Die neue Generation Mann? Von Alpha-Männern, Online-coaches und fragile masculinity

Hannah Held, Jule Kocherscheidt, Lino-Noel Leichsenring, Charlotte Riemer (WiSe 2022/23)

Teaser: Online-coaches trainieren dich online, damit du erfolgreich und zum Frauenheld wirst. Die sogenannten "alpha-males" sind kein neues Phänomen, dennoch machen sie sich aktuell online auf Plattformen wie z.B. Tiktok breit. Wer sind diese Trainer*innen? Wer ist Andrew Tate? Und warum sind diese Trainer*innen mit ihrer Methodik so erfolgreich?

Länge: 17:36 Minuten 
Triggerwarning: sexuelle Belästigung, Gewalt, mental health
Der Podcast ist im Rahmen des Seminars “ Gender und Diversity in den Techno-Sciences: Von Sexrobotern, Dating Apps und KI – Eine Podcast Werkstatt“ 
(Dr. Tanja Kubes, Claudia Sommer) entstanden.

 Where Are You From?

Inwieweit hinter dieser Frage Rassismus steckt

JeongA Hwang (WiSe 2022/23)

1. „Where are you from?”

Wie sind meine Erfahrungen mit dieser Frage?

In den 4 Jahren, die ich in Deutschland lebe, bin ich dieser Frage unzählige Male begegnet. In meiner Erinnerung waren die Menschen, die nach meiner Herkunft gefragt haben, meist Weiß. Sie stellten mir unerwartet auf der Straße, in einem Restaurant, in einem Wartezimmer, irgendwo, solche Fragen, ohne dass wir davor ein Gespräch führten. Wenn jemand Deutsch spricht, fragte diese Person mich nicht auf Deutsch „Woher kommst du?“, sondern erstmal immer auf Englisch: „Where are you from?“. 

Einige Male habe ich diese Situation so empfunden, als wolle diese Person mit mir Smalltalk führen. Als dies allerdings immer wieder passierte, fühlte ich mich sehr unwohl. Daher möchte ich in diesem Essay erstens meine Reflexion mit dieser Frage beschreiben und folglich darauf eingehen, warum „Where are you from?“-Frage eine rassistische Frage ist, wie meine ethnische Identität als asiatisch bestimmt wird und welche Konsequenzen racial microaggression im Zusammenhang mit der Fremdzuschreibung mit sich bringen kann.

Reflexion

Ich wurde zuletzt vor zwei Wochen (Mitte April 2023) gefragt, wo ich herkomme. Ich hatte mich in einer Bar mit meinen Freundinnen getroffen. Wir alle kommen aus Südkorea, leben seit einigen Jahren in Deutschland und können Deutsch sprechen. Während wir uns in unsere Sprache unterhielten, kam eine Gruppe von etwa 8-9 gut gekleideten weißen Menschen und nahmen den Platz neben uns ein. Sie schienen unter Kolleginnen und Kollegen zu sein. Ich bemerkte, dass sie sich auf Deutsch unterhielten.

Als eine von uns zum Rauchen kurz weg war, nahm eine Person von ihnen plötzlich einen unserer Stühle weg, obwohl noch viele übrige danebenstanden. Daraufhin sprach eine meiner Freundinnen diese Person an: „Der Stuhl ist besetzt. Sie können daneben einen anderen nehmen.“ Diese reagierte daraufhin lästig und antwortete auf Englisch „I know, I know. I will give it back to her soon.“

Wir fühlten uns gekränkt, taten aber so, als würde es uns nicht stören, weil wir unser gutes Treffen nicht zerstören wollten. In der darauffolgenden Stunde starrte jedoch eine andere Person von ihnen uns an, während wir uns unterhielten, und kam schließlich mit einem entschlossenen Gesicht zu uns und fragte:

„Hey, Where are you from?“

Eine von uns hatte auf Deutsch darauf geantwortet, weil sie schon wusste, dass jene Person Deutsch sprechen kann:

„Aus Berlin.“

Daraufhin dachte diese einen Moment nach:

„Ah, Ihr könnt Deutsch. Ich meinte, wo eure Sprache herkommt.“

Ich fragte mich, warum diese Person uns so was fragte. Aber wir versuchten nett zu bleiben:

„Es ist Koreanisch.“

Nachdem sie unsere Antwort hörte, hat sie mit einem fröhlichen Gesicht zu uns gesagt:

„Achso, Ich habe ähnliche Sprache gehört, als ich in Singapur war!“

Nach der Unterhaltung mit dieser Person hatte ich unerklärlich schlechte Laune bekommen und unser angenehmer Abend war ruiniert. Ich kann nicht anders als zu wiederholen, warum sie uns gefragt hat, woher wir kommen, warum wir ihr das sagen müssen, und was für ein Zusammenhang zwischen Korea und Singapur für diese Person besteht, dass sie uns das ohne Überlegung fragen kann. Nach kurzem Nachdenken kam ich zum Ergebnis, dass solche Haltung gegenüber uns eindeutig rassistisch ist und dass diese Person uns aufgrund unseres Aussehens als asiatisch betrachtet hat. Jedoch meinte eine von uns, dass wir nicht beleidigt sein sollten und dass diese Person uns nicht mit schlechten Absichten gefragt hat. Daher musste ich mich nochmal fragen, ob mein schlechtes Gefühl richtig war.  

2. Was stört mich an dieser Frage?

Racial Microaggression

Rassismus ist eine Form von Diskriminierung. Rassismus richtet sich vorwiegend gegen BIPoC (Der Begriff bezieht sich auf Schwarze, Indigene und People of Color.) um diese aufgrund ihrer Herkunft, Farbe, Haare, Namen, Sprache, usw. zu entwerten, abzugrenzen und zu diskriminieren, ohne die individuellen Eigenschaften von betroffenen Menschen zu berücksichtigen.[1] Rassistische Handlungen können nicht nur Körperverletzung, verbale Herabsetzung und feindselige Darstellungen, sondern auch Komplimente und Gefälligkeiten sein.

Den Begriff Mikroaggressionen verwendete Harvard Professor Dr. Chester M. Pierce zum ersten Mal im Jahr 1970, um die Angriffe auf die Würde schwarzer Menschen bei Begegnungen zwischen weißen und schwarzen Menschen im US-Kontext zu bezeichnen und darzustellen. Laut Pierce sind Mikroaggression Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation, die als übergriffig wahrgenommen werden und die der andere Person bewusst oder unbewusst abwertende Botschaften übermitteln, welche sich auf deren Gruppenzugehörigkeit beziehen.[2] In seinem Artikel An Experiment In Racism TV Commercials (1977) beschrieb er,“the chief vehicle for proracist behaviors is microaggression” (1977: 65).

Über die Jahre wurde dieser Begriff und diese Form von Rassismus weiter erforscht. Nach Solorzano, Ceja und Yosso wurde rassistische Mikroaggression wie folgt definiert: “subtle insults (verbal, non-verbal, and/or visual) directed toward people of color, often automatically or unconsciously” (2000: 60). Derald W. Sue teilt mit seinen Kolleginnen und Kollegen interpersonelle rassistische Mikroaggression in drei Ebenen ein: Erstens bezeichnen Mikroangriffe (microassaults) vorsätzliche diskriminierende Angriffe, die den Angegriffenen verbal oder nonverbal herabsetzen oder verletzen. Dies gleicht dem klassischen und offenen Rassismus, weshalb sie in der Forschung zur Mikroaggression selten erwähnt werden. Zweitens sind Mikrobeleidigungen (microinsults) unhöfliche oder unsensible, instinktlose Äußerungen, die die Herkunft oder Identität des Angegriffenen betreffen. Sie sind unterschwellig und deuten an, dass die Angegriffenen weniger wert sind. Schließlich beziehen sich Mikroentwertungen (microinvalidations) auf Aussagen, die die rassistischen Erfahrungen von BIPoC ignorieren oder entkräften. Wenn die Angegriffenen dies verwerfen, können die Angreifer diese unter dem Deckmantel des „Kompliments“ (z.B. Du kannst gut Deutsch!), des „gut gemeinte“ Widerstandes (z.B. Ich sehe keine Farben) oder der Zurechtweisung (z.B. sei nicht so sensibel!) zurückschlagen. Die Frage „Woher kommst du?“/ „Where are you from?“ gehört dazu.[3]

Rassistische Mikroaggressionen treten in den einzelnen Interaktionen zwischen den Täter:innen und den Opfern auf, weshalb sie als ‚mikro“ bezeichnet werden. Darüber hinaus kann es passieren, dass weder die Täter:innen noch die Opfer sie als eine Form von Aggressionen bemerken, da die Täter:innen sich scheinbar unabsichtlich rassistisch äußern. Williams demonstrierte jedoch, dass rassistische Mikroaggression tatsächlich beleidigend und aggressiv genug sei, weil die Opfer vorher bereits Mikroaggression erlebt hätten, unabhängig davon, ob die Täter:innen absichtlich oder unabsichtlich agieren. In der psychologischen Forschung wurde festgestellt, dass Mikroaggressionen auch einen ebenso großen psychologischen Einfluss auf die Opfer haben, wie andere Formen von Aggressionen. Neben den Auswirkungen auf die Opfer spielen rassistische Mikroaggressionen unter Interaktionen zwischen Weißen und BIPoC eine große Rolle, da die weiße Vorherrschaft unbewusst gestützt und bestärkt wird. Die Täter:innen demütigen oft unbeabsichtigt, weshalb die Opfer in einem Dilemma stecken und sich fragen, ob ihnen wirklich Rassismus widerfahren ist. Ein wichtiger Punkt zum Erkennen der rassistischen Mikroaggression ist es, dass sie aus der Perspektive des Opfers betrachtet werden muss.[4] Dementsprechend sind rassistische Mikroaggressionen Aussagen von Täter:innen, die absichtlich oder unabsichtlich erfolgen, wobei sie die Opfer abwerten und deren Identitäten, Erfahrungen und Wissen unsichtbar machen.

3. Was heißt eigentlich, Asiat:innen zu sein?

Asiatische Identität

Seitdem ich in Deutschland lebe, habe ich durch solche oben erwähnten Erfahrungen bemerkt, dass ich hier sowohl als Fremde, Ausländerin oder auch als Asiatin angesehen werde. Ich muss mich immer wieder fragen, warum ich nicht als eine Koreanerin, sondern als eine Asiatin wahrgenommen werde und was eigentlich asiatisch bedeutet.

Asiatische Identität ist eine ethnische Identität, die aufgrund verschiedener Aspekte wie z.B. Herkunft, Kultur, Geschichte und Religion als asiatisch selbst bezeichnet wird, oder vor allem aufgrund des Aussehens von anderem Individuum und andere ethnischen Gruppe als asiatisch zugeschrieben und abgegrenzt wird. Eine asiatisch gelesene Person kann deshalb von anderen als Mitglied einer asiatischen Gruppe behandelt werden, ohne mit dieser wirklich verbunden zu sein oder sich selbst dieser verbunden zu fühlen.

Jedoch ist Asien der größte Kontinent unserer Erde. Er vereint verschiedenen Nationen, Kulturen, Geschichten und Religionen und kann deshalb nicht einfach einheitlich angesehen werden. Nun kommt die nächste Frage: Welche Personen sind gemeint, wenn über „Asiatinnen und Asiaten“ gesprochen wird?

In Deutschland werden Menschen aus Westasien in großem Zusammenhang mit der Religion eher als muslimisch wahrgenommen, obwohl der Islam nicht bei allen westasiatischen Ländern als offizielle Religion gilt. Außerdem werden Menschen aus Zentralasien eher mit der ehemaligen Sowjetunion verbunden wahrgenommen. Welche menschliche Gruppe mit dem Asiatischen verknüpft sind, wurde von einer Befragung erforscht. Zusammengefasst resultiertet daraus, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung vor allem Menschen aus China, Japan, Südkorea, Thailand, Indien und Vietnam mit Asien verknüpft.[5]

Asiant:innen sind Forever Foreigners

An dieser Stelle möchte ich mich damit befassen, wie asiatisch wahrgenommene Menschen in der weißen Dominanzgesellschaft stereotypisiert und dargestellt werden, welche Bedeutung dahintersteckt und welche Konsequenz dies mit sich bringt, beispielsweise für die Corona-Pandemie.

Asiatisch gelesene Menschen in Deutschland oder in anderen weißen Dominanzgesellschaften werden in widersprüchlichen Dimensionen sowohl positiv als auch negativ wahrgenommen. Einerseits werden sie als „Vorzeigemigrant*innen“ beschrieben und mit anderen (post-)migrantischen Gruppen verglichen, egal ob sie das wollen oder nicht. Andererseits werden sie als „G**** Gefahr“[6] dargestellt, einer homogene Masse, welche die weiße Bevölkerungen gesundheitlich, ökonomisch, usw. gefährden.[7] Geschlechtsspezifisch werden asiatisch weiblich gelesene Menschen hypersexualisiert und ihnen Eigenschaften wie „gehorsam“ und „unterwürfig“ zugeordnet, während asiatische männlich gelesene Menschen, je nach Narrativ, eher als de-sexualisiert dargestellt werden.

Weiße Menschen glauben, dass asiatisch gelesene Menschen sich in ihre Gesellschaft integrieren wollen. Aufgrund des existierenden Rufes der asiatisch gelesenen Menschen sind weiße Menschen nicht dagegen, sie in ihre Gruppen aufzunehmen. Dadurch scheinen asiatisch gelesene Menschen leichter der weißen Dominantgesellschaft anzugehören als andere BIPoC. Tatsächlich werden sie in dieser Gesellschaft jedoch als „forever foreigners“ angesehen und erfahren verschiedene Formen von Marginalisierung und Ausgrenzung.[8]

Die stereotypisierten Darstellungen, die Asien aus westlichem Blick zugeschrieben werden, stehen im Zusammenhang mit dem Konzept des „Orientalismus“ von Said. Ihm zufolge definiert der Westen sich selbst als überlegene Zivilisation, den Osten dagegen als „exotische“ und „minderwertige, unterlegende“ Zivilisation und den Osten als „Andere“, die „Uns“ ständig bedrohen. Mit diesen in westlichen Gesellschaften tief verwurzelten orientalistischen Ideen sind die asiatisch gelesenen Menschen den Weißen unterlegene und dauerhaft bedrohliche Ausländer:innen, unabhängig davon, wie lange sie in Deutschland leben, ob sie in Deutschland geboren sind, oder wie gut sie Deutsch können und wie gut sie in die deutsche Gesellschaft integriert sind.

Einige Wissenschaftler:innen behaupten, dass die positive Zuschreibung (asiatisch gelesene Menschen als „Vorzeigemigrant:innen“) auch wie ein „camouflaged Orientalism“ wirkt. Dies liegt daran, dass Druck auf asiatisch gelesene Menschen ausgeübt wird, sich „vorbildlich“ zu verhalten und sich an die weiße Dominantgesellschaft anzupassen. „G**** Gefahr“ hingegen ist ein negativerer und deutlich rassistischerer Ausdruck und spiegelt sehr direkt den Orientalismus wider. Hierbei werden asiatisch gelesene Menschen erniedrigt, da sie kulturell und politisch den Weißen unterlegen und dabei bedrohlich für Weiße seien.[9] Diese beiden Narrative markieren asiatisch gelesenen Menschen als permanente „Ausländer:innen“ oder „Andere“, die sich nie in Weiße dominierende Gesellschaft integrieren. Dieser Blick auf Asiatinnen und Asiaten kommt im Alltag in Form von rassistischer Mikroaggression zum Ausdruck, in einer nationalen Krise tritt er jedoch in einer kollektiveren und gewalttätigeren Form auf.

Ein Beispiel hierfür ist die Covid-19-Pandemie. Während der Pandemie verbreiteten sich in den deutschen Medien negative Verschwörungstheorien über China, was zu einem Anstieg der Antichina- und Antiasien-Stimmung führte. Infolgedessen sind nicht nur Chinesinnen und Chinesen, sondern auch alle asiatische wahrgenommenen Menschen von Gewalt und Diskriminierung betroffen, weil sie „wie Chinesinnen und Chinesen aussehen“ oder weil die falsche Vorstellung besteht, dass alle Asiatinnen und Asiaten aus China kommen.

Antiasiatischer Rassismus geschieht aus solchen falschen Darstellungen in sehr umfangreichen Formen, z.B. verbalen Mikroaggressionen, struktureller Diskriminierung und körperlichen Angriffen, oder im schlimmsten Fall sogar Mord. In diesem Kontext fand eine Rassifizierung und Kulturalisierung eines biologischen Phänomens statt. Der Virus wurde asiatisch gelesenen Körpern zugeschrieben und asiatisch gelesenen Menschen wurde die Schuld für die vermeintliche Verbreitung des Virus zugewiesen. Asiatinnen und Asiaten erleben in Krisenzeiten „Othering“ von anderen ethnischen Gruppen. Durch „Othering“ werden sie für ihre Lebensweise und ihre kulturellen Merkmale verurteilt, stigmatisiert und für das Verursachen und Verbreiten der Krise verantwortlich gemacht. Dies impliziert, dass Asiatinnen und Asiaten nicht als Mitglieder:innen der deutschen Gesellschaft anerkannt werden, sondern Andere sind, die jederzeit ausgeschlossen werden können, wenn die Dominanzgesellschaft sie nicht mehr will.[10] Covid-19 deutet in verschiedenen Formen von Othering und Rassismus an, dass Asiatinnen und Asiaten in Deutschland immer noch als permanente Ausländer:innen gelten und dabei ihre eigene Erfahrungen ignoriert wird.

4. Ausblick

Rassistische Mikroaggressiontritt normalerweise in interpersoneller Kommunikation auf. Dabei wird sie möglicherweise nicht als rassistische Haltung wahrgenommen und ihre Auswirkung auf die Betroffenen wird unterschätzt. Allerdings kann sich daraus eine kollektive, gewalttätige und strukturelle Form von Rassismus ergeben.

Das Problem mit rassistischer Mikroaggression und antiasiatischem Rassismus besteht darin, dass sie weniger im Vergleich zu Rassismus gegen andere BIPoC erforscht und erkannt wird. Aufgrund des Blicks, dass Asiatinnen und Asiaten vorbildlich sein sollen, wird ihr Leben in der deutschen Gesellschaft unsichtbar. Dadurch bleibt die antiasiatische Diskriminierung, sowie ausgrenzende Situationen gegenüber Asiatinnen und Asiaten, unsichtbar. Das lässt sich unter anderem auf den Mangel an inhaltlicher und personeller Diversität in verschiedenen Bereichen zurückführen. Insbesondere werden Asiatinnen und Asiaten in Deutschland in der Wissenschaft, in Bildungsinstitutionen, in den Medien und in der Kultur immer noch zu wenig repräsentiert. Sie sind z.B. in den meisten Medien abwesend oder erscheinen in einer Art, in der bestimmte Stereotypen verstärkt werden, wie beispielsweise als „token asian“. Es ist sehr wichtig zu repräsentieren und darzustellen, dass Asiatinnen und Asiaten an vielfältigen und vielseitigen Orten auf verschiedene Weise existieren. Dadurch können ihre Existenz und ihr Leben in der Gesellschaft sichtbar werden und die Öffentlichkeit wird gegenüber antiasiatischem Rassismus sensibilisiert.

Seit dem Beginn der Pandemie hat antiasiatischer Rassismus in Deutschland bewirkt, dass sich bundesweit Aktivistinnen und Aktivisten aus der Asiatisch-Deutschen Community vernetzen und sich gemeinsam gegen Rassismus engagieren.[11] Die Selbstbezeichnung „Asiatische Deutsche“ wird verwendet, damit viele asiatisch wahrgenommenen Menschen sich politisch gemeinsam positionieren und solidarisieren, um gegen Rassismus zu kämpfen.[12] Sich  als Asiatinnen und Asiaten zu identifizieren kann einerseits dazu führen, sich durch ethno-national-kultureller Kategorisierung von anderen Gruppen abzugrenzen, anderseits mit dieser gemeinsamen Bezeichnung ein Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl hervorbringen.[13] Dahingehend können Asiatinnen und Asiaten sich zusammenfinden und gegenseitig unterstützen, indem sie gemeinsam öffentlich ihre Erfahrungen teilen und andere Erfahrungen hören. Dadurch können sie stolz darauf bleiben, dass sie Asiatinnen und Asiaten sind.

Literaturverzeichnis

Administrator: ASIATISCHE DEUTSCHE – Migrationsgeschichten, in: Migrationsgeschichten, 15.08.2022, [online] https://migrations-geschichten.de/asiatische-deutsche/.

Bildung, Bundeszentrale Für Politische: Rassismus, in: bpb.de, 30.11.2022, [online] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-in-einfacher-sprache/322448/rassismus/.

Ha, Kien Nghi: Asiatische Deutsche: Vietnamesische Diaspora and Beyond, 15.01.2021. S. 212-215

Li, Yao/Harvey L. Nicholson: When “model minorities” become “yellow peril”—Othering and the racialization of Asian Americans in the COVID‐19 pandemic, in: Sociology Compass, Wiley-Blackwell, Bd. 15, Nr. 2, 01.02.2021, [online] doi:10.1111/soc4.12849, S. 1-13

Nguyen, Kimiko Suda |  Sabrina J. Mayer |, Christoph: Antiasiatischer Rassismus in Deutschland, in: bpb.de, 07.12.2021, [online] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316771/antiasiatischer-rassismus-in-deutschland/.

Pierce, Chester M./Jean V. Carew/Diane Pierce-Gonzalez/Deborah Wills: An Experiment in Racism, in: Education and Urban Society, SAGE Publishing, Bd. 10, Nr. 1, 01.11.1977, [online] doi:10.1177/001312457701000105, S. 61–87.

Spanierman, Lisa B./D Anthony Clark: Racial Microaggressions: Empirical Research that Documents Targets’ Experiences, in: Gesellschaft der Unterschiede, Transcript Verlag, 06.02.2023, [online] doi:10.14361/9783839461501-008, S. 231–250.

Sue, Stanley/Christina M. Capodilupo/Gina C. Torino/Jennifer Bucceri/Aisha M. B. Holder/Kevin L. Nadal/Marta Esquilin: Racial microaggressions in everyday life: Implications for clinical practice., in: American Psychologist, American Psychological Association, Bd. 62, Nr. 4, 01.05.2007, [online] doi:10.1037/0003-066x.62.4.271, S. 271–286.


[1] Vgl. Bildung, 2022.

[2] Vgl. Spanierman/Clark, 2023. S. 231

[3] Vgl. Sue et al., 2007. S. 274f

[4] Vgl. Spanierman/Clark, 2023. S. 232f

[5] vgl. Nguyen, 2021.

[6] Der Begriff „G**** Gefahr“ ist ein Pejorativum aus der Kolonialzeit gegen (süd-)ostasiatische Völker und eine diskriminierende Bezeichnung für die Betroffenen, deshalb möchte ich in diesem Essay nicht direkt verwenden.

[7] vgl. Nguyen, 2021.

[8] Vgl. Li/Nicholson, 2021. S. 2

[9] vgl. Li/Nicholson, 2021. S. 3f

[10] vgl. Li/Nicholson, 2021. 4ff

[11] vgl. Nguyen, 2021.

[12] Vgl. Administrator, 2022.

[13] vgl. Ha, 2021. S. 213


Quelle: JeongA Hwang, Where Are You From? Inwieweit hinter dieser Frage Rassismus steckt, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 20.07.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=380

Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung

Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz

John Krakow (WiSe 2022/23)

Einleitung

Zur trans* Geschichte gehört auch Pathologisierung und Fremdbestimmung. Einen großen Anteil daran hat das TSG, das sogenannte „Transsexuellengesetz“. Es regelt in Deutschland die Personenstands- und Vornamensänderung für trans* Personen (Stand Mai 2023). Das Gesetz ist seit dem 1. Januar 1980 in Kraft, jedoch längst überholt und mehrfach für verfassungswidrig erklärt worden.[1] Zur trans* Geschichte gehört aber auch Vielfalt, Freude und Kultur, um die es öfter gehen sollte, leider wird sie auch hier wieder zu kurz kommen. Aktuell ist die Frage nach Selbstbestimmung, das Händeringen nach Sichtbarkeit und die Notwendigkeit von Information brennend. Seit dem 09.05.2023 liegt der Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz vor, nun liegt er bei den Interessenverbänden.[2]

In dieser Hausarbeit wird es hauptsächlich um die Erklärung des TSG gehen, auch unter Bezugnahme des Entwurfes zum Selbstbestimmungsgesetz. Dabei fokussiere ich mich auf den Aspekt der Pathologisierung. Zum Schluss habe ich meine eigene Meinung in einem Essay zusammengefasst, das sich mit der Pathologisierung auf der alltäglichen und gesellschaftlichen Ebene beschäftigt.

Begriffe

Zunächst ist eine Begriffsdifferenzierung nötig, da das TSG den veralteten Begriff transsexuell im Namen trägt. Trans* sein hat nichts mit Sexualität zu tun, sondern befindet sich auf der Geschlechtsebene: Trans* Personen können jede Sexualität haben, die cis Personen auch haben können. Transsexualität oder auch Transsexualismus kommen aus einem medizinischen, pathologisierenden Kontext, in dem Transidentität als Krankheit eingestuft wurde. Außerdem hängt der Begriff transsexuell auch mit Gatekeeping und der Vorstellung zusammen, man sei nur wirklich trans*, wenn man sich einer „vollständigen“ Transition unterziehe. Der Begriff Transsexuell wird daher nicht mehr verwendet, sondern stattdessen transident, transgeschlechtlich oder auch transgender, da die Begriffe genauer und wertfreier sind. Es wird auch nicht mehr von Transsexuellen gesprochen, sondern von trans* Personen.

Diese Differenzierungen und Untersuchungen sind wichtig, da hinter den Begriffen auch gesellschaftliche Verständnisse stecken.

Aktuelle Namens- und Personenstandsänderung

Um aktuell als trans* Person Vornamen und/oder Personenstand zu ändern, muss das TSG durchlaufen werden. Unterschieden wurde in der Vergangenheit zwischen „der kleinen Lösung“ und „der großen Lösung“. Die kleine Lösung bestand dabei nur aus der Vornamensänderung und die große Lösung beinhaltete ebenfalls die Anpassung des Personenstandes. Diese Unterteilung, sowie die darin beinhalteten Voraussetzungen, sind als verfassungswidrig eingestuft worden und finden keine Anwendung mehr. Sie sind jedoch immer noch im TSG festgeschrieben.[3]

Um Namen und Personenstand zu ändern, ist für trans* Personen immer noch ein gerichtliches Verfahren Voraussetzung, in dem sie mit zwei voneinander unabhängigen psychologischen Gutachten ihr Geschlecht beweisen müssen. Ein Gericht urteilt anschließend darüber. Die Kosten müssen selbst getragen werden, Prozesskostenbeihilfe ist möglich. Der Arbeitsaufwand für Behörden, Psycholog*innen und Betroffene ist immens. Zudem liegt dem Prozess eine Pathologisierung zugrunde, die zur Entmündigung führt. Das eigene Geschlecht muss bewiesen und fremd beurteilt werden, weil das eigene Urteilsvermögen nicht belastbar scheint. Der Name des Gesetzes spricht also für sich, Fundament für dieses gesetzliche Regelung ist der Irrglaube von Transidentität als Krankheit, als Transsexualismus.[4] In den Gutachtenverfahren sind die Betroffenen der Willkür der Gutachter*innen ausgesetzt. Das Spektrum reicht von wohlwollender Beratung bis hin zu grenzüberschreitenden (Re-)Traumatisierung. Teil dieses Verfahrens sind häufig seitenlange Fragebögen, mit Fragen zu Befindlichkeit und Rollenverständnis aus der Kindheit, beispielsweise „Welche Toilette oder Umkleide benutzen Sie in der Schule? Hatten Sie eine Lieblingssportart?“. Persönlichere, jedoch nicht weniger willkürliche Fragen, beinhalten zum Beispiel „Wie alt war ihre Mutter bei ihrer Geburt?“ oder „Hatten Sie bereits wichtige Freundschaften oder Partnerschaften?“. Manche Betroffene berichten davon, über ihr Liebes- und Sexleben, sowie Masturbationsverhalten ausgefragt worden zu sein, teilweise mit Unterstellungen, die Pädophilie beinhalten. Einige berichten ebenfalls davon, dass sie sich haben ausziehen müssen. Homophobie ist neben der offensichtlichen Transphobie und Übergriffigkeit ein weiteres Problem innerhalb der Verfahren. Betroffene verschweigen ihre Homosexualität, oder andere nicht-heteronormative Sexualitäten, aus Angst ein negatives Gutachten zu erhalten.[5] Es gibt natürlich auch Gutachter*innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben trans* Personen zu unterstützen, zu beraten und vor solchen Situationen zu schützen. Um Einzelpersonen geht es bei der Kritik an den Gutachten jedoch nicht, sondern um die Willkür, Gefährdung und die Entmündigung, die das Verfahren bedeuten. Selbst Gutachter*innen, die diese Verfahren durchführen, halten diese für überholt und schlichtweg unnötig, da Geschlecht keine Kategorie ist, die von außen bestimmbar ist. Einer Beratung steht einer Begutachtung konträr gegenüber.[6]

Der Paragraf zu den Gutachtenverfahren lautet wie folgt:

„Das Gericht darf einem Antrag nach § 1 nur stattgeben, nachdem es die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt hat, die auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind. Die Sachverständigen müssen unabhängig voneinander tätig werden; (…)“

[7]

„(…) in ihren Gutachten haben sie auch dazu Stellung zu nehmen, ob sich nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft das Zugehörigkeitsempfinden des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr ändern wird.“

[8]

Allein die Formulierung gibt Aufschluss darüber, wie trans* sein hier immer noch als Krankheit geframt wird.  Es wird von „besonderen Problemen“ ausgegangen, die Expertise benötigen. Zudem wird hier erneut der pathologisierende Begriff Transsexualismus verwendet. Der zweite Part des Paragrafen ist ebenfalls interessant, da er eine Angst widerspiegelt, die sich immer noch um den Diskurs zur Selbstbestimmung rankt und selbst im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz zu finden ist, in dem eine einjährige Sperrfrist vorgesehen ist bis Name und/oder Personenstand wieder geändert werden können. Zudem gibt es bei dem Selbstbestimmungsgesetz eine dreimonatige Bedenkzeit, bis die Änderung beim Standesamt rechtkräftig wird. Hier ist deutlich die Angst vor Veränderung zu sehen, ebenso wie die Angst von Geschlecht als wandelbare, diverse und komplexe Kategorie, sowie die diffuse Angst vor Missbrauch gesetzlich festgelegter Rechte marginalisierter Gruppen, die den Diskurs prägen. Im Gesetzesentwurf zur Sperrfrist heißt es:

„Dies (die Sperrfrist) soll dazu führen, dass insbesondere volljährige Personen sich der Tragweite ihrer Erklärung bewusst sind, weil klar ist, dass sie an die Erklärung mit den entsprechenden Einträgen mindestens ein Jahr gebunden sind. Die Vorschrift dient damit als Übereilungsschutz und verdeutlicht der erklärenden Person die Ernsthaftigkeit ihrer Erklärung.“[9]

Interessant ist hierbei auch wieder die Formulierung. Ein „Übereilungsschutz“ klingt nach über 40 Jahren TSG nach fehlgeleiteter Pädagogik. Die Tragweite ist durch alltägliche Diskriminierung und Marginalisierung von trans* Personen schlichtweg nicht zu übersehen. Die Festschreibung der Ernsthaftigkeit als Kriterium scheint der Ernsthaftigkeit der Rechtesicherung gegenüber trans* Personen nicht gerecht zu werden.

Mitzuberücksichtigen ist sicherlich die Gerichtsfestigkeit, die solche Entwürfe ebenfalls sichern müssen. Einen mindestens faden Beigeschmack hinterlassen solche Regelungen und Formulierungen trotzdem, auch angesichts der jahrzehntelangen staatlichen Diskriminierung, dem dieses Gesetz genau gegenübertritt.

„(…) sie sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet (…)“

[10]

Ein weiterer problematischer Aspekt ist die geschlechtliche Binarität, auf dem das TSG basiert. Nicht-binäre Personen finden erst seit 2020 Erwähnung, durch die Erweiterung um die Kategorie divers und die Möglichkeit der Streichung der Geschlechtseintragung. Die Kategorie divers steht seit 2018 inter* Personen zur Verfügung. Sie müssen aber eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ attestiert bekommen, welche eine weitere Form der Pathologisierung aufweist und essentialistisch argumentiert. Die sogenannte „Dritte Option“ wurde bis 2019 auch von trans* Personen genutzt, bis diese neu formuliert wurde und trans* Personen kriminalisiert, die diese Option nutzen. Diese Möglichkeit der Personenstandsänderung bezieht sich ausdrücklich nur auf Körperlichkeit und dem Herausfallen aus essentialistischer Zweigeschlechtlichkeit, die offengelegt und offiziell nachgewiesen werden muss.[11]

Im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz sind nicht-binäre Personen ausdrücklich mitbedacht und erhalten die gleiche Rechte wie binäre trans* Personen.[12]

TSG – pausierte Klauseln

Das TSG beinhaltet einige Klauseln, die für verfassungswidrig erklärt wurden, da sie gegen das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung verstoßen und die Menschenwürde missachten.[13] Drei dieser Klauseln sind besonders gravierend.

Bis 2009 ging die Anpassung von Name- und Personenstand auch mit der Zwangsscheidung der eigenen Ehe einher. Das geht zurück auf Homophobie und nationalistische Familienvorstellungen, die ein Abweichen von der cis-hetero Norm nicht vorsahen:

“Ist die Person im Zeitpunkt der gerichtlichen Anordnung verheiratet gewesen und ist ihre Ehe nicht inzwischen für nichtig erklärt, aufgehoben oder geschieden worden, so gilt die Ehe mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes als aufgelöst. (…)“

[14]

Bis 2011 wurden trans* Personen dazu gezwungen „dauerhaft fortpflanzungsunfähig“ zu sein. Das bedeutete die Entscheidung zwischen der Anerkennung der eigenen Identität und Zwangssterilisation. Trans* Personen wurden außerdem zur Transition gezwungen, um sich cis Vorstellungen von Geschlecht anzupassen. Sehr deutlich wird hier die binäre Vorstellung von Geschlecht und der Versuch des Erhalts tradierter Geschlechterrollen:

„(…) sich einem ihre äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist“

[15]

Trans* Personen sollte so zwar ermöglicht werden staatlich anerkannt (und reguliert) zu existieren, jedoch nur in der Anpassung an Heteronormativität und unter Ausschluss von Familienleben. Das bedeutet unsichtbar sein und nicht partizipieren. Deutlich wird hier ein nationalistisches Bild von Familie, in dem der Staat massiv in Reproduktionsrechte eingreift und darüber bestimmen möchte, wer Familien gründet. Auch die Legalität und Information von Schwangerschaftsabbrüchen und die Gleichstellung der Ehe entspringen diesem Motiv.  

Bis heute haben die Betroffenen dieser Zwangssterilisation und Zwangsoperationen keine Entschädigungsleistungen erhalten, die immer wieder von Verbänden und sogar dem UN-Menschenrechtsrat gefordert werden. Die planmäßige Aktenvernichtung nach dreißig Jahren konnte noch verhindert werden, sodass dies weiterhin möglich wäre.[16]

Gesundheit und Selbstbestimmung

Selbstbestimmung hat große, positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Dieser Satz ist nicht nur gültig für trans* Personen, sondern für alle Menschen. Ein selbstbestimmtes Leben ist ein essenzieller Bestandteil für Zufriedenheit, Selbstwirksamkeit und auch Sicherheit. Anerkennung der eigenen Identität hat ebenfalls großen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Die Verwendung von korrekten Pronomen und dem selbstgewählten Namen senkt nachweislich das Depressions- und Suizidrisiko, wie eine Studie über junge trans* Personen aus Texas zeigt[17]. Diskriminierung und Unwissenheit in medizinischen Kontexten sind ein weiteres Problem. Trans* Personen suchen sich möglicherweise viel später Hilfe und bekommen teilweise eine schlechtere Versorgung, weil das Wissen über trans* Körper noch nicht besonders verbreitet ist.[18] Den Beitrag, den das Selbstbestimmungsgesetz dazu leisten könnte, wäre ein Hürdenabbau, durch banal erscheinende Aspekte wie die Anpassung einer Krankenkassenkarte.

Eine Rechtssicherheit und Selbstbestimmtheit bezüglich des eigenen Namens und Pronomens wie es im Selbstbestimmungsgesetz vorgesehen ist, wird riesige Auswirkungen auch auf die Gesundheit von trans* Personen haben. Das Offenbarungsverbot, das vorsieht, Misgendering und Outing strafrechtlich zu verfolgen, könnte ebenfalls ein lang ersehntes Stück Sicherheit für trans* Personen bringen, weißt aber Lücken auf.[19] Den eigenen Personenstand und Namen nicht angepasst zu haben, birgt ständige Unsicherheit im Alltag und kann auch zur Gefahr werden. Diese Art der existenzbedrohenden Unsicherheit bedeutet eine massive Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens. Auch wenn das Selbstbestimmungsgesetz die Angst, die Personen marginalisierter Gruppen alltäglich empfinden, nicht aufheben kann, kann es ein Stück längst überfällige Rechtssicherheit bringen. Die Auswirkungen des Selbstbestimmungsgesetzes wären weitreichend – sie bewegen sich auf dem fundamentalen Level der Anerkennung, der Sicherheit, aber beinhalten auch die Freude darüber, auf der Bankkarte endlich den eigenen Namen zu haben, problemlos(er) einen Job anzufangen und wieder verreisen zu können, weil der Check-in am Flughafen nicht mehr das Aus bedeutet.

Pathologisierung und Selbstbestimmung im gesellschaftlichen, bürgerlichen Kontext

Der folgende Text ist ein Essay, der auf meiner persönlichen Meinung basiert

Im TSG spiegelt sich auch ein gesellschaftliches Verständnis von trans* Personen und deren Realitäten. Gerade im Angesicht eines möglichen Selbstbestimmungsgesetz ist es wichtig, sich das TSG noch einmal genau anzuschauen, auch im gesellschaftlichen, konkret bürgerlich-liberalen Kontext. Die Pathologisierung, die im TSG deutlich zu erkennen ist, findet sich auch im Alltag, mit dem trans* Personen konfrontiert sind, wieder. Fragen nach „Wie weit bist du schon?“ zeichnen trans* sein als Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, als Prozess, der abgeschlossen werden soll, um in eine vermeintliche Normalität zurückzukehren. Die Prozesshaftigkeit, die schon im Wort trans* verankert zu sein scheint, findet immer noch zu selten Beachtung.

Trans* sein verstehe ich auch als Chance der ständigen Transformation und der Wandelbarkeit. Nicht jede trans* Person strebt überhaupt eine Transition an und keine Transition sieht gleich aus. Wenn ich also mal wieder gefragt werde „XY ist aber schon weiter als du, oder?“, kann ich nur fragen: Womit? Mit dieser Hausarbeit? Mit dem Einrichten der eigenen Wohnung?

Trans* sein ist weder als abgeschlossen zu betrachten, noch in Frage zu stellen. Es findet sich auch eine Sicherheit in der Reflexion und der Möglichkeit zur Veränderung, im Verständnis für sich selbst. Die Möglichkeit Grenzen zu ziehen und mehr über sich herauszufinden, bietet auch die Chance, Empathie gegenüber anderen Menschen und deren Realitäten zu entwickeln.

Davon abgesehen, dass solche Fragen durchaus grenzüberschreitend sind, sind sie doch sehr aufschlussreich. Sie geben auch Aufschluss über gesellschaftliche Scham, die, wenn auch nicht nur, als Folge von Pathologisierung zu sehen ist. Auch Krankheit ist nach wie vor ein Tabuthema – auch dies ist problematisch, ist aber zu weitreichend an dieser Stelle.

Worte wie trans*, nicht-binäre Person, trans Mann, trans Frau und Transition sind noch immer schambehaftet. Anstatt also im passenden Rahmen, und nach vorheriger Erlaubniseinholung, zu fragen wie es mir mit meiner Transition geht und wie meine Hormonbehandlung läuft, kommt „Wie weit bist du schon?“. Als sei man ein Payback Punkte Heft, noch zwanzigmal Testogel schmieren und die Teflonpfanne Burgund ist schon zum halben Preis erhältlich.

Eine weitere solcher Fragen ist dann oft „Wie lange musst du das denn noch machen?“, bezogen ist das auf die Zufuhr von Testosteron.

Die Kritik ist eine gesellschaftliche Kritik. Die Unwissenheit von Einzelpersonen, denen ich ehrliches Interesse gar nicht abspreche, ist nur Symptom der fortlaufenden Pathologisierung. Ich werde Testosteron mein Leben lang nehmen, das ist kein Medikament zur Bekämpfung einer Krankheit. Trans* sein ist eine Variante der Existenz, genau wie cis sein. Trans* sein darf und muss ausgesprochen werden, laut ausgesprochen werden. Es ist kein Zufall, dass das TSG Transsexuellengesetz heißt, es immer noch besteht, und die Angst vor dem Selbstbestimmungsgesetz, auf allen Seiten, gerade größer ist denn je. Der pathologisierende Ansatz im Umgang mit trans* Personen findet sich im Alltag und in Institutionen wieder. Im besten Fall durchläuft man die Transition in den sicheren cis-Hafen, im schlechtesten existiert man gar nicht, sondern ist verwirrt, nicht zurechnungsfähig. Trans* muss zur Normalität als Facette hinzugefügt werden, die eine Gleichwertigkeit mit cis hat. Ich werde immer trans* sein und das finde ich schön.

In einer Gesellschaft in der trans* Personen gleichzeitig nicht existieren und eine Bedrohung sind, ist Aufklärung und im Zuge dessen Entpathologisierung essenziell und reichlich verspätet. Bereits Magnus Hirschfeld verfolgte den Ansatz der Entpathologisierung, beispielsweise mit der Einführung des sogenannten Transvestitenscheins. Dieser ermöglichte es trans* Personen, von Polizei und Behörden einigermaßen unbehelligt, selbst über ihren Geschlechtsausdruck zu bestimmen. Dieser Schein, eine der ersten Umsetzungen zur Entpathologiserung, wurde 1909 eingeführt.[20] „Transsexualismus“ fiel erst mit der Einführung des ICD 11, der immer noch keine großflächige Anwendung findet, aus dem Katalog der Persönlichkeitsstörungen, 2019.[21] Knapp 114 Jahre später liegt nun auch schon ein Gesetzesentwurf vor, der aus Transsexualität Transidentität macht und für Selbstbestimmung sorgen soll. Selbstbestimmung scheint greifbar, endlich möglich. Aber die noch so hoffnungsvollen Stimmen, die selbst nach 2021, der ersten Ablehnung der Abschaffung des TSG[22], werden stetig leiser und sorgenvoller. Hausrecht, Verteidigungsfall. Was ist denn jetzt mit meinen trans* Schwestern? Warum muss in einem Gesetz, das für uns gemacht wird, erwähnt werden, dass sich am allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz rein gar nichts ändern wird? Die Formulierungen sprechen Bände: Das dient nicht dem Schutz von Frauen, weder trans* noch cis. Die Beruhigung der Angst vor mindestens konservativen Stimmen, während man die Strohfrau wieder aufstellt und das einfachste Feindbild bedient: die bedrohliche trans Frau. Als ginge Gewalt nicht immer und immer wieder von Männern aus, meistens cis Männern und als bräuchten sie eine weitere staatliche Erlaubnis übergriffig zu sein, das hat das Patriachat doch gar nicht nötig. Die Aufmerksamkeit ist da, zusätzlicher Schutz nicht. Es muss darüber geredet und gestritten und informiert werden. Ich kann keinen Text, keine Arbeit über Selbstbestimmung schreiben, ohne darüber zu reden, doch die Emotionalität ist vorhanden, das will in keine streng wissenschaftliche Form. Die Emotionalität ist wichtig, hier geht es um Existenzen, und Sensibilität macht Aspekte nicht weniger wichtig, es unterstreicht sie.

Noch immer werden trans* Personen mit gedämpfter Stimme und unangebrachten Detailwünschen nach der Transition gefragt, als sei diese mit trans* sein gleichzusetzen und als sei trans* nur eine Zwischenstufe zurück in die Normalität hinein in eine Bürgerlichkeit. So ähnlich, als habe man in den 1980ern einen Vokuhila gehabt.

Und wenn das Bewusstsein über die Tragweite als Kriterium im Entwurf bereits sieben Mal erwähnt wird, frage ich mich langsam ernsthaft nach der Ernsthaftigkeit und dem Verständnis der Tragweite, wenn nach 114 Jahren das erste Mal ernsthaft Aussicht auf Selbstbestimmung in Deutschland besteht.

Literaturverzeichnis

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Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Bundestag Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738 (letzter Aufruf 15.05.23)

Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com (letzter Aufruf 15.05.23)

ICD-10 https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus (letzter Aufruf 15.05.23)

Jstor Daily Artikel zum Transvestitenschein https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Queer.de Artikel Entschädigungsfonds https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769 (letzter Aufruf 15.05.23)

Referentenentwurf Selbstbestimmungsgesetz des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums der Justiz – Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften https://www.bmfsfj.de/resource/blob/224548/ee3826a31ca706aed23053b633ff5c60/entwurf-selbstbestimmungsgesetz-data.pdf (letzter Aufruf 15.05.23)

Schwulenberatung Berlin, Studie – „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ – „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“

Sven Lehmann Interview zum Entwurf des SBGG https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/hausrechtsparagraf-lost-angste-aus-queerbeauftragter-will-anderungen-an-selbstbestimmungsgesetz-9790259.html (letzter Aufruf 15.05.23)

TSG – Gesetze im Internet Gesetzestext Einsicht https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html (letzter Aufruf 15.05.23)

University of Texas at Austin, Studie über psychische Gesundheit von jungen trans* Personen https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

Private Quellen: Eigene Erfahrung, Erfahrung anderer trans* Personen, allgemeines Wissen, das Teil von queeren und trans* Diskursen ist und nicht auf eine spezielle Quelle zurückzuführen sind

Weiterführende Links zu Stellungsnahmen (letzter Aufruf 05.06.23)

dgti* (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V) https://dgti.org/2023/05/10/selbstbestimmungsgesetz/

transinterqueer e.V.: https://www.instagram.com/p/Cs3i5fqMitW/?igshid=MzRlODBiNWFlZA%3D%3D (Stellungnahme auf Website folgt noch https://www.transinterqueer.org)

Deutscher Juristinnenbund: https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-16

Frauen gegen Gewalt e.V.: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles/nachrichten/nachricht/stellungnahme-zum-referentenentwurf-des-bmfsfj-und-des-bmjv-zum-selbstbestimmungsgesetz.html

Stellungnahme von Sven Lehmann (Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt) : https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf


[1] TSG https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[2] Stellungnahmen von Interessenverbänden liegen seit dem 31.05 vor, diese Hausarbeit entstand davor, weiterführende Links zu Stellungnahmen finden sich im Literaturverzeichnis. Insgesamt begrüßen die meisten Interessenverbände ein Selbstbestimmungsgesetz, kritisieren jedoch die Umsetzung. Die meistgenannten Punkte sind dabei die unzureichenden Möglichkeiten der Selbstbestimmung für Minderjährige (teilweise Forderung nach selbstständiger Änderung ab 14 Jahren), das nicht ausreichend schützende Offenbarungsverbot (Ehepartner*innen werden hier zum Beispiel ausgenommen), die Diskriminierung von trans* Eltern durch falsche Einträge im Geburtenregister, die Diskriminierung von trans* Frauen und trans* femininen Personen durch die unnötige Nennung des AGG und die fragwürdige Regelung im Verteidigungsfall, sowie fehlender gesetzlicher Schutz, außerdem die Forderung nach Stärkung und Förderungen von peer-to-peer Beratung und die Einrichtung von Entschädigungsfonds.

[3] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter Begründung A. Allgemeiner Teil, Seite 17

[4] ICD-10 Transidentität klassifiziert als Persönlichkeitsstörung https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus

[5] Teils private Quellen; basierend auf Erfahrungen von verschiedenen trans* Personen, außerdem interessant  ZDF Magazin Royale vom 2. Dezember 2022 https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-2-dezember-2022-100.html

[6] Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com, private Quellen

[7] TSG Erster Abschnitt Vornamenänderung §4 (4) Gerichtliches Verfahren https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[8] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (2) Voraussetzungen

[9] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter §5 Sperrfrist; Vornamen bei Rückänderung Seite 41

[10] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (1) Voraussetzungen

[11]Antidiskriminierungsstelle des Bundes; Dritte Option und AGG    https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html

[12] Referentenentwurf SBGG zum Beispiel auf den Seiten 20, 25, 34  

[13] Unter anderem Referentenentwurf SBGG Seite 1 A. Problem und Ziel

[14] TSG §16 (2) Übergangsvorschrift

[15] TSG §8 (4) Voraussetzungen

[16] https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769

[17] „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“ Studie der Schwulenberatung in Berlin, Seiten 8, 9

[18] Studie der University of Texas at Austin https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

[19] Referentenentwurf SBGG §13 Offenbarungsverbot und §14 Bußgeldvorschriften Seite 9 und Stellungnahme von Sven Lehmann  https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf

[20] Jstor Daily Artikel https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/

[21] Artikel Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/

[22] Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738


Quelle: John Krakow, Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung – Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.06.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=375

Neoliberalismus und Postfeminismus

Die Unterminierung des kritischen Ansatzes

Emilia Maise (WS 2022/23)

1. Neoliberalismus und Postfeminismus

Im Zuge einer sich immer wandelnden Welt ist es selbstverständlich, dass sich auch soziale Bewegungen, wie der Feminismus, ändern und von neuen Gedanken beeinflusst werden. Seit einigen Jahrzehnten verbreiten sich die Ideen des neoliberalen Marktansatzes auch auf die Gesellschaft und soziale Ordnung und sorgen für einen starken Wandel in den Werten, die uns begleiten. Das konstante Streben nach Leistung, Individualisierung und Selbstoptimierung kommt insbesondere im Konstrukt der Meritokratie zum Ausdruck – also der Auffassung, dass jedes Individuum seinen Status in der Gesellschaft durch Leistung beeinflussen und verändern kann (El-Mafaalani).

Ein entsprechender Wandel ist auch im feministischen Kontext zu beobachten, in dem eine neue Sensibilität zu erkennen ist: der Postfeminismus, der oftmals mit dem „Vorbeisein“ des Feminismus verbunden wird. Ein großer Teil davon wird mit der Entwicklung eines sogenannten Marktfeminismus verbunden. In diesem werden „individualisierte, erfolgszentrierte Werte [mit] ehemals feministischen Anliegen“ (Göweil, S.22) vermischt. Feminismus wird zur Ware und Humanressource umgedeutet und die Gleichstellung der Geschlechter wird vor allem deshalb gefördert, weil sie wirtschaftlich profitabel sei (Bereswill, S. 53). Weil der Impuls zur Gleichstellung aller Geschlechter in diesem Ansatz fast ausschließlich aus ökonomischem Gewinnstreben entspringt, ist der Marktfeminismus „konsumdominiert, erwerbszentriert, erfolgszentriert [und] individualisiert“ (Bruder-Bezzel, S. 58). In der Verbreitung des neoliberal geprägten Postfeminismus und dem daran geknüpften Marktfeminismus verlieren vermeintlich feministische Bestrebungen zunehmend gesellschaftliche Strukturen und Hintergründe aus den Augen und somit auch tendenziell ihren sozialkritischen Ansatz. Das folgende Essay wird die Problematik dieser Entwicklung anhand von einigen zentralen Aspekten herausarbeiten.

2. Individualisierung, Selbstoptimierung und Meritokratie

Im Zuge des Neoliberalismus wird individuellen Leistungen ein höherer Stellenwert zugewiesen. Die bestehende Gesellschaftsordnung wird als Meritokratie gedeutet – also einer Ordnung, in der Erfolg und sozialer Status allein von individuellen Leistungen abhängen und grundsätzlich alle Menschen gleiche Chancen zum sozialen Aufstieg haben. Der „American Dream“ verkörpert genau dieses Ideal: alle können etwas erreichen und reich werden, wenn sie sich genug Mühe geben.

Allerdings wahrt unsere Gesellschaft bei näherer Betrachtung nur den Schein einer solchen Meritokratie, denn tatsächlich sind Erfolge im herkömmlichen Sinn (z.B. ein erfolgreicher Schulabschluss) stark vom sozialen Hintergrund einer Person abhängig (El-Mafaalani). Trotzdem halten viele Menschen – insbesondere einflussreiche, meinungsbildende Politiker*innen und Prominente – an der Idee fest, dass unsere Gesellschaft eine meritokratische ist, was den Einfluss struktureller Ungleichheiten und Hürden herunterspielt, beziehungsweise als durch individuelle Anstrengung überwindbar darstellt (Bruder-Bezzel, S. 58). Aussagen wie die von Kim Kardashian („I have the best advice for women and business. Get your f—ing ass up and work. It seems like nobody wants to work these days”) oder Ratschläge, wie der von Sheryl Sandberg (Chief Operating Officer von Meta), man müsse sich als Frau nur ein wenig “reinhängen“, fördern diese Perspektive, indem sie den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge vernebeln und politische/strukturelle Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bagatellisieren (Respers France; Bruder-Bezzel, S. 58). Auf diese Weise wird die systematische Benachteiligung vieler Bevölkerungsgruppen und Intersektionalität von gesellschaftlicher Diskriminierung ignoriert, und die Verantwortung für den jeweiligen sozialen und ökonomischen Status wird allein dem Individuum (also hier der Frau*) zugeschrieben.

Es liegt also fast ausschließlich in der Verantwortung der individuellen Frau*, erfolgreich, gebildet, erfahren und vieles mehr zu sein. Dieses Bild ist extrem problematisch, nicht nur weil es auf Frauen* einen großen Druck aufbaut, sondern auch weil so der Fokus vom gesamtgesellschaftlichen Kontext auf das Individuum verschoben wird. Es wird vom Ursprung des Problems abgelenkt und die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels weg von einer patriarchalen Gesellschaftsform abgestritten, beziehungsweise sogar dadurch bekämpft, dass strukturelle Benachteiligungen negiert, beziehungsweise als einfach überwindbar dargestellt werden. Es entsteht also der Eindruck einer Gesellschaft, in der ungleiche gesellschaftliche Teilhabe gewissermaßen eine Entscheidung der Individuen ist, also kann das Problem nicht die Gesellschaft selbst sein. Diverse Machtstrukturen müssen unter dieser Annahme nicht bekämpft werden, weil sie nicht existieren beziehungsweise von geringer Relevanz sind.

Die vom neoliberalen Gesellschaftsmodell versprochene, vermeintliche Selbstbestimmtheit überträgt sich außerdem nicht nur auf die Erwerbstätigkeit und einige kulturelle Errungenschaften, sondern auch auf das Frau*sein an sich und das sexuelle Auftreten. Es wird nun von Frauen* erwartet, stets selbstbestimmt und selbstbewusst aufzutreten und einen immensen Erfahrungsschatz zu haben (Göweil, S. 23). Diese Frau* wird als emanzipiert angesehen und darf in der Regel gesellschaftliche Teilhabe genießen.

Weil aber diese Anforderungen sehr vielfältig und hoch sind, ist auf dem Markt unzählig viel Ratgeber- oder Coaching-Literatur zu finden, die Frauen* dabei helfen soll, dieses Ideal der Weiblichkeit* und Emanzipation zu erreichen. Feminismus orientiert sich an Konsum und Erfolg und das Bild einer emanzipierten und feministischen Frau* wird mit dem Erreichen von absoluter Selbstbestimmtheit und finanziellem Erfolg verknüpft. Weil dies mit vielen hohen Anforderungen verbunden ist, entsteht die Wahrnehmung, dass Konsum in Form von Ratgebern, Coachings oder Ähnlichem zur „Emanzipation“ unerlässlich ist. Die neoliberale, politische Botschaft lautet: Emanzipation und Freiheit sind individuell zu erreichen. Der prägende, gesellschaftliche Kontext und bestehende Chancenungleichheiten werden ausgeblendet.

3. Der Marktfeminismus

Die Entwicklung des Marktfeminismus bedeutet für feministische Bewegungen tendenziell einen Verlust des gesellschaftskritischen Ansatzes, weil das feministische Narrativ sich zu einem erwerbszentrierten wandelt (Göweil, S.22). Dieser Verlust ist vor allem deshalb problematisch, weil so der gesellschaftliche Ursprung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht mehr analysiert wird. Viel mehr stehen Erfolge von Personen, vor allem Frauen*, im Fokus: wer ist in Führungspositionen? Wessen Karriere verläuft auf welche Weise? Im Kontext des Kapitalismus erfolgreiche, gebildete junge Frauen* werden in dieser Auffassung dann als beispielhaft emanzipiert dargestellt (was durchaus der Fall sein kann), doch die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründe werden nicht aufgegriffen und analysiert.

Es wird zum Beispiel nicht hinterfragt, warum Emanzipation mit Erwerbstätigkeit zusammenhängt und ob Entwicklungen, die Männer* und Frauen* gleichstellen tatsächlich gut/hilfreich sind. Bis 1994 gab es beispielsweise in Deutschland ein Nachtarbeitsverbot für weibliche* Arbeiterinnen. Als dieses aufgehoben wurde, geschah dies aufgrund des Gleichberechtigungsartikels des Grundgesetzes, der gesellschaftliche Nachteile der Frau* abbauen soll (Grundgesetz) und wurde als Schritt in Richtung Gleichberechtigung aufgefasst. Das ist per se nicht falsch: Frauen* durften genau wie Männer* nachts arbeiten und zusätzliches Geld verdienen. Allerdings korreliert Nachtarbeit mit vielen Belastungen (Struck et al.), was die Frage aufwirft, wer tatsächlich davon profitiert, dass auch Frauen* nachts erwerbstätig sind. Sind es die Frauen*, die nun mit höherer Wahrscheinlichkeit unter Schlafstörungen oder Magen-Darm-Beschwerden leiden (Struck et al.)? Von dieser vermeintlich emanzipatorischen Veränderung profitieren in der ersten Linie wohl die Arbeitgeber*innen, die durch die Aufhebung des Gesetzes rund um die Uhr eine größere Belegschaft haben und so mehr Profit erzielen können.

Die Gleichstellung ist in diesem Fall also stark wirtschaftlich motiviert und die Gesellschaftsstruktur, die Profit von Arbeitgeber*innen auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmer*innen ermöglicht, wird mit dem Ansatz des Marktfeminismus nicht hinterfragt. Die Verwobenheit des Patriarchats mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem wird als Grundursache für gesellschaftliche Ungleichheiten nicht analysiert.

Diese Verwobenheit wird in zahllosen Fällen der sexuellen Belästigung von Frauen* durch männliche* Vorgesetzte klar sichtbar. In der patriarchalen Gesellschaftsstruktur werden Frauen* abgewertet und es wird erwartet, dass sie der Erfüllung männlicher* Bedürfnisse dienen – unter anderem auch sexuell. Im Kapitalismus ist die Macht auch binär aufgeteilt: zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen. In Situationen des sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen Belästigung, wie im Fall von Harvey Weinstein, der von vielen Schauspieler*innen des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurde, treffen diese Machtstrukturen aufeinander und arbeiten zusammen. Das Zusammenspiel dieser Dynamiken ermöglichte es Weinstein Frauen* zu zwingen, nicht nur als Arbeitnehmerinnen zu dienen, sondern auch sexuell, weil er als berühmter Hollywood-Produzent die Macht hat, Karrieren zu fördern oder zu zerstören. Jeffrey Epstein hat diese Ausbeutung noch weitergetrieben: unter dem Versprechen eines Arbeitsplatzes, brachte er junge Mädchen* und Frauen* in prekären finanziellen Situationen in seine beeindruckende Villa, um sie dann auf seine „rape island“ zu bringen. Hier wurden dann verschiedenste machtvolle, reiche Männer* eingeladen, um die Frauen* und Mädchen* zu vergewaltigen. Auch hier wurde also die finanzielle Macht ausgenutzt, um die patriarchale zu stützen (Fraad).

4. Annäherung an Männlichkeit* als Gleichheit

Die Ansicht, dass eine verhaltensmäßige Annäherung von Frauen* an Männer* mit Gleichberechtigung und Emanzipation gleichgesetzt werden kann, ist nicht nur auf Erwerbstätigkeit und Konsum beschränkt. Auch das soziale Verhalten wird zunehmend so bewertet. Frauen*, die traditionell „männliche“ Eigenschaften verkörpern, scheinen Gleichberechtigung erlangt zu haben und gelten als emanzipiert.

Die Soziologin Angela McRobbie bezeichnet dieses Phänomen als die Entstehung der „phallischen Frau[*]“ (McRobbie, S. 83), wobei der Phallus symbolisch fungiert, als begehrenswert gilt und mit diversen Eigenschaften (Autorität, Selbstbestimmung, Aggression, etc.) verbunden wird. Die symbolische Funktion des Phallus beinhaltet außerdem eine Art Orientierungspunkt; ein begehrenswertes Ziel des Genießens und der Selbstbestimmtheit.  Diese Funktion war früher Männern* vorbehalten, doch mit einem Rückgang der symbolischen Ordnung können nun auchFrauen* diese symbolische Funktion übernehmen (Göweil, S.26). Es ist Frauen* jetzt also nicht nur erlaubt die phallische Funktion zu übernehmen, sondern die Übernahme dieser mit Männlichkeit* verknüpften Charakterzügen wird zunehmend mit Emanzipation gleichgesetzt.

Dieses Phänomen ist auch in der Populärkultur zu erkennen, beispielsweise in dem 2015 erschienenen Film „Trainwreck“. Hier stellt die Schauspielerin Amy Schumer eine junge Frau* namens Amy dar, die einen sehr hedonistischen Lebensstil pflegt: sie geht oft in Clubs, trinkt viel und schläft mit vielen verschiedenen Männern (wobei sie ihre sexuellen Vorlieben klar ausdrückt). Sie ist außerdem recht schroff, setzt sich wenig mit ihrer Gefühlswelt auseinander und verurteilt ihre kleine Schwester dafür, verheiratet und Mutter zu sein. Es lässt sich also sagen, dass sie einige mit Männern* assoziierte Eigenschaften aufweist und sie wirkt auch auf Zuschauer*innen vollkommen emanzipiert. In der Mitte des Films verliebt sie sich, ist in einer festen Beziehung mit einem Mann* namens Aaron, die dann (eben wegen dieser Eigenschaften) endet. Daraufhin verliert sie, aufgrund einiger schlechter Entscheidungen, ihren Job und ist am Boden, weshalb sie sich mit ihrer Schwester trifft, um nach Rat zu fragen. Nach diesem Gespräch entscheidet sich Amy dazu, sich bei Aaron für ihr Verhalten zu entschuldigen und verspricht, dass sie sich ändern wird, damit ihre Beziehung funktionieren kann. Auf Zuschauer*innen wirkt sie sofort nicht mehr emanzipiert, weil unklar ist, ob diese Veränderung wirklich ihre Wünsche für sich selbst widerspiegelt oder nur stattfindet, um einem Mann* zu gefallen. Außerdem ist das Narrativ, dass männliche* Eigenschaften Emanzipation bedeuten, im ganzen Film durch die Darstellung von Amys Schwester und ihren Freundinnen* erkennbar: Sie und die anderen Frauen* haben Kinder, sind verheiratet, freundlich und liebevoll und es wird (obwohl wenig über sie bekannt ist) der Eindruck vermittelt, dass sie komplett von ihren männlichen* Partnern abhängig sind.

Wie bei diesem Beispiel schon angedeutet wird, wird Frauen* auch abverlangt, für Männer* als begehrenswert zu gelten und in deren Schönheitsideal zu passen – sonst werden sie in der Gesellschaft weniger akzeptiert und erhalten weniger Teilhabe. Eine totale Abwendung von vermeintlich weiblichen* Eigenschaften ist also auch nicht „erlaubt“. Das wird zum Beispiel auch im Film „The Proposal“ (2009) deutlich. Margaret Tate, von Sandra Bullock dargestellt, ist hier eine erfolgreiche und ambitionierte Verlagslektorin, mit viel Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen. Als Chefin zeigt sie ein Verhalten, das, wenn es von einem Mann* käme, niemanden überraschen würde, beziehungsweise nicht als negativ gewertet werden würde. Weil sie sich jedoch genau verhält, wie ein Mann* es in ihrer Situation tun würde, wird sie von allen als „Tyrannin“ angesehen.

Zwar wird oft auf diese Doppelmoral (also, dass manche Eigenschaften bei Männern* einfach akzeptiert, aber bei Frauen* kritisiert werden) hingewiesen, doch dass die Übernahme „männlicher*“ Eigenschaften mit Emanzipation gleichgesetzt wird, wird nicht hinterfragt. Durch die unkritische Hinnahme der Idee, dass eine Frau*, die sich „männlich*“ verhält, emanzipiert sei, wird die männliche* Hegemonie nicht hinterfragt (McRobbie, S. 83). Mit diesem Ansatz wäre der Weg zur Emanzipation nur eine Imitation des Mannes*, ohne dass diese Eigenschaften oder prävalenten Geschlechterverhältnisse weiter hinterfragt und kritisiert werden, was das vorherrschende Geschlechterregime nur stärkt. Der grundlegende gesellschaftliche Umbruch, der notwendig ist, um das patriarchale System abzuschaffen, wird auf diese Weise verhindert und das Ziel der Gleichberechtigung rückt weiter in die Ferne.

5. Fazit

Die neoliberale Sichtweise, dass ökonomischer und gesellschaftlicher Status des Individuums vor allem von dessen persönlichem Einsatz und Leistung abhängig sind, hat sich auch im Kontext des Feminismus verbreitet. Der sogenannte „Marktfeminismus“ im Postfeminismus lässt vermeintlich feministische Bestrebungen konsum- und erwerbsdominiert werden und spielt somit der existierenden Gesellschaftsstruktur zu. Von Frauen* wird gefordert, sich bestehende Strukturen und Verhaltensmuster zu eigen zu machen, um erfolgreich und damit „emanzipiert“ zu sein. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass diese Sichtweise sowohl in Populärkultur als auch im klassischen Gewerbe propagiert wird.

Die Verbreitung von explizit an Frauen* gerichteter Ratgeber-Literatur zur Förderung der Karriere entspricht dem Zeitgeist der Selbstoptimierung und ist abermals ein Beispiel dafür, dass der Marktfeminismus in erster Linie konsumorientiert ist. Sie zeigt auch, dass eine Frau*, die als emanzipiert gelten will, sich im Markt durchsetzen muss und die Karriereleiter aufsteigen muss. Außerdem wird Gleichstellung in vielerlei Hinsicht, einerseits mit Blick auf Erwerbstätigkeit und andererseits mit Blick auf Verhaltensweisen, mit der Annäherung an „Männlichkeit*“ gleichgesetzt. So werden Gesellschaftsstrukturen, die Mann*sein überhaupt als Norm festgelegt haben, nicht mehr infrage gestellt und der gesellschaftskritische Ansatz geht verloren.

Gleichzeitig zeigen Fälle wie der Harvey-Weinstein-Skandal, dass grundlegende gesellschaftliche Probleme, die vom Zusammenspiel des Patriarchats und der kapitalistischen Ausbeutung zeugen, nach wie vor ungelöst bleiben, oder sich im Zuge zunehmender sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft sogar vertieft haben. Frauen* sind nach wie vor Opfer sexueller und kapitalistischer Ausbeutung, insbesondere in niedrigeren, prekären sozialen Schichten. 

Der Marktfeminismus kann als Instrument gelten, um bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse des Patriarchats und des Kapitalismus zu verfestigen. Er dient der Schwächung emanzipatorischer Kräfte und liegt im Interesse der derzeit herrschenden Eliten.

Literaturverzeichnis

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Quelle: Emilia Meise, Neoliberalismus und Postfeminismus: Die Unterminierung des kritischen Ansatzes, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.06.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=372

Mental Load – feministischer Kampfbegriff oder fruchtbares Konzept, um Geschlechtergerechtigkeit neu zu denken?

Eva Schießl (WiSe 2022/23)

„You should´ve asked!“[1] – sagt der Familienvater zur Familienmutter im gleichnamigen Comic der feministischen Bloggerin und Comicautorin Emma in der englischen Übersetzung des französischen Originals. „I would´ve helped!“[2], schiebt er hinterher. Die Situation ist die folgende: Die Mutter versucht, die beiden Kinder abendessenstechnisch zu versorgen und gleichzeitig für die Gästin des Paars zu kochen – mit allem, was dazu gehört. Dabei passiert es, dass das Essen überkocht. Auf den Ausruf des Mannes, was sie denn nur getan hätte, antwortet sie wütend, dass sie eben alles mache, woraufhin das oben genannte Zitat fällt.

So weit, so vertraut? Vor allem in heterosexuellen Partner:innenschaften mit Kindern tritt dieses Phänomen auf, doch auch von Freund:innen in ebensolchen Beziehungen ohne Nachwuchs haben sicher viele Frauen* voneinander schon den Satz “Sieht der denn einfach nicht, was alles getan werden muss?“ gehört. Einen Namen hat dieses Phänomen auch: Mental Load. Der Begriff beschreibt hauptsächlich die „Last der alltäglichen, unsichtbaren Verantwortung für das Organisieren von Haushalt und Familie“[3], die Initiative Equal Care Day nimmt aber auch die Gedankenarbeit für die Koordination beruflicher Aufgaben, sowie die Beziehungsarbeit in beiden Lebensbereichen in die Definition mit auf.[4] Diese Last übernehmen meist die Frauen*. Die Diskussion um Mental Load nahm anlässlich von Covid-19, in Verbindung mit dem Diskurs um Care-Arbeit und vermuteter Re-Traditionalisierung der Familie, medial an Fahrt auf. Zum Beispiel in der Studie Parenthood in a Crisis 2.0 erwies sich die subjektiv wahrgenommene, vermehrte Überbelastung von Frauen* in der Pandemie als wesentlich höher als die der Männer, ganz unabhängig davon, ob Kinder mit im Haushalt lebten.[5] Die Autorinnen vermuten als Begründung neben dem auch schon vor der Pandemie bestehenden Gender Care Gap die ungleiche Verteilung des größer gewordenen Mental Loads.

Was ist das nun schon wieder für ein neu ersponnenes Modewort, lediglich erfunden, um Futter für die Feuilletons zu liefern? Ein weiterer feministischer Kampfbegriff, der die angebliche Benachteiligung von Frauen* beweisen soll? Oder ist Mental Load schlicht und einfach ein sehr brauchbares Konzept, um die unsichtbare Mehrbelastung von Frauen* sichtbar zu machen und anhand dessen die Gleichstellung der Geschlechter neu zu denken? So viel lässt sich schon verraten: Neu ist die Idee nicht. Bereits in den 1950ern beschäftigte sich das Müttergenesungswerk damit, nur nicht unter diesem Namen – der entstammt den 70ern, kommt aber erst jetzt im öffentlichen Diskurs vor.[6] Und dass Mental Load für den Feminismus und die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit absolut notwendig ist, statt Kampf- oder Modebegriff zu sein, soll dieser Essay verdeutlichen.

Der Begriff Mental Load lässt sich, wie bereits angeklungen, im größeren Feld der Care-Arbeit verorten. Bekannt ist mittlerweile, dass Sorgearbeit auch Arbeit ist – und zwar unbezahlte. Sehen wir uns nun (leider sehr heteronormativ) die heterosexuellen Beziehungen mit und ohne Kinder an, denn hier wird das Mental-Load-Ungleichgewicht besonders markant deutlich (was nicht heißt, dass es in anderen Beziehungsformen nicht auch auftreten kann und dort ebenfalls untersucht werden muss – Mental Load ist für sich genommen zuerst einmal nicht geschlechtsspezifisch).

In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wird die Erwerbsarbeit weitgehend noch immer den Männern zugeordnet. Alle Arbeit, die die sogenannte Reproduktion betrifft, wird den Frauen* überlassen.[7] Obwohl die Befürwortung dieses Modells abnahm und -nimmt, stellt es sich in der Realität vielerorts noch ziemlich genau so dar.[8] Selbst, wenn Frauen* ebenfalls einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ändert sich das Verhältnis in der Reproduktionsarbeit nicht.[9] Allein hier müssten schon alle Alarmglocken schrillen. Bereits 1989 veröffentlichte Arlie Hochschild eine Studie, die die schon im Vorhinein vermutete Second Shift der Frauen* nach der Lohnarbeit Zuhause bestätigte.[10] Regina Becker-Schmidt spricht von der doppelten Vergesellschaftung der Frau*, was bedeutet, dass sie sowohl erwerbstechnisch als auch auf Sorgearbeit bezogen ihre Arbeitskraft einsetzen muss.[11] Entscheidend ist, dass es sich hierbei wohl kaum um eine individuelle Problematik handelt. Vielmehr spielt sich das Ganze auf gesellschaftlicher bzw. struktureller Ebene ab.[12]

Nun hat sich in den letzten Jahren sicherlich einiges getan. Die Verteilung der Care-Arbeit wird zumindest zunehmend verhandelt, neue Vaterrollen werden definiert, Männer sind zunehmend bereit, sich zu kümmern. Und trotzdem: Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wenden Frauen* im Schnitt täglich immer noch 52,4 Prozent mehr Zeit für Care-Arbeit auf. Haben sie Kinder, sind es ganze 83,8 Prozent mehr.[13] Durch den Mental Load kommt außerdem die Komponente der Gedankenarbeit dazu, die auch in emanzipierten Haushalten oft nicht mitgedacht wird. In ihrer Studie zu diesem Thema von 2019 stellt Allison Daminger fest, dass immerhin die Höhe der jeweiligen Gesamtarbeitsstunden von Eltern, wenn man Lohn- und Sorgearbeit jeweils aufrechnet, nicht mehr signifikant geschlechtsspezifisch ist.[14] Die Daten ihrer Studie legen aber nahe, dass die Erklärung hierfür ist, dass die kognitive Arbeit, wie sie sie nennt, bisher in Studien nicht miteinbezogen wurde.[15] Das zeigt, wie wichtig es ist, sich nun endlich damit zu beschäftigen.

Bekannt wurde das Phänomen Mental Load durch Comics, wie den oben erwähnten der Autorin Emma, sowie in Deutschland durch das Buch Raus aus der Mental-Load-Falle von Patricia Cammarata.[16] Zusammenfassend kann man Mental Load drei Eigenschaften beziehungsweise Mechanismen zuschreiben: Er ist erstens unsichtbar, weil er innerlich stattfindet und abstrakt ist, zweitens ist er zeitlich und räumlich unbegrenzt, und drittens dauerhaft, da es um das (emotionale) sich Kümmern von nahen Menschen geht.[17] Diese Charakteristika machen es nicht verwunderlich, dass Mental Load auch von den Leittragenden selbst oft nicht erkannt wird. Im Folgenden werden einige Einwände skizziert, die so oder so ähnlich erhoben werden, um der Bedeutung von Mental Load den Wind aus den Segeln zu nehmen oder, um Mental Load in eine Ecke vermeintlich unnötiger feministischer Erfindungen zu stellen. Ich möchte zeigen, wie die Argumente recht schnell entkräftet werden können. So soll auch das Konzept Mental Load noch klarer werden.

„Das bisschen Hausarbeit – Müll runterbringen dauert grad mal eine Minute! Und denken muss man da nun wirklich nicht.“ Zuerst also eine ganz klassische Aussage, die eine recht unreflektierte Sicht auf Care-Arbeit allgemein widerspiegelt. In der Summe sind es aber eben viel mehr Dinge als der Müll, kann man direkt erwidern. Und selbst an den muss man denken bzw. bemerken, dass der Mülleimer voll ist und ihn dann auch wirklich leeren. Tatsächlich umfasst Care-Arbeit sehr viel mehr: Kindererziehung und die dazugehörigen Entscheidungen, alle Arbeiten im Haushalt wie Einkaufen, Kochen, Putzen, Aufräumen, Waschen, um nur eine Auswahl zu nennen. Zusätzlich, und genau da kommt Mental Load ins Spiel, geht es um die Gesamtorganisation und darum, den Überblick zu behalten, sowie die Bedürfnisse aller abzudecken und für alle ein offenes Ohr zu haben. Nur ein Beispiel: Bei einem Termin bei dem:r Zahnärzt:in geht es eben nicht nur um die Begleitung des Kindes dorthin, also den eigentlichen Vorgang. Tatsächlich beinhaltet ein solcher Termin das rechtzeitige Vereinbaren des Termins, wenn wieder eine Kontrolle ansteht. Es geht um die Absage des parallel stattfindenden Fußballtrainings, darum, die Krankenkassenkarte mitzunehmen (und zu wissen, wo sie sich befindet) und das Kind und den Partner, der es begleiten soll, daran zu erinnern, dass der Termin morgen stattfindet und vorher die Zähne geputzt werden müssen. Von der emotionalen Begleitung des Kindes, die ein solches Vorhaben erforderlich machen kann, mal ganz zu schweigen.

Daran lässt sich schon erkennen: Dieser eine vermeintlich kleine Vorgang hat ganz schön viele Unteraufgaben und ist mit Sicherheit nicht der einzige, der bedacht werden muss. Die Überbelastung von Frauen*, die diese Arbeiten größtenteils alleine übernehmen, kann gesundheitliche Auswirkungen haben. Physisch können sie Schlafprobleme, Kopf- oder Rückenschmerzen verursachen, psychisch zu Erschöpfung, Depression und Angst führen.[18]

Was der Aussage zum Thema Müll des Weiteren entnehmbar ist: Eine fehlende Wertschätzung für die Aufgaben der Sorgearbeit. Wird hingegen anerkannt, was und wie viel da geleistet wird, steigt das Selbstwertgefühl, wodurch der Mental Load abnimmt.[19] Und um diese Anerkennung zu erreichen, die ihnen eben meist nicht erwiesen wird, verausgaben Mütter sich dann oft noch mehr.[20] Dabei geht es ja nicht nur um individuelle Wertschätzung, sondern vielmehr um die gesellschaftliche Anerkennung der Leistung. Interessant ist in diesem Zusammenhang zudem, was Franziska Schutzbach in Bezug auf die Forschung von Lisbeth Bekkengen unter „Paradoxie der Anerkennung“[21] zusammenfasst: Beteiligen sich Männer an Sorgearbeit, werden sie gelobt, bei Frauen* wird sie vorausgesetzt.[22] All das darf aber natürlich nicht zu der irrigen Annahme führen, dass mit ein bisschen Klatschen alles erledigt wäre.

„Frauen* können das doch auch besser mit dem Kümmern um alle, liegt irgendwie in ihrer Natur.“– darauf lässt sich einfach und klar antworten: Nein. Doing gender wird nun wirklich lang genug diskutiert, sodass ein solches Argument eigentlich nicht mehr existieren dürfte. Statt Genetik geht es um Sozialisation. Den Menschen wird überall und vom ersten Atemzug an vermittelt, wie eine gute Mutter zu sein hat, und durch die ständige Präsenz dieses Bildes wird es Gesellschaft und Individuum eingebrannt.[23] Haben Frauen* einen Job, so stehen sie im Generalverdacht, die Familie zu vernachlässigen, kümmern sie sich nur um die Familie, leisten sie angeblich nicht genug. Außerdem flüstert ihr gesamtes Umfeld ihnen konstant ins Ohr, dass sie emotionaler seien, mehr Empathie hätten – klar, dass man dann denkt, dass man dieser Erwartung entsprechen muss. Auch die Erziehung ist weit davon entfernt, geschlechtsneutral zu sein und sieht für kleine Mädchen* Puppen, um die man sich zu kümmern hat, vor. Aus Sicht der Rollentheorie übernehmen in heterosexuellen Paaren, die Kinder erwarten, Mütter und Väter diejenigen Rollen, die ihnen vorgelebt wurden, mit allen Normen, Werten und Erwartungen.[24] Es gibt wahrlich nicht viele Fälle, in denen diese nicht dem Klischee entsprachen. Und auf die Person, die weniger Lohnarbeit leistet, um mehr Sorgearbeit zu übernehmen, fällt meist auch der Mental Load zurück.[25] Das muss nicht die Frau* sein, ist aber bekanntermaßen in der Regel die Frau*. Und natürlich, wenn Frauen* dann alle diese Aufgaben übernehmen und quasi in sie hineinwachsen, selbstverständlich werden sie dann auch besser darin sein als Menschen, die dies viel weniger tun. Es geht also um Übung und nicht um naturgegebene Fähigkeiten. Und zwar sowohl beim Windeln wechseln oder Kinder ernähren als auch dabei, die Gesamtverantwortung in einer Familie zu übernehmen. In ihrem Beruf können Männer das ja übrigens auch meistens mit dieser Verantwortung.

„Alles, was mir meine Frau* aufträgt, erledige ich zuverlässig! Wir teilen uns das gerecht auf.“ Und genau hier liegt der springende Punkt, warum das hier keine faire Arbeitsteilung ist: Weil nicht beide gleichermaßen die Verantwortung tragen, und der Mann oft nur Aufträge, an die die Frau* denken muss, erfüllt – das heißt der Mental Load bleibt ungeteilt. Frauen* bleiben die Manager:innen, die durch ihre Position dauerhaft mit der inneren To-Do-Liste konfrontiert sind.[26] Aus der Aussage lässt sich herauslesen, dass eine Auftragserteilung erwartet wird, und zu erledigende Vorgänge von selbst gegebenenfalls nicht erkannt oder erledigt werden. Das zementiert die Gesamtverantwortung der Frau* und wenn sie dann, wie Emma in ihrem Comic schreibt und zeichnet, auch noch einen großen Teil der Anforderungen selbst absolvieren soll, übernimmt sie insgesamt ¾ der Arbeit.[27] Problematisch ist außerdem, dass Paare, die sich die Sorgearbeit vermeintlich gerecht aufteilen und auch sehr explizit und überzeugt die Gleichberechtigung verfolgen, auf diese Weise manchmal sogar die kognitive Mehrarbeit der Frauen* verschleiern.[28] Es klingt absurd, und doch ist dieser Punkt sehr einleuchtend: Nur weil man an die Gleichstellung aller Menschen als Ideal glaubt, heißt das nicht, dass man nicht auch in einer Welt sozialisiert wurde, die einem etwas anderes unterjubeln will. Und deshalb ist es zentral, sich konstant zu fragen, ob man die Werte, die man vertritt, auch wirklich so lebt. Dafür muss nicht zuletzt das Selbstbild immer und immer wieder mit der gelebten Praxis abgeglichen werden. Die Faktenlage zeigt, dass das notwendig ist: Partner:innen, die sich beide kümmern und Sorgearbeit übernehmen, teilen sich noch lange nicht den Mental Load.[29] Interessant ist auch, dass Entscheidungen trotzdem fast immer unter der gleichen Beteiligung beider gefällt werden, das liegt laut Studie daran, dass diese mit Geltungsbewusstsein und Ansehen assoziiert werden.[30] Wer aber tendenziell die Vorarbeit für die Entscheidung auf sich nimmt, kann man sich denken.

„Um die Kinder kümmere ich mich wirklich sehr viel. Das ist auch Mental Load nach einem langen Arbeitstag!“ Auch wenn das nicht als Mental Load bezeichnet werden kann, ist das an sich ein guter Anfang. Dennoch erweist sich die Angelegenheit als ähnlich wie oben: Sich um Nachwuchs zu kümmern bedeutet nicht, die Absolution erteilt zu bekommen, sich auch in anderen Care-Arbeits-Bereichen einzubringen. Denn oft verschiebt sich in einer solchen Konstellation die Verantwortlichkeit nur. Über Haushaltsaufgaben, die Frauen* in der Folge der abgegebenen Kinderbetreuung zu einem noch größeren Teil übernehmen, wird nicht mal mehr verhandelt – was wiederum die Belastung der Frauen* abermals unsichtbarer macht.[31] Darüber hinaus kriegen Väter dann meist die Sahnehäubchen der Zeit mit den Kindern ab, wie zum Beispiel Ausflüge.[32]

„Die wollen ja auch alles managen und selbst machen, meine Hilfe wird gar nicht angenommen!“ Väter haben also in diesem Argument aufgrund der angeblich gluckenhaften Mutter gar keine Möglichkeit, sich einzubringen, auch wenn sie es wollen. Hier kommt der Begriff maternal gatekeeping ins Spiel, der klassischerweise so viel bedeutet wie die mütterliche Befähigung dazu, die väterliche Beschäftigung mit den Kindern zu beschneiden.[33] Ohne nun genauer auf den Begriff eingehen zu können, da dies den Rahmen hier sprengen würde, klingt er doch recht gegensätzlich zum Konzept von Mental Load. Dass es dieses Phänomen geben mag, dass Mütter die Hilfe von Vätern abweisen, mag sein, aber es kann fälschlicherweise natürlich auch missbraucht werden, indem man so die männliche Nicht-Beteiligung an Care-Arbeit rechtfertigt. Und maternal gatekeeping ignoriert zudem komplett den bereits erwähnten Einfluss von Sozialisation und Erwartung an die Frauen*. Auch Franziska Schutzbach entkräftigt dieses Begründungsmuster recht bündig, indem sie auf Patricia Cammarata verweist: Einerseits, sagt sie, wird nicht erledigte Sorgearbeit auf die Frauen* zurückgeführt – und nicht auf die Männer.[34] Statistisch viel bedeutsamer als das maternal gatekeeping sei aber die geringe Anstrengung von Männern, sich für Haushaltsdinge verantwortlich zu fühlen. [35] Das wiederum hat natürlich auch mit dem Abgeben von jahrtausendealten Privilegien zu tun. Und seine Privilegien abgeben muss man eben wirklich wollen und setzt voraus, sich dieser und der damit verbundenen Machtungleichgewichte schmerzlich bewusst zu werden.

Wie kann das Konzept Mental Load nun weitergedacht werden, in die alltäglichen Überlegungen eingebettet werden und was ist der größere Rahmen, in dem das Thema betrachtet werden muss? Zunächst ist es wichtig, Care-Arbeit und damit auch den Mental Load intersektional zu denken. Strukturelle Diskriminierung spielt hier eine entscheidende Rolle – wird man marginalisiert, wird selbstverständlich auch die emotionale Last höher.[36] Um Care-Arbeit outzusourcen, damit Frauen* eben nicht überlastet sind, werden migrantisierte Frauen* dafür geringfügig entlohnt eingestellt.[37] Care-Ketten wie diese reproduzieren nicht nur transnationale Ungleichheiten, sie verursachen logischerweise ebenfalls einen großen Mental Load für die Betroffenen, die die kognitive Arbeit für eine andere Familie erledigen und sich nicht um ihre gegebenenfalls eigene kümmern können.

Praxistauglich gemacht hat Patricia Cammarata das Thema Mental Load, indem sie konkrete Tipps gibt: Man sollte ganz genau aufdröseln, welche Unterpunkte einzelne Aufgaben beinhalten.[38] Darauf aufbauend können ganzheitliche Aufgabenbereiche verteilt werden, für die komplett nur die jeweilige Person verantwortlich ist, inklusive des Mental Loads.[39] Helfen können dabei die Tests der Initiative Equal Care Day, um herauszufinden, wer bisher wie viel Arbeit übernimmt.[40] Schaut man auf eine größere Ebene, so wird leider auch klar: das Problem ist systemimmanent, denn nur aufgrund von unbezahlter Sorgearbeit kann der Kapitalismus bestehen. Ein Wandel des wirtschaftlichen Systems und eine ganz grundlegende Macht- und Ressourcenumverteilung sind aus aktueller feministischer Perspektive unabdingbar.[41] Dazu möchte ich kurz die konkrete Idee der Soziologin Frigga Haug erwähnen. Sie stellte 2008 ihre Vier-in-eine-Perspektive vor, die die Sinnhaftigkeit der großen Bedeutung, die der Erwerbsarbeit in unserer jetzigen Zeit zukommt, hinterfragt.[42] Sie schlägt vor: Von den 16 Stunden, die Menschen am Tag circa wach sind, sollen je vier für Lohn-, Care-, kulturelle Selbstverwirklichung und politisches Engagement zur Verfügung stehen.[43] Wie diese visionäre Utopie umgesetzt werden könnte, sei dahingestellt, aber eines steht fest: Ein Umdenken in Bezug auf die Lohnarbeit brauchen wir jedenfalls, wenn wir Care-Arbeit mehr Anerkennung verschaffen und gerechter verteilen wollen.

Diese genauere Betrachtung von Mental Load hat gezeigt, dass er kein sinnfreies Konzept sein kann, um die Gleichstellung der Geschlechter in Sachen Care-Arbeit zu fokussieren – im Gegenteil: Durch seine Unsichtbarkeit ist das Phänomen zwar schwer erkennbar, spiegelt aber sehr klar unsere Sozialisation wider, nach der Frauen* sich wie Projektleiterinnen um Kinder, Haushalt und Emotionen zu kümmern haben. Das muss sich ändern, indem wir versuchen, den Mental Load sichtbar zu machen, ihn produktiv zu nutzen und so Frauen* zu entlasten. Es lohnt sich anhand des Begriffs für eine wirklich faire Aufteilung von Sorgearbeit zu kämpfen, um so auch unseren eigenen Kindern ein anderes Modell vorzuleben und dabei aufzuhören, uns selbst auszubeuten. Das wäre zumindest ein kleiner Schritt in Richtung der Abschaffung des Patriarchats. Doch die abschließende Beobachtung, dass gefühlt circa 99% der Literatur über Mental Load von Frauen* geschrieben wurde (als natürlich nicht repräsentativer, kleiner Anhaltspunkt kann zumindest das Literaturverzeichnis dieses Essays gelten), zeigt das unbändige (wissenschaftliche) Interesse der männlichen Seite, die Dinge wirklich anzugehen. Eines steht fest: Es bleibt noch viel zu tun.

Literatur

Becker-Schmidt, Regina: Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften, 65-74.

Bücker, Teresa: Ist es radikal, sich die Gedankenarbeit zu teilen? In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 08.12.2020. Online verfügbar unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/mental-load-teilen-teresa-buecker-89594, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-gleichstellung-137294, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

Daminger, Allison: The Cognitive Dimension of Household Labor. In: American Sociological Reciew (2019), Vol. 84(4). Los Angeles, USA: Sage Publications, 609-633.

Dean,Liz/Churchill, Brendan/Rupanner, Leah: The mental Load. Building a deeper theoretical understanding on how cognitive and emotional labor overload women and mothers. In: , Vol. 25, (2022), online verfügbar unter: https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/13668803.2021.2002813, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

Emma (2018): The mental Load. A feminist comic. New York/Oakland/London: Seven Stories Press. Online verfügbar unter: https://english.emmaclit.com/2017/05/20/you-shouldve-asked/, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

https://www.equalcareday.de/mental-load/, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

https://www.gender-mediathek.de/de/care-arbeit, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

Land, Louise: „Mental Load ist unsichtbar, kann aber krank machen“. Interview mit Simone Frohwein und Elke Hüttenrauch. In Süddeutsche Zeitung Magazin vom 31.01.2023. Online verfügbar unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/mental-load-stress-belastung-burn-out-muetter-frauen-92354, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

Lange, Bianca/Ohlbrecht, Heike: Parenthood in a crisis 2.0. Motherhood in the Tension Between Homeschooling and Home Office. A Comparison After 1 Year of Pandemic. In: International Dialogues on Education Journal, 8(1/2), 36–50 (2022). Online verfügbar unter: https://doi.org/10.53308/ide.v8i1/2.252, zuletzt aufgerufen am 09.03.2022.

Lutz, Helma/Benazha, Aranka Vanessa: Transnationale soziale Ungleichheiten. Migrantische Care- und Haushaltsarbeit. In: Biele Mefebue, Astrid/Bührmann, Andrea D./ Grenz, Sabine (Hrsg.) (2022): Handbuch Intersektionalitätsforschung, Wiesbaden: Springer VS, 289-302.

Notz, Gisela: Arbeit. Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsarbeit. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften, 480-488.

Puhlman, Daniel J./Pasley, Kay: Rethinking Maternal Gatekeeping. In: Journal of family theory & review (2013), Vol.5 (3). Hoboken, USA: Wiley, 176-193.

Schrammel, Barbara: Mental-Load. Ein psychodramatischer Blick auf die ungleiche Verteilung der Care-Arbeit. In Psychodrama Soziom (2022) 21, 369-379.

Schutzbach, Franziska (2021): Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. München: Droemer, 239-267.


[1] Emma 2018, https://english.emmaclit.com/2017/05/20/you-shouldve-asked.

[2] Ebd.

[3] https://equalcareday.de/mental-load/.

[4] Vgl. ebd.

[5] Vgl. Lange/Ohlbrecht 2022, 45.

[6] Vgl. Frohwein in Land 2023, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/mental-load-stress-belastung-burn-out-muetter-frauen-92354.

[7] Vgl. Notz 2010, 480-481.

[8] Vgl. ebd., 481.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. Schutzbach 2021, 245.

[11] Vgl. Becker-Schmidt 2010, 66.

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-gleichstellung-137294.

[14] Vgl. Daminger 2019, 628.

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. Hüttenrauch in Land 2023.

[17] Vgl. Dean/Churchill/Rupanner 2022, 20-22.

[18] Vgl. Frohwein/Hüttenrauch in Land 2023.

[19] Vgl. Frohwein in Land 2023.

[20] Vgl. Bücker 2020, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/mental-load-teilen-teresa-buecker-89594

[21] Schutzbach 2021, 249.

[22] Vgl. ebd.

[23] Vgl. Hüttenreich in Land 2023.

[24] Vgl. Schrammel 2022, 372-373.

[25] Vgl. ebd., 373.

[26] Vgl. Schutzbach 2021, 246.

[27] Emma 2018.

[28] Vgl. Schutzbach 2021, 250-252.

[29] Vgl. Daminger 2019, 609.

[30] Vgl. ebd.

[31]  Vgl. Schutzbach 2021, 249-250.

[32] Vgl. Schutzbach 2021, 250.

[33] Vgl. Puhlman/Parsle 2013, 176. Die Autor:innen weiten in ihrem Artikel den Begriff allerdings aus und wollen ihn neu konzeptualisieren, das würde hier aber zu weit vom Thema wegführen.

[34] Vgl. Schutzbach 2021, 252-253.

[35] Vgl. ebd., 253.

[36] Vgl. https://www.gender-mediathek.de/de/care-arbeit.

[37] Vgl. Lutz 2022, 293-294.

[38] Vgl. Schutzbach 2022, 253-254.

[39] Vgl. Hüttenrauch in Land 2023.

[40] Vgl. https://equalcareday.de/mental-load/.

[41] Vgl. Schutzbach 2021, 259.

[42] Vgl. ebd., 261.

[43] Vgl. ebd.


Quelle: Eva Schießl, Mental Load – feministischer Kampfbegriff oder fruchtbares Konzept, um Geschlechtergerechtigkeit neu zu denken? in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/mental-load-feministischer-kampfbegrif

Geschlechtervielfalt in Musikwirtschaft und Livebranche

Was sind die Hintergründe mangelnder geschlechtlicher Diversität im deutschen Musikmarkt?

Eva Briegel (WiSe 2022/23)

Einleitung

„Frauen machen Kunst für Frauen, Männer machen Kunst für Menschen“

(Liere, 2022)

Diversität, Gendergerechtigkeit und Inklusion sind in den vergangenen Jahren in den Fokus der deutschen Musiklandschaft gerückt. Immer mehr Musikschaffende fragen sich, wie es um ihre Chancen, ihre Kunst einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und davon leben zu können, eigentlich bestellt ist. Bereits seit einigen Jahren wird eine lebhafte Debatte darüber geführt, wie es um das Geschlechterverhältnis in allen Bereichen der deutschen Musikindustrie, aber auch bei den Musikschaffenden selbst, den Songschreiber*innen, Musiker*innen auf und hinter der Bühne, im Bereich Komposition, Musikproduktion, Livegeschäft, in Booking-agenturen,  bei Radiostationen, im Mediengeschäft und vielen anderen Teilbereichen des Musikbusiness steht. Die Bilanz ist ernüchternd: Trotz vielfältiger Initiativen, einer wachsenden Anzahl an kritischen Stimmen in den Medien und der Branche selbst und eines sich wandelnden Problembewusstseins sind die Fortschritte seit dem Aufkommen der Debatte um mehr Inklusion im Popgeschäft und eine Entwicklung in Richtung Vielfalt bescheiden. Noch immer ist der allergrößte Teil der Musikwirtschaft männlich.

Ich bin seit vielen Jahren Teil der Musikbranche und habe immer wieder erlebt, in welchen Abhängigkeiten sich junge Künstler*innen befinden, welche große Rolle es spielt, (von Männern) gemocht zu werden und in welchem Ausmaß junge Künstler*innen von allen Formen von Sexismus betroffen sind.

In dieser Arbeit soll beleuchtet werden, welche Gender-Stereotypen dazu führen, dass es einer Branche, die von sich behauptet, sich durch Offenheit, Toleranz und Vielfältigkeit auszuzeichnen, so schwerfällt, sich sichtbar zu verändern.

Hauptteil

Zahlen

Der Anteil an Frauen in den deutschen Charts ist seit Jahren rückläufig. Eine Studie des Streaminganbieters Qobuz kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2021 nur 7,32%  aller Top-20-Titel in Deutschland von Frauen interpretiert wurden (Diversität in den deutschen Charts: Frauenquote erreicht 2021 Tiefstwert, 2022). In einer Erhebung der MaLisa Stiftung sollten noch genauere Daten erhoben werden. 2021 veranlasste sie Recherchen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche. Darüber hinaus wurde in Kooperation mit der GEMA und Music S Women*, dem Dachverband der Musikfrauen* in Deutschland, eine Studie zum Thema „Charts, Werke und Festivalbühnen“ durchgeführt. Aus deren Ergebnissen lässt sich leider das Gegenteil dessen ablesen,  was öffentlich gefordert wird: in jedem der Bereiche Songwriting, GEMA-Mitgliedschaft, Gema-gemeldete Autorenschaft und Engagements bei Musikfestivals lag der Frauenanteil bei weit unter 20 %, und trotz einiger Initiativen, beispielsweise Selbstverpflichtungen der Veranstalter und der medialen Aufmerksamkeit war dieser Prozentsatz in den meisten Bereichen im Vergleich zu 2010 rückläufig. Einzig die weibliche Teilnehmer*innenquote kleinerer Festivals stieg leicht an.  Waren die Festivals von mittlerer bis großer Größe (41.00 – 200.000 Besucher*innen), stieg der Anteil der Musiker*innen von 2010 bis 2019 lediglich von 6 % auf 8 %. Der männliche Autorenanteil aller bei der GEMA gemeldeten Werke liegt sogar bei über 90 %, Tendenz steigend. Dagegen betrug der Anteil an nicht binären Personen und Personen ohne Geschlechtsangabe in allen Bereichen unter 1 %. Songs aus rein weiblicher Autorenschaft machten 2010 noch knapp über 3 %,  2015 knapp 2 % und  2019 weit unter 1% aus (Gender in Music – Charts, Werke und Festivalbühnen, 2022). Eine Ausnahme bildet das öffentlich-rechtliche Radio mit einer Mitarbeiterinnenquote von 50 %. Die redaktionelle und programmliche Entscheidungsmacht liegt aber nach wie vor weitgehend in männlicher Hand (Röben, 2022). Diese Zahlen überraschen, da in unserer Wahrnehmung das Geschlechterverhältnis im Radio und bei Streamingdiensten ausgeglichen zu sein scheint. Es gibt große weibliche Popstars, die vermeintlich das Musikgeschäft dominieren. Doch diese mediale Fokussierung auf einzelne weibliche Superstars wie Taylor Swift oder  Miley Cyrus überdeckt offenbar die Realität.

Die Musikwirtschaft als people business

Die Musikindustrie ist in vielen Bereichen ein sog. „people business“, eine personenbezogene Branche, in der persönliche Kontakte, Freundschaften, und die Eigenschaft, gemocht zu werden von großer Bedeutung sind. Viele Businesskontakte, aber auch Engagements und die Jobvergabe funktionieren über Sympathie, persönliche Präferenzen und Beziehungen. Da extrem viele Angehörige der Branche Autodidakten ohne Berufsabschlüsse sind, bzw. Berufsabschlüsse im Feld der Popmusik eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Persona der oder des Einzelnen von größerer Bedeutung als in anderen Branchen. Hier gibt es selten Zeugnisse oder Auswahlverfahren, mit Hilfe derer sich der diskriminierungsfreie Zugang zu verschiedenen Positionen gewährleisten lässt. Das Musikbusiness bietet gute Möglichkeiten für Quereinsteiger*innen, egal ob als Musiker*in, im Management, als Licht-Operator*in, als Gitarrentechnikern*in, als „Roadie“, oder in vielen anderen Berufen. Dabei ist das, was das Musikgeschäft ausmacht, gleichzeitig Chance und Nachteil: Subjektivität und Geschmack. Gerade im Pop ist die Qualität eines Acts nicht objektiv messbar. Die Kunst kann nicht von dem oder der Künstler*in getrennt beurteilt werden und nicht selten hat der oder die Musiker*in mit der objektiv schlechtesten Stimme oder die Band mit den geringsten musikalischen Fähigkeiten den größten Erfolg. Eine langjährige Ausbildung mit anerkanntem Abschluss kann einem oder einer Musiker*in den Weg ins Pop-Geschäft ermöglichen, sie ist aber nicht zwingend notwendig. Im Bereich elektronischer Musik ist der Weg über eine musikalische Ausbildung eher selten, da die verwendeten Technologien relativ neu sind und die technologische Entwicklung so schnell voranschreitet, dass sich die Inhalte der verschulten Weitergabe entziehen. Oft entscheiden Geschmack, die persönliche Sympathie oder private Kontakte über ein Booking auf einem Festival oder einen Slot als Vorband bei einem etablierten Act. Die Musikindustrie funktioniert also häufig und viel über Netzwerke. Suchen Popstars Live-Musiker*innen für ihre Tour, suchen Künstler*innen Produzent*innen für ihre Tonaufnahmen, suchen Bands Toningenieur*innen oder Lichttechniker*innen für ihre Live-Shows, gehen sie bewusst den Weg über Netzwerke, Mund-zu-Mund-Propaganda und persönliche Empfehlungen und Referenzen.

Im Bereich des Live-Tour-Geschäftes gibt es so gut wie keine objektiven Auswahlverfahren. Das wichtigste Qualifikationskriterium für einen dieser Berufe ist neben guten Beziehungen die Erfahrung. Diese kann aber nur erworben werden, wenn es einen initialen Zugang zum Musikgeschäft und Live-Business gibt, somit fällt auch dort Frauen der Quereinstieg deutlich schwerer. Auf die Frage der Malisa-Studie „Mit welchen Barrieren sehen Sie sich persönlich in Ihrer beruflichen Weiterentwicklung konfrontiert?“ antworten 54 % aller befragten Frauen mit „Vetternwirtschaft“, 49 % sahen sich mit „Stereotypen und Vorurteilen“ konfrontiert und 47 % gaben „intransparente Entscheidungskriterien“ als Hindernis an (Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche, 2021).

Mangelnde Repräsentanz im Live-Geschäft und auf Festivals ist aber für viele Musikschaffende in erster Linie ein finanzielles Problem. Die vorwiegende Nutzung von Streamingdiensten und die damit einhergehenden geringen Absatzzahlen physischer Tonträger macht für viele Musiker*innen das Livegeschäft zur einzigen wirklichen Einnahmequelle. Die Kosten einer eigenen Headliner-Tour aber sind oft so hoch, dass sich die Touren kaum selbst finanzieren und nur in der Mischkalkulation mit Festivalauftritten können viele Musiker*innen leben, üben, ihre Musik schreiben und produzieren. Der erschwerte Zugang zu Festivalbühnen stellt für nicht männliche Musiker*innen also sowohl ein inhaltliches als auch ein wirtschaftliches Problem dar. 

Mögliche Hintergründe mangelnder Vielfältigkeit im Musikgeschäft

Fragt man auf Entscheider*innenebene nach, also bei Radioredakteur*innen, Festival-Veranstalter*innen, oder in (überwiegend männlich besetzten) Jurys für die Musikpreisvergabe, werden diverse Gründe genannt. Frauen seien angeblich oft „nicht so gut“, es gäbe ohnehin nicht viele Frauen, die Musik machten oder das Publikum wolle lieber Männer als Frauen sehen, das zeige sich anhand des Kartenverkaufs.

Tatsächlich haben Frauen aufgrund ihres Seltenheitswertes, aber auch wegen inhaltlicher Gründe eine Sonderstellung inne. Nicht selten offenbart sich ein männlicher Blick auf weibliche und nicht-binäre Kolleg*innen. So bezeichnet man Bands, deren Mitglieder zu größeren Teilen weiblich sind, oft als „Frauenbands“. Inhaltlich unterstellt man Künstlerinnen, dass sich ihre Lieder um typische Frauenthemen wie Partnerschaft, ihre Rolle als Frau, ihr Aussehen oder die Anforderungen der Gesellschaft an sie als Frau drehen. In vielen Sparten des Unterhaltungsbetriebs drängt sich der Gedanke auf, dass Frauen, die diesem Klischee entsprechen, öfter gebucht werden. So bestehen zum Beispiel die Inhalte weiblicher Comedians aus typisch „weiblichen Themen“. Das könnte daran liegen, dass Entscheider*innen, die Künstler*innen für Festivals buchen, Künstlerinnen bevorzugen, die ihrem Bild von „weiblicher Kunst“, „weiblichen Themen“ oder auch der Vorstellung von dem, was „weibliches Publikum“ interessiert und bevorzugt, entsprechen. Durch die größtenteils männlich besetzten Entscheidungspositionen definiert also der männliche Blick auf andere Geschlechter, was gut und sehenswert ist.

Das Argument, es gebe keine guten, interessanten Frauen im Rock und Popbusiness lässt sich vergleichsweise schnell widerlegen, indem man sich das Angebot der unterschiedlichen Streamingplattformen ansieht. Dort findet man eine unglaubliche Fülle an Musik, deren Urheber*innen und Interpret*innen von allerlei Geschlechtern vertreten sind. Das Problem liegt also zum einen eher in der Förderung und Sichtbarmachung vorhandener Talente. Zum anderen stellt sich ohnehin die Frage, was „gut“ im Sinne der Popmusik eigentlich bedeutet soll. In erster Linie entspricht „gute Musik“ oft dem eigenen Geschmack und der ist bekanntlich durch individuelle Erfahrungen, Ähnlichkeiten zur eigenen Person und Identifikationspotential des Künstlers geprägt. Umso wichtiger ist es für die Gatekeeper in der Musikwirtschaft, sich vorhandene blinde Flecke bewusst zu machen, um den eigenen Geschmack nicht als Objektivität zu labeln und dadurch Andersartigkeit und fremde Perspektiven, Grundvoraussetzungen des Pop und der Kunst allgemein, zu verhindern.

Die Konsument*innensicht ist eine andere: einer Studie der Malisa Stiftung in Kooperation mit der Initiative „Keychange“ zufolge bescheinigt die Altersgruppe der 16 bis 29-jährigen Musikhörer*innen dem Thema Geschlechtervielfalt eine hohe Relevanz. Jede*r Zweite wünscht sich eine verstärkte öffentliche Auseinandersetzung, viele sind bereit, für mehr Diversität auch ihr Konsumverhalten zu verändern oder anzupassen. Allerdings sehen 43 % der Befragten die Verantwortung für geschlechtliche Ausgewogenheit in der Mehrheit bei den Veranstalter*innen, Streamingdiensten und Radioprogrammen (Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche, 2021).

Ein häufig genannter Grund für die Dominanz männlicher Künstler auf Großveranstaltungen und Festivalbühnen wie „Rock am Ring“ ist die Behauptung, „Frauen verkauften keine Tickets“, der Auftritt nicht-männlicher Künstler*innen stelle also nur aufgrund ihren Geschlechtes für Festivalbesucher keinen Kaufanreiz für ein Ticket dar. Eine Behauptung, die sich schwer überprüfen lässt, da aufgrund mangelnder Repräsentanz viele Themen und Formen der Kunst nicht in ausreichender Bandbreite dargeboten werden. Gibt es z.B nur wenige weibliche Rapperinnen, ist die Frage, ob ich Rap mag, der von Frauen gemacht wird, in viel höherem Maße von einzelnen sichtbaren Künstlerinnen abhängig, als wenn es eine Vielzahl an weiblichen Musiker*innen eines Genres gibt, und ich mir unabhängig vom Geschlecht ein geschmackliches Urteil bilden kann.

Auch stellt sich die Frage nach der Zielgruppe von Konzerten und Festivals. Werden Festivals hauptsächlich mit Bands und Künstlern, die eine stereotype Maskulinität erzählen, besetzt, ist womöglich dadurch die Attraktivität für nicht männliche Festivalbesucher geringer und das System reproduziert sich selbst. „Harter Rock“ auf der Bühne, „harte Männer“ im Publikum, Festivalveranstalter, die auf dieses Publikum eingehen, und so weiter. Das rein weiblich besetzte DCKS-Festival von Carolin Kebekus 2022 in Köln erhielt viel mediale Aufmerksamkeit und war außerdem sowohl ausschließlich mit female artists besetzt als auch sehr gut besucht. Beide Argumente, fehlende weibliche Acts sowie die Annahme, weibliche Künstler zögen kein Publikum, sind somit zumindest fragwürdig.

Ein System reproduziert sich selbst

Viele Personen, die als Quereinsteiger in der Musikbranche tätig sind, haben meiner Erfahrung nach vormals als Musiker*innen gearbeitet. Häufig fördern sie in ihrer zweiten Karriere Bands und Solokünstler*innen nach persönlicher Präferenz und nach Kredibilität, also Glaubwürdigkeit und Authentizität. Diese sind subjektiv und nicht messbar. Es bleibt der Verdacht, dass auch hier die Ähnlichkeit ausschlaggebendes Kriterium dafür ist, dass eine Person gefördert wird, die andere nicht. So werden im Rock und Pop Aggressivität und Aktivität, typisch männliche Zuschreibungen, als authentischer eingeschätzt als Introvertiertheit oder Weichheit, Eigenschaften, die gesellschaftlich eher Frauen zugeschrieben werden. Kunst aber beschäftigt sich mit allen Facetten menschlichen Seins. In der neuen Züricher Zeitung schreibt Sarah Pines: „Weibliche Kunst wird vor allem als Kunst anerkannt, wenn sie explizit feministisch ist. Der Rest interessiert nicht wirklich. Unser Verhältnis zu Frauen in der Kunst ist ebenso von Unnatürlichkeit geprägt wie von Ausblendung.“ (Pines, 2022). Künstler*innen, die ihre geschlechtliche Identität zum Thema ihres musikalischen Ausdrucks machen, werden derzeit in besonderer Weise gehört. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, die sich unbedingt weiterentwickeln muss zu einer nicht männlichen Perspektive der Vielfältigkeit menschlichen Erlebens. Immer noch wird auch in der Musik die männliche Sichtweise als „Default“ (Voreinstellung) akzeptiert und von allen Geschlechtern angenommen. Frauen können sich mit männlichen Künstlern besser identifizieren als männliche Zuhörer sich mit Frauen identifizieren. Das lässt darauf schließen, dass die weibliche Perspektive immer noch eine zweitrangige ist, die zwar beachtet, verstanden und respektiert werden kann, sich aber nicht zur Identifikation eignet, keine Vorbildfunktion erfüllt und maximal Begehren, aber kaum Gefolgschaft und Fantum auslösen kann.

Das Problem mangelnder Vielfalt in Kunst und Kultur ist längst ein Trendthema, dem sich Magazine und der Musikjournalismus, Mainstreammedien und Kulturformate verstärkt zuwenden. Sie berichten über das Problem mangelnder Diversität, die Hintergründe und mögliche Faktoren der Entstehung sowie Stellschrauben für Veränderung. Doch auch hier fehlt immer wieder die nicht-männliche Perspektive, denn auch im Musikjournalismus ist das Geschlechterverhältnis traditionell alles andere als ausgewogen. Auffällig ist dabei gerade die Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit in einer Branche, die für sich in Anspruch nimmt, Vordenker und Initiator gesellschaftlicher Veränderungen zu sein.

Problembewusstsein und Lösungswege

So unterschiedlich die verschiedenen, an der Vermarktung und Verbreitung von Musik beteiligten Organisationen sind, aus so unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten sie dabei Diversität. Während Privatradiostationen oder Plattenfirmen neue Käuferschichten suchen und neue Absatzmärkte erschließen möchten, haben institutionell geförderte Kultureinrichtungen eher die Verantwortung, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden. Häufig sind auch hier Gremien zur Förderung von Kunst und Kultur überwiegend männlich besetzt, so dass aufgrund fehlender objektiver Parameter über die Förderung junger Talente anhand von Geschmacks- und Kritiker*innenurteilen entschieden wird.

Daher fordert der Dachverband der Musikfrauen* in Deutschland „Music Women*“ in seinem 20 Punkte umfassenden Forderungskatalog unter anderem die „Einführungen von intersektionalen Quotenregelungen“, die „Einführung verbindlicher Diversitätskriterien in Gremien, Findungskommissionen, Beiräten, Vorständen, Aufsichtsräten u.a. bei staatlicher Förderung“ sowie die „Einführung von Diversitäts Checklisten bei staatlich geförderten Projekten und Institutionen im Bereich Programm, Personal und Publikum“ (Music Women* Germany, 2022). Die 2015 gegründete Initiative Keychange fordert mehr Geschlechtergerechtigkeit bei Konferenzpanels, Orchestermusikern und Komponisten und will Produzentinnen und Technikerinnen fördern. Der Keychange-Pledge, einer Selbstverpflichtung zu 50 % geschlechtergerechten Quote auf deutschen Festivalbühnen, schlossen sich mehrere deutsche Festivals an. Seit 2020 fördert Keychange 37 Musiker*innen und 37 Akteur*innen aus der Musikindustrie über einen Zeitraum von 4 Jahren und wird dafür von der Europäischen Union mit 1,4 Millionen Euro unterstützt.

Schluss

Geht man der Frage nach, warum das Geschlechterverhältnis in der Musikwirtschaft, unter Musiker*innen, Komponist*innen und in allen mit Musik zusammenhängenden Branchen des Kunst- und Kulturbetriebe,s so unausgeglichen ist, kommt man zu keiner einfachen Lösung. In erster Linie kann man die Qualität und die Qualifikation von Popmusikern schlecht messen. Ein Qualitätsmerkmal populärer Musik ist die Einzigartigkeit und Emotionalität, die sich der objektiven Bewertung entziehen. Daraus folgt, dass die Mechanismen, nach denen eine Karriere im Musikbusiness, ob als Musiker*in oder als Produzent*in, als Sound Engineer*in oder als Fotograf*in, als Musikredakteur*in oder als Autor*in, sehr anfällig sind für Diskriminierung aller Art. Die einzige Möglichkeit, mehr Chancengleichheit zu gewährleisten, ist, die entscheidenden Positionen mit Angehörigen aller Geschlechter zu besetzen. Nur so kann man sicher sein, dass im Pop auch wirklich die Vielfalt aller Perspektiven und aller Gefühle repräsentiert und behandelt werden. Daher unterstütze ich die Forderungen von Music Women* nach einer festen Quote in allen relevanten Bereichen der Musikbranche.

Abschließend bliebe noch die Frage zu klären, was man gewönne, wenn man die Musikwirtschaft um die Perspektiven aller Geschlechter erweiterte. Nicht nur, dass der Pool an Kunst- und Kulturschaffenden sich nahezu verdoppeln würde, sondern es gäbe die Chance auf die Entwicklung einer neuen Art von Musik. Wenn Musiker*innen mehr Unterstützung, Solidarität, Mentor*innenschaft und Schutz erfahren würden, würde das in hohem Maße ihre Musik beeinflussen und würde auf ihren kreativen Ausdruck wirken. Die Folge dessen könnte sein, dass wir ein Verständnis der menschlichen Gefühlswelt erfahren könnten wie noch nie zuvor, unabhängig von Geschlechtszuschreibungen und Stereotypen. 

In dieser Arbeit habe ich mich bewusst dagegen entschieden, der Frage nachzugehen, inwieweit diskriminierende Erfahrungen in Bezug auf das Geschlecht in Zusammenhang mit Sexismus und sexuellen Übergriffen stehen. Dies ist ein Thema, das unbedingt in weiteren Arbeiten reflektiert werden sollte.

 Literaturverzeichnis

Diversität in den deutschen Charts: Frauenquote erreicht 2021 Tiefstwert. (2022, 20. Dezember). Qobuz. Abgerufen am 1. Februar 2023, von https://www.qobuz.com/de-de/info/News/Diversitat-in-den-deutschen-Charts185703

Gender in Music – Charts, Werke und Festivalbühnen. (2022, 19. September). malisa Stiftung. Abgerufen am 1. Februar 2023, von https://malisastiftung.org/gender-in-music/

Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche. (2021, 17. Dezember). malisa Stiftung. Abgerufen am 2. Februar 2023, von https://malisastiftung.org/studien-und-recherchen-zu-geschlechtergerechtigkeit/

Liere, J. (2022, 4. Juni). Mitleid mit Musikmännern. www.zeit.de. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fkultur%2F2022-06%2Frock-am-ring-festival-maenner-bands-frauenanteil%3Fpage%3D4

Music Women* Germany. (2022, 4. Mai). MW*G Tagung schließt mit Forderungskatalog “Gender Equality Now!” für Politik und Branche. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.musicwomengermany.de/news/346-test

Pines, S. (2022, 16. Juli). Kunst von Frauen: Nur feministische Kunst ist gute Kunst. Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst-von-frauen-nur-feministische-kunst-ist-gute-kunst-ld.1692076?reduced=true

Röben, B. (2022, 28. April). ProQuote im Rundfunk: „Bewusstsein ist da!“ M – Menschen Machen Medien (ver.di). Abgerufen am 3. Februar 2023, von https://mmm.verdi.de/beruf/proquote-im-rundfunk-bewusstsein-ist-da-81093


Quelle: Eva Briegel, Geschlechtervielfalt in Musikwirtschaft und Livebranche, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=35

Who matters? (Fehlende) Diversität in der deutschen Klimabewegung

Kim Winter (WiSe 2022/23)

Wie ich zum Klimaschutz gekommen bin? Na, in der Grundschule habe ich schon bei Umweltschutzaktionen in der bayrischen Kleinstadt mitgewirkt, in der ich aufgewachsen bin. Meine Mutter hat mich begleitet als ich mit 8 Jahren unbedingt zu Greenpeace wollte – auch wenn die mir nur eine Broschüre in die Hand gedrückt haben. Als ich in der Schule war, gab es Fridays for Future nicht, aber ich bin mir sicher ich hätte an den Demos teilgenommen, denn meine Noten ließen es zu, mal einen Tag zu fehlen und die Lehrer*innen meinten es meistens gut mit mir. Wie ich aufgewachsen bin? Na, in einem Reihenhaus mit meiner Mutter, (meinem Vater), meiner Schwester und einer Katze. Klar, war ich auf dem Gymnasium. Absolute deutsche, weiße Mittelschicht. In den späten 2010er Jahren entsprach ich dem absoluten Cliché: Ich esse vegetarisch und kleide mich hippie-esk. Grade mit dem Abi fertig, möchte ich durch die Welt reisen, am liebsten nach Indien oder Südafrika und mich dort sozial engagieren. Rassistisch? Bin ich nicht – ich bin doch kein Nazi!

Vielleicht ist schon klar, worauf ich hinauswill. Nämlich, dass mir der Zugang zu politischer Bildung und klimaschützendem Engagement nicht schwer gemacht wurde. Dennoch wurde in meiner Sozialisation so vieles ausgeblendet. Über (Neo-)Kolonialismus wusste ich nichts, außer dass es mal so eine Konferenz gab auf der ein paar alte, weiße Männer aus Europa den ganzen Kontinent Afrika wie einen Kuchen unter sich aufteilten (habe ich in einer Karikatur gesehen). Die kolonialen Kontinuitäten, die anhaltende Ungerechtigkeit, die katastrophalen Auswirkungen des ausbeuterischen Systems Kapitalismus im Globalen Süden wurden nicht erwähnt. Damals hätte man außerdem noch guten Gewissens „Dritte-Welt Länder“ gesagt. Auch das Thema (Anti-)Rassismus wurde nur unzureichend behandelt. Rassismus wurde mit Neo-Nazis gleichgesetzt. Genauso wenig wurde in der Schule oder dem dominierenden öffentlichen Diskurs über die Widerstandsbewegungen marginalisierter Menschen aus dem globalen Süden und/oder BIPoC-Aktivist*innen gesprochen. Dass diese langjährigen, mutigen Bewegungen auch etwas mit meinem persönlichen Herzensthema Umweltschutz zu tun haben könnten, kam mir dabei nie in den Sinn.

Dabei basiert die heutige Klima(gerechtigkeits)bewegung auf der Arbeit so vieler Schwarzer Menschen und Menschen of Color, deren Engagement und Einsatz von der (deutschen,) weißen Dominanzgesellschaft aktiv ausgeblendet und unsichtbar gemacht wird. Wie drastisch diese Tatsache ersichtlich wird, möchte ich im späteren Verlauf an einem Beispiel aufzeigen. Während Menschen des Globalen Norden historisch gesehen für den größten Anteil des menschengemachten Klimawandels verantwortlich sind und von der Ausbeutung des Globalen Südens und der Zerstörung von Ökosystemen enorm wirtschaftlich profitiert haben, sind es Länder und Menschen des Globalen Südens, die am stärksten unter den Folgen der Klimakrise leiden (Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.9). Sehr anschaulich ist diese ungerechte Verteilung von Ressourcen und historischer Verantwortung an der Klimakrise in der Carbon Map dargestellt, die alle Länder der Erde nach Background (Hintergrund), Responsibility (Verantwortung) und Vulnerability (Verwundbarkeit) aufteilt und dabei die Länder je nach Anteil flächenmäßig vergrößert oder verkleinert (Kiln, Carbon Map).

Abb.1: Fläche der Länder nach historischer Verantwortung an freigesetztem CO2 von 1850 bis 2011.

Abb. 2: Fläche der Länder nach Armutsrisiko.

Im Folgenden werde ich die deutsche Klimabewegung anhand verschiedener Diskriminierungsebenen genauer betrachten. Eingehen werde ich hierbei auf die Merkmale Klasse/soziale Herkunft, Gender und race/ethnicity. Auch weitere Diversitätsdimensionen wie Ability spielen eine Rolle für die Diversität in der deutschen Klimabewegung sowie für das Ausmaß der Betroffenheit von Klimafolgen. Leider bietet dieses Essay nicht den Rahmen, auf alle Dimensionen einzugehen, weswegen ich nur die zuvor genannten hier beleuchten werde. Abschließend erörtere ich verschiedene Lösungsvorschläge und Verbesserungsmöglichkeiten, wie die deutsche Klimabewegung inklusiver und gerechter werden könnte.

Zum Begriff Klimagerechtigkeit und Rassismus in der deutschen Klimabewegung

„Rassismus und die Klimakrise haben dieselben Wurzeln. Wir können keines dieser Probleme ignorieren, wenn wir das andere bekämpfen wollen. Eine rassistische Klimabewegung kann niemals eine gerechte Zukunft schaffen.“ (Nowshin, 2020)

Die Klimakrise ist keine Gefahr, die in ferner Zukunft liegt. Für viele Menschen sind die Auswirkungen der Erderhitzung schon seit Jahrzehnten deutlich spürbar. Extremwetterereignisse, Naturkatastrophen, Dürreperioden und der Anstieg des Meeresspiegels nehmen Menschen im Globalen Süden nach und nach die Existenzgrundlagen. Diese Folgen werden für die deutsche Dominanzgesellschaft aber erst relevant, wenn sie hier vor Ort spürbar werden, wie die Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021 gezeigt hat. Über dieses Ereignis berichten deutsche Medien immer noch vereinzelt. Die wesentlich verheerendere, monatelang anhaltende Flutkatastrophe in Pakistan im darauffolgenden Jahr, in der Millionen Menschen ihr Zuhause verloren (bpb, 2022), war den deutschen Medien hingegen nur ein paar Tage der Berichterstattung wert.

Klimagerechtigkeit ist also ein Ansatz, in dem Verantwortung an der Klimakrise und deren Folgen sowie die von dieser Betroffenen mitgedacht werden und globale Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielt. Die Anfänge der Klimagerechtigkeitsbewegung, damals Umweltgerechtigkeitsbewegung, sind vermutlich in den 1980er Jahren der USA zu finden als die mehrheitlich Schwarze Bevölkerung in Warren County, North Carolina, anfing sich zu organisieren, nachdem die Regierung beschlossen hatte, Giftmüll in der Region zu deponieren. Die Bewohner*innen veranstalteten Protestmärsche und übten zivilen Ungehorsam aus, wobei insgesamt über 500 Menschen festgenommen wurden. Die Protestierenden stellten sich nicht nur gegen Umweltverschmutzung, sondern gegen soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Hierarchien. Viele der nachfolgenden Umweltgerechtigkeitsbewegungen entstanden aus dem Engagement von BIPoC-Communities (Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.47f.).

Klimaschutz muss intersektional gedacht werden und umfasst mehr als den Schutz und Erhalt der Ökosysteme. Globale Machtdynamiken und bestehende strukturelle Ungerechtigkeiten müssen beachtet werden. Es reicht nicht aus, auf technische Innovation zu hoffen, um die Erderhitzung einzudämmen. Die Klimakrise ist eine globale Verteilungskrise, die nur aus einer sozialen Perspektive gelöst werden kann. Diversitätskomponenten wie Gender, soziale Herkunft/Klasse, race/Ethnicity, Nationalität sowie Ability spielen eine Rolle in der Klimakrise. Das Konzept Klimagerechtigkeit fordert demnach die gerechte Verteilung der Verantwortung an der Lösung der Klimakrise. Gesellschaftliche Aspekte müssen ebenso mitgedacht werden wie ökologische. Daher spreche ich auch nicht von Umwelt- oder Klimaschutz, sondern vorrangig von Klimagerechtigkeit. Bezugnehmend auf die deutsche Klimabewegung werde ich den Begriff Gerechtigkeit sparsamer miteinbinden, da es sich in einzelnen Organisationen nach Definition teilweise noch nicht um einen Kampf für Klimagerechtigkeit handelt.

Black, Indigenous und People of Color (BIPoC) sind in der deutschen Klimabewegung noch immer unterrepräsentiert und ihr Einsatz wird bewusst unsichtbar gemacht. So z. B. Anfang 2020, als Vanessa Nakate, eine Schwarze Klimaaktivistin aus Uganda, von einer Nachrichtenagentur aus einem Pressefoto vom Weltwirtschaftswirtschaftsforum in Davos mit vier weiteren, weißen Klimaaktivist*innen ausgeschnitten wurde (Weissenburger, 2020). Eine ähnliche Situation ereignete sich später im selben Jahr in Deutschland, als die Klimaaktivistin Tonny Nowshin an einer Protestaktion gegen ein Kohlekraftwerk, das in Bangladesch entstehen sollte, teilnahm. Auf den offiziellen Pressefotos wurden im Nachhinein nur weiße Klimaktivist*innen abgegbildet, Nowshin war als einzige Person of Color nicht abgebildet (Bechert, Dodo, Kartal, 2021S.42). Dies sind offensichtlich rassistische Handlungen, die so vermutlich nicht beabsichtigt waren, aber dennoch deutlich zeigen, wie rassistische Strukturen und internalisierter Rassismus die deutsche Gesellschaft prägen. Aktivist*innen of Color werden unsichtbar gemacht, werden nicht gehört oder gesehen und die Klimabewegung wird weiß gelesen. Weiße Aktivist*innen prägen den Diskurs und ihre Forderungen beziehen sich häufig auf den Globalen Norden. So werden Forderungen aus dem Globalen Süden weniger Aufmerksamkeit zuteil und die Menschen werden schlichtweg nicht beachtet (ebd., S.45f.) Nowshin schreibt selbst zu dem Vorfall und ihrer Position in der deutschen Klimabewegung: „Ich werde in der Klima-Szene geduldet, solange ich sie mir nicht so zu eigen mache wie die weißen Aktivist:innen. Als BIPoC – also Schwarze, Indigene und People of Color – sind wir nur willkommen, wenn wir die Vorzeige-Betroffenen spielen“ (Nowshin, 2020).

Klassismus in der deutschen Klimabewegung

Die taz titelte 2019 „Zu jung, zu weiß, zu akademisch“ und traf den Nagel auf den Kopf. Neben Rassismus ist eine weitere auffallende Komponente der Zusammensetzung von Klimabewegungen in Deutschland die Exklusivität der Bewegung, wie beispielsweise bei Fridays For Future. Am 15. März 2019 fand ein globaler Klimaprostest statt und Forscher*innen nutzten die Gelegenheit, um Teilnehmende in neun europäischen Ländern zu ihrer Person zu befragen. In Deutschland sprachen die Forscher*innen in Bremen und Berlin mit insgesamt 343 Menschen ab 14 Jahren und führten eine Onlineumfrage mit weiteren 339 Teilnehmenden durch. Das Ergebnis war, dass die meisten Personen Schüler*innen zwischen 14 und 19 Jahre alt waren, dicht gefolgt von Studierenden (20-25 Jahre). Außerdem stellten sie fest:

„Mehr als die Hälfte der Befragten wollten das Abitur oder die Fachhochschulreife machen, 30 Prozent hatten einen Uni-Abschluss oder studierten noch, nur knapp 5 Prozent der Aktivisten gaben einen Mittleren Schulabschluss an. 43 Prozent der Befragten fühlten sich der oberen Mittelschicht zugehörig, ein knappes Drittel der unteren, lediglich 4,5 Prozent zählten sich selbst zur Arbeiterschicht.“ (Langrock-Kögel, 2020)

Das zeigt: Die Klimaproteste decken nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen ab. Sie vertreten nicht „die Mitte der Bevölkerung“, sondern setzen sich tendenziell eher aus privilegierteren Schichten zusammen. Klima-Aktivismus und politisches Engagement sind ein Privileg, dass sich nicht alle leisten können. Die wenigsten jungen Menschen können es sich leisten, regelmäßig freitags in der Schule/Uni zu fehlen, denn von der Abschlussnote hängen zu häufig auch die Job- und Ausbildungsperspektiven ab. Außerdem setzt die klimasensible Bubble nicht selten einen bestimmten Lebensstil und Habitus voraus – wer Fleisch oder tierische Produkte isst, ein Flugzeug besteigt oder der akademischen Sprache mit all ihren Fachbegriffen nicht folgen kann, braucht gar nicht erst versuchen, Teil der Gruppe zu werden. So ist zumindest eine weit verbreitete Vorstellung von der Klima-Bubble, die auch Vorurteilen und falscher Repräsentation geschuldet ist, die ich in Teilen aber auch bestätigen kann. Hier greifen auch intersektionale Diskriminierungen: Beispielsweise machen nicht alle Personen, die ein Flugzeug besteigen, einen All-Inclusive-Urlaub auf Bali, sondern viele Menschen möchten ihre Familie in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten sehen. Doch das wird in der Debatte oft außeracht gelassen.

Dass die Klimabewegung immer noch eine zu kleine, exklusive Gruppe von meist weißen, privilegierten, jungen Menschen anspricht, ist unter anderem dem neoliberalen Narrativ des „ökologischen Fußabdrucks“ geschuldet. Natürlich kann und sollte jede*r Einzelne das eigene Konsumverhalten kritisch reflektieren, aber die Klimakrise ist nicht dadurch gelöst, dass wir alle Second Hand Kleidung tragen und Hafermilch kaufen. Es braucht eine Veränderung im Fokus von individuellem Konsumverhalten hin zu der Notwendigkeit einer politisch initiierten gesamtgesellschaftlichen Transformation und der Veränderung unseres Wirtschaftssystems.  Diese Veränderung lässt sich langsam aufgrund von politischer Aufklärungsarbeit von vorrangig BIPoC in Form von Podcasts, Videos, Büchern und Artikeln zu dem Thema, finden (so z. B. im Online-Talkformat Karakaya Talk, dem Podcast Kanackische Welle oder bei BBQ – Der Black Brown Queere Podcast #29). Diese rütteln an den bestehenden eurozentristischen Strukturen und Normen, kritisieren vorherrschende Machtdynamiken und bieten Lösungsvorschläge an, auf die ich später auch noch eingehen möchte.

„In unserer Gesellschaft sei ziviles politisches Engagement ein Privileg, das man sich leisten können müsse. ‚Viele haben erst einmal ganz andere Probleme: Armut, Care-Arbeit oder auch Rassismus und andere Formen von Diskriminierung.‘“ (Langrock-Kögel, 2020, Cordula Weimann zitierend)

Gender in der deutschen Klimabewegung

Die angesprochene Problematik des Privilegs der Klimabewegung manifestiert sich auch in der Diversitätsdimension Gender. Wie im obigen Zitat erwähnt, spielen neben Klasse und race auch Dinge wie Care-Arbeit eine Rolle beim Grad der Betroffenheit von der Klimakrise und dem Kampf für Klimagerechtigkeit. Care-Arbeit bezeichnet in diesem Kontext jegliche unbezahlte Sorgearbeit. Darunter fallen z. B. Kinderbetreuung und Haushaltsaufgaben. Diese Arbeit wird überwiegend von FLINTA* (Female, Lesbian, Inter, Non-Binary, Trans und Agender Personen*) übernommen. Somit haben FLINTA* weniger Zugang zu Macht- und Entscheidungspositionen und erhalten weniger Einkommen als cis-männliche Personen. In der Folge sind sie in Bezug auf Klimafolgen verletzlicher (für eine ausführlichere Erklärung siehe Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.10-12). Auch hier greifen verschiedene Diskriminierungsebenen ineinander: Queere oder trans* BIPoC machen sich angreifbarer, wenn sie sich klimapolitisch engagieren und setzen sich einer anderen Gefahr aus als weiße, cis-Männer, die sich in der Öffentlichkeit politisch äußern. Die deutsche Klimabewegung ist ungewöhnlich stark von FLINTA* dominiert. Das ist eine positive Beobachtung, dennoch muss man sich fragen, woran das liegt. Wie zuvor kurz ausgeführt, sind FLINTA* von den Folgen der Klimakrise stärker betroffen und handeln somit aus einer Position der Unterdrückung heraus, aus der sie sich durch politisches Engagement selbst ermächtigen können.

„Du merkst: Es ist insbesondere für Menschen, die direkt von den Klimafolgen betroffen sind, nicht möglich, Klimakrise und Umweltzerstörung von sozialer Ungleichheit und global wirksamen Macht- und Unterdrückungsstrukturen zu trennen.“ (Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.10-12)

Lösungsansätze für eine diversere Klimabewegung

Durch die herausgearbeiteten Diversitätsdimensionen wird ersichtlich: Die Klimabewegung weist deutlichen Bedarf an Anpassungen und Verbesserungen auf. Hierfür haben Klima-Aktivisti schon einige Vorschläge gemacht. So argumentiert Tonny Nowshinb, dass es für mehr Diversität in der Klimabewegung die Notwendigkeit gibt, dieses Problem zunächst anzuerkennen: „Weltweit gibt es Diversität in der Klimabewegung, sie wird von Medien jedoch unsichtbar gemacht […] Die Klimaproteste in Bangladesch gibt es seit 2011. Seit 2016 sind sie richtig groß. Wenige in Deutschland wissen das.“ (Nowshin, zitiert nach Opitz, 2019) Denn nur wer die globalen Kämpfe für Klimagerechtigkeit kennt, kann sich damit solidarisieren. Um erfolgreich zu sein, muss der Kampf für Klimagerechtigkeit aus vielen verschiedenen Perspektiven solidarisch angegangen werden.

Doch auch hier bleibt die Frage: Wer wird gehört und gesehen? Aufgrund der ungerechten Machtgefälle ist es wichtig, dass von weißen Personen dominierte Klimabewegungen nicht-weißen Menschen zuhören und diesen den Rücken stärken. Hier ist aber auch der Kontext wichtig. Wie zuvor beschrieben, sind BIPoC-Aktivist*innen durch ein rassistisches System höheren Gefahren ausgesetzt als weiße Aktivist*innen und erfahren stärkere Repression. Aktivist*in Winta P. von „BIPoC for Future“ erklärt in Bezug darauf: „Es macht etwa keinen Sinn, BIPoC als Kontaktpersonen zur Polizei zu benennen.“ (Malkiowski, 2022) Es braucht also einen sensiblen Umgang mit marginalisierten Personengruppen sowie anti-rassistische Praktiken. Dazu gehören auch Critical-Whiteness- oder Diversity-Trainings, die in sozialen Bewegungen standardisiert werden sollten. Außerdem, so Winta weiter, braucht es mehr BIPoC- und MAPA-Aktivist*innen (Most Affected People and Areas) in leitenden Positionen, um die Sichtbarkeit zu erhöhen (ebd.).

In Bezug auf Klassismus in der Klimabewegung braucht es ein niedrigschwelliges Angebot für junge Menschen, welches deren eigene Lebenswelt widerspiegelt. Bekannte Personen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, z. B. Sportler*innen, Rapper*innen oder Influencer*innen, können eine Vorbildfunktion erfüllen und Jugendlichen zeigen, dass Klimagerechtigkeit ein Thema ist, das für alle relevant ist und nicht nur einer bestimmten Bubble von privilegierten Personen zugänglich ist (Langrock-Kögel, 2020). Außerdem ist es wichtig, dass die Klimabewegung mit Gewerkschaften und Arbeiter*innen zusammenarbeitet. Wenn Aktivist*innen beispielsweise Straßen blockieren und Menschen daran gehindert werden, ihrer notwendigen Lohnarbeit nachzukommen, von der ihre Existenz abhängt, kann das problematisch sein und abschrecken. Wichtiger wäre es, diese Menschen auf eine gemeinsame Seite zu bringen und zu verdeutlichen, dass die Industrie und große Konzerne den Großteil der Treibhausgas-Emissionen verursachen. Insgesamt müssen für eine diversere Beteiligung am Kampf für Klimagerechtigkeit Selbstwirksamkeitserfahrungen gestärkt werden, sodass Menschen sich ermächtigen können, sich unterstützt und sicher fühlen, egal welchen Hintergrund sie haben. Für deutsche Non-Profit-Organisationen, die an der Schnittstelle von Klimaschutz und Gerechtigkeit arbeiten, gilt: Sie müssen auch die Personen beschäftigen, die sie als Zielgruppen benennen, um betroffenen Gruppen Raum und Gestaltungsmöglichkeiten zu lassen, sowie die vorhandene Expertise nutzen zu können (Cardoso, Groneweg, 2021). Beispielsweise müssen Stellenausschreibungen auch in den passenden Netzwerken gestreut werden und „ausdrücklich die Bewerbung von Menschen fördern, die sich mit marginalisierten Gruppen identifizieren, wie Migrant:innen, BIPoC, Queers und Menschen mit Behinderungen.“ (ebd.)

Gerne würde ich auf die einzelnen Ebenen genauer eingehen und weitere Diversitätsdimensionen miteinbeziehen, die hier leider keinen Platz gefunden haben. Jedoch hoffe ich, dass dieses Essay einen kurzen Überblick über die Vielschichtigkeit der Klimagerechtigkeitsbewegung gibt und einen Anstoß für weitere Überlegungen in diesem Feld bieten kann.

Literatur

Bechert, L./ Dodo, Kartal, S. (Jugend im Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V., 2021). Kolonialismus und Klimakrise. Über 500 Jahre Widerstand. https://www.bundjugend.de/wp-content/uploads/Kolonialismus_und_Klimakrise-ueber_500_Jahre_Widerstand.pdf

Bundeszentrale für politische Bildung (20.10.2022). Flutkatastrophe in Pakistan. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/514557/flutkatastrophe-in-pakistan/

Groneweg, M./Cardoso, I. (Klimareporter, 13.09.2021) Wie Klima-NGOs inklusiv werden können: Diversität kommt nicht von allein. https://www.klimareporter.de/protest/diversitaet-kommt-nicht-von-allein

Langrock-Kögel, C. (11.02.2020) Nicht wirklich bunt. Wie elitär sind die Klimaproteste? https://goodimpact.eu/recherche/fokusthema/wie-elitar-sind-die-klimaproteste

Malkiowski, J. (taz, 23.09.2022) Kli­ma­ak­ti­vis­t*in über Diversität. „Fridays for Future ist weiß“ https://taz.de/Klimaaktivistin-ueber-Diversitaet/!5879828/

Nowshin, T. (klimareporter, 17.06.2020) Die Klimabewegung hat ein Rassismus-Problem. https://www.klimareporter.de/protest/die-klimabewegung-hat-ein-rassismusproblem

Opitz, N. (taz, 13.12.2019) Diversität beim Klimaprotest. Zu jung, zu weiß, zu akademisch. https://taz.de/Diversitaet-beim-Klimaprotest/!5645995/

Weissenburger, P. (taz, 27.10.2020). Vanessa Nakate und das Foto der AP. Davos, eurozentriert. https://taz.de/Vanessa-Nakate-und-das-Foto-der-AP/!5656696/

Abbildungsverzeichnis

Kiln Enterprises Ltd. The Carbon Map. https://www.carbonmap.org/


Quelle: Kim Winters, Who matters? (Fehlende) Diversität in der deutschen Klimabewegung, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=347

Kolonialmedizinische Verbrechen am Beispiel von Robert Koch

Anonym (WiSe 2022/23)

1.  Einleitung

Im Rahmen des Moduls “Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse“ wurden wir dazu angeregt, unser eigenes Studienfach aus einer postkolonialen Perspektive zu betrachten. In meinem Studienfach Biochemie wird solch eine Betrachtung in der Lehre nicht aufgegriffen, obwohl es definitiv Grund dafür gäbe. Zahlreiche Wissenschaftler*innen aus dem natur- und lebenswissenschaftlichen Gebiet waren an Verbrechen beteiligt: prominente Beispiele sind die Mitwirkungen an der Giftgasentwicklung und am Bau der Atombombe während des 20. Jahrhunderts. In früheren Kolonien begangen deutsche Wissenschaftler*innen grausame Verbrechen sogar selbst.

Aus mehreren Vorlesungen war mir der deutsche Wissenschaftler Robert Koch bekannt, damals noch als Begründer der medizinischen Mikrobiologie und Pionier in seinem Fachgebiet. Was immer unerwähnt blieb, waren die kolonialmedizinischen Verbrechen, die Koch beging. Nachdem ich durch einen Artikel auf diese aufmerksam geworden bin, habe ich mich intensiver mit der Kolonialmedizin auseinandergesetzt. Beginnend mit Koch – der wohl bekannteste Täter in der Geschichte der deutschen Kolonialmedizin, aber bei weitem nicht der Einzige – habe ich mich über die medizinischen Grausamkeiten, die von den Kolonialmächten in kolonialisierten Gebieten verübt wurden, informiert. Mich erstaunte, dass verhältnismäßig wenig Literatur zu diesem Thema existiert und wie wenig Beachtung diesem allgemein gegeben wird. Aber auch ich wusste vorher weder aus meinem Studium noch aus dem Privaten von den Gräueltaten. Daher möchte ich in diesem Essay auf die kolonialmedizinischen Verbrechen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingehen und einige der furchtbaren Taten am Beispiel von Robert Koch aufgreifen – Taten, die niemals in Vergessenheit geraten dürfen.

2.   Robert Koch

Robert Koch (1843 – 1910) gilt als der Begründer der medizinischen Mikrobiologie. Seine Experimente lieferten erstmals den Beweis, dass bestimmte Mikroorganismen spezifische Krankheiten verursachen und übertragen können. So identifizierte Koch das Bakterium Bacillus anthracis als Milzbrand-Erreger und formulierte aufbauend auf dieser Erkenntnis die sogenannten Koch´schen Postulate, deren Kriterien noch heute das Fundament zum Nachweis eines Organismus als Krankheitserreger bilden. Als größte Errungenschaft Kochs gilt die Identifizierung des Mycobacterium tuberculosis als Erreger der Tuberkulose – die Krankheit, die zu der damaligen Zeit (um 1880) für ein Siebtel aller erfassten Todesfälle im Deutschen Reich verantwortlich war. Für die Entdeckung des Tuberkuloseerregers erhielt Koch 1905 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. [1]

Mit diesen Entdeckungen legte Koch den Grundstein für die Infektionslehre, sowie für die Entwicklung erfolgreicher Methoden zur Vermeidung und Heilung von Infektionskrankheiten. Für diese Errungenschaften wird Robert Koch heute bewundert und geehrt, was sich unter anderem in den vielen Denkmalen und Gedenktafeln – allein in Berlin gibt es vier – zeigt. Zahlreiche Straßen, Parks, Plätze, Schulen und andere Einrichtungen sind nach Koch benannt. [2] Zudem wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der Stadt Berlin verliehen. [3]

Was in Bezug auf Robert Koch fast nie thematisiert wird – ob bewusst oder aus Unwissenheit – sind die menschenverachtenden Verbrechen, die Koch in ehemaligen Kolonialstaaten beging.

1902 gab es erste Berichte über das Auftreten der Afrikanischen Trypanosomiasis (meist als Schlafkrankheit bezeichnet) aus der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heutiges Tansania, Burundi und Ruanda). Die Krankheit wird durch den Parasiten Trypanosoma ugandense ausgelöst und von der Tsetsefliege (Glossina palpalis) übertragen. [4] Die Erkrankung verläuft in der Regel in drei Phasen: Zu den ersten Symptomen zählen Fieber sowie Kopf- und Gliederschmerzen, im darauffolgenden Stadium wird das Nervensystem der Erkrankten angegriffen, wodurch es zu Verwirrung, Schlafstörungen und Krampfanfällen kommt. Im Endstadium leiden die Patient*innen unter schweren neurologischen Schäden, schweren Schlafstörungen und verfallen in einen komaähnlichen Dämmerzustand, welcher namensgebend für die Erkrankung ist. Unbehandelt verläuft die Krankheit tödlich. [5]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich die Schlafkrankheit als Epidemie im Gebiet Deutsch-Ostafrikas aus. Ein Gegenmittel gab es noch nicht, folglich erlagen schätzungsweise eine Viertel Millionen Afrikaner*innen der Schlafkrankheit. Diese schwerwiegenden Auswirkungen nahmen die Kolonialherren als Gefährdung ihres Kolonisationsprozesses wahr. Neben den gesundheitlichen Risiken, die ihnen selbst drohten, fehlten ihnen nun vor allem die Arbeiter*innen, die sie zum Ausbau der Infrastruktur zwingen und ausbeuten konnten. [4]

So entstand in Europa ein zunehmend wirtschaftliches und politisches Interesse an der Erforschung der Schlafkrankheit, insbesondere an der Entwicklung von Medikamenten zur Prävention und Heilung. Die Forschung begann in den Laboren innerhalb Europas, aber schon bald entsendete die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes als Reaktion auf die zunehmende Ausbreitung der Epidemie eine Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit aus dem Deutschen Reich nach Deutsch-Ostafrika. Die 1906 beginnende Expedition wurde unter der Leitung Robert Kochs durchgeführt. [4]

Koch und seine Mitarbeiter*innen siedelten sich auf den Sese-Inseln, einer Inselgruppe im Victoriasee, an. Das Gebiet stand zwar unter britischer Herrschaft, bot Koch aber als zentraler Epidemieherd – innerhalb weniger Jahre starben hier fast zwei Drittel der Bewohner*innen an der Schlafkrankheit – ideale Bedingungen zur Forschung. Als die Expedition in Afrika begann, war der Parasit Trypanosoma ugandense bereits als Erreger identifiziert worden und weitgehenden Untersuchungen unterzogen worden, sodass Kochs Fokus primär auf der Suche nach einer Therapiemöglichkeit lag. [4]

Nach kurzer Zeit wurden in dem eingerichteten Forschungslager bereits jeden Tag über 1 000 Patient*innen untersucht und „behandelt“. Als Medikament diente Atoxyl, ein organisches Arsenpräparat. [4] Atoxyl wurde zuvor in Europa als mögliche Therapieform für die Schlafkrankheit im Labor untersucht. In Tierversuchen führte es zunächst zu einem Rückgang des Erregers im Blut und zu einer Minderung der Symptome. Bei einem Großteil der Versuchstiere tauchte der Parasit jedoch entweder nach dem Ende der Behandlung, aber auch bei einer durchgehenden Gabe von Atoxyl, wieder in der Blutbahn auf. Die Parasiten vermehrten sich weiter, die Symptome kehrten ebenso zurück, letztendlich erlagen die Tiere der Krankheit. Trotz der eher ernüchternden Ergebnisse hielten einige Forscher an Atoxyl fest und empfohlen es in bestimmten Dosen zur Behandlung an Menschen. In Deutschland war die Verabreichung von Atoxyl verboten – aus der früheren Fachliteratur war die Gefährlichkeit und hohe Giftigkeit des arsenhaltigen Mittels durchaus bekannt: Es führte zu Erblindungen und weiteren schweren Nebenwirkungen. [6]

Als Folge wurde die klinische Prüfung von Atoxyl von den Kolonialmächten nach Afrika verlegt. Die Kolonien selbst dienten als Laboratorien und die an der Schlafkrankheit erkrankte Afrikaner*innen wurden zu Objekten der pharmakologischen und therapeutischen Forschung. Robert Koch und andere Forscher nahmen diese menschenverachtenden Bedingungen billigend in Kauf, beziehungsweise unterstützten und befeuerten diese sogar noch. [4]

Robert Koch verabreichte Atoxyl in Deutsch-Ostafrika an Tausende von Erkrankten. Hierbei hielt er sich in keinster Weise an die wissenschaftlichen und ethischen Standards: Anstatt wie empfohlen die Dosis vorsichtig und allmählich anzupassen, verabreichte er jeweils eine Dosis von 0,5 g in kurzen Intervallen, obwohl er von der Toxizität des Mittels wusste. Nachdem nicht die gewünschten Effekte eintraten, erhöhte er die Dosis auf 1 Gramm. Dies tat er, ohne die Patient*innen zu informieren, aufzuklären und sogar entgegen ihren Willen. Als Behandlung ist dieses Vorgehen kaum zu bezeichnen, vielmehr führte Koch grausame Humanversuche durch. [4]

Die Gabe von Atoxyl führte bei den Patient*innen zu schweren Nebenwirkungen. Tausende erlitten irreversible Erblindungen, viele starben. Robert Koch wusste von dem Leid, aber verabreichte das Medikament trotzdem weiter, obwohl noch nicht einmal der Heilungseffekt nachgewiesen war. [4] In seinem „Schlußbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit“ schreibt Koch selbst:

„Nicht wenige Kranke entzogen sich sehr bald dieser stärkeren Behandlung, weil ihnen dieselbe zu schmerzhaft war und auch sonstige unangenehme Empfindungen verursachte, wie Übelkeit, Schwindelgefühl, kolikartige Schmerzen im Leibe. Da diese Beschwerden indessen nur vorübergehend waren, so wurde mit der starken Behandlung fortgefahren. Da stellte sich aber bei einigen Kranken ein Symptom ein, welches uns früher weder bei den unbehandelten Kranken noch bei denjenigen, welche nicht größere Dosen als 0,5 g erhalten hatten, jemals begegnet war. Es war dies eine Erblindung, welche sich in verhältnismäßig kurzer Zeit auf beiden Augen entwickelte. Anfangs hofften wir noch, daß dieses Symptom ebenso wie die anderen wieder vorübergehen würde, namentlich auch, da in Europa nach Atoxylbehandlung mehrfach vorübergehende Erblindung beobachtet ist. Leider trat aber bei unseren Kranken keine Besserung ein, und dieselben sind dauernd blind geblieben.“ [7]

Dieser Bericht zeigt einmal mehr, wie skrupellos, menschenverachtend und verbrecherisch Robert Koch handelte.

Im weiteren Verlauf beschreibt Koch zusätzlich ungeniert die Sinnlosigkeit der Dosis Erhöhungen:

„Es ist übrigens noch zu erwähnen, daß die Behandlung mit großen Atoxyldosen in keiner Weise bessere Resultate lieferte in Bezug auf das Befinden der Kranken als die Behandlung mit mittelgroßen Dosen.“ [7]

1907 reiste Robert Koch aus gesundheitlichen Gründen zurück nach Berlin. Damit hatte sein verbrecherisches Wirken aber keineswegs ein Ende, Koch hielt vielmehr stur an der Atoxyltherapie fest und forderte überdies weitere brutale Maßnahmen. So schlug er dem Reichsgesundheitsrat im Anschluss an seine Expedition im November 1907 vor, „dazu über[zu]gehen, die ganze Bevölkerung verseuchter Bezirke in gesunde Gegenden zu versetzen; die infizierten Individuen würden dann, da die Sterblichkeit ohne Behandlung eine absolute sei, ausnahmslos zugrunde gehen, damit werde dann die Seuche erlöschen […]“. [8] Als besser realisierbare Alternative forderte er zudem, alle Infizierten aus „verseuchten Orten […] herauszugreifen“ und in „Konzentrationslagern“ zu isolieren. [8]

Fatalerweise nahm der Reichsgesundheitsrat Kochs Vorschläge an und errichtete die geforderten Lager am Viktoriasee in Afrika. Tausende Erkrankte wurden interniert und erfolglos mit Atoxyl behandelt. In den bis 1911 bestehenden Lagern verloren mindestens 1 487 der 11 079 Internierten in Folge der Schlafkrankheit oder der Therapie ihr Leben. [4]

3.   Darstellung Robert Kochs durch das RKI

Nach einer Betrachtung der schrecklichen Vorgehensweise Robert Kochs scheint es absurd, dass Koch, der für seine Forschung über Leichen ging, als Forschungspionier verehrt wurde und noch immer wird. Eine öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung seiner menschenverachtenden Verbrechen fand bisher nicht statt. Und das, obwohl der Name Robert Koch seit etwa drei Jahren allen Menschen in Deutschland bekannt sein sollte und uns allen regelmäßig durch mediale Berichterstattungen begegnet.

Robert Koch ist Namensgeber des in Berlin sitzenden Robert-Koch-Instituts (RKI), die biomedizinische Leitforschungseinrichtung der deutschen Bundesregierung. Seit dem Beginn der Coronapandemie Ende 2019 ist das RKI für die Erfassung und Beurteilung der aktuellen Pandemie- und Risikolage und für die Beratung und das Aussprechen von Empfehlungen für die Politik und Fachwelt verantwortlich. Somit fungiert das Institut gleichzeitig auch als unverzichtbare Informationsquelle für die deutsche Bevölkerung und ist seit dem Frühjahr 2020 omnipräsent in Deutschland. Einhergehend mit dieser Präsenz wird die Aufmerksamkeit auch auf den Namenspatronen Robert Koch gelenkt. Das Bild, das von Koch vermittelt wird, stellt diesen allerdings weitestgehend als medizinisches, bewundernswertes Vorbild dar.

Das RKI steht als ehemalige Wirkstätte Kochs und durch die Verwendung seines Namens in der Verantwortung, dessen Taten kritisch aufzuarbeiten. Ein Blick auf die Website des RKI zeigt jedoch, dass die kolonialen Praktiken Kochs fast keine Erwähnung finden. Nachdem zunächst Lobeshymnen über Kochs Errungenschaften zu lesen sind, wird seine Expedition nach Deutsch-Ostafrika wie folgt beschrieben:

„1906 und 1907 wurde eine Kommission unter Kochs Leitung nach Ostafrika entsandt, um Therapiemöglichkeiten gegen die Schlafkrankheit auszuloten. Durch den Einsatz von Atoxyl, einer arsenhaltigen Arznei, konnte Koch anfangs Erfolge bei der Behandlung von Schlafkranken erzielen. Doch der Parasit, der die Infektion verursacht, ließ sich im Blut der Kranken nur für eine kurze Zeit zurückdrängen. Daraufhin verdoppelte Koch die Atoxyl-Dosis – obwohl er um die Risiken des Mittels wusste. Bei vielen Betroffenen kam es zu Schmerzen und Koliken, manche erblindeten sogar. Trotzdem blieb Koch vom prinzipiellen Nutzen des Atoxyls überzeugt. Seine letzte Forschungsreise war das dunkelste Kapitel seiner Laufbahn.“ [9]

Diese Darstellung wirkt eindeutig glorifizierend. Es wird weder thematisiert, dass Koch das Medikament Atoxyl gegen den Willen der Patient*innen einsetzte, noch die hohe Anzahl an Todesfällen, die auf die erfolglose bzw. die Behandlung selbst zurückzuführen ist. Nicht benannt wird, dass Koch mit seinen von Rassismus geprägten Humanversuchen die einheimische Bevölkerung als „Versuchskaninchen“ missbrauchte. Auch die Errichtung von Krankenlagern und die zwangsweise Internierung von Tausenden Erkrankten bleibt unerwähnt. Stattdessen werden Kochs Verbrechen nur verallgemeinernd und verherrlichend als das „dunkelste Kapitel seiner Laufbahn“ [9] abgetan und ansonsten ausgeblendet.

Das RKI geht sogar so weit und zelebriert die verbrecherischen Expeditionen Kochs:

„Die Aufzählung der Reisen, die Koch zur Erforschung verschiedener Infektionskrankheiten durchführte, und die wichtigsten Kongresse, an denen er teilnahm, zeigen die Vielfältigkeit und die Mobilität des Forschers in einer Zeit eher mühseligen Reisens.“ [10] 

In der Auflistung dieser Reisen, auf die sich der obenstehende Absatz bezieht, ist auch die Expedition nach Deutsch-Ostafrika gelistet. [10] Dies zeigt einmal mehr, dass von Seiten des RKI keine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Namensgeber stattfindet. Trotz des Wissens, dass Koch Menschen gequält hat, dient er dennoch als Leitfigur des Instituts.

Während am RKI in den letzten Jahren eine – noch lange nicht abgeschlossene – Aufarbeitung über die Beteiligung an menschenverachtenden medizinischen Humanversuchen während des Nationalsozialismus stattfand, geraten die kolonialmedizinischen Verbrechen in Vergessenheit. Beispielsweise wurden 2008 Forschungsergebnisse über das Mitwirken des RKI an Verbrechen während der NS-Zeit veröffentlicht, nachdem die Rolle des Instituts im Nationalsozialismus erstmals umfassend untersucht wurde. Die Ergebnisse waren erschreckend:  viele bisher unbekannte Taten und Täter*innen kamen ans Licht. [11]

Das wirft die Frage auf, welche Taten aus Kolonialzeiten noch entdeckt oder veröffentlicht werden würden, wenn auch die Verbrechen dieser Zeit aufgearbeitet werden würden? Im Moment werden selbst die Verbrechen, die in wissenschaftlichen Publikationen dokumentiert wurden und hierdurch als eindeutig moralisch verwerflich und verbrecherisch zu identifizieren sind, nicht verhältnismäßig verurteilt. Es ist an der Zeit, dass das RKI Einsicht zeigt und tätig wird. Die Täter*innen dürfen nicht weiterhin geschützt und glorifiziert werden, sondern müssen als solche benannt und verurteilt werden. Und die zahlreichen Opfer dürfen unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten.

4.   (Fehlende) Aufarbeitung der kolonialmedizinischen Verbrechen

Nicht nur dem RKI mangelt es an dem Willen, sich mit dem kolonialen Erbe, das sich hinter dem Namen Robert Koch verbirgt, auseinanderzusetzten. Auch sonst werden die kolonialmedizinischen Verbrechen, die von Koch – der wohl Deutschlands bekanntester, aber bei weitem nicht der einzige Kolonialmediziner war – und anderen Kolonialmedizinern begangen wurden, nur wenig thematisiert und sind meiner Wahrnehmung nach der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.

Erst im Jahr 1997, also 90 Jahre nachdem die Grausamkeiten von Koch in Deutsch-Ostafrika begangen wurden, wurden diese erstmalig in einer wissenschaftlichen Ausarbeitung rekonstruiert und aufgearbeitet. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse von Prof. Dr. Wolfgang Eckart in seinem Buch „Medizin und Kolonialimperialismus – Deutschland 1884 bis 1945“. Der ehemalige Medizinhistoriker und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg befasste sich in diesem Buch umfassend mit der deutschen Kolonialmedizin, so unter anderem auch mit Robert Koch. [12]

Seit mehreren Jahren setzen sich einige Initiativen, wie beispielsweise die „Kritische Medizin München“, für die Aufarbeitung der kolonialmedizinischen Verbrechen ein. [13] Eine große gesellschaftliche Debatte mit Konsequenzen blieb bisher aber noch aus. In der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung über den Kolonialismus und seine Folgen hat der Bereich der Medizin noch immer keinen wirklichen Raum gefunden.

Während es in den letzten Jahren einige Erfolge in der Umbenennung von kolonialen Straßennamen gab, [13] erhielt die Petition, die die Umbenennung des Robert-Koch-Instituts fordert, bisher lediglich 1 343 Unterschriften (Stand 11.01.2023). [14] Gleichzeitig wird über das RKI seit drei Jahren täglich in den Medien berichtet. Auch die im Spiegel veröffentlichte Forderung nach einer Umbenennung des RKI durch den Historiker und Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer blieb ohne Konsequenzen. [15]

5.    Fazit

Während ich mich mit dem Thema der Kolonialmedizin auseinandergesetzt habe, wurde mir bewusst, dass die kolonialmedizinischen Verbrechen, die durch deutsche Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen begangen wurden, fast keine Berücksichtigung in unser Erinnerungskultur finden. Die führenden Einrichtungen der medizinischen Forschung sind nicht dazu bereit, die Verbrechen selbst aufzuarbeiten. Zudem fehlt auch in der Lehre an Universitäten die Aufklärung über die Schattenseiten von Wissenschaftler*innen. Anstatt nur von den Errungenschaften zu berichten, sollten auch die Abgründe der Wissenschaft kritisch beleuchtet, anstatt totgeschweigen zu werden. Die Verbrechen können nicht mehr rückgängig gemacht werden, aber sie dürfen keinesfalls in Vergessenheit geraten. Eine kritische Aufarbeitung ist das Mindeste, das passieren muss. Wir müssen aus der grausamen Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft lernen.

Rassistische und menschenverachtende Praktiken in der Medizin wurden keineswegs nur in der Vergangenheit durchgeführt. Auch heute sind Gesundheitssysteme und die pharmakologische und medizinische Forschung von kolonialen Kontinuitäten und rassistischen Denkweisen geprägt. Diese wurden in den letzten Jahren unter anderem durch die Coronapandemie sichtbar gemacht. Bei der Verteilung der COVID-19 Impfstoffe lag nicht die Gesundheit der Menschen im Vordergrund, sondern wieder einmal der ökonomische Gewinn. Machtvolle Konzerne und „westliche“ Staaten blockieren stur die Aussetzung der Impfstoffpatente. Und während bei uns überschüssige Impfdosen weggeschmissen werden, wird einem Großteil der Weltbevölkerung kein Zugang zu den lebensrettenden Impfstoffen gewährt. [16] Dass koloniale Denkmuster und Robert Kochs Gedanke, Menschen aufgrund ihrer Herkunft für Versuche instrumentalisieren zu können, noch heute ein riesiges Problem darstellen, zeigte sich zusätzlich im April 2020 in erschreckender Weise in der Forderung zweier Ärzte, mögliche neue Coronaimpfstoffe in Afrika zu testen. [17]

6.   Literatur- und Quellenverzeichnis

[1]Madigan, Martinko, J. M., Brock, T. D., & Thomm, M. (2009). Brock Mikrobiologie / Michael T. Madigan ; John M. Martinko. Dt. Bearb. von Michael Thomm. (11., aktualisierte Aufl., [1. dt. überarb. u. erw. Ausg.]). Pearson Studium, 15-17.  
[2]Robert Koch. https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Koch  (09.01.2023)  
[3]Abgeordnetenhaus Berlin. Robert Koch. https://www.parlament-berlin.de/Das-Haus/Berliner-Ehrenbuerger/robert-koch   (09.01.2023)
[4]Eckart, W. U. (1997). Medizin und Kolonialimperialismus: Deutschland 1884-1945. Schonigh, 340-349.  
[5]Ärzte ohne Grenzen. Schlafkrankheit. https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/krankheiten/schlafkrankheit (10.01.2023)  
[6]Boyce R. (1907). THE TREATMENT OF SLEEPING SICKNESS AND OTHER TRYPANOSOMIASES BY THE ATOXYL AND MERCURY METHOD. British medical journal, 2(2437), 624–625. https://doi.org/10.1136/bmj.2.2437.624
[7]Koch, R. (1907). Schlußbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit. Dtsch Med Wochenschr.; 33(46): 1889-1895
DOI:10.1055/s-0029-1189093
https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/5330/1206-1216.pdf?sequence=1&isAllowed=y (10.01.2023)  
[8]Koch, R. (1907). Mitteilung über den Verlauf und die Ergebnisse der vom Reiche zur Erforschung der Schlafkrankheit nach Ostafrika entsandten Expedition. Koch, Werke, Bd 2,2, 930-940.  
[9]RKI. (2018). Robert Koch: Der Mitbegründer der Mirkobiologie. https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Geschichte/robert_koch_node.html (10.01.2023)  
[10]RKI. (2018). Lebenslauf, Reisen und Kongresse Robert Kochs in tabellarischer Form. https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Geschichte/Robert_Koch_Lebenslauf.html (10.01.2023)  
[11]Hacker, J. (2008). Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus: Stellungnahme zu den Forschungsergebnissen. https://www.rki.de/DE/Content/Service/Presse/Pressetermine/presse_rki_ns_Stellungnahme.html (10.01.2023)  
[12]Amberger, J. (2020). Robert Koch und die Verbrechen von Ärzten in Afrika. https://www.deutschlandfunk.de/menschenexperimente-robert-koch-und-die-verbrechen-von-100.html (11.01.2023)  
[13]Kritische Medizin München. https://kritischemedizinmuenchen.de/die-verbrechen-der-kolonialen-medizin/ (11.01.2023)  
[14]Bezirksamt Mitte. Koloniale Straßennamen und ihre Umbenennung im Bezirk Mitte. https://www.berlin.de/kunst-und-kultur-mitte/geschichte/erinnerungskultur/strassenbenennungen/artikel.1066742.php (11.01.2023)  
[15]Zimmerer, J. (2020). Der berühmte Forscher und die Menschenexperimente.  https://www.spiegel.de/geschichte/robert-koch-der-beruehmte-forscher-und-die-menschenexperimente-in-afrika-a-769a5772-5d02-4367-8de0-928320063b0a (11.01.2023)  
[16]Ärzteblatt. (2022). Coronapandemie macht koloniale Strukturen sichtbar. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132782/Coronapandemie-macht-koloniale-Strukturen-sichtbar (11.01.2023)  
[17]„Rassistisch!“ – WHO verurteilt Forderung nach Impfstoff-Tests in Afrika. (2020). https://www.swp.de/panorama/who-verurteilt-forderung-nach-impfstoff-tests-in-afrika-als-_rassistisch_-45283843.html (11.01.2023)

Quelle: Anonym, Kolonialmedizinische Verbrechen am Beispiel von Robert Koch, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 18.04.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=337

Klassismus im Bildungssystem

Tomke Thielebein (SoSe 2022)

Einleitung

Das deutsche Bildungssystem ist mehrgliedrig und basiert unter anderem auf einem Selektionsprinzip. Das heißt, dass (spätestens) nach der Grundschule die Schüler*innen auf ‚begabungsgerechte‘ Schulformen aufgeteilt werden. Dieses Prinzip soll den Grundgedanken einer begabungsgerechten Bildung verfolgen. Die erste PISA-Studie hat gezeigt, dass Deutschland in keinem Schulbereich herausragend gut ist, eher das Gegenteil war der Fall vgl.:  (Lehmann, 2019). Worin Deutschland jedoch herausragend zu sein scheint, ist die soziale Selektion (vgl.: ebd.). Es scheint so zu sein, dass das Selektionsprinzip nicht zur Folge hat, dass Schüler*innen auf Schulen mit passenden Lernformen sortiert werden, sondern auf Schulen, die der sozialen Position zugeschrieben werden.

Im Folgenden möchte ich darauf eingehen, wie das Selektionsprinzip mit dem milieuspezifischen Habitus und Klassismus zusammenhängt.

1. Definition Klassismus

Klassismus beschreibt Diskriminierung aufgrund des sozialen Status oder aufgrund der Zuschreibung eines sozialen Status (vgl.: Kemper, 2021). Dieser setzt sich aus der sozialen Herkunft und der sozialen Position zusammen. Die soziale Herkunft beschreibt die soziokulturellen und ökonomischen Gegebenheiten, in die jeder Mensch hineingeboren wird (Bsp.: ein Kind, dessen Eltern arm sind). Die soziale Position beschreibt die aktuelle soziale Positionierung in der Gesellschaft (z.B. auf ALG II angewiesen sein). Sie ist veränderbar und nicht statisch. (vgl.: Kemper, 2016).

Klassistische Diskriminierung kann also auf die soziale Herkunft bezogen sein und/oder auf die soziale Position. Diskriminierung umfasst nach Iris Marion Young fünf Dimensionen der Unterdrückung: Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und des Kulturimperialismus[1] (vgl.: Kemper, 2016).  Das Herstellen von Klassimus wird auf drei Ebenen beschrieben: die institutionelle, die kulturelle und die individuelle Ebene vgl.: (Kemper & Weinbach, 2018). Klassismus im Bildungssystem findet sowohl auf der individuellen als auch auf der institutionellen Ebene statt. Lehrkräfte handeln mit ihrem individuellen Mindset, Stereotypen und Vorannahmen, handeln dabei aber innerhalb einer wegbereitenden Institution. Gerade Lehrkräfte, die als Gatekeeper*innen fungieren, handeln auf beiden Ebenen.

Die soziale Herkunft hat Einfluss auf den Habituts des Individuums, der in der Kindheit geprägt wird. Nach Bourdieu ist der Habitus  „die Art und Weise, wie man sich gibt und wie man die Welt wahrnimmt” (Kemper, 2015). Der Habitus trägt demnach die soziale Herkunft nach außen. Die äußerlich sichtbare Erscheinung der sozialen Herkunft kann als schwer veränderbare Komponente betrachtet werden, die sich über die Lebensspanne nicht leicht verändern lässt. Wenn über Klassismus in der Bildung gesprochen wird, ist es sinnvoll das Konzept des Habitus genauer zu betrachten und zu schauen, wie er Einfluss auf die Chancen(un)gleichheit im Bildungssystem hat.

2. Klassismus im Bildungssystem

Im Folgenden wird auf Klassismus im Bildungssystem eingegenagen, der durch den äußerlich wahrnehmbaren Habitus erklärt wird.

2.1   Habitus in der Bildung

Mit dem Blick auf die Auswirkungen des Habitus auf Bildungschancen, wird sozusagen die klassistische Diskriminierung auf der Ebene der sozialen Herkunft betrachtet.

Hier möchte ich zuerst nochmal genauer auf den Habitusbegriff eingehen, um zu spezifizieren, wovon ich schreibe.

Der Habitusbegriff „beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln” (El-Mafaalani, 2020)[2]. Diese Prägung findet in der Kindheit milieuspezifisch statt. Da ein Habitus milieuspezifisch ausgeprägt wird, erscheint er einem selbst und dem Umfeld als natürlich gegeben, da mit dem Umfeld ähnliche Erfahrungen und soziale Logiken geteilt werden, die den Habitus mit ausmachen (vgl.: ebd.). Innerhalb des prägenden Milieus gelingt das Habitus-spezifische Handeln und Denken widerstandslos und erscheint damit intersubjektiv wie natürlich.  Dies ermöglicht innerhalb des geteilten Milieus ein intuitives Handeln (vgl.: ebd.).

Doch was ist, wenn Personen mit einem milieuspezifischen Habitus mit Personen mit einem diametral entgegengesetzten Habitus interagieren? Laut El-Mafaalani (2020) komme es zu Spannungen, zu Missverständnissen und Dissonanzen.

Weiter geht er darauf ein, dass die meisten Lehrkräfte aus einem ‚bildungsaffinen Milieu‘ stammen und häufig auch die Mitglieder voriger Generationen bereits im sog. Bildungsbürgertum verankert waren. Auch bei Lehrkräften führt habituelle Nähe zu gegenseitiger Resonanz und habituelle Entfernung oder Entgegensetzung zu Dissonanzen und Missverständnissen. Dies sind relevante Aspekte im Selektionsprozess des Bildungssystems.

2.2   Selektion

Das deutsche Bildungssystem ist durch aufeinander aufbauende ‚Bildungsschwellen‘ gekennzeichnet; wie die Einschulung, wo geschaut wird, ob das Kind entwickelt genug für die Schule ist, dann kommt nach der Grundschule die Selektion auf unterschiedliche Schulformen, die unterschiedliche Bildungschancen ermöglichen, anschließend geht es weiter mit unterschiedlichen Abschlüssen, die verschiedene Bildungszugänge erlauben. Am gradlinigsten geht es vom Kindergarten in die Grundschule[3], von der Grundschule zum Gymnasium und vom Gymnasium zur Uni, wo erst der Bachelor dann der Master studiert wird; und wenn es eine akademische Laufbahn werden soll, geht es weiter (hoch) bis zum Doktor oder zur Professur.

Doch die Bildungslaufbahn der Kinder ist intensiv von den Abschlüssen ihrer Eltern beeinflusst, so zeigt bspw. eine Studie aus Wiesbaden, dass die Note 2,5 bei 70% der privilegierten Schüler*innen zu einer Gymnasialempfehlung führen, jedoch nur bei 20% der nichtprivilegierten. Hier zeigt sich, dass für die Verteilung der Bildungschancen nicht die Leistungen der Schüler*innen ausschlaggebend sind, sondern das Einkommen und der Bildungsstand der Eltern (vgl.: Kemper, 2021). Auch bundesweit hat sich gezeigt, dass die Bildungschancen von dem sozio-ökonomischen Status der Eltern abhängen, so zeigt sich in der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) von 2016, dass gleiche Lesekompetenz und kognitive Fähigkeiten bei privilegierten Kinder 3,37-mal so oft eine Gymnasialempfehlung mit sich bringt, wie bei Kindern von Arbeiter*innen.

Spätestens in der Grundschule findet der erste entscheidende Selektionsschritt statt, der die weitere Bildungslaufbahn beeinflusst.

An dieser Stelle des Bildungssystems können Lehrer*innen als sog. Gatekeeper*innen beschrieben werden. Gatekeeper*innen sind hier Menschen, die bspw. eine soziale Position innehaben, die es ihnen erlaubt an Bildungsschwellen Menschen einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen oder zu verwehren, bzw. zu erschweren. Diese Gatekeeping-Praxis lässt sich in Deutschland an den oben genannten Beispielen der Schulempfehlungen an weiterführende Schulen festmachen. Arbeiter*innen- oder Armenkinder benötigen für den Aufstieg im Bildungssystem einen spezifischen sozialen Code, um mit ihrem Verhalten, Einstellungen etc. automatisch von Lehrkräften als ‚natürlich‘ und nicht aneckend handelnd gelesen zu werden, den sie sich meist in Lernprozessen aneignen müssen (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018).

Hier kann sich die Frage gestellt werden, woran es liegt, dass diese Selektionspraxis mit einer ungleichen Chancenverteilung einhergeht. An dieser Stelle möchte ich erneut den bereits oben eingebrachten Habitus als eine Erklärungskomponente anführen. Wie bereits erwähnt haben Lehrkräfte häufig eine soziale Herkunft, die mit einem hohen sozio-ökonomischen Status einhergeht, da der Habitus in diesem Milieu geprägt ist, stellt für Lehrkräfte ein ähnlicher Habitus das ‚Richtige‘ und ‚Natürliche‘ dar. Auch kann innerhalb einer Interaktion mit einem Menschen, der ähnlich sozialisiert ist und damit einen gleichen oder ähnlichen Habitus hat, reibungsloses Verständnis stattfinden. So verweist El-Mafaalanie (2020) darauf, dass die äußere Erscheinung von Fleiß sich ggf. habituell unterscheidet und damit bei einem Kind von Arbeiter*innen weniger leicht von der Lehrkraft erkannt wird als bei einem Akademiker*innenkind[4].

Zur Irritation und nicht reibungslosen Verständigung zwischen verschieden sozialisierten Habitus, kommt die Dimension der Stereotype und Vorannahmen hinzu. Auch das Sprachverhalten unterscheidet sich habituell. Eine Studie hat gezeigt, dass lediglich eine minimale Information über das Sprachverhalten gebraucht wird, damit bei Lehrkräften stereotypes Denken aktiviert wird (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018). Bereits durch minimale Abweichungen der Normsprache können also stereotype klassistische Zuschreibungen entstehen.

Auch die Eltern spielen eine Rolle bei dem Übergang der Grundschule in weiterführende Schulformen. Sie sind in den meisten Bundesländern die Instanz, die letztlich entscheidet, auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen wird. Es hat sich gezeigt, dass es unterschiedlich ist, wie die Eltern mit den Empfehlungen der Lehrkräfte umgehen. Sozio-ökonomisch schlechter dastehende Eltern hielten sich eher an die Empfehlungen der Lehrkräfte. Eltern mit einem privilegierten sozio-ökonomischen Status entschieden meist, dass ihre Kinder auf ein Gymnasium gehen sollten, auch wenn die Empfehlungen der Lehrkräfte davon abrieten (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018).

An dieser Stelle spekuliere ich, dass verschiedene gesellschaftliche Positionen mit unterschiedlichem Selbstbewusstsein einhergehen (können). Akademiker*innen haben in ihrer Sozialisation möglicherweise mitgegeben bekommen, dass ihnen ein gewisser gesellschaftlicher Platz zustehe und dies auch für ihre Nachfolger*innen gelte.

Beispielsweise ist es in meiner Familie so, dass ich nun in der vierten Generation bin, in der studiert wurde. Einer meiner Urgroßväter war Chefarzt, einer meiner Großväter Richter und auch meine Eltern haben beide studiert. Über mehrere Generationen hat meine Familie demnach eine gesellschaftliche Position inne, die anerkannt ist und im Fall von hohen Juristen[5] und Ärzten auch gesellschaftliche Einflussnahmen möglich war. In meinem Fall war es zwar nicht so, dass meine Eltern uns zum Studieren überzeugt haben (das stand uns immer offen), aber es war immer klar, dass ich und mein Geschwisterkind das Abitur absolvieren werden.

In Hamburg ging dieses gesellschaftliche Selbstverständnis des besitzenden Bürgertums beispielsweise so weit, dass 2010 eine Bildungsreform von hauptsächlich besitzenden bürgerlichen Eltern blockiert wurde. Die Reform zielte darauf ab, die Dreigliedrigkeit zu reformieren und damit mehr Chancengleichheit zu schaffen vgl.: (Ndr, 2010). Mehr Chancengleichheit würde aber auch weniger Privilegien für bisher Privilegierte bedeuten. An diesem Beispiel wird deutlich ersichtlich, dass es gesellschaftliche Akteur*innen gibt, die ihre Privilegien bewahren möchten und dafür viel Zeit und Geld aufwenden.

2.3 Habitus und Selektion an Hochschulen

Es verwundert nicht, dass auch an den Hochschulen der sozio-ökonomische Status der Eltern einen Einfluss auf die Bildungs- bzw. Abschlusschancen hat: 1982 hatten 17 Prozent aller Studierenden einen ‚hohen‘ sozialen Herkunftsstatus und 2016 waren es 24 Prozent. Wo es 1982 noch 23 Prozent Kinder von Eltern ohne Abschluss an der Uni gab, sind es 2016 nur noch 12 Prozent (vgl.: Baudson & Altieri, 2022). An Hochschulen steigt demnach die Zahl der Studierenden mit einem ‚hohen‘ sozialen Herkunftsstatus und der Anteil der Studierenden, mit ‚niedrigem‘ sozialen Herkunftsstatus wird weniger. Es scheint sich eine (tendenziöse) Entwicklung abzulesen.

Akademiker*innenkinder haben eine dreimal so hohe Chance einen Bachelorabschluss zu erlangen wie Kinder von Arbeiter*innen (vgl.: Tawadrous, 2021). Über die ganze akademische Laufbahn hinweg zeigt sich folgendes: „Von 100 Grundschulkindern, deren Eltern beide studiert haben, besuchen 74 die Hochschule. 63 erwerben einen Bachelor-, 45 einen Masterabschluss, und 10 erlangen die Doktorwürde. Bei 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten gelangen nur 21 an die Hochschulen, 15 schaffen den Bachelor, acht den Master, und nur eine Person wird promoviert“ (Baudson & Altieri, 2022). Die Kinder von Arbeiter*innen, die es trotz der Barrieren im Schulsystem auf eine Hochschule geschafft haben, scheinen hier erneut anderen Hürden ausgesetzt zu sein als Akademiker*innenkinder.

El-Mafaalani (2020) schreibt in diesem Zusammenhang über sog. ‚Bildungsaufsteiger*innen‘ und den gemeinsamen Herausforderungen, die mit dem Aufstieg und der damit zusammenhängenden Distanzierung ihres Herkunftsmilieus zusammenhängen. Diese Distanzierung findet laut El-Mafaalani (2020) u.a. durch die Veränderung des Habitus statt. Es hat sich gezeigt, dass die Erfahrung geteilt wird, als eine Person aus einem ‚unteren‘ sozialen Milieu, in einem ‚höheren‘ sozialen Milieu anzuecken (vgl.: ebd.). Routinierte und natürliche Handlungen und intuitive Reaktionen müssen kontrolliert werden, da gemerkt wird, mit den Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Einstellungen nicht auf Konsens zu stoßen, sondern auf Dissens[6]. Daher wir permanent das eigene Verhalten beobachtet. Die Art, wie auf andere zugegangenen wird, wie gesprochen wird oder wie gestikuliert wird, wird mit dem Umfeld abgeglichen und versucht anzupassen (vgl.: ebd.). Dass bspw. nur kleine Sprachabweichungen ausreichen, um stereotypes Denken hervorzurufen und damit ggf. klassistische Handlungen, wurde bereits im oberen Abschnitt angesprochen.

Diese Erfahrungen zeigen Aufsteiger*innen, dass sie sich von ihrem Herkunftsmilieu distanzieren müssen, um sich dem neuen Milieu anzupassen und dazugehören zu können, also nicht anzuecken. Hier wird jedoch oft erlebt, dass die Distanzierung nicht direkt mit einer Zugehörigkeit einhergeht. Vielmehr befinden sich Aufsteiger*innen in einer Zwischenposition (zu den einen und zu den anderen nicht zu passen) (vgl.: ebd.). Dies hängt z.B. damit zusammen, dass in der neuen Umgebung wenige Menschen sind, die ähnliche Erfahrungen teilen und damit nicht auf gemeinsame Werte usw. angeknüpft werden kann.

Nicht anzukommen oder nicht angenommen zu werden, sind Herausforderungen, die in dieser spezifischen Weise Menschen erleben, die sich aus Armut mit einem akademischen Weg herausbewegen wollen. Dieser Weg, der eine soziale Distanz zum Herkunftsmilieu erzeugt, bringt Unsicherheiten mit sich (vgl.: ebd.). Kinder von Arbeiter*innen sind demnach anderen Belastungen und Herausforderungen ausgesetzt als akademisch sozialisierte Kinder[7], was mit begünstigt, dass Akademiker*innenkinder eine dreimal so hohe Chance auf einen Bachelorabschluss haben. 

3. Fazit

Insgesamt kann gesagt werden, dass der sozio-ökonomische Status der Eltern aus verschiedenen Gründen relevant für den Bildungsweg ist. In dieser Arbeit wurde v.a. der Habitus betrachtet, der als äußerlich wahrnehmbare Komponente des sozialen Status zu klassistischen Zuschreibungen, durch stereotypes Denken führen kann, welches wiederum klassistische Handlungen begünstigt.

So hat sich bspw. in der Schule gezeigt, dass die Empfehlungen von Lehrkräften für ein Gymnasium vom sozio-ökonomischen Status mitbeeinflusst wird. An dieser Stelle wurde ein kleiner Abstecher zur Rolle der Eltern und deren Anerkennung der Empfehlung in Abhängigkeit zum sozio-ökonomischen Status gemacht. Hier hat sich gezeigt, dass dieser Einfluss darauf hat, ob Eltern die Schulempfehlungen der Lehrkräfte annehmen oder ignorieren. Hier wurde die Spekulation getätigt, ob dies mit einem gesellschaftlichen Selbstverständis zusammenhängt, welches durch Wertzuschreibungen und Positonierungen über Generationen entstehen kann.

Auch der Blick in die akademische Welt hat ergeben, dass der sozio-ökonomsiche Status Einfluss auf die Anzahlen von Studierenden mit ’hohem’ oder ’nidrigem’ Status hat, wie auch darauf, welcher Abschluss von welcher Statusgruppe eher erreicht wird. Hier wurde auf Herausforderungen eingegangen, die sog. Bildungsaufsteiger*innen durch ihren ’nicht zum Habitus der Akademiker*innen passenden Habitus’ ergeben.

Abschließend möchte ich sagen, dass die Auswirkungen des sozio-ökonomischen Status und dem damit einhergehenden sichtbaren Habitus deutlich die Normativität der gesellschaftlichen Anforderungen zeigt. Ebenso, wie gezeigt wird, wer diese Anforderungen formt. Am Beispiel der verhinderten Bildungsreform in Hamburg ist dies nochmal deutlich geworden.

Aus meiner Sicht sind Reflexionsprozesse der Privilegierten und der Gatekeeper*innen notwendig, um sich in eine Gesellschaft weiterzuentwickeln, die Chancengleichheit tatsächlich ermöglicht.

Literaturverzeichnis

Baudson, T. G. & Altieri, R. (2022). Klassimsu in Academia. Wer kommt an die Spitze? Forschung & Lehre. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://www.forschung-und-lehre.de/karriere/wer-kommt-an-die-spitze-4340

El-Mafaalani, A. (2020, 13. Februar). Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiepenheuer & Witsch GmbH.

Kemper, A. Klassismus im Bildungssystem: Zur virtùellen Gewalt des sich senkenden Blicks. In Kunst – Theorie – Aktivismus (S. 199–230). https://doi.org/10.1515/9783839426203-008

Kemper, A. (2016). Klassismus. Eine Bestandsaufnahme (Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen, Hrsg.). Erfurt.

Kemper, A., & Weinbach, H. (2009). Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast.

Kemper, A. & Weinbach, H. (2018). Klassismus. Eine Einführung (1. Auflage). Münster: UNRAST Verlag.

Kemper, A. (2021, 4. Mai). Mehr als nur Anerkennung. taz.

Lehmann, A. (2019, 3. Dezember). Bittere Ergebnisse der neuen Pisa-Studie: Mehr Mut gegen die Mittelschicht. Taz. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://taz.de/Bittere-Ergebnisse-der-neuen-Pisa-Studie/!5641658/

Ndr. (2010, 18. Februar). Kampf um Schulreform: Eliten wollen unter sich bleiben. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/Kampf-um-Schulreform-Eliten-wollen-unter-sich-bleiben,panoramaschulreform100.html

Tawadrous, M. (2021, 22. Oktober). Chancenungleichheit in der Bildung: In der Schule gibt es mehr Probleme als nur die Digitalisierung. Tagesspiegel. Abgerufen am 14. September 2022, von https://www.tagesspiegel.de/politik/in-der-schule-gibt-es-mehr-probleme-als-nur-die-digitalisierung-4285435.html


[1] „Kulturimperialismus bedeutet, dass die besondere Perspektive einer gesellschaftlichen Gruppe unsichtbar gemacht wird. Sie wird stereotypisiert und als „das Andere“ markiert“ (Kemper, 2021).

[2] Es sind nicht nur einzelne Handlungen gemeint, sondern ein allumfassendes Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema.

[3] Und nicht auf eine Förder- oder Sonderschule.

[4] Fleiß nenne ich hier nur als ein Beispiel, da ich denke, dass dies eine Eigenschaft ist, auf die viel Wert in der Schule gelegt wird.

[5] An dieser Stelle gendere ich nicht, weil es in meiner Familie männliche Personen waren, die diese Berufe ausübten.

[6] Dies wurde bereits im Schulkontext angesprochen.

[7] Ganz abgesehen, von den unterschiedlichen finanziellen Mitteln der Herkunftsfamilie, die ggf. das Arbeiten neben der Uni obsolet machen (ökonomisches Kapital) oder die Beziehungen der Herkunftsfamilie, die einen begehrten Job ermöglichen können (soziales Kapital).


Quelle: Tomke Thielebein, Klassismus im Bildungssystem, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?page_id=326

Von „nerds“ und „booth babes“

Die Entwicklung von Sexismus in der Videospielindustrie von Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute

Alina Riekes (SoSe 2022)

1. Einleitung

Seit mehr als einem halben Jahrhundert sind Videospiele in der einen oder anderen Form in unserem Alltag präsent. Bereits in den 1950er-Jahren ergab sich aus IT-Experimenten an Universitäten das erste digitale Tic-Tac-Toe-Spiel, im folgenden Jahrzehnt ermöglichte technologischer Fortschritt den Mehrspielertitel Spacewar! (Wolf 2021: 980 f.). Heutzutage, gut 60 Jahre nach Spacewar!, versorgt eine Millionen-Dollar-Industrie den PC und eine Vielzahl von Konsolen mit unzähligen Spieletiteln, während dabei pixelgenaue 3D-Grafik ermöglicht wird. Obwohl der technologische Fortschritt der Videospielindustrie somit mehr als beeindruckend ist, stellt sich ihr damals wie heute ein soziales Hindernis, welches sie bisher nicht überwinden kann.

Zuletzt im Juni 2021 zeigte sich die Schattenseite der Gaming-Szene von ihrer prominentesten Seite: der Sexismus-Skandal beim weltbekannten Entwicklerstudio Activision Blizzard dürfte wohl der bisher größte der Industrie gewesen sein. Verklagt von einer kalifornischen Behörde, musste der millionenschwere Konzern sich mit seiner angeblich frauenfeindlichen Firmenkultur und zahlreichen internen Belästigungsfällen der Mitarbeiterinnen auseinandersetzen (Superior Court of the State of California 2021). Damit ist Activision nicht mal der einzige Fall in den letzten Jahren. Bereits 2019 sah sich der Spiele-Gigant Riot Games mit einer ähnlichen Klage konfrontiert, in diesem Fall jedoch von seinen ehemaligen Angestellten selbst (Marshall 2019). Wie auch bei Activision Blizzard standen Belästigungsfälle und extreme Gehaltsunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Angestellten im Zentrum der Beschwerden (ebd.). Betroffene Ex-Mitarbeiterinnen teilten außerdem schockierende Erfahrungsberichte auf sozialen Medien und gaben Einblicke in einen tief in der Industrie verankerten Sexismus (D’Anastasio 2018; Marie 2018; Fuller 2018).

Für viele selbst im Gaming aktive Frauen waren diese Vorfälle zwar aufwühlend, allerdings wenig überraschend. Auch aufseiten der Konsument*innen sehen Frauen sich in Videospielen nämlich meistens in benachteiligten Positionen. In Online-Titeln müssen sie beispielsweise häufig mit verbaler Belästigung oder Beleidigungen durch ihre Mitspieler rechnen (Anti-Defamation League 2022; Rackham 2021). Ob als Spielerin oder Entwicklerin: Gaming zeigt sich in den meisten Bezugsrahmen von einer Gender-exklusiven, frauenfeindlichen Seite. Damit teilt die Videospielindustrie als Emporkömmling der IT- und Computer-Branche sich sicherlich Eigenschaften mit einigen Techno-Sciences. Trotzdem scheint die Gaming-Szene in ihrer kulturellen Entwicklung einzigartig und verbindet kreative und künstlerische Ansätze mit technologischer Umsetzung. Wie sie nichtsdestotrotz eine derart starke sexistische Strömung entwickeln konnte, ist daher eine relevante Frage, um die Natur von sexistischer Diskriminierung allgemein besser zu verstehen und in zukünftiger Forschung effektive Lösungsansätze erarbeiten zu können.

Anmerkung: Diese Arbeit spricht im Folgenden vorwiegend von sexistischer Diskriminierung gegenüber Frauen, geht jedoch nicht explizit auf queere Gender-Identitäten ein. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Gaming-Industrie in vielen Teilen im binären Gender-System operiert und Frauen und gender-queere Personen in den meisten Fällen gleichartiger Diskriminierung aussetzt. Die im Folgenden erläuterte Entwicklung des im Gaming vertretenen Sexismus gegen Frauen kann daher auf alle nicht-cis-männlichen Gender-Identitäten übertragen werden, obwohl diese nicht vorwiegend thematisiert sind.

2. Die Ursprünge von Sexismus im Gaming

2.1 Wie Videospiele männlich wurden

Während das bereits erwähnte Spacewar! sowie auch Tennis for Two in den 1950er- und 60er-Jahren Vorreiter ihrer Szene waren, gründeten sich die ersten bekannten Entwicklerstudios für Videospiele erst zehn Jahre später. Vor allem Atari unter Gründer und erstem CEO Nolan Bushnell prägte die Anfänge der Szene mit dem Arcade-Hit Pong.

Die damalige Industrie bestand bereits zu Beginn überwiegend aus männlichen Entwicklern. Dies war vor allem der Tatsache geschuldet, dass der Ursprung vom Gaming in den Computer- und Ingenieurswissenschaften liegt – das eben genannte Tennis for Two war beispielsweise kein weit verbreiteter Titel, da es nur auf einem Oszilloskop gespielt werden konnte. Atari-Gründer Bushnell legte bei der Entwicklung von Pong daher besonderen Wert auf leichte Verständlichkeit und Bedienung, um den Erfolg des Spiels zu garantieren. Vor allem Frauen schrieb er im Umgang mit technologischen Neuheiten Inkompetenzen zu, die er mit seinem Spieldesign allerdings ausgleichen wollte. In einem von Anne Ladyem McDivitt zitierten New York Times-Interview mit dem Atari-Gründer pries dieser Videospiele als „großartige Gleichmacher“ an, denn „nach ein wenig Erfahrung und Konzentration können Frauen sie genauso gut spielen wie Männer“ (McDivitt 2020: 23; frei aus dem Englischen übersetzt).

In der damaligen Gesellschaft zeigte sich diese Frauen zugeschriebene Inkompetenz im Umgang mit Technologie allerdings nur selektiv und auf bestimmte Geräte bezogen. McDivitt beschreibt beispielsweise, wie die Schreibmaschine nach ihrer Entwicklung zunehmend mit dem Beruf der Sekretärin verbunden wurde (McDivitt 2020: 5). In dieser Hinsicht interagiert das Gerät mit sozialen Normvorstellungen von der Frau als Assistentin und wird somit weiblich konnotiert. Nach einem ähnlichen Prinzip verweist Ellen van Oost auf das Telefon als eher feminin wahrgenommene Technologie, die gesellschaftlich-weibliche Aktivitäten wie häufige und lange Gespräche ermöglicht (van Oost 2003: 1). Das Beispiel von Rasierern für Frauen gegenüber denen für Männer zeigt außerdem, wie sich das Design, das Marketing und die allgemeine Konnotation ein und derselben Technologie in Abhängigkeit von seiner Zielgruppe radikal ändern kann (van Oost 2003). Der Computer als technologisch komplexe Errungenschaft, die außerdem aus dem männlich-dominierten IT-Feld stammt, war wiederum ein strikt Männern zugeschriebenes Gerät. Die Technologiehistorikerin Ruth Oldenziel beschrieb das Genderverhältnis zum Computer anhand eines New York Times-Artikels aus dem Jahre 1986, der erklärte, dass „Frauen und Mädchen […] Computer [benutzen]; Männer und Jungs aber lieben sie“ (Oldenziel 1999: 9; frei aus dem Englischen übersetzt).

Ihre angebliche technologische Inkompetenz schloss Frauen jedoch nicht vollständig aus der Gaming-Branche aus. Ihr – zugegebenermaßen oberflächlicher – Zugang ergab sich in den 1980ern, jedoch vorwiegend aus Marketing-Gründen: nur leicht bekleidete Frauen wurden in Arcade-Hallen oder bei Werbe-Events als sogenannte booth babes eingesetzt, um mehr männliche Spieler anzulocken (McDivitt 2020: 31). Sollten Frauen sich allerdings außerhalb von objektifizierenden Werbezwecken in Entwicklerstudios wiederfinden, standen sie häufig unter dem Druck, ihre Präsenz im Feld zu rechtfertigen und Kompetenzen unter Beweis zu stellen (Oldenziel 1999). Zusätzlich zu ihrer Ausschlusshaltung gegenüber Frauen stellte die Videospiel-Szene sich allerdings auch gesamtgesellschaftlich bewusst an den Rand. Auch hierfür lag der Grund zu Teilen in ihrem Ursprung in der IT-Industrie.

2.2 Das Konzept der geek masculinity

Der als natürlich wahrgenommene Zweifel an Frauen in der Gaming-Branche beruht auf einem der Szene eigenen Identitätskonzept, welches sich in ihren Anfängen bildete. Die ersten Spieleentwickler stammten wie erwähnt aus Technologie-lastigen Feldern wie dem Ingenieurswesen oder der Computer-Industrie. Diesen Berufs- und Interessenbereichen wurde von der Gesellschaft zwar große Brillanz im Umgang mit Technologie, aber auch hohe soziale Inkompetenz zugeschrieben. Für Männer, die diesem Stereotyp entsprachen und sich außerdem stark für Videospiele interessierten, wurden ab den 1970er-Jahren in den USA die negativ konnotierten Worte geek oder nerd verwendet (McDivitt 2020; Walsh 2019). Diese Personenkonzepte zeichneten sich laut der Soziologieprofessorin Lori Kendall dadurch aus, dass sie Bestandteile von Hypermaskulinität mit feminin wahrgenommenen Eigenschaften kombinieren. Zu Ersteren zählen beispielsweise ein überlegener Intellekt, Ablehnung eines modischen Kleidungsstils und ein grober sozialer Umgang, während Letzteres kleine Körpergröße, Unsportlichkeit und das Fehlen sexueller Beziehungen mit Frauen umfasst (Kendall 1999: 2). Mit dieser Kombination von angeblich weiblichen und männlichen Attributen entsprachen geeks und nerds nicht der hegemonialen Männlichkeit, die in der patriarchalen westlichen Gesellschaft etabliert war (McDivitt 2020: 12). Im Wissen um ihr Abweichen von dieser Norm stellten sich Videospielkonsumenten wie -entwickler als eigene Gruppe an den Rand und repräsentierten somit, was Anne Ladyem McDivitt als geek masculinity bezeichnet. Geeks waren durch ihre unkonventionelle Maskulinität und fehlende zwischenmenschliche Expertise sozial weniger angesehen als hegemonial maskuline Männer. Die Gaming-Szene machten sie sich aus diesem Grunde zunehmend zu eigen und schlossen dafür sozial angesehenere Männer sowie Frauen im Allgemeinen aus. Die frühe Videospiel-Branche war demnach ein Zusammenschluss von geek-maskulinen Männern, die nur Spiele kreierten, „die sie selbst spielen wollen, für diejenigen, die sie als ihnen ähnlich und an den gleichen Dingen interessiert wahrnehmen“ (McDivitt 2020: 13; frei aus dem Englischen übersetzt).

Im Zentrum der Maskulinität des Gamings stand dennoch das Ziel, im jeweiligen Spiel seine Expertise zur Schau zu stellen, über Feinde zu dominieren und schlussendlich zu gewinnen – ein Konzept, welches laut Karen Walsh hegemoniale Männlichkeit unterstützt (Walsh 2019: 41). Nerds fanden im Erstellen von Videospielen außerdem einen Weg, sich maskuline Eigenschaften, die ihnen im richtigen Leben fehlten, in der virtuellen Welt anzueignen. Sichtbar wird diese Tendenz im Wettbewerbscharakter von frühen sowie aktuellen Videospielen und der hohen Präsenz von Waffen, Gewalt und Sexualität. Eine Gegenüberstellung vom Genderverhältnis in Videospielcharakteren aus dem Jahr 2007 ergab, dass männliche Protagonisten vier Mal häufiger auftreten als weibliche und im Rahmen ihrer Rolle häufiger muskulös und gewalttätig dargestellt werden (Burgess, Stermer, Burgess 2007: 427). Stellt ein Videospiel unkonventioneller Weise eine Frau in einer zentralen Rolle dar, ist dies dafür fast immer mit hoher Sexualisierung ihres Charakters verbunden, zum Beispiel in Form von knapper Bekleidung und überproportional großen Brüsten (ebd.). Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Spiele-Franchise Tomb Raider, in welchem die Heldin Lara Croft seit 1996 altertümliche Gräber erforscht und sich okkulten Mächten stellt – selten trägt sie dabei jedoch mehr als Shorts und ein kurzes Top und trotz ihrer jahrelangen Sportlichkeit wird sie in keinem Titel muskulös dargestellt.

Die gesellschaftlich an den Rand gestellte Form der geek masculinity hält Videospielentwickler und -konsumenten also nicht davon ab, traditionell männliche Werte und Aktivitäten in ihren Spielen darzustellen. In die sozialen Kreise der nerds finden trotz dessen nur ihnen gleichgesinnte Männer ihren Weg, während hegemonial männliche und sozial besser eingebundene Personen bewusst ausgeschlossen werden. Frauen befinden sich seit den Anfängen der Gaming-Industrie aufgrund ihres gesellschaftlichen Ausschlusses aus technologischen Feldern selten in der Position, diesen überhaupt beitreten zu wollen. Ihre Darstellung in virtuellen Spielen tendiert aufgrund der vertretenen Maskulinität außerdem häufig zu Übersexualisierung, was wiederum auf viele Frauen abschreckend wirkt und dafür weitere Männer anzieht.

3. Diversifizierung als Bedrohung?

3.1 Ausdehnung der Zielgruppe

Die Gaming-Szene hat sich ab den 1970er-Jahren also immer mehr zu einem sozialen Zufluchtsort für Männer mit nerd-Charakteristiken entwickelt. Sowohl Entwickler als auch Spieler fanden hier einen Raum, in dem sie unter Gleichgesinnten waren, statt sich wie in vielen anderen sozialen Sphären ausgestoßen zu fühlen. Eine große Veränderung trat allerdings auf, als die US-amerikanische Videospielindustrie im Jahr 1983 kollabierte. Zu Beginn des Jahrzehnts überfluteten amerikanische Entwicklerstudios den Markt mit neuen Titeln, die allerdings nur spärlich Qualitätskontrollen unterliefen und aufgrund übermäßiger Gewaltdarstellungen den gesellschaftlichen Ruf von Gaming verschlechterten (McDivitt 2020: 1). Dies führte wiederum zu niedrigen Verkaufszahlen und etablierte eine negative Konnotation von Videospielen (ebd.).

In den folgenden Jahrzehnten füllten dann zunehmend japanische Spielefirmen das entstandene Vakuum in den Vereinigten Staaten. Mit Veröffentlichung des Nintendo Entertainment Systems (NES) im Jahr 1985 sowie der ersten Sony-PlayStation neun Jahre später blühte die Videospiel-Industrie weltweit von Neuem auf. Sony und Nintendo verfolgten anders als amerikanische Spieleentwickler den Ansatz, so viele Menschen wie möglich für ihre Spiele begeistern zu wollen, um deren Erfolg zu maximieren. Franchises wie Nintendos Super Mario Bros erlangten so globale Notorietät und öffneten die Gaming-Welt auch Personen, die nicht aus der geek-Szene stammten. Amanda C. Cote beschreibt in ihrem Kapitel „Core and the Video Game Industry”, wie durch diese Ausweitung der Gaming-Community die Strömungen der core– und der casual-Spieler aneinandergerieten (Cote 2020: 24-25). Ersteres beschreibt die ursprüngliche, männliche Zielgruppe der Spieleindustrie, die durch ihren Zusammenschluss als nerds ein hohes Level an Identitätsfindung und Hingabe mit der Szene verbindet (ebd.). Als casual beschreibt Cote Spielende, die erst durch die Ausweitung der Zielgruppe von Videospielen in diese Sphäre fanden und sie daher weniger ernst und nicht so sehr als Teil ihrer Identität wahrnehmen (Cote 2020: 32-33). Der Einschluss von diesen casual-Spielenden – die einen bedeutend höheren Frauenanteil aufwiesen als die ursprüngliche Gaming-Szene – wurde von der core-Community um die Jahrtausendwende zunehmend als Bedrohung für ihre Stellung gesehen. Tatsächlich sorgte die wachsende Diversifizierung der Gaming-Zielgruppe dafür, dass ihre ehemals vorherrschende Maskulinität in Teilen verdünnt werden konnte. Cote beschreibt Marketing- und Entwicklungs-Strategien, die Menschen außerhalb der core-Zielgruppe ansprechen sollen, daher auch als counterhegemonic forces (Cote 2020: 24).  Ein Beispiel hierfür ist die Nintendo Wii aus dem Jahre 2006, bei der erstmals der herkömmliche Controller verschwand und durch eine bewegungsgesteuerte Fernbedienung ersetzt wurde. Auch das Einführen von Mobile Games und Konsolen wie dem Gameboy oder der PlayStation Portable fallen in diese Kategorie.

Die wachsende Furcht der core-Gamer um ihre zentrale Bedeutung in der Community zeigte sich in den frühen 2000er-Jahren auch vermehrt auf sozialen Medien. In seinem Artikel „The Hardcore Niche“ im Magazin Game Developer äußerte sich 2008 Szene-Mitglied Brandon Sheffield kritisch zum Wandel der Gaming-Welt:

Online-Spiele übernehmen und ich […] mag es nicht wirklich. Sicherlich wird es immer Hardcore-Spieler geben, die diese tiefere Erfahrung wollen. Daran gibt es keine Zweifel. Aber die Frage ist: In einer Industrie, in der uns ausgerechnet Web-Entwickler finanziell in die Tasche stecken, wer soll uns bezahlen, [Hardcore-Spiele] zu machen? (Sheffield 2008; frei aus dem Englischen übersetzt)

Dies sollte allerdings nur der Anfang einer core-Bewegung sein, die aus Angst vor einem Szene-Wandel die casual-Spielenden zum Feindbild erklärte.

3.2 Konzentrierter Hass im #Gamergate

Ihre bislang extremste und aggressivste Form nahm die Antipathie der core-Spielenden gegenüber Szene-Neuzugängen allerdings im Jahr 2014 an. Im Zuge der Online-Belästigungs-Kampagne #Gamergate wurde die Spieleentwicklerin und Gaming-Journalistin Zoe Quinn zum Ziel kollektiven Hasses traditioneller geek-Gamer. Ursprung der Bewegung war ihr Ex-Partner, der aus Frust über die Trennung angebliche Facebook-Konversationen mit Quinn veröffentlichte und dadurch die Wut der Community auf sie lenkte (Massanari 2019: 334). Unter rasantem Wachstum des Hashtags auf unter anderem der sozialen Plattform Twitter nannten seine Unterstützer auch Kritik an unehrlichem Gaming-Journalismus als Vorwand der Bewegung. Grund hierfür seien mehrere intime Beziehungen von Quinn mit Spiele-Reportern gewesen, die in der Folge ihre Spiele positiv bewertet haben sollen (ebd.). Der Hass gegenüber Quinn breitete sich schnell auch auf die Journalistin Anita Sarkeesian sowie alle Unterstützer der Opfer dieser Kampagne aus und äußerte sich neben verbaler Belästigung im Internet auch in Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Einer der sogenannten Gamergater entwickelte sogar das Spiel Beat Up Anita Sarkeesian, in dem ein Bild von der Journalistin per Mausklick mit Blut bedeckt werden konnte (Klee 2021). Die Beschreibung des Spiels fasste die kaum verschleierten misogynen Einstellungen der Bewegung im letzten Satz zusammen:

[Anita Sarkeesian] behauptet, sie wolle Gender-Gleichberechtigung in Videospielen, aber in Wahrheit will sie nur ausnutzen, dass sie mit einer Vagina geboren wurde, um Geld und Mitgefühl von allen zu bekommen. (zitiert von Klee 2021; frei aus dem Englischen übersetzt)

Bis heute sind Frauen in der Gaming-Industrie mit dem Vorwurf konfrontiert, sich mithilfe ihres Geschlechts soziale Vorteile verschaffen zu wollen. Viele core-Gamer verachten es, dass ein Großteil der Videospiel-interessierten Frauen im Zuge der counter-hegemonic Maßnahmen ihren Weg in die Szene fanden und diese Entwicklung aus marktwirtschaftlichen Gründen von großen Studios begrüßt wird. Dass eine Charakteristik vom Konzept des nerds bzw. geeks außerdem seine Unbeliebtheit beim weiblichen Geschlecht ist, scheint ferner den Frust gegenüber weiblichen Szene-Mitgliedern ungemein zu steigern. Die Unterstellung, dass weibliche Gamer oder Mitarbeitende in der Szene geschlechtsspezifische Vorteile hätten, ist wie bereits erläutert jedoch auf mehreren Ebenen unwahr. Frauen stehen in Form ihrer angeblichen technologischen Inkompetenz sowie stetiger Sexualisierung ihrer Körper sogar mehr Hindernisse entgegen als Männern. Beides äußert sich außerdem nicht nur auf Konsument*innen-Seite, sondern auch im Arbeitsumfeld von Entwicklerstudios. Im Jahr 2020 wiesen die Top 14 Gaming-Firmen laut Forbes Magazine im Maximum 41% weibliche Führungskräfte auf (Wittenberg-Cox 2020). Dieser Prozentsatz fand sich jedoch nur ein Mal, nämlich bei Tech-Gigant Google. Bei den asiatischen Marktführern Bandai Namco, Nintendo, Sony und Tencent findet sich derweil keine einzige Frau in einer Führungsposition wieder. Magere Anteile von maximal einem Viertel der Führungsriege nehmen Frauen bei Ubisoft, Activision Blizzard und Electronic Arts ein. Gegenüber dem Ausmaß an Belästigungsfällen, denen Frauen im Gaming zum Opfer fallen, gepaart mit ihrer erschreckend geringen Präsenz in marktführenden Positionen, kann der Vorwurf ungerechter Vorteile des weiblichen Geschlechts in der Videospielindustrie demnach negiert werden.

4. Schlussfolgerung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die starke männliche Prägung der Gaming-Branche schon in ihren Ursprüngen Mitte des 20. Jahrhunderts begann, als Videospiele sich langsam als rentabler Markt und Berufsmöglichkeit etablierten. In der westlichen Gesellschaft als geeks oder nerds bezeichnete Männer nahmen diese neue soziale Sphäre sowohl als Entwickler als auch als Konsumenten ein, sahen ihre vorherrschende Stellung jedoch in den folgenden Jahrzehnten durch die Ausweitung der Konsumentenbasis bedroht. Die auch heute noch stark geäußerte Ablehnung gegenüber Frauen in der Arbeits- und Verbrauchersphäre rund um Gaming kann zu großen Teilen mit dem fortbestehenden Wunsch der Erhaltung dieser nerd-Sphäre erklärt werden, welche durch den Eintritt von weiblichen Akteuren stetig weiter von ihren traditionell maskulinen Ursprüngen abweicht.

Die Gaming-Industrie bleibt also bis heute männlich dominiert. Etwaige geschlechtsspezifische Vorteile für weibliche Mitarbeitende sind gegenüber der Menge an zu überwindenden Hindernissen vernachlässigbar. Im Widerspruch zu ihnen steht außerdem die Tatsache, dass Skandale bezüglich sexistischer Firmenkulturen und Belästigungsfällen immer wieder öffentlich bekannt werden und die frauenfeindliche Haltung der Videospielindustrie offenlegen.

Die Zunahme an publik gewordenen Sexismus-Skandalen in der Gaming-Industrie sowie Literatur zu diesen in den letzten Jahren deutet allerdings auch darauf hin, dass die Branche sowie ihre Community stetig mehr auf derartige Missstände sensibilisiert werden. Mögliche Lösungsansätze, die in zukünftiger Forschung verfolgt werden sollten, könnten an diesem soziokulturellen Wandel der Szene und ihrer Zielgruppe ansetzen. Zunehmende Sensibilisierung und bewusstes öffentliches Einbinden von Frauen in die Gaming-Szene – zum Beispiel durch Marketing und Werbe-Kampagnen – könnten die maskuline und frauenfeindliche Konnotation der Branche stückweise lösen und einen Teil dazu beitragen, Gaming zu einer inklusiveren und sicheren Sphäre zu machen.

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