Die soziale Konstruktion von Krankheit

Hysterie als Beispiel für die Reproduktion von Stereotypen in der Medizin

Julika Likus (WiSe 2023/24)

Einleitung 

Gesundheit und Krankheit spielen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine große Rolle im alltäglichen Leben. Im Diskurs über Gesundheit und Krankheit überschneiden sich medizinische, biologische und soziale, aber auch politische und historische Ansätze, obwohl häufig zunächst die medizinischen[1] Aspekte im Vordergrund stehen, diskutiert und als heilungsbedürftig empfunden werden. Dabei werden ebenfalls häufiger körperliche Abweichungen einer Norm stärker mit der Sphäre von Krankheit und Gesundheit verknüpft als geistige Beeinträchtigungen, die von physischen Konditionen oft als abgrenzbar dargestellt werden. Eine erweiterte Betrachtung des Feldes Krankheit und Gesundheit betrachtet Krankheit jedoch nicht als „rein-medizinischen“ Zustand, sondern als soziales Ereignis (Dross/Metzger 2018). Einerseits ist die Medizin in Bezug auf Beurteilung, Diagnose und Behandlung von Krankheit und Gesundheit von gesellschaftlichen Normen geprägt, die sich stetig wandeln, und andererseits folgt auf eine medizinische Diagnose von Krankheit und Gesundheit eine soziale Wirkung/Reaktion, die die Teilnahme an einem sozialen Alltag beeinflusst. So sind also auch gesundheitliche Unterschiede zwischen Gruppen nicht ausschließlich durch biologische Unterschiede verursacht, sondern werden durch soziale Strukturen, die mit Hierarchie und Macht zusammenhängen und Menschen privilegieren und unterdrücken, konstruiert (Short/Zacher 2022). 

In der vorliegenden Arbeit wird sich hauptsächlich auf Machtgefällen und diskriminierenden Strukturen im medizinischen Bereich beschränkt, die aufgrund des Geschlechts[2] existieren, wobei eine ganzheitliche, feministische Perspektive immer auch andere -ismen und Merkmale wie Klasse oder Race einbeziehen muss und intersektional gedacht werden muss. 

Daten wissenschaftlicher Forschungen, die zur Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien verwendet werden, wurden jahrhundertelang anhand einer hauptsächlich cis-männlichen[3] Untersuchungsgruppe gewonnen und deren Erkenntnisse dann geschlechts- und gruppenübergreifend angewandt. Die Abwesenheit von Frauen in klinischen Studien bedeutet das Zuschneiden des Wissens auf Männer und festigt die Norm eines cis-männlichen Körpers. Die Aufschlüsselung nach Geschlecht[4] wurde zunehmend in medizinischer Forschung etabliert, weitere soziale Realitäten und intersektionale Perspektiven werden jedoch weiterhin größtenteils außer Acht gelassen (Kuhlmann 2016). 

Frauen erhalten auch heute noch regelmäßig andere Diagnosen und Behandlungsempfehlungen wie Männer, bei ihnen werden zum Beispiel häufiger psychische Dinge als Ursache für Symptome angesehen und körperliche Probleme dadurch übersehen (Short/Zacher 2022). Ein historisch interessanter Fall, der die Verflechtung von Stereotypen, Krankheit und Gesundheit aufzeigt und zur Reproduktion patriarchischer Strukturen führt, ist die hauptsächlich Frauen zugeschriebene und lange als Krankheit angesehene Hysterie. In den nächsten Kapiteln wird zunächst die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit näher erläutert und anschließend die Entstehung und Konzeption der Hysterie als Beispiel für die Verknüpfung sozialer Norm und Geschlechtsvorstellungen mit medizinischer Diagnostik und Behandlung thematisiert. Es wird sich zeigen, dass sich die Symptomatik und Behandlungsmethoden der Symptome mit sich verändernden Werten und zugeschriebenen Eigenschaften und Erwartungen an Geschlechter ebenfalls verändert haben und besonders die Benachteiligung im medizinischen Bereich für diskriminierte Gruppen der Gesellschaft folgenschwere Auswirkungen hat. 

Krankheit als soziales Konstrukt 

Das Verständnis von Krankheit und Gesundheit beruht auf sozialen Vorstellungen über den Zustand von Personen oder Dingen. Die Medizin nimmt in der Gesellschaft eine Art Doppelrolle ein, die als Hauptinstanz zur Trennung von Krankheit und Gesundheit gilt, dadurch aber gleichzeitig auch ihr eigenes Handeln begründet (Dross/Metzger 2018). Krankheit wird in der Literatur ursprünglich häufig als Abweichung eines als „normal“ betrachteten Körpers definiert, der das Einwirken von Mediziner:innen zur Stellung einer Diagnose und eines Behandlungskonzepts mit dem grundsätzlichen Ziel der Heilung und Wiederherstellung von Gesundheit erfordert. Einem strukturfunktionalistischem Ansatz nach gilt körperliche und geistige Gesundheit als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur. Krankheit wurde zunehmend als Prozess verstanden, der keine klare Grenze zu „Gesundheit“  hat (Ullrich 2014). Einige Krankheitsbilder hängen stark mit der gesellschaftlichen Konstruktion und Vorstellung von Körper, Geschlecht und Sexualität zusammen, die Geschichte bestimmter Krankheitsbilder zu verstehen, erfordert deshalb die Auseinandersetzung mit der Veränderung klinischer und psychologischer Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht (Kleinplatz 2018, Schroer/Wilde 2016). Werte und Normen enthalten oft stereotypische Vorstellungen von Menschen, die in der Medizin zu ausbleibender oder fehlerhaften Diagnostik und Behandlung führen. Neben der medizinischen Komponente greifen diverse sozio-politische Aspekte in den Bereich von Krankheit und Gesundheit; soziale Beziehungen, Abhängigkeitsverhältnisse und politische Setzungen, die von gesellschaftlichen Normen geprägt sind (Ullrich 2014). Erkrankungen prägen soziale Beziehungen und Konnotationen von Krankheiten wirken sich auf den gesellschaftlichen Umgang mit einer erkrankten Person aus. Besonders schwerwiegende oder ansteckende Krankheiten werden zum Beispiel häufig mit Armut in Verbindung gebracht und können zur sozialen Ächtung, Abscheu, Ausgrenzung oder ,Aussatz‘ führen. Allgemeine Definition von Krankheiten, die auf der ,Norm‘ basieren, ignorieren Gesundheit- und Lebensrealitäten vieler marginalisierter und diskriminierter Gruppen wie zum Beispiel BIPoCs, LGBTQIA+-Menschen und Frauen, da aufgrund von Stereotypen und tatsächlichem Ausschluss aus medizinischer Betrachtung und Forschung unterschiedliche Maßstäbe zur Bewertung und Behandlung gleicher Umstände je nach Patient:in angelegt werden (Dross/Metzger 2018). „[S]oziale Strukturen werden durch wissenschaftliche Autorität im Körper der Betroffenen veranker[t]“ (Dross/Metzger 2018), was folgenschwere Auswirkungen für die Personen haben kann. 

Hysterie als Beispiel für stereotypisierte medizinische Diagnostik und Behandlung 

Hysterie[5] ist ein historischer medizinischer Begriff, der im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen hatte und in der modernen Medizin nicht mehr als diagnostische Kategorie verwendet wird. Ein Blick auf die Geschichte der Hysterie ist dennoch hilfreich, um die Entwicklung medizinischer Konzepte und Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu verstehen und wie gesellschaftliche Vorstellungen von Frauen und ihrer Rolle in der Medizin sich im Laufe der Zeit verändert haben. 

Die Hysterie leitet sich aus dem altgriechischen Wort für Gebärmutter histéra ab (Günther 2023).

Lange Zeit galt die produktive Gebärmutter als Hauptmerkmal einer körperlich und geistig gesunden Frau und als ursächliches Organ für psychiatrische Krankheiten im Zusammenhang mit Hysterie, die sich allgemein durch ein sozial unerwünschtes Verhalten äußerten (Short/Zacher 2022). Das zugrundeliegende Frauenbild ist das der Frau als Mutter und Hausfrau für den Mann. 

Als typische Symptome der Hysterie wurden einerseits ein bestimmtes „theatralisches“/ „dramatisches“ Verhalten angesehen, aber auch sensorische Ausfälle wie Krämpfe, plötzliche Blindheit, Ohnmacht oder chronischer Müdigkeit (Dross/Metzger 2018). Der Psychiater Richard von Kraft-Ebing beschreibt Hysterikerinnen als Frauen, die

„ihre Leiden übertreiben, zu simulieren, sich um jeden Preis interessant […] machen [,] wobei ihre krankhaft gesteigerte Phantasie gute Dinge leistet und ihre geschwächte Sittlichkeit vor keinem Betrug und keiner Lüge zurückschreckt.“

Kraft-Ebing 1883, S.212

Der Diskurs über Hysterie beschäftigte sich zunächst hauptsächlich mit Frauen, erweiterte sich aber zunehmend auch auf Männer, die anhand ,zu weiblicher Eigenschaften‘ oder ,Feigheit‘ durch die Diagnose der Hysterie ebenfalls stark abgewertet wurden (Westhoff 2013). Bereits in der Antike wurde Hysterie als eine 

„Veränderung der Position der Gebärmutter gesehen, welche, durch sexuelle Abstinenz hungrig geworden, auf der Suche nach Befriedigung die Reise durch den Körper antrat und auf ihrem Weg andere Organe in Unordnung brachte.“

Zaudig 2015, S.28

Platon sagt über die Gebärmutter: 

„Die Gebärmutter ist ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten.“

Zaudig 2015, S.28

Es wurde davon ausgegangen, dass die Verlagerung der Gebärmutter die mentale Situation einer Frau verändert und das Nichtnachkommen Können oder Wollen ihrer ,natürlichen‘ Aufgaben eine Frau, zum Beispiel Mutterschaft oder Tätigkeiten im Haushalt, krank macht. Die antike Säftelehre besagt, dass weibliches Blut einer monatlichen Reinigung (Periode) unterzogen wird und beim Ausbleiben der Periode richtet die Materie im Inneren Unheil an (Westhoff 2013). Trotz der historischen Fokussierung auf die Gebärmutter und die Reproduktionsfähigkeit der Frau wurden tatsächliche, schmerzhafte und lebensverändernde Krankheiten der Gebärmutter wie Endometriose in der Forschung und Gesellschaft wenig beachtet und erhalten auch heute im Vergleich zu nicht „nur Frauen betreffenden Krankheiten“ wenig Aufmerksamkeit (Westhoff 2013). 

Im viktorianischen Zeitalter dominierte ein Geschlechterideal, das die Rolle der Frau stark von traditionellen Normen und den Bedürfnissen des Ehemanns abhängig machte. Weibliche Sexualität galt als kontrollierbar und sollte vorrangig die Bedürfnisse des Mannes befriedigen, Abweichungen von diesem normativen Verhalten wurden als sexuelle Störung betrachtet. Die psychologischen Probleme von Frauen wurden häufig auf angebliche Störungen der Fortpflanzungsorgane zurückgeführt, insbesondere durch die Diagnose der „Hysterie“, was die Kontrolle über weibliche Psyche und Sexualität weiter institutionalisierte (Kleinplatz).

“The underlying assumption that women were dominated by their reproductive organs led some physicians to blame virtually all women’s diseases and complaints on disorders of these organs.”  

Groneman 1994, zitiert nach Kleinplatz 2018 S.33

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hält Hysterie für den Ausdruck verdrängter, unterdrückter Wünsche aufgrund eines ungelösten Traumas, häufig sexueller Missbrauch im Kindesalter (Kleinplatz 2018, Westhoff 2013). Frauen mit Hysterie seien unwillig/unfähig, „weiblicher“ Pflichten nachzukommen und hätten keine familiären Gefühle (Dross/Metzger 2018). Im 19. Jahrhundert waren Methoden wie ballaststoffreiche Diäten, Aderlass, kalte Einläufe, Ovarektomien (Entfernung der Eierstöcke), Klitorisablation, Auslösung paroxysmaler Krämpfe (Orgasmen) durch den Arzt üblich zur Behandlung von Hysterie.

„What is interesting, however, is the surprising manner in which the uterus is at the same time considered an essential component to womanhood and also easily removable.“

Jones 2015, S.1108

Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot „führte seine hysterischen Patientinnen öffentlich vor und demonstrierte an ihnen die aberwitzigsten, martialischen Behandlungsmethoden wie zum Beispiel eine ,Ovarienpresse‘ oder Vibratoren ,zur Beruhigung‘.“ (Westhoff 2013). Eltern oder Ehemänner von ,hysterischen Frauen‘ veranlassten häufig Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten zur Linderung der Symptome und Heilung (Dross/Metzger 2018).

„No one knew for certain how to prevent this from happening, but one cure was to anchor the uterus. This could easily be accomplished through either impregnating the woman or keeping the uterus moist through intercourse so it would not seek out the moisture of other organs.“

Meyer 1997, S.1

Im 20. Jahrhundert wurde die zunehmende diagnostische Ungenauigkeit des Begriffs Hysterie erkannt und die vielfältigen Symptome in neue Begriffe präziser klassifiziert. Der Begriff „Histrionische Persönlichkeitsstörung“ (von lat. „histrio“: Schauspieler) betonten die (intentionale) Dramatisierung von Konflikten, während die „Dissoziative Störung“ einen Zerfall der Persönlichkeit, insbesondere nach traumatischen Ereignissen, beschrieb.

Im Gegensatz zur klassischen Hysterie standen bei diesen Diagnosen psychologische Aspekte im Vordergrund, und sie wurden zunehmend unabhängig von körperlichen Symptomen betrachtet (Westhoff 2013). 

Die Zuschreibung und Interpretation bestimmter Verhaltensweisen als ,typisch weiblich‘ und die gleichzeitige Vernachlässigung körperlicher Ausfallserscheinungen führt zu einer Pathologisierung des seelischen und körperlichen Leidens von Frauen. Die Konzeption einer ,überemotionalen‘ Frau festigt historische Stereotypen, die häufig eine vermeintliche Instabilität und Irrationalität weiblicher Emotionen betonen. Hysterie als konstruierte Krankheit führte zur sozialen Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen, insbesondere solchen, die überwiegend Frauen zugeschrieben wurden, und muss auch heute noch bei der Diskussion über Gleichberechtigung und Gesundheitsversorgung mitbedacht werden.  Die heutigen therapeutischen Ansätze, denen Frauen mit sexuellen Problemen begegnen, variieren in Abhängigkeit von der aufgesuchten medizinischen Fachkraft, wobei häufig immer noch eine unzureichende interdisziplinäre Betrachtung besteht. Es bedarf einer Herangehensweise, die organische, psychische und psychosoziale Ursachen gemeinsam betrachtet und behandelt, um eine effektive Therapie zu gewährleisten (Kleinplatz 2018). 

Aktuelle Debatten 

„Not only was hysteria itself all of those things—irrational, capricious, unpredictable, and most importantly, unsolvable—but it also pathologized, sexualized, and eroticized womanhood.“

Jones 2015, S.1095

In der Medizin ist der Begriff der Hysterie aus dem wissenschaftlichen/medizinischen Sprachgebrauch größtenteils verschwunden und wird hauptsächlich alltäglich und medial verwendet. Mit „hysterisch“ wird bis heute ein bestimmtes stereotypisches Verhalten wahrgenommen, wie beispielsweise Kreischen, Weinen oder hohe Emotionalität; Eigenschaften, die vorrangig immer noch weiblichen Personen zugeschrieben werden. 

„Wer heute etwa über Krankheitssymptome klagt wird noch immer schnell mal als ,hysterisch‘ bezeichnet. Auch wenn man als Frau die Stimme erhebt oder mal so richtig ,ausrastet’, ist das vorbestrafte H-Wort nicht weit.“

Günther 2023

Auch die mediale Weiterverwendung führt also zur Reproduktion geschlechtsstereotypischen Verhaltens, wertet Eigenschaften und Verhaltensweisen ab und erinnert an historisch überholte Vorstellungen einer Frau, deren Gesundheit allein von einer produktiven Gebärmutter und dem Einfügen in gesellschaftliche Rollenbilder abhängt. Der Begriff muss sich eindeutig davon abgrenzen, dass mit ihm ein meist weiblich zugeschriebenes Verhalten als ,krankhaft‘ bezeichnet wurde und zu entmündigenden sowie menschen- und frauenfeindlichen Behandlungsmethoden geführt hat. 

Einem Ansatz der amerikanischen Professorin für Women´s and Gender Studies Cara E. Jones nach weist zum Beispiel die heutige Lebensrealität von Frauen mit Endometriose einige Parallelen zum historischen Konzept der Hysterie auf: 

„I argue that […] endometriosis has taken up a diagnostic and cultural location once occupied by hysteria: each disease pathologizes not only certain physical symptoms, but also social and cultural deviations from female gender norms.“

Jones 2015, S.1084

Jones argumentiert, dass die medizinischen Behandlungsmethoden für sogenannte ,weibliche‘ Krankheiten wie Endometriose immer noch auf veralteten Vorstellungen über die Gebärmutter beruhen und auf die ungehinderte Reproduktion von Frauen abzielt (Jones 2015).

In ihrem Beitrag liefern Short und Zacher einige Ansätze zu geschlechtersensiblerer medizinischer Diagnostik und Behandlungsmethoden. Die Betrachtung der Frauengesundheit sollte sich von der reinen Fokussierung auf Fortpflanzung und Kindergesundheit lösen, um den Frauenkörper nicht ausschließlich auf die Funktion des Kinderkriegens zu reduzieren. Es ist wichtig, die binäre Geschlechtervorstellung zu überwinden und sich nicht ausschließlich auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu konzentrieren. Geschlechter sollten als sozial konstruierte Konzepte betrachtet werden und auch geschlechtsspezifischer Unterschiede sollten nicht auf biologische Faktoren geschoben werden, sondern unter Berücksichtigung zugrundeliegender biosoziale Strukturen und Mechanismen. Es ist entscheidend, intersektionale Ansätze einzubeziehen, die die Wechselwirkungen verschiedener sozialer Benachteiligungen oder Privilegien berücksichtigen. Dazu gehören Merkmale wie Geschlecht,Sexualität, Fähigkeiten, Race, Klasse, Bildung und andere relevante Parameter (Short/Zacher 2022).  Ungleichheiten in der Medizin müssen von den treibenden Kräften der Forschung anerkannt und gezielt behoben werden. Short und Zacher berichten in ihrem Artikel über eine Studie aus dem Jahr 2021, die zeigt, dass die Forschung zu Krankheiten, von denen Männer überproportional betroffen sind, von den nationalen Gesundheitsinstituten eher überfinanziert wird, während die Forschung zu Krankheiten, von denen hauptsächlich Frauen betroffen sind, im Verhältnis zur Krankheitslast in der Bevölkerung eher unterfinanziert ist (Short/Zacher 2022).

Fazit 

Krankheit und Gesundheit sind keine rein biologischen oder medizinischen Phänomene, sondern werden stark von sozialen Strukturen und Machtverhältnissen beeinflusst. Die Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien basierte historisch oft auf Forschungsdaten, die hauptsächlich an cis-geschlechtlichen Männern gewonnen wurden, was zu einer unzureichenden Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede führte. Frauen erhielten und erhalten immer noch unterschiedliche Diagnosen und Behandlungsempfehlungen im Vergleich zu Männern, wobei stereotype Vorstellungen über weibliche Emotionalität und Sexualität die medizinische Praxis beeinflussen.

Das historische Beispiel der Hysterie verdeutlichte, wie gesellschaftliche Normen und Geschlechtsvorstellungen in medizinische Diagnosen eingeflossen sind. Frauen wurden als hauptsächlich von der Gebärmutter gesteuert betrachtet, was zu pathologisierenden und oft dehumanisierenden Behandlungsmethoden führte. Obwohl der Begriff der Hysterie heute aus dem medizinischen Vokabular verschwunden ist, bleiben stereotype Vorstellungen über „hysterisches“ Verhalten im gesellschaftlichen Diskurs präsent.

Ungleichheit in medizinischen Strukturen betonen die Notwendigkeit geschlechtersensiblerer medizinischer Ansätze, die nicht nur auf Fortpflanzung fokussiert sind. Frauenkörper dürfen nicht ausschließlich auf reproduktive Funktionen reduziert werden und binäre Geschlechtervorstellung überwunden werden. Die Einbeziehung intersektionaler Ansätze, die die Vielschichtigkeit sozialer Benachteiligungen berücksichtigen, ist entscheidend, um diverse Ungleichheiten in der Medizin anzugehen und eine gerechtere Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten.    

Literatur- und Quellenverzeichnis 

Dross, Fritz und Nadine Metzger (2018). Krankheit als Werturteil. In: bpb. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/270305/krankheit-als-werturteil/ (letzter Aufruf: 30.01.2024).

Günther, Paula (2023). Von Männern erfunden: Diagnose Hysterie als Machtmittel gegen das weibliche Geschlecht. In: Qiio Magazin. https://www.qiio.de/von-maennern-erfundendiagnose-hysterie-als-machtmittel-gegen-das-weibliche-geschlecht/ (letzter Aufruf 30.01.2024).

Jones, Cara E. (2015). Wandering Wombs and “Female Troubles”: The Hysterical Origins, Symptoms, and Treatments of Endometriosis, Women’s Studies, 44:8, 1083-1113 https://doi.org/10.1080/00497878.2015.1078212

Kleinplatz, Peggy J. (2018). History of the Treatment of Female Sexual Dysfunction(s). In: Annual Review of Clinical Psychology. 14:1, 29-54.

Krafft-Ebing, Richard von (1883). Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende (Bd. 1-2). Stuttgart: Enke.

Kuhlmann, Ellen (2016). Gendersensible Perspektiven auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 183–196. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11010-9_12

Meyer, Cheryl L. (1997). The Wandering Uterus: Politics and the Reproductive Rights of Women. In: New York University Press. 1997. https://doi.org/10.18574/nyu/9780814763209.001.0001

Schroer, Markus und Jessica Wilde (2016). Gesunde Körper – Kranke Körper. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 257-271.

Short, Susan E. und Meghan Zacher (2022). Women’s Health: Population Patterns and Social Determinants. In: Annual Review of Sociology. 48:1, 277-298. 

Ullrich, Charlotte (2014). Die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit. In: Medikalisierte Hoffnung?. Deutschland: transcript. 31–58. 

Westhoff, Andrea (2013). Hysterie.In: Deutschlandfunk https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-hysterie-100.html.

Zaudig, Michael (2015). Entwicklung des Hysteriekonzepts und Diagnostik in ICD und DSM bis DSM-5. In: Hysterie. Verständnis und Psychotherapie der hysterischen Dissoziationen und Konversionen und der histrionischen Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien. 20:1, 27-49 https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/03.-Zaudig.pdf.


[1] Im Verlauf des Textes wird „medizinisch“ für die Beschreibung klassischer, schulmedizinischer Vorstellungen verwendet, die häufig für unveränderbar gehalten werden und aktuell die größte wissenschaftliche Deutungshoheit in der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit haben. Die Verwendung des Wortes „medizinisch“ muss jedoch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass „Medizin“ nicht gleich frei von Normen bedeutet und Prioritäten, Durchführung und Auswertung wissenschaftlicher Forschungen immer durch soziale Strukturen geprägt sind. 

[2] Geschlecht ist keine biologische, neutrale Tatsache, sondern eine aufgrund von körperlichen Merkmalen bei oder sogar schon vor der Geburt vorgenommene Zuweisung, die häufig auf der Vorstellung binärer Geschlechterkategorien beruht. 

[3] Zur Vereinfachung werden im Verlauf der Arbeit zwar die binären Begriffe Mann und Frau verwendet zur Beschreibung cis-geschlechtlicher Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen, wobei bei jeder Verwendung mitbedacht werden soll, dass Geschlecht, und vor allem die binäre Betrachtung davon, konstruiert sind.

[4] Eine Aufschlüsselung nach Geschlecht bedeutet in der Wissenschaft eine Trennung von cis-weiblichen und cis-männlichen Personen, was auf einer binären Geschlechterkonstruktion beruht und diskriminierend gegenüber allen anderen Geschlechtsidentitäten ist.

[5] Bei der Verwendung des Wortes Hysterie wird sich ausschließlich auf die historischen Konzepte in Abgrenzung von einer medizinischen Diagnose bezogen, da der Begriff historisch stark mit stereotypen Vorstellungen von Frauen verbunden ist und ihre psychischen Gesundheitszustände auf veraltete, kulturell geprägte Vorstellungen reduziert. 


Quelle: Julika Likus, Die soziale Konstruktion von Krankheit – Hysterie als Beispiel für die Reproduktion von Stereotypen in der Medizin, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin,29.02.2024,

 Where Are You From?

Inwieweit hinter dieser Frage Rassismus steckt

JeongA Hwang (WiSe 2022/23)

1. „Where are you from?”

Wie sind meine Erfahrungen mit dieser Frage?

In den 4 Jahren, die ich in Deutschland lebe, bin ich dieser Frage unzählige Male begegnet. In meiner Erinnerung waren die Menschen, die nach meiner Herkunft gefragt haben, meist Weiß. Sie stellten mir unerwartet auf der Straße, in einem Restaurant, in einem Wartezimmer, irgendwo, solche Fragen, ohne dass wir davor ein Gespräch führten. Wenn jemand Deutsch spricht, fragte diese Person mich nicht auf Deutsch „Woher kommst du?“, sondern erstmal immer auf Englisch: „Where are you from?“. 

Einige Male habe ich diese Situation so empfunden, als wolle diese Person mit mir Smalltalk führen. Als dies allerdings immer wieder passierte, fühlte ich mich sehr unwohl. Daher möchte ich in diesem Essay erstens meine Reflexion mit dieser Frage beschreiben und folglich darauf eingehen, warum „Where are you from?“-Frage eine rassistische Frage ist, wie meine ethnische Identität als asiatisch bestimmt wird und welche Konsequenzen racial microaggression im Zusammenhang mit der Fremdzuschreibung mit sich bringen kann.

Reflexion

Ich wurde zuletzt vor zwei Wochen (Mitte April 2023) gefragt, wo ich herkomme. Ich hatte mich in einer Bar mit meinen Freundinnen getroffen. Wir alle kommen aus Südkorea, leben seit einigen Jahren in Deutschland und können Deutsch sprechen. Während wir uns in unsere Sprache unterhielten, kam eine Gruppe von etwa 8-9 gut gekleideten weißen Menschen und nahmen den Platz neben uns ein. Sie schienen unter Kolleginnen und Kollegen zu sein. Ich bemerkte, dass sie sich auf Deutsch unterhielten.

Als eine von uns zum Rauchen kurz weg war, nahm eine Person von ihnen plötzlich einen unserer Stühle weg, obwohl noch viele übrige danebenstanden. Daraufhin sprach eine meiner Freundinnen diese Person an: „Der Stuhl ist besetzt. Sie können daneben einen anderen nehmen.“ Diese reagierte daraufhin lästig und antwortete auf Englisch „I know, I know. I will give it back to her soon.“

Wir fühlten uns gekränkt, taten aber so, als würde es uns nicht stören, weil wir unser gutes Treffen nicht zerstören wollten. In der darauffolgenden Stunde starrte jedoch eine andere Person von ihnen uns an, während wir uns unterhielten, und kam schließlich mit einem entschlossenen Gesicht zu uns und fragte:

„Hey, Where are you from?“

Eine von uns hatte auf Deutsch darauf geantwortet, weil sie schon wusste, dass jene Person Deutsch sprechen kann:

„Aus Berlin.“

Daraufhin dachte diese einen Moment nach:

„Ah, Ihr könnt Deutsch. Ich meinte, wo eure Sprache herkommt.“

Ich fragte mich, warum diese Person uns so was fragte. Aber wir versuchten nett zu bleiben:

„Es ist Koreanisch.“

Nachdem sie unsere Antwort hörte, hat sie mit einem fröhlichen Gesicht zu uns gesagt:

„Achso, Ich habe ähnliche Sprache gehört, als ich in Singapur war!“

Nach der Unterhaltung mit dieser Person hatte ich unerklärlich schlechte Laune bekommen und unser angenehmer Abend war ruiniert. Ich kann nicht anders als zu wiederholen, warum sie uns gefragt hat, woher wir kommen, warum wir ihr das sagen müssen, und was für ein Zusammenhang zwischen Korea und Singapur für diese Person besteht, dass sie uns das ohne Überlegung fragen kann. Nach kurzem Nachdenken kam ich zum Ergebnis, dass solche Haltung gegenüber uns eindeutig rassistisch ist und dass diese Person uns aufgrund unseres Aussehens als asiatisch betrachtet hat. Jedoch meinte eine von uns, dass wir nicht beleidigt sein sollten und dass diese Person uns nicht mit schlechten Absichten gefragt hat. Daher musste ich mich nochmal fragen, ob mein schlechtes Gefühl richtig war.  

2. Was stört mich an dieser Frage?

Racial Microaggression

Rassismus ist eine Form von Diskriminierung. Rassismus richtet sich vorwiegend gegen BIPoC (Der Begriff bezieht sich auf Schwarze, Indigene und People of Color.) um diese aufgrund ihrer Herkunft, Farbe, Haare, Namen, Sprache, usw. zu entwerten, abzugrenzen und zu diskriminieren, ohne die individuellen Eigenschaften von betroffenen Menschen zu berücksichtigen.[1] Rassistische Handlungen können nicht nur Körperverletzung, verbale Herabsetzung und feindselige Darstellungen, sondern auch Komplimente und Gefälligkeiten sein.

Den Begriff Mikroaggressionen verwendete Harvard Professor Dr. Chester M. Pierce zum ersten Mal im Jahr 1970, um die Angriffe auf die Würde schwarzer Menschen bei Begegnungen zwischen weißen und schwarzen Menschen im US-Kontext zu bezeichnen und darzustellen. Laut Pierce sind Mikroaggression Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation, die als übergriffig wahrgenommen werden und die der andere Person bewusst oder unbewusst abwertende Botschaften übermitteln, welche sich auf deren Gruppenzugehörigkeit beziehen.[2] In seinem Artikel An Experiment In Racism TV Commercials (1977) beschrieb er,“the chief vehicle for proracist behaviors is microaggression” (1977: 65).

Über die Jahre wurde dieser Begriff und diese Form von Rassismus weiter erforscht. Nach Solorzano, Ceja und Yosso wurde rassistische Mikroaggression wie folgt definiert: “subtle insults (verbal, non-verbal, and/or visual) directed toward people of color, often automatically or unconsciously” (2000: 60). Derald W. Sue teilt mit seinen Kolleginnen und Kollegen interpersonelle rassistische Mikroaggression in drei Ebenen ein: Erstens bezeichnen Mikroangriffe (microassaults) vorsätzliche diskriminierende Angriffe, die den Angegriffenen verbal oder nonverbal herabsetzen oder verletzen. Dies gleicht dem klassischen und offenen Rassismus, weshalb sie in der Forschung zur Mikroaggression selten erwähnt werden. Zweitens sind Mikrobeleidigungen (microinsults) unhöfliche oder unsensible, instinktlose Äußerungen, die die Herkunft oder Identität des Angegriffenen betreffen. Sie sind unterschwellig und deuten an, dass die Angegriffenen weniger wert sind. Schließlich beziehen sich Mikroentwertungen (microinvalidations) auf Aussagen, die die rassistischen Erfahrungen von BIPoC ignorieren oder entkräften. Wenn die Angegriffenen dies verwerfen, können die Angreifer diese unter dem Deckmantel des „Kompliments“ (z.B. Du kannst gut Deutsch!), des „gut gemeinte“ Widerstandes (z.B. Ich sehe keine Farben) oder der Zurechtweisung (z.B. sei nicht so sensibel!) zurückschlagen. Die Frage „Woher kommst du?“/ „Where are you from?“ gehört dazu.[3]

Rassistische Mikroaggressionen treten in den einzelnen Interaktionen zwischen den Täter:innen und den Opfern auf, weshalb sie als ‚mikro“ bezeichnet werden. Darüber hinaus kann es passieren, dass weder die Täter:innen noch die Opfer sie als eine Form von Aggressionen bemerken, da die Täter:innen sich scheinbar unabsichtlich rassistisch äußern. Williams demonstrierte jedoch, dass rassistische Mikroaggression tatsächlich beleidigend und aggressiv genug sei, weil die Opfer vorher bereits Mikroaggression erlebt hätten, unabhängig davon, ob die Täter:innen absichtlich oder unabsichtlich agieren. In der psychologischen Forschung wurde festgestellt, dass Mikroaggressionen auch einen ebenso großen psychologischen Einfluss auf die Opfer haben, wie andere Formen von Aggressionen. Neben den Auswirkungen auf die Opfer spielen rassistische Mikroaggressionen unter Interaktionen zwischen Weißen und BIPoC eine große Rolle, da die weiße Vorherrschaft unbewusst gestützt und bestärkt wird. Die Täter:innen demütigen oft unbeabsichtigt, weshalb die Opfer in einem Dilemma stecken und sich fragen, ob ihnen wirklich Rassismus widerfahren ist. Ein wichtiger Punkt zum Erkennen der rassistischen Mikroaggression ist es, dass sie aus der Perspektive des Opfers betrachtet werden muss.[4] Dementsprechend sind rassistische Mikroaggressionen Aussagen von Täter:innen, die absichtlich oder unabsichtlich erfolgen, wobei sie die Opfer abwerten und deren Identitäten, Erfahrungen und Wissen unsichtbar machen.

3. Was heißt eigentlich, Asiat:innen zu sein?

Asiatische Identität

Seitdem ich in Deutschland lebe, habe ich durch solche oben erwähnten Erfahrungen bemerkt, dass ich hier sowohl als Fremde, Ausländerin oder auch als Asiatin angesehen werde. Ich muss mich immer wieder fragen, warum ich nicht als eine Koreanerin, sondern als eine Asiatin wahrgenommen werde und was eigentlich asiatisch bedeutet.

Asiatische Identität ist eine ethnische Identität, die aufgrund verschiedener Aspekte wie z.B. Herkunft, Kultur, Geschichte und Religion als asiatisch selbst bezeichnet wird, oder vor allem aufgrund des Aussehens von anderem Individuum und andere ethnischen Gruppe als asiatisch zugeschrieben und abgegrenzt wird. Eine asiatisch gelesene Person kann deshalb von anderen als Mitglied einer asiatischen Gruppe behandelt werden, ohne mit dieser wirklich verbunden zu sein oder sich selbst dieser verbunden zu fühlen.

Jedoch ist Asien der größte Kontinent unserer Erde. Er vereint verschiedenen Nationen, Kulturen, Geschichten und Religionen und kann deshalb nicht einfach einheitlich angesehen werden. Nun kommt die nächste Frage: Welche Personen sind gemeint, wenn über „Asiatinnen und Asiaten“ gesprochen wird?

In Deutschland werden Menschen aus Westasien in großem Zusammenhang mit der Religion eher als muslimisch wahrgenommen, obwohl der Islam nicht bei allen westasiatischen Ländern als offizielle Religion gilt. Außerdem werden Menschen aus Zentralasien eher mit der ehemaligen Sowjetunion verbunden wahrgenommen. Welche menschliche Gruppe mit dem Asiatischen verknüpft sind, wurde von einer Befragung erforscht. Zusammengefasst resultiertet daraus, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung vor allem Menschen aus China, Japan, Südkorea, Thailand, Indien und Vietnam mit Asien verknüpft.[5]

Asiant:innen sind Forever Foreigners

An dieser Stelle möchte ich mich damit befassen, wie asiatisch wahrgenommene Menschen in der weißen Dominanzgesellschaft stereotypisiert und dargestellt werden, welche Bedeutung dahintersteckt und welche Konsequenz dies mit sich bringt, beispielsweise für die Corona-Pandemie.

Asiatisch gelesene Menschen in Deutschland oder in anderen weißen Dominanzgesellschaften werden in widersprüchlichen Dimensionen sowohl positiv als auch negativ wahrgenommen. Einerseits werden sie als „Vorzeigemigrant*innen“ beschrieben und mit anderen (post-)migrantischen Gruppen verglichen, egal ob sie das wollen oder nicht. Andererseits werden sie als „G**** Gefahr“[6] dargestellt, einer homogene Masse, welche die weiße Bevölkerungen gesundheitlich, ökonomisch, usw. gefährden.[7] Geschlechtsspezifisch werden asiatisch weiblich gelesene Menschen hypersexualisiert und ihnen Eigenschaften wie „gehorsam“ und „unterwürfig“ zugeordnet, während asiatische männlich gelesene Menschen, je nach Narrativ, eher als de-sexualisiert dargestellt werden.

Weiße Menschen glauben, dass asiatisch gelesene Menschen sich in ihre Gesellschaft integrieren wollen. Aufgrund des existierenden Rufes der asiatisch gelesenen Menschen sind weiße Menschen nicht dagegen, sie in ihre Gruppen aufzunehmen. Dadurch scheinen asiatisch gelesene Menschen leichter der weißen Dominantgesellschaft anzugehören als andere BIPoC. Tatsächlich werden sie in dieser Gesellschaft jedoch als „forever foreigners“ angesehen und erfahren verschiedene Formen von Marginalisierung und Ausgrenzung.[8]

Die stereotypisierten Darstellungen, die Asien aus westlichem Blick zugeschrieben werden, stehen im Zusammenhang mit dem Konzept des „Orientalismus“ von Said. Ihm zufolge definiert der Westen sich selbst als überlegene Zivilisation, den Osten dagegen als „exotische“ und „minderwertige, unterlegende“ Zivilisation und den Osten als „Andere“, die „Uns“ ständig bedrohen. Mit diesen in westlichen Gesellschaften tief verwurzelten orientalistischen Ideen sind die asiatisch gelesenen Menschen den Weißen unterlegene und dauerhaft bedrohliche Ausländer:innen, unabhängig davon, wie lange sie in Deutschland leben, ob sie in Deutschland geboren sind, oder wie gut sie Deutsch können und wie gut sie in die deutsche Gesellschaft integriert sind.

Einige Wissenschaftler:innen behaupten, dass die positive Zuschreibung (asiatisch gelesene Menschen als „Vorzeigemigrant:innen“) auch wie ein „camouflaged Orientalism“ wirkt. Dies liegt daran, dass Druck auf asiatisch gelesene Menschen ausgeübt wird, sich „vorbildlich“ zu verhalten und sich an die weiße Dominantgesellschaft anzupassen. „G**** Gefahr“ hingegen ist ein negativerer und deutlich rassistischerer Ausdruck und spiegelt sehr direkt den Orientalismus wider. Hierbei werden asiatisch gelesene Menschen erniedrigt, da sie kulturell und politisch den Weißen unterlegen und dabei bedrohlich für Weiße seien.[9] Diese beiden Narrative markieren asiatisch gelesenen Menschen als permanente „Ausländer:innen“ oder „Andere“, die sich nie in Weiße dominierende Gesellschaft integrieren. Dieser Blick auf Asiatinnen und Asiaten kommt im Alltag in Form von rassistischer Mikroaggression zum Ausdruck, in einer nationalen Krise tritt er jedoch in einer kollektiveren und gewalttätigeren Form auf.

Ein Beispiel hierfür ist die Covid-19-Pandemie. Während der Pandemie verbreiteten sich in den deutschen Medien negative Verschwörungstheorien über China, was zu einem Anstieg der Antichina- und Antiasien-Stimmung führte. Infolgedessen sind nicht nur Chinesinnen und Chinesen, sondern auch alle asiatische wahrgenommenen Menschen von Gewalt und Diskriminierung betroffen, weil sie „wie Chinesinnen und Chinesen aussehen“ oder weil die falsche Vorstellung besteht, dass alle Asiatinnen und Asiaten aus China kommen.

Antiasiatischer Rassismus geschieht aus solchen falschen Darstellungen in sehr umfangreichen Formen, z.B. verbalen Mikroaggressionen, struktureller Diskriminierung und körperlichen Angriffen, oder im schlimmsten Fall sogar Mord. In diesem Kontext fand eine Rassifizierung und Kulturalisierung eines biologischen Phänomens statt. Der Virus wurde asiatisch gelesenen Körpern zugeschrieben und asiatisch gelesenen Menschen wurde die Schuld für die vermeintliche Verbreitung des Virus zugewiesen. Asiatinnen und Asiaten erleben in Krisenzeiten „Othering“ von anderen ethnischen Gruppen. Durch „Othering“ werden sie für ihre Lebensweise und ihre kulturellen Merkmale verurteilt, stigmatisiert und für das Verursachen und Verbreiten der Krise verantwortlich gemacht. Dies impliziert, dass Asiatinnen und Asiaten nicht als Mitglieder:innen der deutschen Gesellschaft anerkannt werden, sondern Andere sind, die jederzeit ausgeschlossen werden können, wenn die Dominanzgesellschaft sie nicht mehr will.[10] Covid-19 deutet in verschiedenen Formen von Othering und Rassismus an, dass Asiatinnen und Asiaten in Deutschland immer noch als permanente Ausländer:innen gelten und dabei ihre eigene Erfahrungen ignoriert wird.

4. Ausblick

Rassistische Mikroaggressiontritt normalerweise in interpersoneller Kommunikation auf. Dabei wird sie möglicherweise nicht als rassistische Haltung wahrgenommen und ihre Auswirkung auf die Betroffenen wird unterschätzt. Allerdings kann sich daraus eine kollektive, gewalttätige und strukturelle Form von Rassismus ergeben.

Das Problem mit rassistischer Mikroaggression und antiasiatischem Rassismus besteht darin, dass sie weniger im Vergleich zu Rassismus gegen andere BIPoC erforscht und erkannt wird. Aufgrund des Blicks, dass Asiatinnen und Asiaten vorbildlich sein sollen, wird ihr Leben in der deutschen Gesellschaft unsichtbar. Dadurch bleibt die antiasiatische Diskriminierung, sowie ausgrenzende Situationen gegenüber Asiatinnen und Asiaten, unsichtbar. Das lässt sich unter anderem auf den Mangel an inhaltlicher und personeller Diversität in verschiedenen Bereichen zurückführen. Insbesondere werden Asiatinnen und Asiaten in Deutschland in der Wissenschaft, in Bildungsinstitutionen, in den Medien und in der Kultur immer noch zu wenig repräsentiert. Sie sind z.B. in den meisten Medien abwesend oder erscheinen in einer Art, in der bestimmte Stereotypen verstärkt werden, wie beispielsweise als „token asian“. Es ist sehr wichtig zu repräsentieren und darzustellen, dass Asiatinnen und Asiaten an vielfältigen und vielseitigen Orten auf verschiedene Weise existieren. Dadurch können ihre Existenz und ihr Leben in der Gesellschaft sichtbar werden und die Öffentlichkeit wird gegenüber antiasiatischem Rassismus sensibilisiert.

Seit dem Beginn der Pandemie hat antiasiatischer Rassismus in Deutschland bewirkt, dass sich bundesweit Aktivistinnen und Aktivisten aus der Asiatisch-Deutschen Community vernetzen und sich gemeinsam gegen Rassismus engagieren.[11] Die Selbstbezeichnung „Asiatische Deutsche“ wird verwendet, damit viele asiatisch wahrgenommenen Menschen sich politisch gemeinsam positionieren und solidarisieren, um gegen Rassismus zu kämpfen.[12] Sich  als Asiatinnen und Asiaten zu identifizieren kann einerseits dazu führen, sich durch ethno-national-kultureller Kategorisierung von anderen Gruppen abzugrenzen, anderseits mit dieser gemeinsamen Bezeichnung ein Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl hervorbringen.[13] Dahingehend können Asiatinnen und Asiaten sich zusammenfinden und gegenseitig unterstützen, indem sie gemeinsam öffentlich ihre Erfahrungen teilen und andere Erfahrungen hören. Dadurch können sie stolz darauf bleiben, dass sie Asiatinnen und Asiaten sind.

Literaturverzeichnis

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Ha, Kien Nghi: Asiatische Deutsche: Vietnamesische Diaspora and Beyond, 15.01.2021. S. 212-215

Li, Yao/Harvey L. Nicholson: When “model minorities” become “yellow peril”—Othering and the racialization of Asian Americans in the COVID‐19 pandemic, in: Sociology Compass, Wiley-Blackwell, Bd. 15, Nr. 2, 01.02.2021, [online] doi:10.1111/soc4.12849, S. 1-13

Nguyen, Kimiko Suda |  Sabrina J. Mayer |, Christoph: Antiasiatischer Rassismus in Deutschland, in: bpb.de, 07.12.2021, [online] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316771/antiasiatischer-rassismus-in-deutschland/.

Pierce, Chester M./Jean V. Carew/Diane Pierce-Gonzalez/Deborah Wills: An Experiment in Racism, in: Education and Urban Society, SAGE Publishing, Bd. 10, Nr. 1, 01.11.1977, [online] doi:10.1177/001312457701000105, S. 61–87.

Spanierman, Lisa B./D Anthony Clark: Racial Microaggressions: Empirical Research that Documents Targets’ Experiences, in: Gesellschaft der Unterschiede, Transcript Verlag, 06.02.2023, [online] doi:10.14361/9783839461501-008, S. 231–250.

Sue, Stanley/Christina M. Capodilupo/Gina C. Torino/Jennifer Bucceri/Aisha M. B. Holder/Kevin L. Nadal/Marta Esquilin: Racial microaggressions in everyday life: Implications for clinical practice., in: American Psychologist, American Psychological Association, Bd. 62, Nr. 4, 01.05.2007, [online] doi:10.1037/0003-066x.62.4.271, S. 271–286.


[1] Vgl. Bildung, 2022.

[2] Vgl. Spanierman/Clark, 2023. S. 231

[3] Vgl. Sue et al., 2007. S. 274f

[4] Vgl. Spanierman/Clark, 2023. S. 232f

[5] vgl. Nguyen, 2021.

[6] Der Begriff „G**** Gefahr“ ist ein Pejorativum aus der Kolonialzeit gegen (süd-)ostasiatische Völker und eine diskriminierende Bezeichnung für die Betroffenen, deshalb möchte ich in diesem Essay nicht direkt verwenden.

[7] vgl. Nguyen, 2021.

[8] Vgl. Li/Nicholson, 2021. S. 2

[9] vgl. Li/Nicholson, 2021. S. 3f

[10] vgl. Li/Nicholson, 2021. 4ff

[11] vgl. Nguyen, 2021.

[12] Vgl. Administrator, 2022.

[13] vgl. Ha, 2021. S. 213


Quelle: JeongA Hwang, Where Are You From? Inwieweit hinter dieser Frage Rassismus steckt, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 20.07.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=380

Stereotype Threat

Beeinflussung der akademischen Identität durch Stereotype und ihre Auswirkungen

Alina Wusits (SoSe 2022)

Einleitung

Bevor ich auf das eigentliche Hausarbeitsthema zu sprechen komme, möchte ich ein paar Worte zu dem Gebrauch von meiner Schrift und Sprache verlieren. Ich habe mich bewusst dafür entschieden den englischen Ausdruck People of Color (Abkürzung: PoC) zu verwenden, da es sich hierbei um eine internationale Selbstbezeichnung von Menschen handelt, welche Rassismus erfahren. Der Begriff ist emanzipatorisch, solidarisch und verdeutlicht eine politisch gesellschaftliche Position. Außerdem stellt sich die Bezeichnung gegen diskriminierende Fremdbezeichnungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft (Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit, (o. D.)). Darüber hinaus verwende ich genderneutrale Sprache, da es mir sehr wichtig ist, dass sich alle Menschen, die diesen Text lesen, angesprchen fühlen.

Ich habe mich für das Thema Stereotype Threat entschieden, weil ich die Einteilung von Menschen in Kategorien und die Konsequenzen davon im Allgemeinen sehr spannend finde. Mit der Gruppierung von Menschen und der Zuschreibung von Erwartungen und Eigenschaften entstehen Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung. Der Stereotype Threat Effekt ist eine von vielen Folgen und kann weitreichende Konsequenzen für das Leben einer Person haben. Das Wissen darüber, dass es diesen Effekt gibt, regt zum Nachdenken an und ermöglicht es, diesem Phänomen, zusammen mit anderen Interventionsmaßnahmen, entgegenzuwirken.

In meiner Hausarbeit gehe ich vor allem auf eine Studie von Shelvin et al. (2014) ein, die sich mit Stereotype Threat von PoC Kindern beschäftigt. Die Auswirkungen dieses Phänomens haben beginnend im Kindesalter weitreichende Folgen auf das Leben einer Person of Color. Im Allgemeinen kann man den Effekt aber in ganz unterschiedlichen Gruppen und Situationen beobachten. Beispielsweise gibt es zahlreiche Studien, die sich mit den Auswirkungen des Effekts bei Schülerinnen[1], homosexuellen Menschen oder älteren Personen beschäftigen.

Definitionen

Definition Stereotyp

Menschen werden im Alltag ständig aufgrund bestimmter Merkmale und Eigenschaften zu sozialen Kategorien und Gruppen zusammengefasst, da Kategorisierungen dabei helfen die Realität zu ordnen, zu strukturieren und zu vereinfachen. Jede Person ist Teil mehrerer sozialer Kategorien, ganz unabhängig davon, ob dies gewollt oder ungewollt, beziehungsweise bewusst oder unbewusst geschieht. Abhängig von der jeweiligen Kategorie hat die Gesellschaft unterschiedliche Erwartungen an die Mitglieder einer Gruppe. Jedoch trifft meist nur ein kleiner Anteil der erwarteten Merkmale wie Verhaltensweisen, Vorlieben, Einstellungen etc. zu und die zusätzlichen Erwartungen werden der Gruppe fälschlicherweise zugeschrieben. Auf diesem Wege entstehen stereotype Muster, welche automatisch aktiviert werden, wenn wir mit Mitgliedern einer bestimmten Kategorie interagieren. Stereotype sind eine Kategorisierung, die den weiteren Wahrnehmungen und Informationen eine Richtung geben soll. Ein Stereotyp ist zusammenfassend gesagt eine verallgemeinernde Beurteilung, die mit bestimmten Erwartungen und Informationen einhergeht. Der Prozess der Stereotypaktivierung erfolgt meist automatisch und hilft dabei, die Beobachtungen der Realität einzuschätzen (Garms-Homolová, 2021).

Die meisten Menschen haben das Gefühl zu wissen, was Stereotype sind. Hinton (2019) bringt die Aussagen von verschiedenen Definitionen sowohl in Wörterbüchern als auch in akademischen Quellen auf den Punkt. Zusammenfassend werden Stereotype als eine fixierte, stark vereinfachte und übergeneralisierte Vorstellung über eine Person oder Personengruppe beschrieben, welche oft im Zusammenhang mit Vorurteilen und Diskriminierung stehen. Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass Stereotype in einer Kultur entstehen und weitergegeben werden und es sich nicht um die Vorstellungen nur eines Individuums handelt.

Die Bedeutung des Begriffs Stereotyp wird nochmal klarer, wenn man sich mit seinem sprachlichen Ursprung auseinandersetzt. Das griechische Wort stereos bedeutet starr, hart und fest; typos heißt soviel wie Entwurf, feste Norm und charakteristisches Gepräge (Petersen & Six, 2008).

Definition Stereotype Threat

Steele (1997) definiert Stereotype Threat als eine sozialpsychologische Bedrohung, die entsteht, wenn sich eine Person in einer Situation befindet oder etwas Bestimmtes tut und es ein negatives Stereotyp gegenüber der eigenen Gruppe gibt. Es handelt sich hierbei, um einen generellen situationsabhängigen Druck, der von jeder Gruppe erlebt werden kann, wenn das Wissen eines negativen Stereotyps der eigenen Gruppe in der Gesellschaft weit verbreitet ist. Zu betonen ist hier, dass die betroffene Person selbst das Stereotyp nicht glauben muss. Ausschlaggebend ist, dass der betroffenen Person bewusst ist, dass andere Menschen dieses bestimmte Stereotyp über eine Kategorie von Menschen haben.

Steele and Aronson (1995) nehmen an, dass Menschen Bedrohung verspüren, wenn sie in einer bestimmten Situation die Befürchtung haben, auf der Grundlage von negativen Stereotypen beurteilt zu werden. Folglich wird versucht, durch das eigene Handeln diese negativen Stereotype der Eigengruppe nicht willentlich zu bestätigen.

Schmader et al. (2008) gehen davon aus, dass die Bedingung der Stereotype Threat die Leistung über drei verschiedene und miteinander verbundene Mechanismen stört. Zum einen beeinträchtigt eine physiologische Stressreaktion die präfrontale Verarbeitung und zum anderen haben Menschen die Tendenz ihre Leistung aktiv zu überwachen. Als dritter Punkt kommen die Bemühungen, negative Gedanken und Emotionen als Selbstregulation zu unterdrücken, hinzu. Diese drei Mechanismen verbrauchen alle exekutive Ressourcen, welche jedoch für eine gute Leistung bei kognitiven, aber auch bei sozialen Aufgaben gebraucht werden. Darüber hinaus stört die aktive Überwachung der Leistung die Ausführung von sensomotorischen Aufgaben.

Ausgewählte Studie zu Stereotype Threat

Stereotype threat in African American children: The role of Black identity and stereotype awareness

Kristal Hines Shelvin, Rocío Rivadeneyra, Corinne Zimmerman (2014)

Shelvin et al. (2014) gehen davon aus, dass für das Auftreten der stereotypen Bedrohung entscheidend ist, dass die Teilnehmenden wissen, dass ihre Leistung bewertet wird. PoC Kinder sind sich sehr bewusst, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen im Schulkontext kontinuierlich bewertet werden. Aus diesem Grund hat jeder Schultag das Potenzial, eine stereotype Bedrohungssituation mit sich zu bringen und es ist zu erwarten, dass PoC Kinder schlechter bei einer akademischen Aufgabe mit stereotyper Bedrohung abschneiden, verglichen mit einer Kontrollbedingung ohne stereotyper Bedrohung. Nach Schmader et al. (2008) wird die stereotype Bedrohung durch eine Diskrepanz zwischen dem Selbstkonzept einer Person, der Gruppe, zu der sich die Person zugehörig fühlt, und ihren Fähigkeiten ausgelöst.

Die Studie von Shelvin et al. (2014) untersucht die Auswirkungen von stereotypen Bedrohungen auf die schulischen Leistungen von 186 PoC Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren. Die Autor*innen gehen davon aus, dass die Kinder in diesem Alter schulischen Erfolg wertschätzen sollten und sich ausreichend in der Schule engagieren. Darüber hinaus wurde auch das Wissen spezifischer rassistischer Stereotype und die Identitätsprofile von den Teilnehmenden untersucht, welche das Potenzial haben, die Anfälligkeit für das Gefühl einer Bedrohung durch Stereotype zu mildern.

Die teilnehmenden Kinder haben den Multidimensional Inventory of Black Identity-Teen Test ausgefüllt, der Aspekte der Black racial identity misst. Die Fragen beziehen sich auf Gefühle zu PoC als eine Gruppe, Ansichten über die gesellschaftliche Meinung zu PoC, die Wichtigkeit der Hautfarbe für das Selbstkonzept und den Umgang mit Problemen, die PoC haben. Die Teilnehmenden haben verschiedene Aussagen, wie zum Beispiel „I am proud to be Black“ auf einer Likert Skala von 1 (really disagree) bist 5 (really agree) bewertet.

Im Stereotype Awareness Task sollten die teilnehmenden Kinder alle Stereotype, die sie über PoC wissen, auflisten. Die Teilnehmenden haben durchschnittlich 5,1 Stereotype aufgelistet, wobei sieben Kategorien besonders oft vorgekommen sind: “Blacks are less intelligent than Whites”, “Blacks are worthless”, “Blacks are poor”, “Blacks are unattractive”, “Blacks are criminals”, “Blacks are violent”, “Blacks are good athletes”. Das Stereotyp “Blacks are less intelligent than Whites” war mit 44% das am meist genannte Stereotyp und ist darüber hinaus das relevanteste in Bezug auf die Stereotype Threat Aktivierung bei der Absolvierung akademischer Aufgaben. Dies zeigt sehr gut, dass viele Kinder bereits im Alter von 10 Jahren, das in der Gesellschaft verbreitete Wissen von Stereotype über ihre ethnische Gruppe besitzen.

Für die akademische Aufgabe wurde der Subtest Lesen / Vokabular, welcher 30 Items umfasst, des Test of Adolescent Langugae TOAL verwendet. Der Auftrag bestand darin, aus einer Zielwortliste mit fünf Wörtern, jene zwei Wörter auszuwählen, die am ehesten zu dem durch die Zielwortliste repräsentierten Konzept passen. Beispielsweise enthält die Zielwortliste die Begriffe Blau, Grün, Orange und Braun und die Kinder mussten aus der folgenden Liste (z.B. Fuchs, Auto, Rot, Computer, Schwarz) die passenden Wörter auswählen. In diesem Bespiel wäre die richtige Antwort Rot und Schwarz, da in der Zielwortliste verschiedene Farben aufgezählt werden. Die Schwierigkeit der Items steigt mit der Testlänge. Eigentlich ist der Test für Kinder von 12 bis 18,5 Jahren konzipiert. Er wurde dennoch ausgewählt, weil das Ziel der Studie darin bestand, eine Aufgabe zu haben, welche gleichzeitig herausfordernd und akademisch ist.

Es durften nur jene Kinder an der Studie teilnehmen, welche eine schriftliche Zustimmung der Eltern erhalten und ihre eigene Zustimmung gegeben haben. Im ersten Abschnitt der Studie füllten die Kinder den Stereotype Awareness Task, den Multidimensional Inventory of Black Identity-Teen Test und ein demografisches Formular aus. Der zweite Abschnitt fand ein bis zwei Wochen später statt. Die Teilnehmenden wurden per Zufall einer stereotypen Bedrohungsbedingung oder einer Kontrollgruppe zugeordnet. Daraufhin absolvierten die Kinder in beiden Gruppen den Test of Adolescent Langugae TOAL. Der Stereotype Threat Gruppe wurde gesagt, dass der Test die Intelligenz misst und die Ergebnisse von PoC und weißen Kindern verglichen werden. Der Kontrollgruppe wurde gesagt, dass einzelne Fragen getestet werden, um zu entscheiden, ob sie auch in zukünftigen Tests verwendet werden sollten. Abschließend wurde allen Kindern mitgeteilt, dass sie ihr Bestes geben sollten.

Die Ergebnisse des Test of Adolescent Language TOAL wurden einer 2 (Stereotype Threat: threat vs. neutral) x 2 (Intelligence Stereotype Awareness: stereotype listed vs. stereotype not listed) ANCOVA unterzogen. Man hat einen Haupteffekt der Stereotype Threat gefunden. Kindern in der Threat Bedingung haben niedrigere Ergebnisse im TOAL, im Vergleich zur neutralen Bedingung, erzielt. Eine Analyse des Einzeleffekts hat gezeigt, dass der Stereotype Threat Effekt nur dann eine Wirkung hatte, wenn das Intelligenzstereotyp salient war.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Stereotype Threat ein Faktor im akademischen Alltag von PoC Kindern spielt. Jene Kinder, die in der klassischen Stereotype Threat Bedingung waren, erzielten schlechtere Ergebnisse in akademischen Aufgaben verglichen mit jenen Kindern, die einer neutralen Bedingung ausgesetzt waren. Außerdem wurde gefunden, dass individuelle Differenzen, wie das Bewusstsein von Stereotypen und das Identitätsgefühl mit der Gruppe von PoC den Effekt der Stereotype Threat moderieren. Wie Steele (1997) in seiner Definition schon gezeigt hat, muss den Individuen das Stereotyp bezüglich der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, bewusst sein, damit es zu einem Stereotype Threat Effekt kommt. Dies wurde auch in der Studie gezeigt, denn nur jene Kinder, die spontan das Stereotyp “Blacks are less intelligent than Whites“ aufgelistet haben, haben die erwarteten Leistungsunterschiede in der akademischen Aufgabe gezeigt. Auch wenn es Unterschiede in der Leistung gab, ist die Studie von noch stärkeren Diskrepanzen, auf Basis von älteren Studien, ausgegangen.

Unter dem Stereotype Threat Effekt kommt es auch dazu, dass PoC es vermeiden, Vorlieben für stereotype Aktivitäten, wie zum Beispiel das Mögen von Jazz, Hip Hop und Basketball, zu äußern. Diese Vermeidung zeigt den Wunsch auf, nicht durch den Blickwinkel von rassistischen Stereotypen gesehen werden zu wollen (Steele & Aronson, 1995).

Folgen von Stereotype Threat

Vulnerable Faktoren

Situationsbedingte Hinweisreize können sowohl die Aktivierung von Stereotypen der eigenen sozialen Identität beeinflussen, als auch die Wahrscheinlichkeit von schlechteren Leistungen als Folge des Stereotype Threat Effekts (Fuligni, 2007). Sowohl akademische Stereotype als auch akademische Selbstkonzepte beeinflussen und formen die akademischen Identitäten von Kindern (Bowe et al., 2017). Wenn eine Person of Colour als Minderheit in einer Gruppe versucht, sich den Text einer verbalen Präsentation zu merken, gelingt dies nicht so gut. Im Vergleich dazu lässt sich dieser Effekt nicht beobachten, wenn die Mehrheit der Teilnehmenden auch PoC sind (Sekaquaptewa & Thompson, 2002).

Die alleinige Angabe des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft vor der Durchführung eines Tests kann zu geringerer Leistung führen, da dadurch die soziale Identität der Gruppe salient gemacht wird. (Fuligni, 2007)

Protektive Faktoren

Das Auffinden von protektiven Faktoren ist der Schlüssel zum Durchbrechen von Stereotype Threat, der Nichtidentifikation mit akademischen Leistungen und somit der Weg, die Lücke von Leistungsunterschieden zu schließen (Shelvin et al., 2014).

Aronson et al. (2002) haben in einer Feldstudie gezeigt, dass PoC Studierende der Stanford Universität signifikant höhere Noten in dem Semester hatten, in dem ihnen gelehrt wurde, dass Intelligenz verformbar ist. Darüber hinaus ist der Aspekt interessant, dass die Personen nicht weniger Stereotype aus ihrer Umwelt berichten. Das bedeutet, dass die Interventionsmaßnahme nicht die Wahrnehmung der stereotypen Umwelt verändert hat, sondern die Vulnerabilität gegenüber Stereotype.

Eine andere mögliche Interventionsmaßnahme könnte darüber hinaus noch die Förderung der wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen den Gruppen sein. Rosenthal and Crisp (2006) haben in drei Experimenten die Hypothese untersucht, dass das Verwischen von Intergruppen-Grenzen den Stereotype Threat Effekt verringern wird. Die erste Studie hat ergeben, dass Frauen[2], die Charakteristiken, die von beiden Geschlechtern geteilt werden, aufgelistet haben, weniger Präferenzen für stereotyp weibliche Berufskarrieren haben, als Teilnehmende der Kontrollbedingung. Im zweiten Experiment wurde offenbart, dass Versuchspersonen, die über gemeinsame Charakteristiken nachgedacht haben, mehr richtige mathematische Fragen beantwortet haben. Im dritten Experiment wurde eine spezifische Bedrohungsmanipulation hinzugefügt. Teilnehmende, die die Aufgabe zu geteilten Charakteristiken vor der Stereotype Threat Bedingung durchgeführt haben, haben signifikant mehr mathematische Fragen richtig beantwortet als in der Kontrollbedingung und der ausschließlichen Threat Bedingung. All diese Ergebnisse unterstützen die Idee, dass Interventionsmaßnahmen zur Reduzierung von Intergruppenvoreingenommenheit erfolgreich zur Reduktion des Stereotype Threat Effekts eigesetzt werden können.

Konsequenzen von Stereotype Threat

Eine sehr weitreichende und langfristige Konsequenz von Stereotype Threat für die soziale Identität kann sein, dass sich Personen in einer akademischen Gemeinschaft unwohl oder sogar fehl am Platz fühlen. Stereotype können in Individuen ausreichend negative Gefühle erzeugen, dass diese ihre professionellen Identitäten ändern. Dies kann zur Folge haben, dass sich professionelle und berufliche Karrieren ändern und neue Karrierewege in einem anderen Feld gesucht werden. Wenn das Gebiet jedoch so fundamental, wie beispielsweise Mathematik ist, schließt diese Vermeidung viele Türen für potenziell lukrative Karrieren, beispielsweise im Bereich der Wissenschaft oder Technik. Eine kurzfristige psychologische Anpassungsfunktion an Stereotype Threat wäre die Strategie des Disengagements[3]. Bei dieser Strategie wird das Selbstwertgefühl psychologisch von den Bereichen gelöst, in denen Personen das Ziel von negativen Stereotypen, Vorurteilen und Benachteiligung sind. Diese defensive Distanzierung des Selbstwertgefühls von Erlebnissen in einem bestimmten Bereich führt dazu, dass das Selbstwertgefühl nicht von Erfolgen oder Misserfolgen in diesem bestimmten Bereich abhängt (Major et al., 1998). Hier wird die Abhängigkeit der eigenen Selbstansichten auf die eigene Leistung abgeschwächt (Fuligni, 2007). Die Strategie des Disengagements wird vor allem in Situationen angewendet, in denen eine relativ schlechte Leistung erwartet wird. Darüber hinaus kann die Abgrenzung des Selbstwertgefühls vom Feedback ebenfalls in Situationen auftreten, in denen das gegebene Feedback als voreingenommen gegen die stigmatisierte Gruppe wahrgenommen wird. In manchen Fällen kann dieser Mechanismus auch einen protektiven Faktor darstellen. Beispielsweise waren PoC nicht von negativem Feedback nach einem Intelligenztest betroffen, nachdem sie auf die Möglichkeit einer rassistischen Voreingenommenheit des Tests geprimed wurden. In unserer Gesellschaf sind PoC von Vorurteilen und Diskriminierung betroffen und die Folgen von sich wiederholenden Erfahrungen mit rassistischer Voreingenommenheit und Diskriminierung kann dazu führen, dass sich das Selbstwertgefühl chronisch von der Leistung in intellektuellen Bereichen löst (Major et al., 1998). Dennoch glauben Major et al. (1998), dass es möglich ist, das Selbstwertgefühl von der eigenen Leistung bei beispielsweise einem Intelligenztest zu lösen, gleichzeitig aber Intelligenz zu schätzen und das Gefühl zu haben, dass Intelligenz ein zentraler und wichtiger Teil des Selbstkonzeptes ist.

Literaturverzeichnis

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[1] Ich habe hier bewusst nicht die genderneutrale Ausdrucksform gewählt, da die Studien meist von einer binären Geschlechtseinteilung ausgehen.

[2] Ich verwende hier die binäre Einteilung in Männer und Frauen absichtlich, da die Autor*innen in ihren Studien ebenfalls von einem binären Geschlechtssystem ausgegangen sind.

[3] Ich habe mich hier absichtlich für den englischen Begriff entschieden, da ich der Meinung bin, dass die deutsche Übersetzung nicht vollkommen treffend ist.


Quelle: Alina Wusits, Stereotype Threat: Beeinflussung der akademischen Identität durch Stereotype und ihre Auswirkungen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=281