Check your privilege – und dann?

Die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity

Amelie Kloas (SoSe 2022)

Klassistische Diskriminierung oder kapitalistische Ausbeutung

Während der Begriff des Klassismus nicht nur im akademischen Gebrauch, sondern auch gesamtgesellschaftlich immer präsenter wird, scheint es, als würde der Begriff Klasse(nkampf) in linksradikalen Ecken versauern. Eine kulturalistische Analyse von Klasse und die Individualisierung klassistischer Diskriminierung charakterisieren einen bürgerlichen Diskurs, der die Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter*innen nicht nur auf die Mikroebene herunterbricht und somit Handlungsmöglichkeiten unterbindet, sondern diese Mechanismen manifestiert. Auch wenn die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien elementar für die weiterführende Analyse mit gesamtgesellschaftlichen Strukturen ist, tut sich eine Falle auf, wenn das Problem white privilege und nicht white supremacy, klassistische Diskriminierung und nicht kapitalistische Ausbeutung, Sexismus und nicht Patriarchat, Homophobie und nicht Heteronormativität heißt. Intersektionale Perspektiven helfen uns, Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen besser zu verstehen, wenn wir analysieren, dass diese anhand verschiedener Kategorien verlaufen und miteinander verzahnt sind. Die Individualisierung dieser intersektionalen Mechanismen aber raubt politische Handlungsmöglichkeiten. Im Folgenden werden in Tradition marxistischer Theorie die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity analysiert.

Dazu wird zunächst die Genese des Klassismus-Begriffs skizziert. In diesem Zuge soll ergänzend auch der Begriff Klasse besprochen werden und inwiefern sich diese Kategorie von anderen Identitätskonstruktionen unterscheidet. Daran anschließend soll die Individualisierung von Diskriminierungsformen, insbesondere des Klassismus diskutiert werden. Nach einer Skizzierung des Konzeptes der Intersektionalität und ihrer Relevanz für klassenpolitische Fragen wird umrissen, welche Bedeutung aus dem Umgang mit den eigenen Privilegien weiterhin aus dem Konzept der Diversity Trainings hervorgeht. Abschließend sollen Handlungswege und das emanzipatorische Potential ebendieser aufgezeigt werden. Dieses Essay will als schwesterliche Kritik einen Beitrag zu der Diskussion zum Verhältnis der eigenen politischen Praxis, des eigenen politischen Seins, der eigenen Situiertheit in unserer Gesellschaft und den strukturellen Problemen des Systems beitragen.

Genese des Klassismus-Begriffs

Der Klassismus-Begriff ist umstritten. Er bezeichnet je nach Definition die Diskriminierung einzelner Personen oder Personengruppen entweder aufgrund ihrer jeweiligen Klassenumstände oder ihrer sozialen Herkunft/Schicht/Position. Der Begriff reiht sich auch semantisch durch sein Suffix in andere Diskriminierungsformen ein, thematisiert innerhalb der meisten Definitionen eher die Auswirkungen, nicht eigentlichen Ursprünge von Klassismus (Dermitzaki, 2020).

Zurückführen lässt sich die Nutzung des Begriffs auf die Lesbengruppe Furies, welche sich in den USA in den 1970ern gegen das neoliberale Narrativ des sozialen Aufstiegs durch Anstrengung positioniert und aus einer gesellschaftlichen Positionierung als Arbeiter*innen_töchter die klassistische Diskriminierung skandalisiert. Durchsetzen konnte sich diese kapitalismuskritische Analyse aber nicht und einer der heute bekanntesten Klassismusforscher, Chuck Barone, verhandelt Klasse als sozial konstruierte Kategorie. Im deutschsprachigen Raum besteht die Schwäche des englischen Begriffs class, nämlich die mangelnde Unterscheidung zwischen Klasse und Schicht, zumindest semantisch nicht. Trotzdem setzt sich in Deutschland bis heute das Verständnis von Klassismus als „persönliche, intergruppale und kulturelle Unterdrückung“ aus den USA nicht nur in sozialwissenschaftlichen, sondern auch aktivistisch politischen Kontexten durch (Baron, 2014). Andreas Kemper definiert Klassismus als „Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und Kulturimperialismus aufgrund der sozialen Herkunft oder Position“ (Kemper, 2016). Gegenstand von Diskussion sollte hier durchaus sein, warum in dieser Definition der Grund als soziale Herkunft oder Position, nicht die Klassenzugehörigkeit benannt wird. Anhand dessen stellt sich heraus, dass dieser Klassismusbegriff eben als alltagspolitischer Begriff Wirkung entfaltet- die ursächlichen Gründe, nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem, geraten hier mindestens in den Hintergrund und Klassismus wird zu einer Form von Diskriminierung, die durch „anti-klassistische Praxis“ wie das Besuchen von Workshops aufgehoben werden kann. Auffällig sind wohl auch Berührungsängste mit den Begriffen Klasse und Klassenkampf. Beispielhaft: Andreas Kemper stellt im Zuge der Konzeptualisierung einer Anti-Klassismus Matrix vier analytische Elemente von Klassismus auf. Eines davon der Klassenkampf. Kemper aber schreibt, dass dieser besser als „Klassenaufhebungspraxis“ bezeichnet werden könne (Kemper, 2016). Begriffe mit marxistischer Konnotation werden gemieden bzw. neue Begriffe für solche erfunden, die es seit Jahrhunderten gibt. Weiter noch, die ein und dasselbe meinen.

Differenzkategorien – warum Klasse anders ist

Einige Klassismus-Forscher*innen verhandeln die Kategorien class, race, gender, sexuality und body analytisch einheitlich. Somit entsteht teilweise die Annahme, auch Klasse wäre sozial konstruiert. Die analytische Kategorie Klasse aber beschreibt keine mehrheitsgesellschaftlich zugeschriebene Zugehörigkeit, sondern trifft Aussagen über die Widersprüche des kapitalistischen Systems und versucht die Ursachen struktureller Ungleichheit zu verorten (Baron, 2014). In anderen Worten: Differenzkategorien wie gender und race münden zwar in materieller Ungleichbehandlung, lassen sich aber nicht dadurch begründen. Sie sind sozial konstruiert, lassen sich historisch mit Kolonialismus, Patriarchat und Kapitalismus verknüpfen. Klasse hingegen ist eine Kategorie, die sich aus den systemimmanenten materiellen Ungleichheiten des Kapitalismus begründet. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus stellen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse im Kapitalismus dar. Tupoka Ogette beschreibt, wie Rassismus schon im 15. Jahrhundert die „ideologische Untermauerung“ einer „weltweiten Plünderungsindustrie“ bildet. Auch wenn wir zu dieser Zeit noch nicht von Kapitalismus sprechen können, so wird deutlich, wie die Differenzkategorie race konstruiert wird, um Profitmaximierung durch Ausbeutung, hier durch die Maafa, zu generieren. Weiterhin, dass wir die Entstehung der Differenzkategorie race nicht von Kolonialismus und Imperialismus, später auch von Kapitalismus trennen können (Ogette, 2020).

Die Individualisierung von Klassismus

Die eben angeführte Argumentation verwirft nicht den Anspruch, klassistische Diskriminierung anzuerkennen und dagegen zu kämpfen. Die Reflektion der eigenen Sprache, die Auseinandersetzung mit Exklusionsmechanismen und Zugangsmöglichkeiten im eigenen Umfeld muss zwangsläufig erfolgen, darf aber nicht verkennen, dass nicht klassistische Diskriminierung ursächlich für Unterdrückung und Ausschluss ist, sondern die Ausbeutung im kapitalistischen System. Diese raubt Arbeiter*innen jegliche Ressourcen die nötig wären, um am gesellschaftspolitischen Leben teilzuhaben. Personen in Lohnarbeit erwirtschaften mit ihrer Arbeitskraft einen Mehrwert, welcher durch die Kapitalist*innenklasse angeeignet wird. Die Differenz von geschaffenem Mehrwert und vergüteter Arbeitskraft stellt den erwirtschafteten Profit (Lhotzky, 2016, 2021). Diese Logik bildet die ökonomische Grundlage des Kapitalismus und verzahnt sich mit patriarchaler und rassistischer Unterdrückung. Das Kapital – ökonomisches, kulturelles sowie soziales – sammelt sich monopolartig in den Händen weniger Menschen. Seeck und Theißl formulieren treffend: „Klassismus lediglich als Diskriminierungsform zu verstehen, ohne die (Um-)Vertei-lungsfrage zu stellen, greift zu kurz und steht einer emanzipatorischen antiklassistischen Politik entgegen“ (Seeck & Theißl, 2021).

Die Individualisierung von Klassismus, wie auch bei allen anderen sozialen Kategorien, entlässt das System aus der Verantwortung und verschleiert und/oder manifestiert damit die bestehenden Verhältnisse. Erfolgt eine Reduktion von Klassismus auf Einstellungen und Verhalten einzelner Personen(gruppen), so gerät außer Acht, dass Klassismus keine Nebenwirkung des kapitalistischen Systems, sondern eine Notwendigkeit ist. Anti-Klassistische Arbeit ist durchaus notwendig, bleibt aber nur ein leeres Versprechen, wenn nicht auch die ökonomischen Verhältnisse in Analyse und Handlungsstrategien mit einbezogen werden. Weiterhin sind Differenzkategorien wie Klasse, Sexualität, Geschlecht und race keine Identitätsmarker, die ahistorisch und isoliert auftreten, sondern soziale Beziehungen, die sich erst in Einbettung bestehender Machtverhältnisse ausformulieren lassen.

Individuelle Erfolgsgeschichten werden exemplarisch gerne dafür genutzt, das neoliberale Narrativ von sozialem Aufstieg zu untermauern. Dass Klassen- oder Schichtmigration nur den wenigsten möglich ist und dem Großteil der Arbeiter*innenklasse verwehrt bleibt, wird dabei ausgelassen. Laut Daten der Hans-Böckler Stiftung ist ein sozialer Aufstieg in den Jahren 2009-2013 36% aller armen Menschen in die „untere Mitte“ gelungen. Das sind 11% weniger als noch 1991-1995. Der Aufstieg in die „obere Mitte“ gelang 2009-2013 nur 7% aller armen Menschen. Als arm gilt in diesen Berechnungen, wer weniger als 60% des mittleren Einkommens in Deutschland erhält (Spannagel, 2016). Weiterführend ist nicht nur das Erfolgsversprechen unrealistisch, auch wird nicht danach gefragt, warum sozialer Aufstieg überhaupt notwendig oder wünschenswert ist. Neben dem kapitalistischen Leistungsgedanken ist es wohl das Bewusstsein darüber, dass die Lebensqualität armer Menschen mit erheblichen Mängeln verknüpft ist. Das Versprechen des sozialen Aufstiegs versucht diese Widersprüche abzudämpfen. Weiterhin relevant ist hier, dass die Gründe für das Nicht-Gelingen von Klassenmigration wieder individuell bei Einzel-Personen selbst angesiedelt werden.

Hanappi-Egger und Kutscher kritisieren, dass die „oftmals rein sozialkategorische, auf der sozialen Identitätsebene angesiedelte Konzeptionierung von Gruppen und Subgruppen [.] persönliche Individualität, nicht aber Gemeinschaftlichkeit und Solidarität in den Blick [nimmt]“. Weiterhin Gegenstand von Kritik ist hier die „Reproduktion [..] essentialistischer Identitätskonzepte[.]“ (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015, S. 22). Eine festzustellende Individualisierungstendenz des neo-liberalen Zeitalters verschiebt Fragen der sozialen Gerechtigkeit in den privaten Raum und verortet die Verantwortung eben dafür bei Einzelpersonen oder Gruppen, nicht aber im Kollektiv. Damit einher geht ein Verlust emanzipatorischen Potentials- ist es doch die eigene individuelle Verantwortung, wenn sich das Versprechen des sozialen Aufstiegs nicht erfüllt. Weiterhin relevant ist eine „Generalisierungstendenz“, wonach sich immer mehr Menschen der Mittelschicht zugehörig fühlen und eine Art klassenlose Gesellschaft postuliert wird, sowie die Zugehörigkeit der sozialen Schicht/Klasse als fluide verstanden wird. Damit einher geht auch hier die Verantwortungszuschreibung für die eigene sozioökonomische Position zu einzelnen Individuen. Eine Identifikation mit der Arbeiter*innenklasse findet nicht statt, was das Erkennen struktureller Ungleichheit unterbindet (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015).

Insgesamt also resultiert aus der Generalisierungstendenz unserer neo-liberalen Gesellschaft zunächst eine erschwerte Identifikation als Teil der Arbeiter*innenklasse, also als Gegenstand eines Kollektivs. Weiterhin, selbst wenn eine solche Identifikation erfolgt, wird durch die Individualisierungstendenz die Kausalität für die eigene Armut nicht etwa im strukturellen Kontext verortet, sondern der individuellen Verantwortung zugeschrieben.

Intersektionalität

Der Begriff der Intersektionalität erlaubt es, Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen zu analysieren, die anhand verschiedener Differenzkategorien verlaufen. Auch wenn sich zumindest Ambitionen feststellen lassen, Klassismus in Diversitäts-Diskurse zu integrieren, greifen diese die strukturelle Benachteiligung von Arbeiter*innen zumeist noch eher selten auf. Dabei ist die Klassenzugehörigkeit elementar für die Entstehung der Theoretisierung von Intersektionalität. Der Begriff wurde erstmalig von 1989 von der Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt und geht zurück auf eine arbeitsrechtliche Klage, die nach einer Entlassungswelle von Arbeiter*innen – dezidiert Schwarzer Frauen* – bei General Motors veranlasst wurde. Das Unternehmen konnte weder für Rassismus noch Sexismus belangt werden, denn weder weiße Frauen*, noch Schwarze Männer* wurden entlassen. Hier findet die Intersektionalität Anwendung: die Diskriminierung lässt sich bei diesem Beispiel nicht nur auf gender oder race beziehen, sondern auf die Intersektion dieser Kategorien. Auch heute noch können wir Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen nur treffsicher analysieren, wenn wir die Intersektionen von Differenzkategorien in den Blick nehmen.

Beispielhaft zeichnet sich hier die Korrelation der Intersektion Armut/Lebensverhältnisse und Rassismus durch eine Wechselwirkung aus. In Deutschland wird der Niedriglohn- bzw. der prekäre Sektor von Migrant*innen dominiert – insbesondere Frauen*. Diese Intersektion lässt sich in Deutschland historisieren, spätestens ab der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird diese mehr als deutlich: Im Zuge der Gastarbeiter*innenbewegung aus europäischen Südstaaten und der Türkei, ab den 70’ern Migrationsbewegungen in die DDR aus zum Beispiel Vietnam, 1988 dann Zuwanderungen aus Russland und später Fluchtbewegungen aus zum Beispiel Syrien oder Afghanistan. Gerade im Kontext organisierter Arbeitsmigration migrieren Personen aus eher ärmeren Ländern nach Deutschland, um dann Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, die gesellschaftlich wenig bis nicht anerkannt sind. Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder steht auf den Schultern der Ausbeutung von Arbeitskraft besonders migrantischer Arbeiter*innen. Die Unterscheidung von weiß/nicht-weiß des deutschen Rassismusbegriffs reicht oft nicht aus, wie am Beispiel rumänischer Arbeiter*innen auf deutschen Spargelhöfen deutlich wird. Die Intersektion von Rassismus und Klassismus wird, wie bei vielen anderen Intersektionen, oft nicht erkannt. Im Weg steht das neoliberale Narrativ: jede*r ist seines Glückes Schmied. Der Zugang zu den benötigten Ressourcen aber ist stark abhängig von den finanziellen Mitteln des Elternhauses und Zugangsmöglichkeiten von struktureller Diskriminierung geprägt. Das beginnt bereits im Kindergarten und der Schule, äußert sich bei der Wohnungssuche oder am Arbeitsplatz (Dermitzaki, 2020). Was die Konzeptualisierung von Intersektionalität auch mit sich bringt, ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Besonders, die Bewusstmachung der eigenen Identitätsmarker und der gesamtgesellschaftliche Situiertheit.

Privilegiencheck und Diversity Trainings

Beliebte politische Praxis im Kontext der Diversity Sensibilisierung ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Auch in aktivistischen Kreisen ist immer wieder die Rede von „Check your privilege“. Ob Privilegiengalerie, kritische Männlichkeitsworkshops, critical whiteness oder allyship: all diese Ideen verbindet eine Gemeinsamkeit: der Glaube daran, es selbst besser und damit zumindest das eigene Umfeld zu einem diskriminierungsärmeren Raum zu machen. Aber: Welche fundamentalen Zugeständnisse macht das Patriarchat, wenn Cis-Männer einen Workshop zu kritischer Männlichkeit besuchen? Lackieren sich dann endlich alle die Nägel? Das ist nicht der Anspruch dieser Trainings – vielen ist das klar. Und trotzdem sind diese skizzierten Diskurse keine Seltenheit.

Privilegien sind Vorteile, Ansprüche und Dominanz, die bestimmten Gruppen innerhalb spezifischer Kontexte gesellschaftlich zugesprochen werden. Sie sind Sondervorteile – nicht universell, nicht für alle gültig. Privilegien werden zugestanden, nicht durch persönliche Anstrengung verdient und stehen in Korrelation zu einem präferierten Status. Die Ausübung von Privilegien erfolgt unter Profitierung derjenigen, die sie besitzen – auch wenn bei privilegierten Gruppen oft kein Bewusstsein über den Besitz dieser Privilegien besteht. Die Unterdrückung von Personen ohne spezifische Privilegien erhält den status quo aufrecht. Im Falle klassenspezifischer Privilegien wird das Bestehen der Klassengesellschaft abgesichert (Black & Stone, 2011).

Die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien kann ein erster Schritt sein, um greifbar zu machen, in welchem System wir leben. Allein die Bewusstmachung der eigenen Situiertheit in der Gesellschaft, kann Möglichkeiten zur Analyse struktureller Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen eröffnen.  Privilegienchecks sind wertvoll im Kontext des nahen sozialen Umfelds, die Identifikation der eigenen Perspektive notwendig, um ernsthaft und glaubwürdig politische Arbeit zu leisten und dem eigenen Anspruch der Schaffung diskriminierungsarmer Räume gerecht zu werden. Unterdrücker und Unterdrückte müssen sich ihrer relativen Rolle, also auch dem Besitz von Privilegien, bewusst sein, um gegen ein System der Ungerechtigkeit zu kämpfen (Black & Stone, 2011). Privilegien sind etwas Strukturelles, nicht individuell. Entscheidend ist die eigene Auseinandersetzung nicht damit, Privilegien zu besitzen, sondern, mit diesen umzugehen. Eine konstruktive Verhandlung der eigenen Privilegien erkennt an, dass diese aus einem System der Unterdrückung hervorgehen und nutzt die damit einhergehenden Ressourcen für einen Beitrag zur Befreiung der Unterdrückung Aller (Kashtan, 2019).

Konzepte und Umsetzungen von Diversity Trainings unterscheiden sich mitunter stark. Während es solche gibt, die die eben skizzierten Chancen eröffnen, lässt sich gleichzeitig feststellen, dass oft auch eine Aneignung von Diversity für Profitmaximierung festzustellen ist (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015). Diversity Trainings können zwar zu einem Abbau von persönlicher Voreingenommenheit und Vorurteilen führen, evidenzbasiert zeigt sich aber, dass damit nicht automatisch ein Rückgang von (struktureller) Diskriminierung zu verzeichnen ist. Diese nämlich ist Produkt von Einstellungen und Gewohnheiten aber auch institutionalisierten Mechanismen und lässt sich nicht allein durch un(ter)bewusste Voreingenommenheit erklären. Diversity Trainings müssen als Teil weiterer Diversity Maßnahmen verstanden werden, um strukturelle Diskriminierung abzubauen (Dobbin & Kalev, 2018).

Handlungswege und emanzipatorisches Potential

„Individualisierung macht Diskriminierung unsichtbar“ – fasst Dimitra Dermitzaki zusammen (2020). Der Umgang mit den eigenen Privilegien, wie auch das Konzept von Diversity Workshops ist fruchtbar in direkter sozialer Umgebung, für ein systemisches Problem aber braucht es kollektive Antworten. Dafür elementar ist zuallererst natürlich ein Problembewusstsein, welches durchaus auch durch eine individualisierte Perspektive geschaffen werden kann. Dabei darf es aber nicht bleiben – die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien muss weiterführen und sich mit Fragen struktureller Diskriminierung, mit systemimmanenten Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen auseinandersetzen. Durch die Individualisierung, egal welcher Differenzkategorien, werden Handlungswege verschlossen und emanzipatorisches Potential untergraben. Die Identifikation als Kollektiv und die Verortung von Barrieren auf struktureller, systemischer Ebene erst erlaubt es, auf Veränderung zu hoffen. Der Klassismus-Begriff unterscheidet sich je nach Denkschule – deutlich ist aber, dass die dominante Auslegung auf die soziale Schicht verweist und sich zumeist mit den Auswirkungen klassistischer Diskriminierung befasst. Nicht die Dekonstruktion sprachlicher Vertikalismen, wie einige poststrukturalistische Ansätze innerhalb der Diskussion um die Konzeptualisierung des Klassismus-Begriffs versieren, sondern die Identifikation der lohnabhängigen Klasse als potentiell handlungsfähiges Kollektiv, sowie eine explizite Integration einer Analyse der ökonomischen Verhältnisse entfaltet emanzipatorisches Potential und eröffnet Handlungsmöglichkeiten hin zu einer gerechteren Gesellschaft (Baron, 2014). Diversity Trainings können, wenn eingebettet in breitere antikapitalistische, diskriminierungskritische Zusammenhänge, einen Teil dazu beitragen. Auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien, der eigenen Situiertheit in der Gesellschaft kann ein erster Schritt zu einer weiterführenden Kritik an den unterdrückerischen Strukturen des Systems sein, sowie ein essenzieller Bestandteil der eigenen politischen Befreiungskämpfe.

Literaturverzeichnis

Baron, C. (2014). Klasse und Klassismus. Eine kritische Bestandsaufnahme. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft(175), S. 225-235. doi:10.32387/prokla.v44i175.172

Black, L. L., & Stone, D. (2011). Expanding the Definition of Privilege: The Concept of Social Privilege. Journal of Multicultural Counseling and Development(4), S. 243-255. doi:10.1002/j.2161-1912.2005.tb00020.x

Dermitzaki, D. (2020). Zur Überschneidung von Rassismus und Klassismus. „Individualisierung macht Diskriminerung unsichtbar“. (A. Vangelista, Interviewer) Von https://rdl.de/beitrag/individualisierter-gesellschaft-ist-diskriminerung-unsichtbar abgerufen

Dobbin, F., & Kalev, A. (2018). Why Doesn’t Diversity Training Work? The Challenge for Industry and Academia. Anthropology Now(2), S. 48-55. doi:10.1080/19428200.2018.1493182

Hanappi-Egger, E., & Kutscher, G. (2015). Entgegen Individualisierung und Entsolidarisierung: Die Rolle der sozialen Klasse als suprakategorialer Zugang in der Diversitätsforschung. In E. Hanappi-Egger, & R. Bendl, Diversität, Diversifizierung und (Ent)Solidarisierung. Wiesbaden: Springer VS.

Kashtan, M. (2019). Why and How Facing Your Privilege Can Be Liberating. Understanding & Dismantling Privilege(1), S. 22-30.

Kemper, A. (2016). Klassismus. Eine Bestandsaufnahme. Thüringen: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Lhotzky, K. (Hrsg.). (2016, 2021). Karl Marx und Friedrich Engels. Gesammelte Werke. München: Anaconda Verlag.

Ogette, T. (2020). exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen. Münster: UNRAST-Verlag.

Seeck, F., & Theißl, B. (2021). Solidarisch gegen Klassismus organisieren, intervenieren, umverteilen. UNRAST.

Spannagel, D. (2016). Soziale Mobilität nimmt weiter ab. WSI-Verteilungsbericht 2016. Düsseldorf: Sertzkasten GmbH.


Quelle: Amelie Kloas, Check your privilege – und dann? Die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 07.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=309

Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity) als Thema des Rahmenlehrplans Berliner Schulen

Werden queere Kinder immer noch unsichtbar gemacht und Identitäten abseits heteronormativer Rollenbilder marginalisiert?

Carolin Brede (SoSe 2021)

Als ein übergreifendes Unterrichtsthema für die Schule, wurde im neuen Rahmenlehrplan Berlin-Brandenburg von 2015 im Teil B: Fachübergreifende Kompetenzentwicklung „Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity)“ ausgewiesen. Dies ist eine Errungenschaft, denn dadurch wird Diversity Education landesweit als Thema des Unterrichts implementiert. Es macht die bildungspolitischen Bemühungen deutlich, das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in die schulische Bildung aufzunehmen (vgl. Riegel 2017, 69). Als Basis wird die Schule als Ort der „Wertschätzung sozialer, geschlechtlicher, sexueller, altersbezogener, körperlicher, geistiger, ethnischer, sprachlicher, religiöser und kultureller Vielfalt“ vorausgesetzt (SenBJF 2015a, 25).

Weiterführend heißt es:

Wenn alle am Bildungsprozess Beteiligten, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, als Individuen Achtung und Anerkennung erfahren, entfalten sie angstfrei ihr Bildungspotential und ihre Kreativität. So tragen sie zu einem von Respekt, Akzeptanz und Offenheit geprägten sozialen Miteinander bei. Eine Reflexion der eigenen Haltung und das Wahrnehmen von Vielfalt sind hierbei von Bedeutung.

SenBJF 2015a, 25

Überdies werden konkret zu erwerbende Kompetenzziele formuliert, die fächerübergreifend erarbeitet werden sollen. Ein Kompetenzziel ist, dass „[…] Kinder und Jugendliche[ ] eine Haltung [entwickeln], die es ihnen ermöglicht, Vielfalt als selbstverständlich und als Bereicherung wahrzunehmen. Sie erwerben die Fähigkeit, sich eigene, tatsächliche und zugeschriebene Merkmale bewusstzumachen, die eigene Lebenssituation und Lebensweise zu reflektieren und einen Perspektivwechsel im Hinblick auf die Lebenssituationen anderer vorzunehmen.“ (ebd.). Noch darüber hinaus sollen „[…] gesellschaftliche Vorstellungen von Normalität und Abweichungen sowie bestehende Hierarchien und Machtverhältnisse reflektiert [werden]“ (ebd.).

Ob in den vergangenen sechs Jahren seit Veröffentlichung des neuen Rahmenlehrplans eine Implementierung der im Curriculum für die gesamte Schulzeit formulierten Ziele im Bereich Diversity stattgefunden hat, soll im kommenden Essay erörtert werden. Hierbei wird sich auf die Repräsentation und Berücksichtigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in der Schule beschränkt, wobei dies einen intersektionalen Blick nicht ablösen soll, jedoch die Analyse für den Umfang dieser Arbeit vereinfacht. Selbstverständlich sei hier betont, dass diese soziale Dimension nicht wichtiger ist als etwa die Behandlung des Themas Ability, rassismuskritische Darstellungen oder religiöse Vielfalt, um nur einige andere zu nennen.

Die Identitätsbildung ist Bestandteil kindlicher Entwicklungsaufgaben, begleitet ein Individuum über das gesamte Leben, ist nie gänzlich abgeschlossen und fluid. Die Auseinandersetzung mit individuellen sozialen Kategorien und Ausprägungen von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung spielt spätestens zu Beginn der Pubertät eine große Rolle, wobei auch bereits Kindergartenkinder klare Vorstellungen „adäquaten“ (oder vielmehr erwünschten) Geschlechterverhaltens haben. So erschien zuletzt eine Dokumentation des ZDF über Sexismus in Deutschland (1), im Kontext derer Kindergartenkinder im Interview klassische Rollenklischees den binären Geschlechtskategorien zuordneten. Hierbei wurde von den Interviewenden nur danach gefragt, was typisch für einen Mann und typisch für eine Frau sei. Zu kritisieren ist, dass selbst im Kontext einer vermeintlich der Aufklärung bestehender Sexismen gewidmeten Dokumentation, sexistische cisgeschlechtliche Bezugnahme auf Geschlecht stattfindet und trans* Identitäten durch Suggestivfragen unsichtbar gemacht werden und trans* Personen generell in der Dokumentation keinen Raum finden. Damit ist diese Reportage des öffentlich- rechtlichen Rundfunks ein Paradebeispiel für die Bearbeitung des Themas Geschlechtergerechtigkeit und Pluralität im öffentlichen, breit geführten Diskurs. Auch in der Institution Schule werden trans* und queere Identitäten immer noch unsichtbar gemacht, wie nachfolgend deutlich wird.

An einer Berliner Regelgrundschule habe ich kürzlich über sechs Monate als Vertretungslehrerin gewirkt, mit Kolleg*innen zusammengearbeitet und auch im Rahmen diverser Praktika im Unterricht verschiedener Lehrkräfte hospitiert. In keinem dieser Kontexte wurde konsequent gegendert oder Diversity sichtbar mitgedacht. Wenn überhaupt wurde es mitgemeint. Die mangelnde Sichtbarkeit von Vielfalt in Unterrichtsmaterialien, Unterrichtssprache und Themen stellt diese wohlwollend formulierte Vermutung jedoch in Frage.

„Andersartigkeit“, sich in seiner Identität abseits der Norm fühlen, wird im Grundschulkontext erstmals thematisch im vorfachlichen Unterricht aufgegriffen – meist bezogen auf heterogene äußere Eigenschaften. So behandeln diverse Bilderbücher und Erzählungen das Thema der „Andersartigkeit“ auf eine verniedlichende, dekontextualisierende Art. Hierbei wird sich in vielen Fällen der Abstraktion der Thematik der „Andersartigkeit“ in der kindlichen Realität bedient, indem menschliche Konflikte/ Emotionen auf vermenschlichte Tiere, welche als Protagonist*innen handeln, projiziert werden. Beispielhaft zu nennen sei an dieser Stelle das Buch Elmar – welches bei Amazon als „der Kinderbuchklassiker zum Thema ´anders sein´ und Toleranz“ – beworben wird. Der bunt karierte Elefant fühlt sich zunächst wegen seiner „Andersartigkeit“ ausgegrenzt, lernt sich dann jedoch im Laufe der Geschichte selbst wertschätzen. Nicht unproblematisch ist in der Geschichte, dass Elmar seine Wertschätzung erfährt, indem er anderen Tieren weiterhilft und ihnen gutmütig Ratschläge in kniffligen Lebenslagen gibt. Seine „Andersartigkeit“ wird also mit einem Mehrwert für die Gesellschaft „aufgewogen“.

Ein weiterer weihnachtlicher Klassiker ist die Geschichte von Rudolph dem kleinen Rentier. Auch Rudolph unterscheidet sich nicht im inneren Empfinden von den anderen, sondern in der äußeren Erscheinung. Hierbei löst sich die Ausgrenzung aus der Peergroup auf, als er am Weihnachtsabend durch sein besonderes Aussehen (die leuchtende Nase) der Gruppe helfen kann, den Schlitten durch den Schneesturm zu lenken. Plötzlich wird er gefeiert.

Beiden Geschichten gemein ist die Thematisierung von Ausgrenzung und Othering einzelner Akteur*innen, die nicht dem stereotypischen Bild einer Gruppe entsprechen. Andersartigkeit wird also in einem problematisierenden Kontext verortet, bei welchem sich als Moral der Geschichte die Konflikthaftigkeit in der speziellen Bedeutung/ einem Mehrwert der „Andersartigkeit“ für die ansonsten homogen scheinende Peergroup auflöst. Damit wird das Thema Diversität aus der eigenen Lebenswelt herausgehoben und vereinfacht bzw. in konstruierten Geschichten aufgelöst, wobei die Gleichwertigkeit der Individualität nicht deutlich wird, indem die „Andersartigkeit“ als eine Abweichung von einer einheitlichen Norm abgegrenzt wird.

Dies sind nur einige Beispiele für populäre Kindergeschichten zum Thema Vielfalt. Jedoch gibt es mittlerweile auch gelungenere Werke, in denen identitäre Vielfalt in einer Geschichte entweder als Normalität dargestellt wird und diverse Eigenschaften unkommentiert repräsentiert werden (z.B. „Julian feiert die Liebe“) oder Unterschiede und Gemeinsamkeiten gleichwertig dargestellt werden (z.B. „Ich bin anders als du – Ich bin wie du“, „Du gehörst dazu – Das große Buch der Familien“). Leider haben diversitäre Kinderbücher noch nicht in alle Klassenzimmer Einzug gefunden, da Lehrkräfte die Literaturauswahl in der Grundschule selbst treffen und es keinen verbindlichen Kanon gibt (SenBJF 2015c, 32).

Nicht nur im Deutschunterricht und dessen Literaturauswahl wird deutlich, dass identitäre Vielfalt im Schulalltag eine marginalisierte Rolle spielt. Auch in Lehrwerken werden Normen reproduziert und dadurch sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit abseits heteronormativer Vorstellungen vernachlässigt und als „besonderes Anderes“ inszeniert (vgl. Riegel 2017, 69).

Dabei sitzen in jeder Schulklasse basierend auf Befragungen zur Selbstbezeichnung von Jugendlichen durchschnittlich ein bis zwei Lernende, die nicht heterosexuell sind (vgl. Lehrerfreund 2010). Darüber hinaus bezeichnen sich 12% der Millenials als transgender oder gender nonconforming (GLAAD 2017).

Eine gleichstellungsorientierte Schulbuchanalyse von Melanie Bittner ergab 2011, dass Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität Schulbücher dominieren und andere Lebensweisen dadurch als „Abweichung“ bagatellisiert werden. Die Nutzung anderer Materialien neben den vom Fachbereich vorgeschriebenen Büchern liegt im Ermessen der einzelnen Lehrkräfte, setzt jedoch eine Sensibilität und Reflexion diesbezüglich voraus.

Betrachtet man die Repräsentation marginalisierter Geschlechtsidentitäten sowie sexueller Identitäten, so ist auffällig, dass diese im Schulleben vorrangig in Form von Abwertungen auftreten. 2012 gaben bei einer amerikanischen Befragung zu Schwierigkeiten in ihrem Leben 21% der befragten LGBT*Q Jugendlichen an, gravierende Schwierigkeiten im Bereich Schulprobleme und Mobbing zu haben. Unter heterosexuellen, cisgeschlechtlich identifizierten Jugendlichen wurde dieses Problem signifikant seltener genannt. Diese haben eher Probleme im Bereich Leistung und Karriere sowie Finanzen (vgl. HRC Youth Servey Report 2012, 2).

Deutsche Jugendliche beschrieben 2017 in der „Coming-out-Studie“, dass sexuelle Orientierung – wenn überhaupt – meist nur im Kontext von Ethik, Biologie oder Sexualaufklärung zur Sprache kam (vgl. Krell 2019, 180).

Dabei ist im oben zitierten Rahmenlehrplan zum Thema Diversity verankert, dass dieses als Querschnittsthema behandelt werden soll. So werden die Fächer Deutsch, Ethik, Biologie und Sachunterricht (Klasse 1-4) als Fächer mit persönlichen Zugängen zum Thema ausgewiesen. In der Grundschule soll die Behandlung in der 5./6. Klasse im Kontext von Kin- der- und Menschenrechten Gegenstand sein. Sogar für die Fächer Kunst, Musik und Sport werden Anknüpfungspunkte für den Unterricht vorgeschlagen (vgl. SenBJFa 2015, 25).

Im Kontext dessen ist es erschreckend, dass Jugendliche angeben, zum Teil gar nicht im Unterricht über das Thema sexuelle Orientierung zu sprechen. LSBTIQ* Jugendliche wünschen sich laut Befragung gerade die möglichst frühe Berücksichtigung und Repräsentation bereits im Grundschulalter. Etwa durch bildliche Darstellungen von queeren Lebensentwürfen (vgl. Krell 2019, 182). Dies bietet sich sowohl in Unterrichtsmaterialien aller Fächer an, insbesondere jedoch bei den Themen des Sachunterrichts der Klassen 1-4.

So heißt es im RLP: „Der Sachunterricht trägt zur Identitätsentwicklung bei, dazu gehört, sich und andere Menschen in großer Vielfalt und Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und zu respektieren.“ (SenBJFb, 3). Das Themenfeld „Kind“ bietet sich für die Reflexion vielfältiger Identitäten und Lebensweisen an. Da die oftmals unbewusste bzw. unreflektierte Selbstverortung im Rahmen sozialer Erwartungen schon vor der Pubertät anfängt, sollte auch nicht erst im Sexualunterricht und den Gesellschaftswissenschaften der Klassen 5 und 6 Vielfalt explizit thematisch werden.

Die Thematisierung geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung erfolgt oftmals mit einer Überbetonung, dass Homosexualität oder Transidentität nichts Schlimmes seien (vgl. Klocke 2016; zit. nach Krell 2019, 181). Dies ist insofern problematisch, als dass es durch Betonung der gewünschten Anerkennung der als „Anders“ inszenierten Lebensweisen zu einer ungewollten Sonderstellung kommen kann, wenn eigentlich nur eine Förderung der Akzeptanz intendiert ist. Riegel nennt diesen Prozess „Verbesonderung“ (2017, 70). Eine identitätsstiftende Darstellung queerer Lebensweisen erfolgt demgegenüber nicht häufig (vgl. Krell/ Oldemeier 2016).

Auch in der Unterrichtskommunikation werden binäre Geschlechtergedanken reproduziert. So hospitierte ich im Laufe meiner Ausbildung als Lehrkraft an sechs Berliner Regelgrundschulen. An ausnahmslos keiner der Schulen wurde konsequent gegendert. Es wurde nach wie vor von „Schüler*innen und Schülern“ gesprochen, wie bereits zu meiner eigenen Grundschulzeit. Dies ist zwar ein Fortschritt in Sachen Repräsentation gegenüber dem generischen Maskulin, jedoch ist es im Kontext der rechtlichen Anerkennung weiterer Geschlechtsidentitäten („divers“) in Deutschland verwunderlich, dass eine gerechte Sprache in der Universität Einkehr erhalten hat und das ehemalige „Studentenwerk“ nun „Studierendenwerk“ heißt, nach der vermeintlich geschlechtersensiblen Lehramtsausbildung in der Ausbildung und Lernbegleitung der Kinder unserer Gesellschaft diese Errungenschaften aber wieder unsichtbar gemacht werden. Auch in Unterrichtsmaterialien und Büchern hat diese Sensibilität gegenüber diversen Geschlechtsidentitäten oftmals noch keinen Einzug gefunden.

Besonders erschreckend sind die Auszüge aus der unterrichtlichen Realität an Berliner Grundschulen vor dem Hintergrund, dass es im Kerncurriculum heißt: „Die Lehr- und Lernmaterialien sowie der Sprachgebrauch spiegeln die vielfältigen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler wider.“ (SenBJF 2015a, 25). Selbst in dieser Veröffentlichung der Senatsverwaltung wird abstruser Weise binär gegendert.

Über die Sprache und bildliche Repräsentation hinaus sind auch räumliche Schulbereiche binär ausgerichtet. So etwa die Toiletten oder Umkleidekabinen im Sportunterricht, wodurch gerade Kinder in der Grundschule, die in ihrer Genderidentität womöglich noch unsicher sind, dazu gezwungen werden, sich binären Ordnungen unterzuordnen und ihre Identitäten vermeintlich „unsichtbar“ gemacht werden (vgl. Krell 2019, 178).

Alles in allem bleibt es sicher eine Herausforderung, queere Lebensweisen und Realitäten in der Grundschule ausreichend sichtbar zu machen, wenn viele Schulbuchverlage konservative Klischees reproduzieren und man als Lehrkraft sich zur Nutzung eines Schulbuches verpflichtet, was die Schulleitung/ der Fachbereich aussucht und im Klassensatz anschafft.

Demgegenüber trägt jede Lehrkraft eine Verantwortung, sich im Kollegium für Themen der Diversität und Vielfalt einzusetzen und auf Missstände aufmerksam zu machen und den eigenen Unterricht entlang dem Prinzip der Gleichstellung aller Individuen zu gestalten. Die Nutzung eigener und zusammengesuchter Materialien ist fast immer möglich und die Reflexion vorgegebenen Unterrichtsmaterials ist eine Voraussetzung für die Vorbereitung eines zeitgemäßen Unterrichts.

Auch die im Unterricht verwendete geschlechtergerechte und sensible Sprache liegt in der Verantwortung der Leitung des Unterrichts.

Dies setzt eine Wissensbasis und eine klare Haltung der Lehrenden voraus, die wohl nur dadurch erzielt werden kann, dass die Lehrkräfte sich privat zu den Themen weiterbilden, oder verpflichtende Module in der Lehramtsausbildung eingeführt werden, die Gender und sexuelle Identität/ Feminismus/ Intersektionalität usw. als Thema unabhängig von der studierten Fächerkombination behandeln.

Institutionellen Schwierigkeiten wie der Trennung der Toiletten in „Jungstoiletten“ und „Mädchentoiletten“ sowie anderen binären Geschlechtertrennungen sollte in Schulversammlungen begegnet werden und alternative Lösungen in Erwägung gezogen werden.

Darüber hinaus sollten Lehrkräfte die Verantwortung für die Thematisierung queerer Lebensweisen in ihren Fächern übernehmen. Der Rahmenlehrplan weist Diversity als Querschnittsthema aus, weshalb alle Akteur*innen der Schule sich dem Thema annehmen sollten und zu jeder Zeit queeren Themen Raum einräumen sollten sowie auch bei der Behandlung anderer Themen und in ihrer Sprache queere Perspektiven mitdenken sollten. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Lehrkräfte sich in ihrer Haltung und Performanz von einer Kultur des „(heteronormativen) Othering“, welche eine Überlegenheit der Mehrheitsgesellschaft impliziert, hin zu einer tatsächlichen Normalisierung von Vielfalt bewegen sollte, damit die Sonderstellung marginalisierter Gruppen aufgehoben wird und jegliche Form des eigenen Lebensentwurfes als gleichwertig wahrgenommen wird. Vielfalt sollte somit nicht nur als Unterrichtsthema verstanden, sondern als Reflexionsfolie über jegliches schulische Handeln gelegt werden. Entgegen des hier der Einfachheit gerichteten Fokus auf sexuelle Identität und Genderidentität sollte in der Schule die Verschränkung (Intersektionalität) von verschiedenen Machtverhältnissen und die damit verbundenen Überlagerungen und Mehrfachzugehörigkeiten beim Thematisieren von Identität stärkere Berücksichtigung finden.

Nur so kann Schule einen Beitrag dazu leisten, dem Anspruch von Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, der in der Menschenrechtskonvention, im Grundgesetz sowie im Schulgesetz formuliert ist, gerecht zu werden.


(1) 1Wie sexistisch ist Deutschland? – Frauenbild, Klischees und #metoo, 18.08.2021; abrufbar über: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/wie-sexistisch-ist-deutschland–frauenbild-klischees– und-metoo-1-100.html


Literaturverzeichnis

Bittner, Melanie (2011): Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Eine gesellschaftsorientierte Analyse einer Materialsammlung für die Unterrichtspraxis. Frankfurt a.M.: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

GLAAD (Gay and Lesbian Alliance against Defamation) (2017): Accelerating Acceptance. URL: https://www.glaad.org/files/aa/2017_GLAAD_Accelerating_Acceptance.pdf

HRC (Human Rights Campaign, Hrsg.) (2012): Growing up LGBT in America. HRC Youth Surves Report. New York

Krell, C. (2019): „Schule ist nochmal eine ganz andere Sache“. In: Ketelhut, K. & Lau, D. (Hrsg.): Gender – Wissen – Vermittlung. Geschlechterwissen im Kontext von Bildungsinstitutionen und sozialen Bewegungen. Wiesbaden: Springer VS, 169-192

Krell, C. & Oldemeier, K. (2017): Coming-out – und dann…? Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich

Lehrerfreund (2010): „Der ist doch schwul“ – Zum Umgang mit einem verbreiteten Schimpfwort. URL: https://www.lehrerfreund.de/schule/1s/schwul-schimpfwort-interview/3781 (zuletzt abgerufen: 20.08.2021)

Riegel, C.: Queere Familien in pädagogischen Kontexten – zwischen Ignoranz und Othering (2017). In: Hartmann, J.; Messerschmidt; A., Thon, C. (Hrsg.): Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogische Kritik der Heteronormativität. Opladen ; Berlin ; Toronto: Verlag Barbara Budrich, 69-94

SenBJF (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg) (Hg.) (2015a): Rahmenlehrplan. Teil B.

SenBJF (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg) (Hg.) (2015b): Rahmenlehrplan. Teil C. Sachunterricht. Jahrgangsstufen 1-4

SenBJF (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg) (Hg.) (2015c): Rahmenlehrplan. Teil C. Deutsch. Jahrgangsstufen 1-10

Wie sexistisch ist Deutschland? – Frauenbild, Klischees und #metoo, 18.08.2021; abrufbar über: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/wie-sexistisch-ist-deutschland– frauenbild-klischees–und-metoo-1-100.html


Quelle: Carolin Brede, Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity) als Thema des Rahmenlehrplans Berliner Schulen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 24.09.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=125