24. Oktober 2017 von Philipp Krämer
Was bisher geschah… Ein Rückblick auf den Sommer, Teil 4
Die Stadtverwaltung von Amsterdam hat etwas Ungeheuerliches getan. Sie hat Ratschläge verteilt. Wo kommen wir denn hin, wenn das jeder tut? Natürlich darf die Stadtverwaltung Ratschläge verteilen, gerade wenn sie sich an die eigenen Beschäftigten richten. Aber: Ratschläge über Sprache? Geschlechtergerechte Sprache?! Da hört der Spaß auf.
Jedenfalls wirkten so die Reaktionen, als die Verwaltung eine Handreichung herausgab, wie beispielsweise offizielle Schreiben geschlechterneutral formuliert werden können. Wohlgemerkt: können, nicht müssen. Alles überflüssig, fanden die Christdemokraten. Sie halten es für aanstellerij, wenn sich manche Menschen von den bisherigen Formulierungen nicht angesprochen oder berücksichtigt fühlen. Dass eine Partei die Bedürfnisse eines Teils der Bevölkerung – und wenn es nur ein kleiner Teil ist – für irrelevant oder herbeiphantasiert erklärt, ist gerade für niederländische Verhältnisse milde gesagt ungewöhnlich.
Die Stadtverwaltung ist nicht alleine mit ihren Ratschlägen. Die Volkskrant vergleicht die unterschiedlichsten Betriebe und öffentlichen Orte, wie dort mit geschlechtergerechter Sprache umgegangen wird, vom Flughafen Schiphol über die Eisenbahn bis zu Nahverkehrsunternehmen. Relevant genug findet man das Thema auch beim NRC. Dort gibt es ein ganzes Dossier über diese Fragestellungen.
Im Detail knirscht es aber noch ein wenig. Die Zeitung zitiert eine Person, die darum bittet, mit dem geschlechtsneutralen Pronomen hen (als Subjekt des Satzes) bezeichnet zu werden, um nicht gegen den eigenen Willen als Mann oder Frau festgelegt zu werden. Hen ist eigentlich ein schwedisches Pronomen, das dort zu genau diesem Zweck geschaffen wurde und neben dem maskulinen han und dem femininen hon steht. Pragmatische Lösung, skandinavisch eben. Genauso pragmatische Lösung, das Pronomen als Entlehnung einfach ins Niederländische zu übernehmen. Es passt ja nicht schlecht in die Laut- und Formstruktur, schließlich ist hij auch einsilbig und beginnt mit h- im Anlaut. Nicht ganz so praktisch ist vielleicht, dass damit noch mehr Verwirrung entsteht im Verhältnis zwischen hun und hen, die es im Niederländischen schon gibt und die gerne durcheinander geraten. Der Redaktion vom NRC kommt das vielleicht alles zu kompliziert vor. Jedenfalls entscheidet sie sich, dennoch von hij zu schreiben, auch wenn direkt zuvor erwähnt wird, dass die genannte Person das nicht möchte.
Der/die Gender ist übrigens auch ein Bach, der durch Eindhoven fließt. (Cwoyte, CC-BY-SA 3.0)
Die Vorschläge der Stadtverwaltung von Amsterdam sind sehr vielseitig und gerade im Vergleich zum Deutschen interessant. Statt meneer und mevrouw oder dames en heren könne man je nach Situation beispielsweise von aanwezigen oder einfach mensen sprechen. Das funktioniert sicher, und es ginge auch auf Deutsch: Menschen und Anwesende können alle sein, egal ob Mann oder Frau, oder keins von beiden. Verwendbar sei auch Amsterdammers, ebenso wie man am Flughafen oder im Zug von reizigers spricht. (Die möglichen Formen Amsterdamsen und reizigsters scheint man nicht so recht ernst zu nehmen.) Auf Deutsch wäre Reisende ein geeignetes Pendant; bei Fahrgäste scheiden sich wahrscheinlich die Geister: Entweder es gilt als geschlechtergerecht oder gerade als das Gegenteil, weil es keine etablierte feminine Form von Gast gibt. Gästin wurde zwar schon in den Duden aufgenommen, findet aber bisher noch keine besonders weite Verwendung. Im Niederländischen werden ähnlich wie im Englischen Begriffe auf –er als geschlechtsneutral verstanden. Bei deutschen Vorschlägen zur Berücksichtigung aller Menschen sind genau das die Formen, die am meisten Ideen und auch am meisten Polemik hervorbringen, vom Binnen-I über den Schrägstrich, Gender Gap, Sternchen bis hin zum –x. Mit Amsterdammer oder Berliner käme man in Deutschland also nicht weit.
Eine Besonderheit ist der Hinweis aus Amsterdam, dass homoseksueel ebenfalls ausschließend sei, weil damit beispielsweise lesbische Frauen nicht mitbezeichnet würden. Das ist im Vergleich zum Deutschen erstaunlich, kennen wir doch homosexuell gerade als Dachbegriff für gleichgeschlechtliche Orientierungen, egal ob bei Männern oder Frauen. Im Niederländischen hat sich aber homo(seksueel) allein für Männer durchgesetzt und ein exaktes Pendant zu schwul liegt nicht vor – außer man greift z.B. zum Englischen gay. Ob die betroffene Zielgruppe mit dem Vorschlag roze Amsterdammers wirklich zufrieden ist? Auf Deutsch wäre jedenfalls gerade diese Form wegen des –er wieder ungeeignet.
Was dagegen hier wie dort exakt identisch ist: Das Aufregerthema geschlechtergerechte Sprache scheint nahezu automatisch zum ebenso empörenden Thema Unisex-Toiletten zu führen. Kaum eine Debatte über das Eine kommt ohne polemische Kommentare über das andere aus. Weder Volkskrant noch NRC kommen um diesen Zusammenhang herum, und dasselbe gilt für jede x-beliebige Berichterstattung über Geschlechtergerechtigkeit in deutschen Medien. Nennen wir es einfach das Zweite Godwinsche Gesetz: „Mit Verlauf einer Diskussion über geschlechtergerechte Sprache tendiert die Wahrscheinlichkeit, dass Toiletten ins Spiel kommen, gegen 1.“
Den Umweg über die Sprachdebatte brauchte man in Amsterdam gar nicht unbedingt. Als eine Frau wegen wildplassen (Dt. urinieren in der Öffentlichkeit) zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, regte sich rasch Widerstand, weil es deutlich mehr öffentliche Toiletten für Männer als für Frauen gibt. Der Richter erklärte die bekannten Urinal-Spiralen der Stadt jenseits aller Machbarkeit kurzerhand zur Unisextoilette und empfahl den Frauen, diese mitzunutzen. Die Reaktionen darauf waren deutlich: Zahlreiche Amsterdamsen und sicher auch einige Gästinnen von außerhalb verabredeten sich zum gemeinsamen Protestpinkeln.