Gender und sexuelle Dysfunktion

Zusammenhang und Auswirkung

Anonym (WiSe 2024/25)

Einleitung

Viele Menschen leiden unter einer sogenannten „sexuellen Dysfunktion“. Dabei wird aufgrund von körperlichen oder psychischen Ursachen das Ausleben der eigenen Sexualität erschwert oder verhindert und es entsteht bei den Betroffenen Leidensdruck. [1]

In der Forschung gibt es bereits einiges an Wissen über sexuelle Dysfunktionen bei Cis-Männern und auch bei Cis-Frauen wurden bereits große Fortschritte erzielt.[2] Bei marginalisierten Gruppen wie Transgender Personen und Non-Binären, sowie Genderqueeren Personen sind leider noch deutliche Lücken in der Forschung zu bemängeln. [3] [4]

Die eigene Sexualität gesund ausleben zu können ist dabei nachgewiesen eine Voraussetzung für viele Menschen, ein gesundes und glückliches Leben führen zu können. Wenig überraschend ist folglich, dass Depressionen eine mögliche Folge von unbehandelten sexuellen Funktionsstörungen sein können.[5]

Sexuelle Dysfunktion kann je nach körperlichen und psychischen Voraussetzungen unterschiedlich bei den Geschlechtern auftreten.[6] [7] In diesem Essay soll auf den Zusammenhang zwischen sexueller Dysfunktion und Gender eingegangen werden. Die binäre Aufteilung in Mann und Frau wird dabei nicht allen Betroffenen von sexuellen Dysfunktionen gerecht. Marginalisierten Gruppen, wie Transpersonen oder on-Binären und Genderqueeren Personen, werden von dieser binären Aufteilung außenvor gelassen.

In vielen der verwendeten Quellen ist von „Mann“ und „Frau“ die Rede und es wird meist nicht genauer definiert, wer gemeint und wer nicht mit einbezogen wird. In den entsprechenden Teilen des Essays werde ich von daher diese Formulierung übernehmen, da es schwierig ist, mit Sicherheit zu sagen, dass beispielsweise ausschließlich Cis-Männer und Cis-Frauen gemeint sind, wenn dies nicht deutlich ausgedrückt wurde. In den Teilen des Essays in denen ich meine Meinung wiedergebe werde ich versuchen, möglichst präzise und angemessene inklusive Sprache zu verwenden.

Im Fazit werde ich meine eigene Meinung wiedergeben und in der Reflexion meinen eigenen Arbeits- und Lernprozess reflektieren. Dementsprechend werde ich teilweise aus der Ich-Perspektive schreiben. Ich habe mich dazu entschieden dem Fazit auch einen Reflexionsteil anzufügen, da ich es interessant fand, wie sich meine eigene Sichtweise beim Schreiben des Essays verändert hat.

Was ist eine sexuelle Funktionsstörung bzw. eine sexuelle Dysfunktion?

Bei einer sexuellen Dysfunktion wird das Ausleben einer sexuellen Beziehung bei der betroffenen Person erschwert oder verhindert.[8] 43% der Frauen und 30% der Männer leider unter sexuellen Problemen. Bei 12% von ihnen werden die diagnostischen Kriterien erfüllt, um eine Störung zu diagnostizieren.[9]

Die ICD-11 unterscheidet bei der sexuellen Dysfunktion zwischen vier Sub-Kategorien. Die Dysfunktion verminderten sexuellen Verlangens, die Dysfunktion der sexuellen Erregung, die Dysfunktionen des Orgasmus, sowie die Dysfunktionen der Ejakulation. Diese Sub-Kategorien haben weitere Sub-Kategorien in welchen teilweise zwischen Männern und Frauen unterschieden wird.[10]

Während in der ICD-10 noch zwischen organischer und nicht-organischer sexueller Dysfunktion unterschieden wurde, wird in der ICD-11 beides in einem Kapitel zusammengeführt.[11]

Physische und psychische Umstände können eine sexuelle Funktionsstörung verursachen. Aus dieser können weitere psychische Probleme wie Depressionen folgen. Allgemein kann das psychische Wohlbefinden die sexuelle Funktion eines Menschen beeinflussen. Depressionen, Ängste, Wut, Schuldgefühle und Trauma sind einige der psychischen Faktoren, welche einen negativen Einfluss auf das sexuelle Wohlbefinden einer Person haben können.[12] 

Depression und sexuelle Dysfunktion

Depressionen und sexuelle Dysfunktion kommen häufig Hand in Hand und zeichnen sich durch ihre relativ häufige Verbreitung aus. Eine sexuelle Dysfunktion kann unter anderem Symptom und Ursache einer Depression sein. Die Zusammenhänge zwischen den beiden Erkrankungen sind durch viele Studien untersucht und belegt.[13]

Während ungefähr ein Drittel der nicht medikamentös behandelten depressiven Patienten von einer negativen Auswirkung ihrer Depression auf ihre Sexualität sprechen, sind es bei der Gesamtzahl der depressiven Patienten über die Hälfte bis hin zu 90% der Betroffenen, welche über eine Beeinträchtigung ihrer Sexualität berichten. Bedingt wird dies unter anderem durch die oftmals medikamentöse Behandlung von Depressionen. Diese Antidepressiva haben vielfach Nebenwirkungen, welche die sexuelle Gesundheit der Patienten beeinflusst. Schwindendes Interesse an sexueller Aktivität ist dabei die häufigste Nebenwirkung. Bei als männlich eingeordneten Personen sind Depressionen einer der größten möglichen Ursachen für Erektionsstörungen.[14]

Folglich ist es wichtig bei einem betroffenen Patienten nicht nur die Depression zu behandeln, sondern wenn vorhanden auch die sexuelle Dysfunktion. Um die Lebensqualität von Individuen mit Depressionen oder sexuellen Dysfunktionen zu verbessern ist es zudem sinnvoll, regelmäßig zu überprüfen, ob sich eine sexuelle Dysfunktion oder eine Depression, wenn das jeweils andere vorhanden ist, bildet, um dann zeitnah eingreifen zu können.[15]

Anzumerken ist allerdings, dass eine Depression nicht unbedingt lustmindernd wirken muss. Bei einigen depressiven, als männlich eingeordneten Personen, kommt es zu erhöhter sexueller Aktivität. Dies könnte eine Art Copingstrategie sein, um mit der Depression umzugehen. In vielen Fällen lassen die sexuellen Probleme nach dem Rückgang der Depression nach.[16]

Sexuelle Dysfunktion bei Männern

Sexuelle Dysfunktionen treten bei Männern häufig auf. Es ist allerdings schwierig genau zu bestimmen wie verbreitet sie auftreten, da unterschiedliche Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Bei einer Auswahl von Studien über die erektile Funktion bei Männer nach einer Prostataentfernung, konnten über 20 unterschiedliche Definitionen für eine erektile Dysfunktion festgestellt werden. Als Folge lag der Anteil von adäquater erektiler Funktion bei den Beteiligten zwischen 25 und 78%.[17]

Die wohl verbreiteteste sexuelle Dysfunktion bei Männern ist die frühzeitige Ejakulation. Dabei haben die Betroffenen wenig bis keine Kontrolle über den Zeitpunkt ihrer Ejakulation und kommen aus eigener Sicht zu früh zum Höhepunkt. Ungefähr 30% der Männer leider darunter. Es ist schwierig die frühzeitige Ejakulation genau zu definieren, da es unmöglich ist genau festzulegen ab wann eine frühzeitige Ejakulation zeitlich vorliegt.[18]

Mangelnde sexuelle Lust, Unfähigkeit zur Ejakulation und die Unfähigkeit einen Orgasmus zu erreichen sind weitere mögliche sexuelle Funktionsstörungen bei Männern.[19]

Sexuelle Dysfunktion bei Frauen

Es konnte in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr Wissen über sexuelle Dysfunktionen bei Frauen erlangt werden. Bei Frauen fallen unter anderem Libidostörung, Erregungs- und Orgasmusstörungen, Lubrikationsstörungen, sowie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr unter die Kategorie der sexuellen Dysfunktion. Der „National Health and Social Life Survey“ zufolge haben 43% der Frauen in der Altersgruppe der 18–59-Jährigen mit einer sexuellen Dysfunktion zu kämpfen. Insgesamt schätzt man mit einer Verbreitung von zwischen 22 und 49%.[20]

Bestimmte sexuelle Funktionsstörungen nehmen im Alter zu. So ist die sexuelle Appetenz Störung in Europa bei Frauen im Alter deutlich verbreiteter. Bei dieser fehlt es den betroffenen unter anderem an sexuellem Interesse. Voraussetzung um den Mangel an sexuellem Interesse als Störung einzuordnen ist, dass die Person dadurch einen Leidensdruck verspürt. Zudem lässt sich die Diagnose in unterschiedliche Kriterien unterteilen. Dabei wird eingeordnet, ob die Störung dauerhaft vorhanden oder erworben ist, ob sie generalisiert oder situationsabhängig auftritt und ob es eine organische oder psychische Ursache gibt.[21]

Die möglichen Ursachen für die entstehen einer sexuellen Funktionsstörung bei Frauen sind vielfältig. Hormone spielen im menschlichen Körper eine vielfältige Rolle und beeinflussen unter anderem die Sexualität. Die Menopause kann bei betroffenen zum Beispiel durch den veränderten Hormonhaushalt die Entstehung einer sexuellen Funktionsstörung begünstigen.[22]

Gesundheitliche und psychosoziale Faktoren können auch verantwortlich für das Entstehen einer sexuellen Dysfunktion sein. Chronische Erkrankungen und Medikamente können zum Beispiel die sexuelle Gesundheit verschlechtern. Frauen, die zum Beispiel eine negative Wahrnehmung ihrer Sexualität internalisiert haben, haben ein hohes Risiko eine sexuelle Funktionsstörung zu entwickeln. Ängste sind ein weiterer Faktor. Während sich bei Männern eher Ängste bezüglich der sexuellen Performance bestehen, haben Frauen oft eher Ängste im Bereich der Selbstwahrnehmung ihrer körperlichen sexuellen Attraktivität.[23]

Transgender Personen

Individuen mit einer Geschlechtsdysphorie identifizieren sich nicht mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht und empfinden folglich einen Leidensdruck. Umgangssprachlich ist hierbei oft von Transgeschlechtlichkeit oder Transidentität die Rede.[24] 

Die Geschlechtsdysphorie macht es für Trans Personen oft schwierig ihre Sexualität auszuleben. Ein hohes Risiko sexuelle Gewalt zu erleben, sowie teilweise internalisierte Transphobie stellen weitere Hürden für Trans Personen dar, ihre sexuelle Gesundheit zu verbessern.[25]

Während in der Vergangenheit die Sexualität von Transmenschen wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat, gab es in letzter Zeit diesbezüglich einen Wandel. Mit steigendem Bewusstsein für die Wichtigkeit eines gesunden Sexuallebens für die Gesundheit von vielen Individuen, ist auch das Bewusstsein für die Wichtigkeit eines gesunden Sexuallebens bei Transmenschen gewachsen.[26]

Studien über die sexuelle Funktion bei Trans Personen haben sich bisher häufig auf die sexuelle Funktion nach der geschlechtsangleichenden Operation und Hormontherapie bezogen. Eine systematische Auswertung von 28 Studien kam zu dem Ergebnis, dass 63%% der Transfrauen nach einer Hormontherapie und einer Geschlechtsangleichenden Operation eine deutliche Verbesserung ihrer sexuellen Funktionsfähigkeit wahrnehmen. Folge Studien verweisen zudem auf höhere sexuelle Aktivität, höhere Zufriedenheit mit dem Orgasmus und geringere Schmerzen nach der geschlechtsangleichenden Operation bei Transfrauen. Es kam allerdings auch zu einer Verringerung des sexuellen Verlangens bei vielen der Betroffenen, wobei die Häufigkeit von einer Störung des sexuellen Verlangens bei Transfrauen etwa der von Cisgender Frauen entsprach.[27]

Der Forschungsstand bei Transmännern ist diesbezüglich noch schwächer als bei den Transfrauen. Hormontherapie und eine Geschlechtsangleichende Operation führten aber auch bei Transmännern zu verbesserter sexueller Gesundheit. Die Behandlung führte hier in vielen Fällen zu verbesserten sexuellen Gesundheit und einem Anstieg in sexuellen Bedürfnissen, sowie vermehrter sexueller Aktivität.[28]

Auch wenn die Hormontherapie und die geschlechtsangleichende Operation als Mittel die sexuelle Gesundheit vieler Trans Personen verbessert, gibt es in einigen Fällen auch nach diesen Eingriffen bei einigen der Betroffenen weiterhin sexuelle Dysfunktionen. In Bezug auf sexuelle Dysfunktionen nach der Behandlung fehlt es an groß angelegten Studien, um aufzuzeigen wie verbreitet diese sind.[29]

So bleibt es für viele Transpersonen weiterhin schwierig eine sexuelle Beziehung einzugehen und sexuellen Kontakt zu suchen.[30]

Non-Binäre und Genderqueere Personen

Während es bei Transpersonen oft um die Einordnung in männlich und weiblich geht, gibt es auch Personen, die sich weder dem männlichen oder weiblichen Spektrum zuordnen. Während ein Teil dieser Personen sich auf dem Spektrum von männlich und weiblich zwischen diesen einordnen, gibt es andere, die sich als völlig außerhalb dieses Spektrums liegend sehen. Diese Menschen bezeichnen sich meist als Non-Binär und/oder Genderqueer.[31]

Eine niederländische Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass 4,6% der Personen die nach ihrer Geburt als männlich eingestuft wurden und 3,2% der Personen die nach ihrer Geburt als weiblich eingestuft wurden, Unsicherheiten bezüglich ihres Geschlechts verspüren.[32]

Trotz der Einordnung der WHO von sexueller Gesundheit als wichtigen Teilaspekt für die Lebensqualität eines Individuums, gibt es einen deutlichen Mangel an quantitativen Studien bezüglich der sexuellen Gesundheit bei Non-Binären und Genderqueeren Personen.[33]

Eine Online-Umfrage aus dem Jahr 2020 versucht die sexuelle Gesundheit von Non-Binären und Genderqueeren Personen mit denen von binären Transpersonen und Cisgender Personen zu vergleichen.[34] In vielen Hinsichten überschneiden sich die Probleme der Non-Binären und Genderqueeren Personen mit denen der binären Transgender Personen.[35] Sexuelles Selbstbewusstsein in Bezug auf den eigenen Körper wurde in binären Transpersonen und Non-Binären und Genderqueeren Personen niedriger gemessen als bei Cisgender Personen. Dies deckt sich auf mit den Ergebnissen anderer Forschung.  In Bezug auf die transspezifischen Körperwahrnehmung schnitt die Gruppe der von Non-Binären und Genderqueeren Personen schlechter ab als die binäre Transpersonen Gruppe.[36]

Fazit

Es wird deutlich, dass sexuelle Dysfunktionen für alle Gender ein Problem darstellen. Während es beispielsweise zwischen Cis-Frauen und Cis-Männern entsprechend ihrer körperlichen Voraussetzungen und gesellschaftlicher Normen teilweise unterschiedliche sexuelle Dysfunktionen auftreten, gibt es doch auch deutliche Überschneidungen. Depressionen als verbreitete Folge und Ursache sexueller Dysfunktion bei allen betroffenen Gruppen zeigt deutlich die Wichtigkeit für alle Gruppen das Thema mit Ernsthaftigkeit anzugehen.

Der Fakt, dass die ICD-11 lediglich zwischen Mann und Frau unterscheidet, macht ein weiteres Mal deutlich, dass Transpersonen und Non-Binäre, sowie Genderqueere Personen nicht ausreichend inkludiert werden. Das organische und nicht organische Ursachen für sexuelle Dysfunktionen zusammengelegt werden, ist grundsätzlich eine positive Entwicklung, da das Thema nun ganzheitlicher betrachtet werden kann.

Es ist davon auszugehen, dass wenn in der ICD-11 oder anderen Quellen zwischen Mann und Frau unterschieden wird, von Cis-Männern und Cis-Frauen die Rede ist. Diese Unterteilung bleibt unzureichend, da sie nicht ausreichend für Menschen aufkommt, welche sich nicht mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Da es für diese Menschen umso schwieriger sein kann ihre Sexualität auszuleben, können sexuelle Dysfunktionen ein umso größeres Problem darstellen.

Deutlich wurde mir auch, dass sich die sexuelle Gesundheit in vielen Fällen verbessern lässt und nicht immer von Dauer sein muss. Die Verbesserung der sexuellen Gesundheit bei Transpersonen durch geschlechtsangleichende Operationen und eine Hormontherapie unterstreicht wie viel Auswirkung medizinische Unterstützung für diese Gruppen haben kann. Leider gibt es noch zu viele Lücken in der Forschung, obwohl ja ein durchaus nennenswerter Teil der Gesellschaft Unsicherheiten bezüglich des eigenen Geschlechts verspürt. Unabhängig davon hat jede dieser Personen das Recht auf ein gesundes Sexualleben und wir als Gesellschaft sollten unser Bestes geben, um jeder Person ein solches zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, benötigt es einen gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Inklusion und verstärkte Bemühungen auch zugunsten kleinerer Gruppen zu forschen.

Reflexion

Beim Schreiben dieses Essays kam ich zum Nachdenken über einige Themen, mit denen ich sonst wenig konfrontiert werde. Die Bedeutung eines gesunden Sexuallebens war mir zwar bereits teilweise bewusst, allerdings wurde mir verdeutlicht, wie sehr dieses Thema nahezu alle Gruppen betrifft, unabhängig von Geschlecht oder hohem Alter.

Zudem hat sich mir verdeutlicht, dass neben den organischen Ursachen für sexuelle Dysfunktionen, die psychischen Ursachen eine enorme Rolle spielen können und das gesellschaftliche Umfeld, dass wir schaffen, einen großen Einfluss auf das psychische Empfinden von allen Menschen unserer Gesellschaft hat.

Besonders hinterfragt habe ich beim Schreiben des Essays die oft verwendete Trennung zwischen „Mann“ und „Frau“. Auch eine Non-Binäre Person, menstruiert unter Umständen, aber identifiziert sich vielleicht nicht als Frau. Diese Person ist dann trotzdem von den hormonellen Folgen der Menstruation betroffen und möglicherweise auf Hilfe angewiesen. Sucht sie nun beispielsweise Online nach Hilfe, wird sie wahrscheinlich der Unterteilung von Mann und Frau begegnen und sich nicht inkludiert fühlen. Auch wenn einige für einen Teil der Gesellschaft an der Einteilung von Mann und Frau festhalten wollen, sollte es zumindest neben den Kategorien Mann und Frau auch Kategorien für beispielsweise Transpersonen, Non- Binäre Personen und Genderqueere Personen geben. Eine Anpassung des Kapitels der sexuellen Dysfunktion in der ICD-11um diese Gruppen zu inkludieren könnte ein Anfang darstellen diese Situation zu verbessern.

Quellen:

Berner, M., Psychopharmakaassoziierte sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung, in: Nervenarzt, Col. 88, 2017-05. S. 459-465.

Briken, Peer; Matthiesen, Silja; Pietras, Laura; et al., Prävalenzschätzungen sexueller Dysfunktion anhand der neuen ICD-11-Leitlinien, in: Deutsches Ärzteblatt, 39/2020, https://www.aerzteblatt.de/archiv/215853/, Stand: 06.02.2025.

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html, Stand: 06.02.2025.

Conn, Allison; Hodges, Kelly R., Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2023, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-frauen/sexuelle-funktion-und-funktionsst%C3%B6rung-bei-frauen/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-frauen?ruleredirectid=740autoredirectid=23359, Stand: 08.02.2025.

Hartmann, Uwe, Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen: Aspekte eines vielschichtigen Zusammenhangs, in: Psychiatrische Praxis, Vol.34, 2007-09, S. 314-317.

Jimbo, Masaya, Überblick über die Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2024, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-m%C3%A4nnern/sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern, Stand: 05.02.2025.

Kennis, Mathilde; Duecker, Felix; T’Sjoen, Guy, et al., Mental and sexual well-being in non.binary and genderqueer individuals, in: International Journal of transgender health, Vol.23, 2022, S.442-457.

Kerckhof, Mauro E.; Kreukels, Baudewijntje P.C.; Nieder, Timo O.; et al., Prevalence of Sexual Dysfunctions in Transgender Persons: Results from the ENIGI Follow-Up Study, in: Journal of sexual medicine, Vol 16, 2019-12, S. 2018-2029.

Korda, J. B., Weibliche sexuelle Dysfunktion, in: Gynäkologe Berlin, Vol. 41, 2008-12, S.1005-1019.

Minhas, Suks; Mulhall, John P., Male sexual dysfunction: a clinical guide, Oxford 2017.


[1] Jimbo, Masaya, Überblick über die Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2024, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-m%C3%A4nnern/sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern, Stand: 05.02.2025.

[2] Korda, J. B., Weibliche sexuelle Dysfunktion, in: Gynäkologe Berlin, Vol. 41, 2008-12, S.1006.

[3] Kerckhof, Mauro E.; Kreukels, Baudewijntje P.C.; Nieder, Timo O.; et al., Prevalence of Sexual Dysfunctions in Transgender Persons: Results from the ENIGI Follow-Up Study, in: Journal of sexual medicine, Vol 16, 2019-12, S. 2019.

[4] Kennis, Mathilde; Duecker, Felix; T’Sjoen, Guy, et al., Mental and sexual well-being in non.binary and genderqueer individuals, in: International Journal of transgender health, Vol.23, 2022, S.442f.

[5] Hartmann, Uwe, Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen: Aspekte eines vielschichtigen Zusammenhangs, in: Psychiatrische Praxis, Vol.34, 2007-09, S. 314.

[6] Jimbo 2024.

[7] Conn, Allison; Hodges, Kelly R., Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2023, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-frauen/sexuelle-funktion-und-funktionsst%C3%B6rung-bei-frauen/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-frauen?ruleredirectid=740autoredirectid=23359, Stand: 08.02.2025.

[8] Jimbo 2024.

[9] Berner, M., Psychopharmakaassoziierte sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung, in: Nervenarzt, Col. 88, 2017-05. S. 459.

[10] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html, Stand:06.02.2025.

[11] Briken, Peer; Matthiesen, Silja; Pietras, Laura; et al., Prävalenzschätzungen sexueller Dysfunktion anhand der neuen ICD-11-Leitlinien, in: Deutsches Ärzteblatt, 39/2020, https://www.aerzteblatt.de/archiv/215853/, Stand: 06.02.2025.

[12] Jimbo 2024.

[13] Hartmann 2007, S.314.

[14] Hartmann 2007, S.314f.

[15] Hartmann 2007, S.316.

[16] Hartmann 2007, S.316.

[17] Minhas, Suks; Mulhall, John P., Male sexual dysfunction: a clinical guide, Oxford 2017, S. 1.

[18] Minhas, Mulhall, 2017, S.2f.

[19] Jimbo 2024.

[20] Korda 2008, S. 1006.

[21] Korda 2008, S. 1007.

[22] Korda 2008, S. 1008f.

[23] Korda 2008, S. 1009f.

[24] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2018.

[25] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[26] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[27] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[28] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[29] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[30] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2029.

[31] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al., S.442.

[32] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 442f.

[33] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 443.

[34] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 444.

[35] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 454.

[36] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 452.


Quelle: Anonym, Gender und sexuelle Dysfunktion: Zusammenhang und Auswirkung in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=486

Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?

Nele Lorenz (SoSe 2023)

1. Einleitung

Das Erkranken an einer Depression stellt in der heutigen Gesellschaft ein zunehmendes Risiko dar. Insbesondere Frauen scheinen vermehrt betroffen. Sie erkranken häufiger an Depressionen und weisen ausgeprägtere depressive Symptome auf. Werden allerdings die geschlechterspezifischen Suizidraten miteinander verglichen, kann ein Paradoxon festgestellt werden. Obwohl Männer seltener mit einer Depression diagnostiziert werden, suizidieren sie sich fast doppelt so häufig wie Frauen (Wolfersdorf et al., 2006). Schlussfolgernd kann von einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern ausgegangen werden. Es stellt sich die Frage inwieweit sich traditionelle Bilder von Männlichkeit auf dieses Phänomen auswirken und eine Ursache darstellen.

Die vorliegende Ausarbeitung wird sich im Folgenden auf den derzeitigen Literaturbestand und die Forschung, in Hinblick auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Konzepten von Männlichkeit und einer depressiven Erkrankung bei Männern, beziehen. Die anfängliche Darstellung von traditionellen Männlichkeitsbildern, sowie die darauffolgende Beschreibung einer depressiven Erkrankung anhand des ICD-10 fungiert als Grundlage der Analyse. Der Hauptteil umfasst die Betrachtung eines männerspezifischen Depressionsverständnisses mit vier verschiedenen Schwerpunkten. Es werden die grundlegenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Prävalenz von Depressionen aufgeführt. Anschließend werden die Artefakttheorie, sowie der Begriff der Maskierten Depression und die Thematik des Hilfesuchverhaltens als Verständnis einer männerspezifischen Depression veranschaulicht. Den Schluss bildet ein Resümee.

Die Literatur, sowie die Forschung, die sich mit der beschriebenen Thematik befasst, geht oftmals von einem binären System der Geschlechter aus. Zusätzlich wird größtenteils nicht ausreichend konkret zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen (gender) Geschlecht unterschieden. Im Folgenden werde ich demnach ausschließlich auf die binären Konzepte von Frau und Mann eingehen können. Da sich die Ausarbeitung insbesondere mit gesellschaftlich vermittleten Geschlechterbildern auseinandersetzt, werde ich mich mit dem Begriff „Geschlecht“ auf das soziale Geschlecht beziehen. Ich werde versuchen diesen Begriff zu vermeiden und stattdessen „Gender“ zu verwenden.

2. Männlichkeitskonzepte

Die folgenden Unterkapitel befassen sich mit grundlegenden traditionellen Bildern von Männlichkeit, sowie der hegemonialen Männlichkeit als konkretes Konzept.

2.1. Traditionelle Männlichkeit

Die Idee der traditionellen Männlichkeit lässt sich mit den Begriffen der Genderrolle und Gendernorm weiter ausführen und konkretisieren.

Die männliche Genderrolle beinhaltet Erwartungen an die Rolle als Mann, die im Verlauf des Sozialisationsprozesses von Individuen erlernt und auf diesem Weg von einer Generation in die nächste weitergegeben werden (Addis & Mahalik, 2003; Branney & White, 2008). Traditionell männliche Normen beeinflussen diese idealisierte männliche Genderrolle, die somit keine angeborene Eigenschaft darstellt (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003). Die Gendernormen beinhalten soziale Normen, die vorgeben, welche Verhaltensweisen, Eigenschaften, Gedanken und Emotionen bei den binären Konstrukten von Geschlecht, demnach bei Männern und Frauen erwünscht sind und erwartet werden (Syzdek & Addis, 2010). Idealisierte Eigenschaften wie körperliche Stärke, kompetitives Verhalten in Zusammenhang mit Erfolg, dem Interesse an Macht, emotionaler Gleichmut oder Anti-Feminität zählen zu der männlichen Gendernorm (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003).

2.2. Hegemoniale Männlichkeit

Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit findet sich erstmals in der marxistischen Literatur des italienischen Autors Gramsci wieder (Connell, 1987; Donaldson, 1993). Der Gedanke der hegemonialen Männlichkeit geht davon aus, dass Frauen schwächer und vulnerabler als Männer sind und ihnen außerdem körperlich unterlegen sind. Das Bitten um Hilfe hingegen, also auch sich um seine*ihre Gesundheit zu kümmern, ist weiblich konnotiert. Es besteht die Annahme, dass Männer strukturell leistungsfähiger sind und auch, dass Gesundheit und Sicherheit keine Rolle für einen Mann spielen sollen, wenn er dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit entsprechen will (Courtenay, 2000).

Das Konzept definiert eine Form von Männlichkeit und vermittelt ein dominierendes Bild, das als wünschenswert und erstrebenswert gilt (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005; Donaldson, 1993; Schigl, 2018). Es fungiert als handlungsleitender Grundeinstellung, an der Männer sowohl sich selbst als auch andere Männer messen (Möller-Leimkühler, 2010). Es wird von der Existenz einer Vielzahl unterschiedlicher Männlichkeit innerhalb einer bestimmten Kultur ausgegangen. Die hegemoniale Männlichkeit stellt allerdings das vorherrschende Modell der Männlichkeit, als Ausdruck von Macht, Prestige und Überlegenheit dar, dem andere Formen untergeordnet werden (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005). Ausschließlich für eine Minderheit von Männern ist dieses Idealbild realisierbar (Möller-Leimkühler, 2010). Die Aufrechterhaltung der hegemonialen Männlichkeit wird mit der Interaktion zwischen Männern sichergestellt. Die Männlichkeit eines Mannes wird von anderen Männern bestätigt (Schigl, 2018). Männer, die dem Bild der hegemonialen Männlichkeit nicht entsprechen laufen also Gefahr, von anderen Personen einer der „untergeordneten“ Form von Männlichkeit zugeordnet zu werden.

3. Depressionen

Die Diagnosekriterien einer Depression sind im ICD-10 unter dem Überbegriff der depressiven Episode festgehalten. Es werden eine gedrückte Stimmung und ein vermindertes Antriebs- und Aktivitätsverhalten beschrieben. Es können Schlafstörungen, eine Verminderung des Appetits und der Konzentration, sowie ausgeprägte Müdigkeit, auch nach nur kleinen Anstrengungen, auftreten. Zusätzlich sind Depressionen durch ein geringes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gekennzeichnet, das mit einem Gefühl der Wertlosigkeit einhergeht. Anhand der Anzahl und Schwere der Symptome findet eine Zuordnung zu einer leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Episode statt (ICD-code, o.J.).

4. Männerspezifische Depression

Die aufgeführten Unterkapitel stellen Argumentationspunkte in Bezug auf ein männerspezifisches Depressionsverständnisses dar und führen die Hintergründe für eine Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern auf. Grundlage ist der aktuelle Literatur- und Forschungsstand.

4.1. Datenlage zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen

Die Anzahl der depressiv diagnostizierten Männer und die Zahl der männlichen Suizidopfer weist in der Literatur eine Inkongruenz auf. Es wird davon ausgegangen, dass mehr Männer an Depressionen leiden, als die klinische Prävalenzrate vorhersagt. Begründet wird dies an der Feststellung, dass Frauen häufiger mit Depressionen diagnostiziert werden, Männer allerdings in der Relation viermal häufiger Suizid begehen (Addis & Cohane, 2005; Cochran & Rabinowitz, 2003; Fields & Cochran, 2011). Das Robert Koch Institut stellte in einer Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGD1) aus den Jahren 2008 bis 2012 eine 12-Monats-Prävalenz von 8,1% diagnostizierter Depressionen bei Frauen und 3,8% bei Männern fest (Müters et al., 2013). Bei Frauen werden demnach mehr als doppelt so häufig Depressionen diagnostiziert als bei Männern. Bei depressiven Frauen bewegen sich die Themen besonders in ihrem engeren Verpflichtungsfeld der Familie, Partnerschaft und Kinder, während bei männlicher Depression der Themenschwerpunkt vermehrt, egozentrisch, auf der eigenen Person liegt (Wolfersdorf et al., 2006). Depressive Frauen geben in einer Selbstbeurteilung außerdem signifikant höhere Werte in Bezug auf eine Selbstbeschreibung von Angst und Ärger-Äußerungen an. Außerdem berichten Frauen konstant von mehr Symptomatik hinsichtlich der Beschwerdeliste. Im Freiburger Erregbarkeitsinventar und im STAIG-Angstfragebogen erreichen Männer signifikant höherer Werte in dem Item der Erregbarkeit versus Hemmung (Wolfersdorf et al., 2006).

In Kulturen, in denen Alkoholkonsum und Suizid gesellschaftlich tabuisiert werden, wie beispielsweise in der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinde unterscheidet sich die Depressionsrate und -symptomatik zwischen Frauen und Männern nicht. Dieses Phänomen lässt sich auch in der Kultur der Amish People beobachten, in der die Geschlechterrollennormen streng egalitär sind (Möller-Leimkühler, 2008).

4.2. Artefakttheorie

Eine Studie von Mahalik und Cournoyer (2000) untersuchte den Einfluss von Männlichkeitsvorstellungen auf Männer mit Depressionen. Es wurde ein Vergleich der Testergebnisse der Gender Role Conflict Scale von depressiven und nicht depressiven Männern durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass Männer, die depressiv erkrankt waren, bei 17 Items, die sich auf Genderbilder bezogen, höhere Werte erzielten als Männer, die nicht depressiv waren. Die Autoren formulierten daraufhin die Annahme, dass Männer, die an Überzeugungen der männlichen Genderrolle festhalten, eher von Depressionen betroffen sind als Männer, die diese Überzeugungen nicht vertreten. Diese Überzeugung wird „genderspezifische kognitive Verzerrung“ genannt (Mahalik & Cournoyer, 2000). Folgernd kann von der Theorie ausgegangen werden, dass Männlichkeitsnormen die Entwicklung psychopathologischer Probleme begünstigen (Syzdek & Addis, 2010). Die sogenannte Artefakttheorie führt den Unterschied zwischen den Geschlechtern in der Prävalenz von Depressionen auf „künstliche“ Faktoren zurück. Es wird davon ausgegangen, dass Genderbilder, die über den Sozialisationsprozess vermittelt werden, sich auf die Wahrnehmung und Äußerung der Symptome bei Männern und Frauen auswirken. Es stellt sich die Frage, inwiefern sich Depressionen mit einer anderen Symptomatik bei Frauen und Männern äußern. Anhand einer Studie ließ sich zeigen, dass Symptommuster wie Irritabilität, antisoziales Verhalten und Aggressivität bei Männern häufiger ein Hinweis für eine depressive Erkrankung waren. Bei Frauen handelte es sich dagegen oftmals um eine grundlegende Unruhe, Klagsamkeit, als auch um eine depressive Verstimmung (Müters et al., 2013). Männer berichten außerdem häufiger von atypischen Symptomen als Frauen, die sich nicht den regulären diagnostischen Kriterien einer Depression im ICD-10 zuordnen lassen. Es handelt sich beispielsweise um Alkoholabhängigkeit, feindselige Verstimmungen, Verlangsamung in Bewegung und Sprache, sowie einem Mangel an Gesten (Branney & White, 2008). Die verwendeten Skalen zur Erfassung von Depressionen weisen eine frauenspezifischere Auslegung auf, was zu einer systematischen Unterdiagnostizierung und Unterschätzung von Depressionen bei Männern führen kann (Müters et al., 2013). Demnach lässt sich ein Gender Bias in der Depressionsdiagnostik festhalten.

4.2.1. „Male Depression“

Während eines Suizidpräventionsprogramms auf der schwedischen Insel Gotland wurde das Konzept der „male depression“, mithilfe von psychologischen Autopsien an durch Suizid verstorbenen Menschen und weiteren klinischen Erfahrungen, entwickelt. Nach Weiterbildungen in Bezug auf die Depressionsdiagnostik und -behandlung stellte sich heraus, dass sich die Suizidrate der Frauen auf der Insel um etwa 90% verringerte, während die der Männer allerdings unverändert blieb. Bei den Autopsien der männlichen Suizidopfer zeigte sich, dass diese oftmals sowohl depressiv, als auch teilweise alkoholabhängig waren. Den Ärzt*innen war diese Tatsache, im Gegensatz zu der örtlichen Polizei und Ordnungsbehörden, häufig nicht bekannt. 

Mit der Berücksichtigung der häufig zusätzlich auftretenden Symptome bei Männern wie Aggressivität, Irritabilität, antisoziales Verhalten, Ärgerattacken oder Risiko- und Suchtverhalten während der Therapie, konnte die Suizidrate der Männer reduziert werden.

Diese Erkenntnisse führten zu der Entwicklung der „Gotland Scale for Male Depression“, die als Screening-Instrument explizit nach männlichen Symptomen fragt.

Das Konzept der „male depression“ geht zusammenfassend davon aus, dass die zuvor aufgeführten Symptome, die eigentlichen depressiven Symptome bei Männern maskieren. Diese geschlechtertypische, allerdings depressionsuntypische Symptomatik, ist in den üblichen Depressionsinventaren nicht enthalten. Dies hat eine Unterdiagnostizierung von Männern mit Depressionen zur Folge und führt zu eventuellen Fehldiagnosen (Möller-Leimkühler, 2007).

 4.3. Maskierte Depression

In der Literatur lässt sich oftmals ein Zusammenhang zwischen der Forschung zu Männlichkeit und Depressionen und dem Begriff der „Alexithymie“ finden. Dieser beinhaltet u.a. den Verlust der Fähigkeit Gefühle zu erkennen, zu benennen und zu kommunizieren (Carpenter & Addis, 2000). Zurückhaltung in der Emotionalität wird typischerweise der traditionellen männlichen Norm zugeordnet und somit häufig mit Männern und Männlichkeit in Verbindung gebracht. Wird an diesen Mustern festgehalten, kann nicht adäquat auf eine depressive Erkrankung reagiert werden. Gefühle von Trauer, die mit einer depressiven Erkrankung verbunden werden, gelten als unerwünscht und unmännlich (Cochran & Rabinowitz, 2000). Ein Erreichen der männlichen Idealnorm scheint ausschließlich auf Kosten von weiblich definierten Emotionen und Eigenschaften, wie Angst, Schwäche, Traurigkeit, Unsicherheit und Hilflosigkeit möglich (Möller-Leimkühler, 2010). Es findet eine Externalisierung der einhergehenden Probleme statt. Aufgrund der verdeckten und externalisierten Symptome, die oftmals nicht mit einer Depression in Verbindung gebracht werden, zeigt sich eine depressive Erkrankung bei diesen Männern nicht direkt (Cochran und Rabinowitz, 2000; Addis, 2008). Cochran und Rabinowitz (2000) beschreiben dieses Phänomen in ihrem Buch „Men and Depression: Clinical and Empirical Perspectives“ als „maskierte Depressionen“. Die maskierte Depression schließt sowohl physische Krankheiten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, sexuelle Dysfunktion, als auch Aspekte wie häusliche Gewalt und Selbstsabotage im Beruf oder ähnlichem als mögliche Folgen und Anzeichen ein (Cochran & Rabinowitz, 2000). Rochlen et al. (2010) befragten im Rahmen einer Studie zum Einfluss der männlichen Genderrolle 45 Männer zu ihrer persönlichen Einstellung in Hinblick auf Genderrollen und Depressionserlebnissen. Die Beschreibungen der Probanden deckten sich zu einem Großteil mit dem Begriff der maskierten Depression. Es wird von Erwartungen an die männliche Rolle berichtet, die sich auf das Erleben der Depression auswirkten. Dazu zählten u.a. Erwartungen, wie nach außen hin ein gutes Bild zu vermitteln, keine Schwäche zu zeigen und Schmerzen zu verbergen. Auch die Erzählungen von Problemverhalten deckten sich mit der Theorie der maskierten Depression (Rochlen et al., 2010). Die Studie berichtete auch, dass einige Teilnehmer Depressionen als Gegenstück zum Glücklichsein betrachten, welches gelichzeitig selbst als unmännlich aufgefasst wird. Die Schlussfolgerung daraus ist die normative Betrachtung von Depression bei Männern (Rochlen et al., 2010).

4.4. Hilfesuchverhalten

Neben einem Gender Bias und dysfunktionales Stressverarbeitungsmustern und Umgangsformen lässt sich zusätzlich ein mangelndes Hilfesuchverhalten als Grund der Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern festhalten. Der gemeinsame Nenner dieser drei Faktoren stellt das Konstrukt der traditionellen Maskulinität dar, das eine Depression normativ ausschließt und deren Maskierung durch externalisierendes Verhalten fördert (Möller-Leimkühler, 2008). Traditionelle Männlichkeitsideale implizieren das Abhalten einer Hilfesuche (Addis & Mahalik, 2003; Epstein et al., 2010; Good et al., 1989). Good et al. (1989) fanden in einer Studie mit 401 männlichen Studenten heraus, dass bei Männern, die an traditionellen männlichen Genderrollen festhalten, das Hilfesuchverhalten geringer ausfällt als bei Männern mit einer weniger traditionellen Ausprägungen. Es zeigte sich, dass Männer, die eine negative Einstellung zu offener Emotionalität aufwiesen, weniger geneigt waren, sich psychologische Hilfe zu suchen (Good et al. 1989). Eine weitere Studie von Vogel et al. (2011) fand heraus, dass sich Selbststigmatisierung als ein entscheidender Prädiktor für ein Hilfesuchverhalten erwies. Zusammenfassend kann festgehalten, dass normative Geschlechterrollenerwartungen, die zu einer Nichtwahrnehmung und Verleugnung von Symptomen anleiten, Barrieren für eine Hilfesuche darstellen (Wolfersdorf et al., 2006). Zusätzlich werden psychische oder emotionale Probleme selten von Männern während eines Besuchs eines*r Ärzt*in angesprochen. Vielmehr wird von körperlichen Beschwerden berichtet. Dahinter verbirgt sich ein Vermeidungsverhalten, das die männliche Identität wahren soll (Möller-Leimkühler, 2008). Ein Therapieprozess kann nicht stattfinden, wenn sich ein depressiv erkrankter Mann keine Hilfe sucht.

5. Fazit

Schlussendlich lässt sich festhalten, dass die Unterdiagnostizierung von Depressionen im Vergleich zu der hohen Suizidrate bei Männern eine Problematik darstellt. Dieses Paradoxon lässt sich auf den Hintergrund von gesellschaftlich vermittelten traditionellen Gendernormen, wie der hegemonialen Männlichkeit, zurückführen. Stereotypische Genderbilder, die während eines Sozialisationsprozesses internalisiert werden, können eine maskierte Depression bei Männern hervorbringen. Hegemoniale Gedanken, wie beispielsweise „Männer sind nicht vulnerabel“ werden verinnerlicht und mit Scham verbunden. Symptome, wie ein verringertes Selbstwertgefühl, werden daraufhin von externalisierten Symptomen überdeckt. Diese zeigen sich beispielsweise in einer Alkoholsucht, was wiederrum eine Fehldiagnose zur Folge haben kann. Eine mangelndes Hilfesuchverhalten, das von Genderbildern unterstützt wird, führt zusätzlich zu einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern. Auch der Gender Bias in der Diagnostik lässt sich als eine Ursache für die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zwischen den binären Gendersystemen verordnen. Beurteilungsskalen und Diagnosekriterien weisen insbesondere in Hinblick auf traditionelle Genderrollen einen frauenspezifischen Schwerpunkt in der Symptomatik auf.

Ich möchte abschließend die Kritik aufführen, dass Probanden der wenigen Studien oftmals weiße, heteronormative, cis-männliche Universitätsstudenten aus den USA waren. Die Studien sind demnach nicht repräsentativ für Männer anderer Ethnien oder anderer sexueller Orientierung. Auch der sozioökonomische Hintergrund wurde häufig nicht miteinbezogen. Verallgemeinernd ist zu verzeichnen, dass noch nicht ausreichend wissenschaftliche Evidenz für das Konzept von männlichen Depressionen, sowie Studien zur Thematik von geschlechterspezifischer Wirksamkeit von Antidepressiva oder psychotherapeutischen Verfahren bestehen. Zukünftig werden weitere Untersuchungen, die Studien, wie die auf der Insel Gotland weiter untermauern und stärken, von großer Bedeutung sein, um die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zu reduzieren und Betroffenen umfangreicher behandeln zu können. Es ist von großer Wichtigkeit, ein Bewusstsein und eine Sensibilität für die Lücke in der Forschung, als auch im zwischenmenschlichen Umgang, zu schaffen.

6. Literaturverzeichnis

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Quelle: in: Nele Lorenz, Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=395