland veröffentlicht (26.02.2021). Online: https://echte-vielfalt.de/lebensbereiche/lsbtiq/neue-studie-zur-gesundheit-von-lsbtiq-in-deutschland-veroeffentlicht/ (letzter Zugriff: 18.09.2022).

[21] Ebd.

[22] Ebd.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Vgl. Meyer, Ilan H.: Prejudice, Social Stress, and Mental Health in Lesbian, Gay, and Bisexual Populations: Conceptual Issues and Research Evidence. In: Psychol Bull 129:5 (2003). S. 674–697.

[26] Vgl. Studie des UK Governments: Investigation into Monkeypox Outbreak in England: Technical Briefing 4 (02.09.2022). Online: https://www.gov.uk/government/publications/monkeypox-outbreak-technical-briefings/investigation-into-monkeypox -outbreak-in-england-technical-briefing-4 (letzter Zugriff: 18.09.2022).

[27] Vgl. bspw. Queer.de: Affenpocken: WHO-Chef ruft promiske Schwule zu Sex-Verzicht auf. Online: https://www.queer.de /detail.php?article_id=42754 sowie Rzepka, Dominik: Schwulenverband warnt vor Stigmatisierung. Bericht auf ZDF.de (24.05.2022). Online: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/affenpocken-homosexuelle-rki-diskriminierend-100.html (letzter Zugriff: 18.09.2022).


Quelle: Jessica Rorison, Diskriminierung im Gesundheitssektor. Die Auswirkungen von Medical Gaslighting und Diskriminierung auf Minderheitengruppen und Frauen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 01.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=289

Ein Essay über Rassismus im Gesundheitswesen

Jacqueline Franz (SoSe 2021)

Vergangenes Jahr wurde William Tonou-Mbobd im Universitätsklinikum Hamburg getötet. Der 34-Jährige, aus Kamerun stammende Ingenieurstudent, der an einer Schizophrenie erkrankt war, begab sich im April 2020 auf eigene Initiative und auf der Suche nach Hilfe in psychiatrische Behandlung. Der Vorfall ereignete sich, als Tonou-Mbobd offensichtlich eine Medikation, die ihm verabreicht werden sollte, ablehnte. Folglich stürzten sich mehrere Security-Kräfte auf den Mann, zwangen ihn vor Zeug*innen zu Boden, schlugen auf ihn ein. Sein Herz setzte noch an Ort und Stelle aus, doch der Reanimationsversuch glückte. Fünf Tage später starb Tonou-Mbobd auf der Intensivstation. Er könne nicht atmen, habe er laut Zeug*innen gesagt (Vgl. Ruddath, Effenberger 2019). Dieser Satz kommt uns heute, wenn auch über ein Jahr später und aus einem anderen Kontext, sehr bekannt vor: George Floyd und die Black Lives Matter Bewegung. Hier starb ein schwarz gelesener Mensch durch die Polizei, während er um sein Leben flehte, dort durch einen Sicherheitsdienst an einem vermeintlich sicheren Ort, dem Krankenhaus. Die Gemeinsamkeit beider Taten: Struktureller Rassismus. Und beide sind mit Sicherheit keine Einzelfälle. Struktureller Rassismus macht auch vor unserem Gesundheitssystem nicht Halt, denn postkoloniale Strukturen sind in der deutschen Medizin fest verankert. Sie treten in verschiedensten Ebenen auf, ihre Aufarbeitung und Reflexion im alltäglichen Klinik- und Praxisalltag, sowie in der medizinischen Lehre wurde weitestgehend versäumt.  

Der Irrglaube über den Zusammenhang von Herkunft und Schmerzempfinden

Zum Schreiben dieses Essays versuche ich, mich an meine Ausbildung und die ersten Jahre meiner Tätigkeit auf einer Station für Innere Medizin und Onkologie zurückzuerinnern. Wo sind mir Rassismen begegnet, die ich, gerade 18 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt noch völlig unsensibel gegenüber der Thematik, vielleicht gar nicht als solche wahrgenommen habe. Meine erste Erinnerung führt mich ins zweite Lehrjahr meiner Ausbildung, in das Modul „Versorgung vonSchmerzpatient*innen“. Die Aussage der Dozentin sollte ich in meiner Pflegelaufbahn nicht zum letzten Mal gehört haben: „Wenn ihr südländisch Patient*innen pflegt, müsst ihr wissen, dass deren Schmerztoleranz deutlich geringer ist als die von Menschen aus dem Westen.

Da wird gerne mal geschrien oder laut geweint, das hat mit Kultur zu tun.“ Angespielt wird hier auf die unter medizinischem Personal weit verbreitete Annahme der Existenz des „Morbus Bosperus“ oder „Morbus Medditereneus“. Schmerzempfinden hänge von der Herkunft ab und dabei seien nicht weiß gelesene Personen besonders hart im

Nehmen und „der Rest“ nun mal eben nicht (Vgl. Wanger, Kilgenstein, Poppel 2020:2). Ich glaube nicht, dass die Dozentin mit ihrer Aussage bewusst und gezielt rassistische Stereotype vermitteln wollte. Vielmehr ging es ihr vermutlich darum, unsere Aufmerksamkeit für die Subjektivität in der Schmerzwahrnehmung zu schärfen. Doch welche Konsequenzen haben die unreflektierte Weitergabe und damit die Aufrechterhaltung solch rassistischer Stereotype im Stationsalltag?  

Ich erinnere mich an einen jungen, schwarz gelesenen Mann, der an einem Sonntagabend mit starken Bauchschmerzen zur stationären Aufnahme auf unsere Station eingeliefert wurde. Sein schmerzhaftes Stöhnen störte uns insgeheim. Betätigte der Mann den Pflegeruf, verdrehten wir die Augen. Aussagen wie, „Naja, morgen ist ja auch Montag, keine Lust zu arbeiten“ wurden eher scherzhaft, aber doch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit ausgesprochen. Während des Schreibens und Zurückerinnerns erkenne ich das erste Mal die Intersektionalität, die die Unprofessionalität unseres Verhaltens noch zusätzlich beförderte. Der Patient wurde von uns nämlich nicht nur schwarz, sondern auch männlich gelesen und er befand sich irgendwo am Anfang seiner Zwanziger. Neben unserer Vorstellung, der Mann könne unter Morbus Bosperus leiden, könnten auch unbewusste Annahmen wie „junge männliche Personen sollten Schmerzen aushalten“ unserem Verhalten inne gelegen haben. Und auch wenn wir unsere innere Haltung dem Patient gegenüber nicht offen kommunizierten, bin ich mir heute sicher, dass er unsere gereizte, ungeduldige Stimmung wahrnehmen konnte. 

Die Annahme, nicht weiß gelesene Personen würden bei Beschwerden gerne übertreiben und müssten deshalb weniger ernst genommen werden, führt nicht nur nachweislich zu Behandlungsfehlern und zum verspäteten Erkennen medizinischer Komplikationen (vgl. Wanger et al., 2020:2), sondern hat auch psychische Auswirkungen. Ich kann mir vorstellen, dass eine Person, deren Leiden bagatellisiert wird, Beschwerden länger aushält, ohne sie zu kommunizieren. Leid wird dann eher verschwiegen, vielleicht internalisiert der- oder diejenige sogar die externen Rassismen. „Ich bin es nicht wert, dass man mich versorgt, wie meine weißen Mitpatient*innen.“ Studien zeigen außerdem, dass diskriminierende Erfahrungen zur verzögerten Inanspruchnahme medizinischer Versorgung führen und die Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen beeinträchtigen (vgl. Kluge/ Heinz/ Udeogu-Gözalan/ Abdel-Fatah 2020:1020).

Innerhalb von Krankenhäusern, die eigentlich einen Ort des Heilens und Genesens darstellen sollen, wird Macht häufig unreflektiert ausgeübt und reproduziert. Diese Machtausübungen stellen sich vielschichtig dar und durchdringen alle Bereiche. Im Kontext von Rassismus zeigen sie sich häufig darin, dass so dargestellte „kulturelle Eigenheiten“ nicht gerne gesehen oder toleriert werden. „Man ist hier in Deutschland im Krankenhaus, also sollte man sich auch wie ein deutscher Patient oder eine deutsche Patientin verhalten“, lautet häufig die Einstellung des medizinischen Personals. Das startet beispielsweise bei der Voraussetzung für Akzeptanz und Unterwerfung gegenüber eines dominanten westlichen Behandlungssystems, dass meist ausschließlich auf Biomedizin ausgerichtet ist und keinen Spielraum für medizinische Pluralität zulässt. Es zeigt sich auch im Umgang mit Trauer und Tod, der hier meiner Erfahrung nach bestenfalls still und diszipliniert und nicht laut klagend und emotional vor sich gehen sollte. Und auch wie häufig der oder die Kranke Besuch zu erhalten hat und wie Angehörige sich verhalten sollen, unterliegt westlichen Regeln und Vorstellungen. Wenn nicht weiß gelesene Patient*innen viel Besuch von Familienmitglieder über mehrere Stunden haben, stößt das beim Stationspersonal schnell auf Unmut. Die Reaktionen innerhalb meines Teams reichten dann regelmäßig von unverschämten Aussagen wie „jetzt kommt da wieder die ganze Großfamilie mit ihrem Essen, gleich stinkt wieder das ganze Zimmer nach Zwiebeln, als würde der/ die hier verhungern bei uns“, als auch zu Zimmerverweisen während der Durchführung von Behandlungen wie Blutdruckmessen und Infusionsgaben. Diese waren eigentlich nicht nötig, sondern sollten in meinen Augen nur demonstrieren, wer hier schlussendlich das Sagen hat.

Gern gesehen wurde nur, wenn Angehörige von BIPOC Pflegemaßnahmen wie Waschen und Anziehen übernahmen, die das Pflegepersonal entlasteten, doch eine Reflexion dieser Doppelmoral fand meiner Erfahrung nach leider nicht statt. 

In den bisher aufgeführten Beispielen äußerte sich Rassismus überwiegend auf der persönlichen und zwischenmenschlichen Ebene. Doch innerhalb der Institutionen des Gesundheitswesens ist Rassismus vor allem strukturell verankert. Das fehlende Vorhandensein deutscher Studien zum Thema gibt erste Aufschlüsse auf das mangelhafte Bewusstsein sowie den geringen Willen zur Auseinandersetzung mit der Problematik hierzulande. Struktureller Rassismus ist auf den ersten Blick weniger sichtbar, das macht ihn schwerer zu identifizieren und zu bekämpfen. Im Gesundheitswesen äußert er sich vielseitig: Zum Beispiel in Zugangsbarrieren zu Versorgungsstrukturen (Vgl. Razuum/ Geiger/ Zeeb/ Ronellenfitsch 2004:101), in der Ausbildung und im Studium medizinischer Berufe, sowie in einer Wissenschaft, die in erster Linie auf die Versorgung weißer Menschen ausgerichtet ist (Vgl. Wanger et al., 2020:2,6). Ein aktuelles Beispiel zur Illustration von Ungleichheit aufgrund ethnischer Unterschiede im medizinischen Kontext ist die Coronapandemie.  In vielen Ländern zeigen Studien, dass sowohl das Risiko der Aussetzung gegenüber dem Virus als auch die Mortalitätsrate unter Infizierten hohen ethnischen Unterschieden unterliegt (Vgl. Rogers/ Rogers/ VanSant-Webb/ Gu/ Yan/ Qeadan 2020; Platt/ Warwick 2020;

Laurencin/ McClinton 2020). Einen Erklärungsansatz liefert dabei die sogenannte „Wheatering Theory“, die davon ausgeht, dass gesundheitliche Konditionen, die aufgrund ethnischer Unterschiede bestehen, durch strukturelle und allgegenwärtige Benachteiligungen bedingt werden, denen nicht weiß gelesene Personen ausgesetzt sind. Diese Benachteiligungen führen zu einem schlechteren Gesundheitszustand und begünstigen die Chronifizierung von Krankheiten (Vgl. Rogers et al., 2020:312). Chronische Vorerkrankungen wiederrum erhöhen bekanntermaßen das Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf bei Covid-19. 

Strukturelle Benachteiligungen können sich außerdem in ökonomische Faktoren äußern: Diese sind beispielsweise eine niedrigere Position auf dem Arbeitsmarkt, geringeres Einkommen und höhere finanzielle Betroffenheit durch Maßnahmen wie Lockdowns, sowie Benachteiligungen in der Wohnsituation durch beengten Wohnraum bewi ärmeren Communities und somit weniger Möglichkeiten zum Social-Distancing (Vgl. Bentley 2020:2).

In Deutschland liegen bedauerlicherweise nur wenige Studien zum Zusammenhang von ethnischen Unterschieden und dem Risiko einer Infektion und einem schweren bis tödlichen Verlauf bei Covid-19 vor, denn repräsentative Daten existieren kaum. Hier besteht also dringender Nachholbedarf: Zukünftige Studien müssen dabei intersektional ausgerichtet sein, um den Einfluss sich überschneidender, diskriminierender Faktoren genau herauszuarbeiten, so dass politische Maßnahmen zur Gegensteuerung zielorientiert entworfen und angewendet werden können. 

Während des Verfassens dieses Essays habe ich den Lesenden einen Einblick in Situationen gegeben, die von meinem jüngeren Ich erlebt wurden. Heute, einige Jahre, nachdem ich die Klinik und den Beruf der Gesundheits- und Krankenpflegerin hinter mir gelassen habe, erinnere ich mich häufig beschämt und nachdenklich an die Menschen zurück, die auch unter meiner Mitwirkung, Aufrechterhaltung und Förderung Rassismus im klinischen Alltag erleben mussten. Auch ich habe Auszubildende angeleitet. Obwohl ich mich zumindest nicht erinnern kann, Rassismen direkt an sie weitergegeben zu haben, habe ich ihre Aufmerksamkeit mit Sicherheit nicht dafür geschult, die Strukturen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Heute würde ich anders wahrnehmen, beurteilen und handeln. Ein Bewusstsein für die Problematik setzte bei mir erst gegen Ende meiner Pflegelaufbahn ein. Aufgewachsen in einem unpolitischen, konservativen und bildungsschwachen Kontext, hatte ich das Glück, mit meinem Umzug nach Berlin mit Menschen in Berührung zu kommen, die mir Denkanstöße gaben, meinen Horizont erweiterten und mich zum kritischen Denken anregten. Auch im Abitur, dass ich erst nach meiner Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg nachholte, lernte ich wichtige theoretische Fakten, die mir halfen, Kontexte zu verstehen, Verbindungen zu schlagen und analytisch denken zu lernen. Bis heute befinde ich mich in einem ständigen Prozess des bewussten Verlernens von Gelerntem. Aufgrund meiner Erfahrungen empfinde ich die Annahme, das Anstoßen solcher wichtigen Reflexionsprozesse sei privat und müsse aus eigenem innerem Antrieb erfolgen, schwierig. Meiner Meinung nach sollte die Anerkennung und folglich der Abbau rassistischer Strukturen eine gesellschaftliche Aufgabe darstellen. Die Sensibilisierung für die Thematik sollte schon früh fest in die allgemeine Schulbildung integriert werden. Notwendig dafür ist die bewusste Auseinandersetzung mit postkolonialen Strukturen innerhalb aller Bildungseinrichtungen. Im speziellen Kontext der gesundheitlichen Versorgung halte ich aber regelmäßige, von nicht weiß gelesenen Personen durchgeführte und verpflichtende Fortbildungen und Sensibilisierungstrainings für unerlässlich, genauso wie die Implementierung von Anlaufstellen für BIPoC, die Diskriminierung und Rassismus erfahren haben. Dies könnten erste, wichtige Schritte zu einem fairen Gesundheitssystem sein, dass den Anspruch der Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig von Ihrer Hautfarbe und Herkunft nicht nur theoretisch vertritt, sondern in allen Bereichen realisiert. 


Literaturverzeichnis

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Quelle: Jacqueline Franz, Ein Essay über Rassismus im Gesundheitswesen: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/ein-essay-ueber-rassismus-im-gesundheitswesen/